YourPhotoToday/PM Wie lange noch? Kein anderes großes Industrieland weist für die vergangenen zehn Jahre eine bessere ökonomische Bilanz aus als Deutschland. Doch die Warnsignale, die auf ein Ende der bisherigen Erfolgsgeschichte hindeuten, nehmen zu. Eine Analyse von Dirk Heilmann und Bert Rürup. Afrika und Boom? Das passt zusammen, schreiben zwei Experten. Seite 62 D eutschland im Jahr 2015: Während der halbe europäische Kontinent sich mühsam aus der Rezession kämpft, während die einstigen Wachstumsgiganten China und Indien sich zuletzt an mäßige Expansionsraten gewöhnen mussten und auch die größte Volkswirtschaft USA Rückschläge hinnehmen musste, scheinen die Deutschen auf einer Insel der Glückseligen zu leben. Vollbeschäftigung scheint in greifbarer Nähe, die Staatsfinanzen gesunden mit erstaunlicher Dynamik, und auch die Unternehmen des Landes strotzen geradezu vor Kraft. Weder die Euro-Krise noch die neue Konfrontation mit Russland und auch nicht der Vormarsch der IS-Krieger im Nahen Osten konnten der Wirtschaftskraft des Landes wirklich etwas anhaben. Kein anderes Land aus der G7-Gruppe der führenden Industriestaaten hat in den vergangenen zehn Jahren die Zahl der Erwerbstätigen um zwölf Prozent gesteigert. Keines konnte den Anteil der Industrie am Bruttoinlandsprodukt oberhalb von 30 Prozent halten. Und keinem anderen G7-Land ist es gelungen, den jährlichen Saldo des Staatshaushaltes um vier Prozentpunkte in Relation zum BIP zu verbessern. Stärker gewachsen sind in der G7 in der vergangenen Dekade nur Kanada und die USA – in US-Dollar gerechnet. Dabei Interview Frank Beer für Handelsblatt Literatur Illustration: Miriam Migliazzi & Mart Klein WOCHENENDE ► Deutschlands Chancen und Risiken Seiten 50 bis 53 ► Die zehn größten Herausforderungen Seiten 56 bis 59 gelang es Deutschland sogar, den Primärenergieverbrauch um zehn Prozent zu senken und damit deutlich vom Wirtschaftswachstum zu entkoppeln. Das industriebasierte deutsche Geschäftsmodell, das noch Anfang des Jahrhunderts als überholt und angreifbar galt, findet weltweit Anerkennung, oft sogar Bewunderung. Die angelsächsische Alternative einer vom Finanzsektor und von einem oft schuldenfinanzierten privaten Konsum dominierten Wirtschaft hat sich in der globalen Finanzkrise als Sackgasse erwiesen. Um zu einem nachhaltigen Wachstum zurückzufinden, haben sich sogar die USA und Großbritannien einer Re-Industrialisierung verschrieben – unter explizitem Verweis auf das deutsche Vorbild. Auch die Europäische Union hat sich zum Ziel gesetzt, den Industrieanteil am BIP wenigstens wieder auf 20 Prozent zu erhöhen. Kein Zweifel: Deutschland ist derzeit der Primus unter den führenden Industriestaaten – zuletzt symbolisiert durch den G7-Gipfel in Elmau, als Bundeskanzlerin Angela Merkel sich als stolze Gastgeberin in der bayerischen Alpenidylle in Szene setzte. Doch wie lange wird dieses Leben in der scheinbar besten aller Welten noch anhalten? Unternimmt die Politik genug, um diese Erfolgsgeschichte fortzuschreiben? Und: Welches sind die größten Risiken, die diesen Erfolg gefährden. Kay One spricht über die drei wichtigsten Dinge im Leben eines Rappers: Geld, Geld, Geld. Seite 68 Ja, es gibt sie, die ersten Risse, die sich im neuen Deutschland-Bild zeigen. Noch sind sie kaum erkennbar. Aber jeder, der nach ihnen sucht, wird sie finden. Auf internationalen Ranglisten der Wettbewerbsfähigkeit fiel Deutschland in letzter Zeit zurück. Im viel beachteten Ranking der Schweizer Hochschule IMD rutschte es vom sechsten auf den zehnten Platz ab und liegt nun hinter Norwegen, Dänemark und Kanada. Die OECD beklagte jüngst eine Reformmüdigkeit der betrug hierzulande deutschen Politik der Anstieg der und sieht in der Erwerbstätigenzahl in wachsenden Ungleichheit der Verden vergangenen mögensverteilung eizehn Jahren. ne Wachstumsbremse. Bundesagentur Der IWF forderte die für Arbeit Bundesregierung zu mehr Investitionen in die Infrastruktur auf, zu einer Deregulierung des Dienstleistungssektors und zu einer besseren Ausschöpfung des weiblichen Arbeitskräftepotenzials. Nicht nur internationale Beobachter blicken wieder kritischer auf Deutschland, auch heimische Wirtschaftsvertreter warnen vor allzu großer Selbstzufriedenheit. „Im Moment ist das ein geliehener oder gedopter Aufschwung“, warnt Martin Wansleben, der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Industrie- 12 % Primus Deutschland und Handelskammertags (DIHK). Zu Recht weist er darauf hin, dass die aktuell guten Konjunkturdaten in einem Umfeld zu sehen sind, das günstiger kaum sein könnte. Die Zinsen liegen dank der extrem lockeren Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) seit Jahren bei nahe null, der Euro liegt gegenüber dem Dollar um fast 20 Prozent niedriger als vor Jahresfrist und der Ölpreis sogar um mehr als 40 Prozent. Vor diesem Hintergrund sehen die aktuellen wirtschaftlichen Erfolge Deutschlands nicht mehr ganz so glänzend aus. Eine Wachstumsrate von knapp zwei Prozent in diesem Jahr ist für eine Volkswirtschaft unter solchen geradezu idealen Voraussetzungen sogar eher mager. Das musste auch Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel neulich eingestehen: „Wir dürfen uns nicht darauf verlassen, dass die Lage so gut bleibt, wie sie ist“, sagte er im März vor Unternehmern in Berlin. Das gute wirtschaftliche Umfeld werde derzeit nicht nur von der Binnennachfrage getragen, sondern auch vom Ölpreis und dem Euro-Wechselkurs. „Mindestens zwei davon sind nicht auf Dauer sicher“, warnte der Minister. Wie also sehen die Perspektiven der größten Volkswirtschaft Europas wirklich aus? Das Handelsblatt Research Institute (HRI) hat die jüngsten Warnungen Fortsetzung auf Seite 52 +12 % Wie sich wichtige Kennzahlen von 2005 bis 2014 verändert haben + 3,93 Haushaltssaldo in Prozent des BIP PP Veränderung Erwerbstätige Reales Bruttoinlandsprodukt Zuwachs in Prozent Zuwachs in Prozent in Prozentpunkten +12 % +5 % +13 % Deutschland -1,42 PP USA Japan -3,65 PP 51 -0,79 PP +2 % +5 + 5% +4 % +7 + 7% Frankreich Handelsblatt | Quellen: Eigene Berechnungen, EU-Kommission © Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an [email protected]. 52 PROGNOSE 2025 WOCHENENDE 19./20./21. JUNI 2015, NR. 115 WOCHENENDE 19./20./21. JUNI 2015, NR. 115 PROGNOSE 2025 53 2 2 Fortsetzung von Seite 51 7% Günstige Rahmenbedingungen Volkswirtschaften im Vergleich 4 000 © Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an [email protected]. W Frank Beer für Handelsblatt D as Ergebnis der Berechnungen: Bei einer baldigen Rückkehr von Zinsen und Ölpreis auf die Niveaus vor der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise würde die durchschnittliche jährliche BIP-Wachstumsrate in den kommenden zehn Jahren auf 1,1 Prozent fallen, gegenüber 1,5 Prozent in der Basis-Projektion. Blieben Zinsen und Ölpreis allerdings noch für zehn Jahre so niedrig, wie sie derzeit sind, könnte Deutschland mit einer durchschnittlichen Wachstumsrate von 2,3 Prozent rechnen. Zwischen der positiven und der negativen Projektion würde damit bis zum Jahr 2025 eine Lücke von inflationsbereinigt 340 Milliarden Euro entstehen. Mehr als 4 000 Euro mehr oder weniger Wohlstand pro Bürger stehen also auf dem Spiel. Doch es ist ja nicht so, dass Deutschland hilflos den Veränderungen der Rahmenbedingungen ausgesetzt wäre. Es kann sein Schicksal selbst in die Hand nehmen. In den vergangenen Jahren hat das Land zwar in beträchtlichem Ausmaß davon profitiert, dass die Zinsen und der Euro-Kurs für seine starke Wirtschaft viel zu niedrig waren. Aber noch mehr hat es von klugen politischen Entscheidungen der Vergangenheit profitiert. Die rot-grüne Bundesregierung unter Gerhard Schröder hat mit den Arbeitsmarkt- und Sozialreformen der Agenda 2010 und auch mit der Förderung der erneuerbaren Energien die Grundlage dafür gelegt, dass Deutschland heute vielen als Vorbild gilt. Nicht zu vergessen ist der Beitrag zur Erhöhung der preislichen Wettbewerbsfähigkeit, den die Gewerkschaften mit der Lohnzurückhaltung der Jahre 1997 bis 2007 geleistet haben. Die von Angela Merkel geführte Große Koalition der Jahre 2005 bis 2009 hat diese Reformerfolge mit einem zupackenden Krisenmanagement in der Finanzkrise abgesichert. Seither allerdings gewinnt die Kanzlerin ihre Wahlen damit, dass sie die Deutschen in einen Wohlfühlmodus versetzt, in dem die Krisen der Welt allenfalls als Hintergrundrauschen wahrnehmbar sind. Das Wort „Reform“ kommt im Sprachschatz der Regierung kaum noch vor, und wenn doch, dann als Verbrämung klientelspezifischer sozialer Wohltaten, um die eine Mehrheit der Bevölkerung gar nicht gebeten hat. So die abschlagsfreie Rente ab 63 für Menschen, die 45 Versicherungsjahre aufweisen. So das Betreuungsgeld, auch „Herdprämie“ genannt, für jene, die ihre Kinder zu Hause hüten, statt sie in die Kita zu schicken. Gleichzeitig fehlt das Geld für Investitionen in die Infrastruktur, die die Regierung mit dem vordergründigen Hinweis auf die Schuldenbremse auf Verschleiß fährt. Diese Politik unterminiert eine traditionelle Stärke des Standorts Deutsch- Arbeitskosten. Auf den Kapitaleinsatz und Investitionsentscheidungen der Unternehmen wirkt unmittelbar die Zinspolitik ein. Auch die Energiekosten sind wichtig – sowohl die Weltmarktpreise für Öl als auch die nationalen Strompreise, die durch die Energiewende in die Höhe getrieben werden. Erhebliche Auswirkungen auf die Produktivität als dritten Wachstumstreiber hat das Bildungssystem. Auch die Digitalisierung könnte sich hier zu einem wichtigen Treiber entwickeln. Nicht zu vernachlässigen ist zudem die GründungstätigKanzlerin Merkel auf dem G7-Gipfel in Elmau: Deutschland ist derzeit der Primus unter den führenden Industriestaaten. Doch wird die Erfolgsgeschichte fortgeschrieben? keit, die in Deutschist die land immer noch recht schwach ist. NeArbeitsproduktivität gativ auf das Wachsin der vergangenen tum wirken sich auch S&P-GSCI-Rohstoffindex Brentöl Potenzielle Arbeitnehmer Steigende Produktivität 232 Dekade gestiegen. die zunehmende Unin Punkten Preis in US-Dollar je Barrel Bevölkerung im Alter von 15 bis 64 Jahren in Millionen Veränderung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) pro Arbeitsstunde seit 2005 210 gleichheit der VermöHRI 200 1 000 436,43 Pkt. 140 63,31 US$ +12 % gensverteilung und die mangelhafte soziale Mobilität 120 USA 2040 2010 +10 800 aus. Schließlich werden mit der ge+10,5 % 150 100 wachsenen Rolle Deutschlands in der Japan +8 +7,6 % internationalen Politik höhere Ausga600 80 Deutschland ben für die Sicherheitspolitik einherge100 +6 +6,7 % hen, die das volkswirtschaftliche Ge60 81 Frankreich 400 samtbild beeinflussen. +5,8 % +4 61 55 40 All diese Entwicklungen zeigen, dass 50 43 41 41 200 großer Handlungsbedarf besteht, um +2 20 Deutschlands Wettbewerbsfähigkeit abzusichern. Eine große Volkswirtschaft 0 0 +0 0 wie Deutschland ist wie ein SupertanJuni 2015 Jan. 2000 Jan. 2000 Juni 2015 2005 2014 Frankreich Deutschland Japan USA ker, der auf einen Kurswechsel des Kapitäns erst nach mehreren Kilometern Euro-Kurs Bundesanleihe Mehr Schulden Weniger Investitionen Verschiebung im Welthandel reagiert. Darum hat es auch mehrere in US-Dollar je Euro Laufzeit 10 Jahre, Rendite in Prozent Staatsverschuldung in Prozent des BIP Bruttoinvestitionen in Prozent des BIP Anteil am weltweiten Exportvolumen in Prozent Jahre gedauert, bis die Erfolge der Agen118 1,7 Wie viel ein Euro wert ist: 1,1389 US$ 120 6,0 0,75 % 24 50 da 2010 auf dem Arbeitsmarkt oder die 22,3 45,7 22,2 Konsolidierungsbemühungen bei der 20,0 5,0 Rente sichtbar wurden. 1,5 18,5 Das heißt aber, dass es auch einige 4,0 Zeit dauern wird, bis die falschen politi76 31,3 1,3 69 schen Weichenstellungen der aktuellen 3,0 58 Regierung ihre volle Wirkung entfalten. 1,1 Diese Wirkungen fallen dann in die Zeit, 2,0 in der sich die Rahmenbedingungen 12,7 verschlechtern und zugleich die demo9,3 0,9 7,7 1,0 grafische Schönwetterperiode ausläuft 4,4 und das Land mit einem deutlichen Al2001 2015 2015 2015 2015 5 2001 2015 2015 5 2001 2015 2015 2001 2014 2014 4 2001 2014 2014 4 2014 2 014 4 2001 2001 0,7 0 terungsschub konfrontiert wird. Jan. 2000 11.6.2015 G7 Jan. 2000 Juni 2015 G7 G7 China Deutschland Deutschland Deutschland Noch ist für die Bundeskanzlerin die Welt in Ordnung. „Wir können stolz auf Handelsblatt 2015 und 2040 = Prognose | Quellen: Bloomberg, IWF, OECD, UN das sein, was wir erreicht haben“, sagte Angela Merkel Anfang Juni nach dem „6. Zukunftsgespräch mit Sozialpartnern“ auf Schloss Meseberg und zählte auf: „Wir haben eine starke industrielle Basis. Wir haben eine starke Unternehmerschaft. Wir haben mit den Gewerkland. Die Reformen jedoch, die die VolksDann wird es in Deutschland 11,3 Milliogeht nicht mit Demografiegipfeln, sonIn Zukunft werden verstärkt alle drei Dirk Heilmann (l.) und schaften und den Betriebsräten starke wirtschaft an die sich erkennbar verännen weniger 20- bis 64-Jährige geben und dern nur mit weiteren Reformen. Doch Wachstumstreiber dazu beitragen müsEuro mehr oder weniger Tarifpartner. Diese Vorzüge wollen wir dernden Rahmenbedingungen anpassen 2,7 Millionen weniger unter 20-Jährige. diese müssen weit über das Sozialsys- sen, die deutsche Wirtschaft voranzuWohlstand pro Bürger Bert Rürup: Die Autoren leiten ausnutzen, um in der Welt des 21. Jahrund die globale Wettbewerbsfähigkeit abDafür werden 6,3 Millionen Menschen tem hinausgehen und sich zum Ziel set- bringen. Das schrumpfende Arbeitskräfstehen bei der Ölpreishunderts dann auch weiter vorne mit sichern, hat die Große Koalition aus dem mehr im Alter ab 65 Jahren zu zählen zen, neue wirtschaftliche Dynamik zu tepotenzial muss mit einem verstärkten gemeinsam das Handelsblatt dabei zu sein.“ Ein Plan zur Bewahrung Werkzeugkasten der Politik aussortiert. sein. Und das ist der günstigere Fall: Bei eierzeugen und Antworten auf das rück- Kapitaleinsatz und höheren Produktiviund Zinsentwicklung auf Research Institute. Rürup war der Wettbewerbsfähigkeit klingt anders. Noch sind die Folgen dieser gegenner geringeren Nettozuwanderung von läufige Produktivitätswachstum finden. tätsfortschritten einhergehen. dem Spiel. Sollte etwa auch das deutsche Wachswartsorientierten Wohlfühlpolitik nicht Das ist die Voraussetzung für eine zudurchschnittlich 130 000 Personen im viele Jahre Vorsitzender des an den Konjunkturdaten ablesbar – auirtschaftswachstum ist auch sätzliche Wachstumsdynamik, die die in tumsmodell gerade dann seinen Glanz Jahr wird die Bevölkerung schneller altern HRI in einer alternden und der Bevölkerungsalterung angelegte verlieren, wenn es den Höhepunkt an ßer eben daran, dass das Wirtschaftsund auf unter 68 Millionen schrumpfen. Sachverständigenrats und internationalem Ansehen erreicht hat? schrumpfenden Gesell- Wachstumsbremse lockert und auch unwachstum vor dem Hintergrund der auDas schrumpfende ErwerbspersoBerater mehrerer Regierungen. Das war so im Japan der späten 1980erschaft notwendig, um die ter weniger günstigen Rahmenbedingunßerordentlich günstigen Rahmenbedinnenpotenzial droht nicht nur einen Jahre, als der unaufhaltsame Aufstieg mit der Bevölkerungsalterung eher zu- gen ansehnliche BIP-Steigerungen ergungen hätte höher ausfallen können. Fachkräftemangel zu erzeugen, sondes Landes zur globalen Wirtschaftsnehmenden Verteilungsprobleme zu lö- möglicht. Das ist eine enorme HerausforDoch sie werden bald sichtbar werden. Nachkriegsjahrgänge, die aus dem Erdern nimmt der deutschen Wirtschaft macht Nummer eins ausgemacht war – sen. Wachstum kann auf drei Wegen ent- derung in einem Umfeld, in dem alle Spätestens dann, wenn sich günstige werbsleben ausscheiden. Das führt zu auch die Option, noch einmal durch bis 1990 die Immobilienblase platzte. stehen: durch einen vermehrten Einsatz etablierten Industriestaaten unter einer Rahmenbedingungen wie der niedrige Überschüssen in den Sozialkassen. Lohnmäßigung die preisliche WettbeDas war auch so in den USA und GroßDie Bevölkerungszahl ist entgegen früder Produktionsfaktoren Arbeit und Ka- nachlassenden Wachstumsdynamik leiZins und das billige Öl normalisieren. werbsfähigkeit im Exportgeschäft zu britannien, als sich ab 2007 herausstellpital oder durch einen effektiveren Ein- den und auch aufstrebende WirtschaftsDieses Ende wird mit dem Auslaufen heren amtlichen Schätzungen dank eiverbessern. Die immer konfrontativeder demografischen Schönwetterperi- ner verstärkten Zuwanderung seit 2011 te, dass eine entfesselte Finanzindustrie satz dieser Faktoren, also durch eine Er- mächte wie China und Brasilien an ren Tarifkonflikte und die steigende ode zusammenfallen, in der sich nicht zurückgegangen, sondern gestiehöhung der Produktivität. In den letzten Schwung verloren haben. kein Wachstumsmotor war, sondern ein Zahl von Streiktagen zeigen, wohin die zehn Jahren hat der Faktor Kapital die Produzent finanzieller „MassenvernichDeutschland seit einiger Zeit befindet. gen. Dieser Trend wird nach der aktuelDas Handelsblatt Research Institute hat Reise geht: Arbeitnehmer, die sich nicht tungswaffen“, wie die Investorenlegengrößte Dynamik erzeugt: Die Bruttoinves- zehn Faktoren identifiziert, die Einfluss Aktuell kommen zwei Faktoren zusam- len Prognose des Statistischen Bundeszuletzt aus demografischen Gründen de Warren Buffett es ausdrückte. titionen stiegen um 28 Prozent. Die Zahl darauf haben, welchen Weg die deutsche men: Es gibt mit knapp 43 Millionen so amts noch etwa fünf Jahre anhalten. kaum noch Sorgen um ihre Stellen mader geleisteten Arbeitsstunden stieg um Wirtschaft in den kommenden zehn JahDeutschland hat mit seinem nachhalviele Erwerbstätige wie noch nie. Ent- Doch danach wird die Bevölkerung bis chen, werden in Zukunft höhere Lohngut fünf Prozent, deutlich langsamer als ren einschlagen wird. Da sind zunächst tigen, auf industrieller Kompetenz besprechend sinkt die Anzahl der Arbeitslo- zum Jahr 2060 selbst bei der optimististeigerungen als in den vergangenen ruhenden Wachstumsmodell gute die Zahl der Erwerbstätigen. Die Arbeits- Themen, die auf Verfügbarkeit und Einsen. Zugleich steigt die Zahl der Renten- scheren Variante mit einer jährlichen beiden Jahrzehnten durchkämpfen. Chancen, dauerhaft erfolgreich zu sein. produktivität, also das BIP je bezahlter satz des Faktors Arbeit einwirken: die deempfänger von aktuell gut 25 Millionen Nettozuwanderung von durchschnittlich Auf den unausweichlichen demograEs darf nur nicht kollektiv in SelbstzuArbeitsstunde, ist in der letzten Dekade mografische Entwicklung und, eng damit kaum an. Denn es sind derzeit noch die 230 000 Menschen um acht Millionen fischen Wandel müsste die Regierung friedenheit verfallen. Angehörigen der geburtenschwachen auf 73 Millionen schrumpfen. die Gesellschaft jetzt vorbereiten. Das nur um knapp sieben Prozent gestiegen. zusammenhängend, die Entwicklung der Xinhua / Polaris /Studio X zum Anlass genommen, um die Auswirkungen einer zu erwartenden Verschlechterung der äußerst günstigen Rahmenbedingungen auf die deutsche Wirtschaft durchzurechnen. Auf Grundlage eines Prognosemodells des Londoner Wirtschaftsforschungsinstituts NIESR hat das HRI drei Projektionen aufgestellt: eine Positiv-Projektion, die davon ausgeht, dass die Leitzinsen der EZB und der Ölpreis auf den aktuellen Niveaus bleiben und die Staatsausgaben sich aus sicherheitspolitischen Gründen erhöhen. Eine Negativ-Projektion, die mit einem deutlichen Anstieg beider Werte rechnet, sowie eine Basis-Projektion. Zusätzlich enthält die positive Variante noch höhere Zuwandererzahlen als die negative. 54 PROGNOSE 2025 WOCHENENDE 19./20./21. JUNI 2015, NR. 115 1 PROGNOSE 2025 55 WOCHENENDE 19./20./21. JUNI 2015, NR. 115 1 Chancen und Risiken für die deutsche Wirtschaft Drei exklusive Projektionen des Handelsblatt Research Institute zeigen: Im besten Fall sind 2,3 Prozent Wachstum jährlich in den kommenden zehn Jahren möglich, im ungünstigsten Fall aber nur 1,1 Prozent. Drei Projektionen für Deutschland Annahmen für die Projektionen: Basis UN-Data Reales Bruttoinlandsprodukt Deutschland Durchschnittliches Wachstum Durchschnittliche Inflation (Index 2015 = 100) pro Jahr 2015 bis 2025 in Prozent pro Jahr 2015 bis 2025 in Prozent 130 5,4 +2,3 % 500 000 Zuwanderung + Abschmelzen auf 200 000 (2021) Negativ 500 000 Zuwanderung + Abschmelzen auf 100 000 (2021) nach ILO-Standard in Prozent +2,4 % Positiv Demografie Arbeitslosenquote Negativ: 5,19 % Positiv: 125,5 5,2 +2,0 % 125 Basis: 5,14 % Basis 5,0 Endogen im Modell bestimmt Positiv 120 +1,5 % Linearer Anstieg der Staatsausgaben Staatsausgaben um 1 % des BIP bis Ende 2020 4,8 (Aufteilung in Investition und Konsum) Keine Änderung zur Basis +1,3 % Basis: 115,7 Negativ 115 +1,1 % Basis Positiv Konstanter Ölpreis von 60 US$ bis 2025 Öl 4,6 Negativ: 111,9 Anstieg auf 96 US$ bis 2025 110 Positiv: 4,39 % 4,4 Negativ Kontinuierlicher Anstieg des Ölpreises auf 150 US$ bis 2025 105 4,2 Basis Anstieg bis 3,7 % bis 2025 Positiv Zinsen 0,05 % bis 2025 Negativ Schneller Anstieg auf 4,25 % bis 2021 4,0 100 2015 2025 Negativ Basis Positiv Negativ Basis 2015 Positiv 2025 Quellen: NIESR, Handelsblatt Research Institute Handelsblatt BASIS-PROJEKTION NEGATIV-PROJEKTION POSITIV-PROJEKTION Solides Wachstum Normalisierung mit Folgen Krisengewinner Deutschland D D I as Nationale Institut für Wirtschaftsund Sozialforschung (NIESR) in London hat das Weltwirtschaftsmodell NiGEM entwickelt. Dieses Modell kombiniert historische Wirtschaftsdaten mit Erkenntnissen der modernen Wachstumstheorie – und ermöglicht so Berechnungen der künftigen ökonomischen Entwicklung bei einer Variation von Annahmen. Auf der Basis dieses Modells hat das Handelsblatt Research Institute (HRI) Projektionen der wirtschaftlichen Entwicklung Deutschlands erarbeitet. In das Modell gehen detaillierte Daten von gut 60 Staaten und Regionen sowie zum Welthandel und den Kapitalmärkten ein. Dazu gehören Daten der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, Preise und Preiserwartungen, Einnahmen und Ausgaben der privaten Haushalte, zum Außenhandel und Kapitalverkehr, zum Staatshaushalt und dem Sozialsystem, zu Arbeitsmarkt und Bevölkerung, zu Wechselkursen und Geldmengen, zum Kapitalstock, zu Steuern und zu Rohstoffpreisen. Allein für Deutschland werden 189 Variablen einbezogen. Damit erlaubt das Modell die Modellierung der gesamten Weltwirtschaft, aber auch der Auswirkungen politischer Entscheidungen oder wirtschaftlicher Veränderungen. Aus diesem Grund wird es von vielen Wirtschaftsforschern und Finanzinstituten wie der EZB, der OECD und dem IWF für Simulationsrechnungen und Projektionen eingesetzt. Die in dieser Analyse verwendete Basis-Pro- jektion entspricht der Prognose, die NiGEM aktuell für die Entwicklung der deutschen Wirtschaft stellt. Das Modell sagt für das deutsche Bruttoinlandsprodukt (BIP) bis 2025 eine durchschnittliche jährliche Wachstumsrate von 1,5 Prozent voraus. Damit würde das mittelfristige Wachstumstempo geringfügig unter dem der Jahre 2014 und 2015 liegen. Die Inflationsrate erhöht sich in der Basis-Projektion von gegenwärtig unter einem Prozent auf einen durchschnittlichen Wert von zwei Prozent über die kommenden zehn Jahre hinweg. Das entspricht fast punktgenau dem Inflationsziel der Europäischen Zentralbank. Für die Positiv- und die Negativ-Projektion hat das Handelsblatt Research Institute einige wichtige Einflussfaktoren variiert: die Entwicklung der Bevölkerungszahl, der Staatsausgaben, des Ölpreises und der EZB-Leitzinsen. Die Annahmen, die der Basis-Projektion zugrunde liegen, sind eine Bevölkerungsentwicklung gemäß der aktuellen Vorausberechnung der Vereinten Nationen, ein Anstieg des Ölpreises von gegenwärtig etwa 60 Dollar je Wachstum sagt die Barrel auf 96 Dollar bis zum Jahr 2025 sowie ein Basis-Projektion der Anstieg des EZB-Leitzinses deutschen Wirtschaft von aktuell 0,05 Prozent bis 2025 im Jahres auf 3,7 Prozent. Das würde schnitt voraus. einer relativ langsamen Normalisierung der Zinspolitik entsprechen. Dirk Heilmann, Bert Rürup 1,5 % © Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an [email protected]. eutschland befindet sich derzeit in einer paradoxen Situation: Die Krise in der Euro-Zone hat ein Zinsumfeld geschaffen, das für die deutsche Wirtschaft seit Jahren deutlich zu expansiv ist. Und gemessen an der Stärke der deutschen Wirtschaft, ist der Euro unterbewertet. Deutschland ist also ein Gewinner der Euro-Krise. Das gilt nicht nur für den Staat, sondern auch für die Unternehmen und privaten Haushalte. Hinzu kommt der Verfall des Ölpreises, der ein zusätzliches Konjunkturprogramm darstellt. Auf der anderen Seite gehen diese Rahmenbedingungen zwar mit einer schwachen Konjunktur auf vielen Absatzmärkten der deutschen Industrie und mit Einbußen für Anleger einher. Aber die positiven Effekte auf das deutsche Wirtschaftswachstum überwiegen. Deutsche Produkte sind zumeist Investitions- und hochwerte Konsumgüter. Diese Produkte sind wenig preisabhängig und werden auch in ökonomisch schwächeren Zeiten gekauft. Die Ausfuhrrekorde der vergangenen Jahre vor dem Hintergrund einer relativ schwachen Weltwirtschaft haben dies eindrucksvoll belegt. In der Negativ-Projektion wird die deutsche Wirtschaft nun aber aus dem äußerst günstigen Umfeld niedriger Zinsen und Ölpreise vertrieben. In dieser Projektion erhöht sich der Ölpreis von gegenwärtig rund 60 Dollar je Barrel in den kommenden zehn Jahren auf 150 Dollar – einem Niveau, das er im Sommer 2008 schon einmal fast erreicht hatte. Der Leitzins der EZB steigt in dieser Projektion von derzeit 0,05 Prozent Wachstum sagt die bis 2021 auf 4,25 Negativprojektion der Prozent. Das ist ein realistischer deutschen Wirtschaft Wert für Aufbis 2025 im Jahres schwungsphasen, schnitt voraus. der zuletzt im Herbst 2008 erreicht wurde. Zur Bevölkerungsentwicklung wird angenommen, dass die Nettozuwanderung nach Deutschland von aktuell 500 000 Personen im Jahr bis 2021 auf 100 000 Personen zurückgeht. Dies entspricht der pessimistischeren Hauptvariante der jüngsten Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamts vom April dieses Jahres. Die Staatsausgaben bleiben im Vergleich zur Basis-Projektion unverändert. Insgesamt ergibt die Negativ-Projektion eine durchschnittliche jährliche Wachstumsrate von 1,1 Prozent im Vergleich zu 1,5 Prozent in der Basis-Variante. Zu dem schwächeren Ergebnis tragen in erster Linie die höheren Zinsen und an zweiter Stelle die steigenden Ölpreise bei. Die Zuwanderung hat nur einen sehr geringen positiven Effekt auf das Wachstum im Vergleich zur Basis-Variante. 1,1 % Dirk Heilmann, Bert Rürup n der Positiv-Projektion bleibt die Dynamik der Weltwirtschaft ebenso moderat wie die Probleme in einer Reihe von Euro-Ländern. Deshalb ist es plausibel, dass, wie in dieser Simulation angenommen, uns die extrem lockere Geldpolitik und der relativ niedrige Ölpreis zehn weitere Jahre erhalten bleiben. Das damit verbundene Doping der deutschen Wirtschaft hält an. In der Positiv-Projektion wird davon ausgegangen, dass das derzeit niedrige Niveau der Leitzinsen und des Ölpreises bis zum Jahr 2025 bestehen bleibt. Dies bedeutet: Der Ölpreis wird in den kommenden zehn Jahren auf dem gegenwärtigen Niveau von rund 60 Dollar je Barrel verharren. Das ist plausibel, wenn Iran nach dem Ende der Sanktionen seine Ölexporte massiv erhöht, sich die Lage im Irak beruhigt, die Investitionen in Öl-Fracking in den USA wieder anziehen – und bei alldem Saudi-Arabien seine Produktion weiterhin nicht drosselt. Mit Blick auf die Zinspolitik der EZB wird in dieser Projektion davon ausgegangen, dass der Leitzins noch zehn Jahre lang auf dem historischen Tief von 0,05 Prozent bleibt. Das erscheint aus wirtschaftlicher Sicht eine etwas vermessene Annahme, aber es gibt gewichtige politische Gründe dafür. Die EZB wird vor einer Zinserhöhung unter massiven Druck geraten, weil die hochverschuldeten Staaten der EuroZone bei einem in früheren Zyklen üblichen Anstieg des Leitzinses bis auf rund vier Prozent sofort in größere Haushaltsprobleme geraten würden. Ein Wiederaufflammen der EuroSchuldenkrise kann die EZB nicht zulassen. Die Nettozuwanderung nach Deutschland sinkt in dieser Projektion langsamer: von 500 000 Personen im Jahr auf 200 000 im Jahr 2021. Das entspricht der optimistischeren Hauptvariante der Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamts. Außerdem wird ein Anstieg der Staatsausgaben um ein Prozent des BIP bis Ende 2020 angenommen, weil mit bisher nicht vorgesehenen Ausgaben für militärische Einsätze gerechnet wird, die sich aus wachsenden Anforderungen an eine Führungsrolle Deutschlands ergeben. So führt die Positiv-Projektion zu einer durchschnittlichen jährlichen Wachstumsrate von 2,3 Prozent im Vergleich zu 1,5 Prozent in der Basis-Variante. Mehr als die Hälfte der Differenz tragen die niedrigen Zinsen bei. Auf rund 0,2 Prozentpunkte beläuft sich der Beitrag der niedrigen Ölpreise und auf gut 0,1 Prozentpunkte der der Wachstum sagt die Zuwanderung. Dirk 2,3 % Positiv-Projektion der deutschen Wirtschaft bis 2025 im Jahres schnitt voraus. Heilmann, Bert Rürup Dennis Huchzermeier und Bernhard Köster vom HRI haben die drei Szenarien berechnet. 56 PROGNOSE 2025 WOCHENENDE 19./20./21. JUNI 2015, NR. 115 2 PROGNOSE 2025 57 WOCHENENDE 19./20./21. JUNI 2015, NR. 115 2 Deutschlands wirtschaftliche Zukunft Es sind zehn Faktoren, die über mehr oder weniger Wohlstand in der Bundesrepublik entscheiden. Dazu gehören die demografische Entwicklung, die Arbeitskosten und die langfristigen Kapitalmarktzinsen. Auch die Bildungspolitik und die Herausforderungen durch die Digitalisierung sind enorm wichtig. 1. DEMOGRAFIE 2. ZINSEN Bevölkerung Leitzinsen in der Euro-Zone Lohnstückkosten nach Altersgruppen in Millionen in Prozent Prozentuale Veränderung seit 2000 Deutschland G7 4. ARBEITSKOSTEN 3. ÖLPREIS 5,0 +30 0,05 % Frankreich +29,6 % USA +26,2 % 820,3 742,6 65+ Jahre 209,8 125,3 +20 4,0 Millionen 15 bis 64 J. 477,6 490,6 5. DIGITALISIERUNG Deutschland +16,6 % 3,0 +10 2,0 +0 1,0 -10 83,0 2010 76,4 2040 0 bis 14 J. 132,9 126,6 Millionen 2010 Quelle: UN Handelsblatt 0 Jan. 2000 2040 Juni 2015 Quelle: Bloomberg Handelsblatt Japan -14,8 % -20 2000 2015 Quelle: OECD Handelsblatt dpa 17,3 54,6 11,1 65+ Jahre 24,3 Millionen 15 bis 64 J. 42,5 Millionen 0 bis 14 J. 9,5 Millionen picture-alliance / dpa Millionen Enormer Bedarf Hohe Einsparungen Entscheidender Faktor Steigende Löhne Verpasste Chancen S F D D A chon jetzt klagt die Wirtschaft massiv über Fachkräftemangel. Zuletzt lag die Zahl der unbesetzten Stellen auf Rekordniveau. Ab 2020 könnte diese Situation endgültig zum Dauerzustand werden: Dann nämlich setzt der demografische Wandel voll ein – die Zahl der Deutschen wird sinken, sagt das Statistische Bundesamt voraus. Außerdem werden die Deutschen im Schnitt auch immer älter: Bis 2060 dürfte nicht mehr jeder fünfte Deutsche im Rentenalter sein, sondern jeder dritte. Das Potenzial an Arbeitskräften sinkt also noch schneller. Gelindert werden könnte der Fachkräftemangel durch eine höhere und stetige Zuwanderung. Doch der Bundesrepublik fällt es schwer, sich als Einwanderungsland zu sehen. Dabei gibt es einen enormen Bedarf: Selbst wenn die Nettozuwanderung nur von 500 000 auf 200 000 Menschen im Jahr abnähme, würde die Bevölkerung bis zum Jahr 2060 von heute 81 auf 73 Millionen sinken, schätzen Fazit die Statistiker. Um trotzdem ein nennenswertes Wohlstandswachstum zu sichern, braucht das Land dringend einen Produktivitätsschub. Der aber ist derzeit nicht abzusehen: Seit vier Jahren stockt der technische Fortschritt mehr oder weniger. Besserung ist kaum in Sicht – schließlich investieren Deutschlands Firmen relativ wenig in neue Projekte. Eine Studie der KfW-Bankengruppe zeigte kürzlich, dass gerade ältere Unternehmer weniger Geld in ihre Firmen investieren als jüngere. Angesichts der Alterung der Bevölkerung könnte daraus ein regelrechter Teufelskreis werden. Hans-Christian Müller 73 Mio. Deutsche wird es im Jahr 2060 nur noch geben, wenn die Zuwanderung deutlich zurückgeht. Statistisches Bundesamt Wenn immer weniger Menschen im Erwerbsalter immer mehr Menschen im Rentenalter unterstützen müssen, stellt das eine Volkswirtschaft vor große Herausforderungen. Zwar kann man einen Teil der Renten erwirtschaften, indem Ersparnisse im Ausland angelegt werden. Der Löwenanteil aber muss aus dem Inland kommen. Wenn die Zahl der Arbeitskräfte sinkt, braucht die Ökonomie besonders dringend einen Produktivitätsboom. Der Grundstein dafür muss jetzt gelegt werden. inanzminister Wolfgang Schäuble inszeniert sich gerne als eiserner Sparkommissar. Und tatsächlich war er der erste Bundesfinanzminister seit Alex Möller im Jahr 1970, der mit seinen Einnahmen auskam. Wesentlichen Anteil daran hatte freilich das Zinstief – vor allem eine Folge der expansiven Geldpolitik der EZB. Zeitweise warfen Anleihen mit einer Laufzeit von bis zu sieben Jahren negative Renditen ab; Schäuble bekam von den Finanzmärkten also Geld fürs Schuldenmachen. Das Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW) schätzt, dass allein dieses Jahr die Einsparungen beim Bund rund 20 Milliarden Euro betragen. Als Vergleichsmaßstab wählten die Ökonomen das durchschnittliche Zinsniveau der Jahre 1999 bis 2008 für Bundesanleihen unterschiedlicher Laufzeit; es lag zwischen gut drei und fast 4,5 Prozent. „Vergleicht man die Zinslast der Neuemissionen, die in den Jahren 2009 bis 2014 getätigt wurden, mit der hypotheti- schen Zinslast, die bei historischen Mittelwerten fällig gewesen wäre, liegen die kumulierten Einsparungen bis 2030 bei insgesamt 160 Milliarden Euro“, rechnet IfW-Finanzexperte Jens Boysen-Hogrefe vor. Das heißt aber umgekehrt: Wenn die Euro-Zone die Krise hinter sich lässt und die Zinsen in den kommenden zehn Jahren wieder in Richtung der historischen Mittelwerte steigen, dann wächst auch die Zinslast wieder entsprechend. Der fiskalpolitische Spielraum wird schrumpfen und den dann amtierenden Finanzminister vor schmerzliche Entscheidungen stellen – schon wegen der in der Verfassung verankerten Schuldenbremse. Auch für Unternehmen und Bürger wird die Kreditaufnahme für Investitionen oder den Kauf von Immobilien wieder teurer. Freuen werden sich allerdings Anleger, die nach langer Durststrecke wieder vernünftige Zinsen bekommen. Auch für die Pensionskassen und Versicherungen wären höhere Zinsen eine willkommene Entlastung. Axel Schrinner Fazit Es scheint wahrscheinlich, dass die Zinsen in Europa ab etwa 2017 wieder steigen und in den 2020er-Jahren wieder historisches Durchschnittsniveau erreichen. Bis sich das spürbar auf die Zinszahlungen der Wirtschaft und öffentlichen wie privaten Haushalte durchschlägt, wird es wegen der üblichen Zinsbindung weitere Jahre dauern. Damit wird die Zinslast gerade dann spürbar steigen, wenn die Demografieprobleme immer größer werden, also zum Ende des kommenden Jahrzehnts. © Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. 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Umgekehrt würde es das BIP-Wachstum Jahr für Jahr um 0,2 Prozentpunkte anheben, wenn der Ölpreis bis Fazit Der Ölpreis ist ein großer Unsicherheitsfaktor für die deutsche Konjunktur. Vor allem deshalb, weil die Wechselwirkungen groß sind. Steigt der Ölpreis infolge einer boomenden Weltwirtschaft, werden die negativen Effekte des Öl- 0,2 Prozentpunkte würde das Wachstum jährlich steigen, wenn der Ölpreis bis 2025 bei 60 Dollar bliebe. HRI 2025 bei 60 Dollar bliebe, wie in der Positiv-Projektion unterstellt. In welche Richtung sich der Preis künftig bewegen wird – darüber sind sich die Experten uneins. Kurzfristig rechnet etwa Goldman Sachs mit einem Rückgang des Preises unter 45 Dollar je Barrel. Andere Energieexperten schließen dagegen nicht aus, dass der Ölpreis bei einer kräftigen Erholung der Weltwirtschaft mittelfristig bis auf 150 Dollar steigen könnte. Dass der Preis noch höher steigen könnte, davon gehen die sogenannten Peak-Oil-Theoretiker aus. Sie glauben, dass die Erdölvorräte das Maximum ihrer möglichen Fördermenge erreicht haben. Jens Münchrath preisanstiegs durch positive Wirkungen auf die Exportindustrie überkompensiert. Steigt der Preis aufgrund eines Fördermengenausfalls wegen eines Krieges im Nahen Osten, schlagen die negativen Wirkungen voll durch. eutsche Arbeitnehmer können sich derzeit über ordentliche Lohnerhöhungen freuen. Im ersten Quartal 2015 lagen die Tarifverdienste im Schnitt um 2,7 Prozent höher als ein Jahr zuvor. Und weil die Verbraucherpreise fast stagnierten, ist das nominelle Plus auch ein reales. Daher spricht viel dafür, dass der Reallohnindex in diesem Jahr erneut einen kräftigen Sprung macht. Bereits 2014 hatte der Index um 1,7 Prozent zugelegt – das war der höchste Anstieg seit Beginn der Zeitreihe im Jahr 2008. Die insgesamt sehr gute Verfassung der deutschen Wirtschaft und der vor allem in einigen Regionen und bestimmten Berufen deutlich spürbare Fachkräftemangel deuten darauf hin: Auch in den kommenden Jahren dürften die Löhne spürbar steigen. „Höhere Löhne können aus gesamtwirtschaftlicher Perspektive unterschiedliche Wirkungen haben“, sagt Michael Holstein von der DZ Bank: Sie können kurzfristig die Kaufkraft und damit den privaten Konsum stärken, sie könnten Fazit aber auch mittel- und langfristig zu einem Verlust an Wettbewerbsfähigkeit führen. Im Jahr 2014 zahlten Arbeitgeber in der Privatwirtschaft durchschnittlich 31,80 Euro pro Arbeitsstunde. Damit war Deutschland das achtteuerste Land in der EU. Dänemark hatte mit 42 Euro die höchsten Arbeitskosten je Stunde, Bulgarien mit 3,80 Euro die niedrigsten. Im verarbeitenden Gewerbe, das sich starkem internationalem Konkurrenzdruck ausgesetzt sieht, kostete eine Arbeitsstunde in Deutschland 2014 im Schnitt 37 Euro. Hier lag Deutschland im EU-weiten Vergleich auf Rang vier. Blickt man aber über den Tellerrand der Euro-Zone hinaus, spielt ein anderer Faktor eine entscheidende Rolle: der Wechselkurs. So hat der Euro nicht nur gegenüber dem Dollar, sondern etwa auch gegenüber der indischen Rupie binnen eines Jahres rund elf Prozent an Wert verloren. Arbeit in Deutschland ist also im Vergleich zu Arbeit in Indien deutlich billiger geworden. Axel Schrinner Deutschland war nach dem Ende des New-Economy-Booms EUweites Schlusslicht bei der Entwicklung der Arbeitskosten. Sie stiegen in Deutschland in den Jahren 2001 bis 2007 im Schnitt um 1,7 Prozent pro Jahr, gut einen Punkt langsamer als im gesamten Euro-Raum. Die späteren Krisenländer Irland, Spanien und Griechenland boomten damals; ihre Arbeitskosten stiegen rasant – bis die Party endete. Nun kehrt sich der Trend um – noch ist das keine Gefahr für Deutschland. uf den ersten Blick scheint Deutschland auf das digitale Zeitalter bestens vorbereitet zu sein. Das Bundeswirtschaftsministerium hat eigens eine eigene „digitale Agenda“ erstellt. Auf der entsprechenden Webseite findet man nicht nur das Versprechen, dass Berlin „den digitalen Wandel aktiv fördern und gestalten will“. Dort ist auch von „nationalen IT-Gipfeln“, einer Plattform für die „Industrie 4.0“ und einer „Internet-Botschafterin“ die Rede. Der Aktionismus ist verständlich, bietet doch die Digitalisierung die Chance, die zuletzt niedrigen Produktivitätszuwächse in der Wirtschaft zu steigern. Die positive Botschaft fürs Volk steht jedoch im krassen Gegensatz zu Warnungen von Wirtschaftsstaatssekretär Matthias Machnig: Nach seiner Meinung droht der deutsche Mittelstand die Digitalisierung zu verpassen, weil er Angst um seine Daten hat. Die fehlende Datensicherheit ist jedoch nur eine Lücke in der digitalen Agenda. Obwohl Deutschland dank seiner guten Infrastruktur wie nur Fazit wenig andere Länder von den neuen Technologien profitieren könnte, hört man von Politikern vor allem defensive Töne. Von einem „deutschen Internet“ ist da die Rede und von der Zerschlagung des US-Konzerns Google. Hier mischt sich kleinstaatliches Denken mit technologischer Naivität. Hinderlich ist auch, dass mit den Wirtschafts-, Innen- und Verkehrsministerien gleich drei Behörden für die Digitalisierung zuständig sind. Der Branchenverband Bitkom bemängelt auch, dass die Bundesregierung zu wenig für Innovationen tue, und fordert eine gezielte Forschungsförderung und Zuwanderung von IT-Spezialisten. Klar ist: Im digitalen Leistungsvergleich liegt Deutschland nur auf Platz zehn in Europa. Aber auch auf europäischer Ebene liegen Anspruch und Wirklichkeit weit auseinander. Die EUKommission hat jüngst eine Strategie für einen „digitalen Binnenmarkt“ vorgestellt. Dabei gleicht Europa auf Feldern wie Datenschutz und Urheberrecht immer noch einem Flickenteppich. Torsten Riecke Anspruch und Wirklichkeit der Politik liegen bei der Digitalisierung weit auseinander. Deutschland gilt zwar als das weltweit am besten vernetzte Land. Diese Pole-Position droht in den nächsten Jahren aber verloren zu gehen, wenn die Bundesregierung aus ihrer allgemeinen digitalen Agenda nicht endlich eine konkrete Strategie entwickelt. Die Haltung in Berlin gleicht bislang einem Abwehrreflex. Dabei haben deutsche Firmen beim Zukunftsthema Datensicherheit große Marktchancen. 58 PROGNOSE 2025 WOCHENENDE 19./20./21. JUNI 2015, NR. 115 2 2 6. ENERGIEPOLITIK 7. SICHERHEITSPOLITIK 8. GRÜNDUNGEN Strompreise für die Industrie Zahl der gewerblichen Unter Prozentuale Veränderung seit 2005 in Deutschland pro Jahr in Deutschland +57,5 % +60 +50 PROGNOSE 2025 59 WOCHENENDE 19./20./21. JUNI 2015, NR. 115 9. BILDUNG 10. SOZIALE MOBILITÄT nehmensgründungen Gesamtvermögen in Deutschland Wie viel Prozent besitzen die oberen 10 Prozent 500 000 2005: 9,73 Cent/kWh kWh 2015: 15,32 Cent/kWh 421 364 2000 63,9 % 400 000 +40 300 000 275 27 75 769 +30 200 000 +20 100 000 0 ±0 2005 2000 Quelle: BDEW dpa 2015 Handelsblatt | inkl. Stromsteuer Handelsblatt | ohne Automatenaufsteller, freie Berufe 2014 und Reisegewerbe Quelle: IfM Bonn Erhebliche Risiken Mehr Verantwortung Mangelnde Risikokultur W M W er die Kosten der Energiewende summiert, landet schnell bei dreistelligen Milliardenbeträgen. Allein die Förderung der Stromgewinnung aus Sonne, Wind, Wasser und Biomasse schlägt Jahr für Jahr mit mehr als 20 Milliarden Euro zu Buche. Hinzu kommen die Kosten für den Ausbau der Netze und die Anpassung des konventionellen Kraftwerksparks. Dass gleichzeitig in der Erneuerbare-Energien-Branche viele Jobs entstanden sind, vermag die hohen Kosten nicht annähernd aufzuwiegen. Ist und bleibt die Energiewende somit ein Verlustgeschäft für die gesamte Volkswirtschaft? Zunächst ja, aber sie bleibt es hoffentlich nicht. Derzeit machen sich die Vorteile der Energiewende nur begrenzt bemerkbar. Hauptgrund sind die niedrigen Preise für Energierohstoffe wie Kohle und Öl. Doch alle langfristigen Prognosen gehen angesichts des weltweit rasant wachsenden Energiebedarfs davon aus, dass die niedrigen Notierungen für Energierohstoffe nur ein vorübergehendes Phänomen sind. Auf mittlere Sicht wird man sich an höhere Preise gewöhnen müssen. Dann werden die positiven Effekte der Energiewende stärker zum Tragen kommen – und können sich zum Wettbewerbsvorteil für die deut- Fazit sche Wirtschaft entwickeln. Doch die sinkende Abhängigkeit von importierten Energierohstoffen ist nur ein Aspekt. Wenn die Umstellung auf erneuerbare Energien in einem Industrieland wie Deutschland ohne allzu große Kollateralschäden gelingt, wird Deutschland zum Vorbild für andere Länder. In Deutschland sitzen dann die Unternehmen mit weit entwickelter Technik und Systemkompetenz. Die derzeitige Belastung durch die Energiewende hätte sich zu einer großen Chance entwickelt. Allerdings sind die Unwägbarkeiten erheblich. Skeptiker mutmaßen, dass auf dem Weg in die schöne neue Energiewelt klassische Industriebranchen auf der Strecke bleiben – und Deutschland sich seiner industriellen Basis beraubt. Die Politik betont immer wieder, sie habe diese Gefahr erkannt. Sie gelobt, es so weit nicht kommen zu lassen. Hoffentlich gelingt ihr das. Klaus Stratmann 23 Mrd. Euro kostet jedes Jahr die Förderung der „grünen“ Stromgewinnung. Netzbetreiber Die Energiewende ist ein gewagtes Experiment. Sie verschlingt Milliarden und bürdet gerade den großen Stromverbrauchern aus der Industrie hohe Belastungen auf, die Wettbewerber aus anderen Ländern so nicht haben. Kompensationszahlungen an besonders Betroffene sind daher unumgänglich. Die Politik muss dafür sorgen, dass die Energiewende die Industrie nicht aus dem Land treibt und die Versorgungssicherheit nicht gefährdet. Gelingt das, birgt die Wende große Chancen – nicht zuletzt deshalb, weil sie ein Exportschlager werden kann. ehr als 2 000 Soldaten, Kampf- und Schützenpanzer, Helikopter, Artillerie: Die Nato übt im polnischen Zagan derzeit, unter den Augen von Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen und Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg, in der Übung „Noble Jump“ die Verlegung ihrer schnellen Eingreiftruppe. Aufgestellt im Zuge des Ukraine-Konflikts, um Russland abzuschrecken. Die Manöver kosten Millionen und sind eine Herausforderung für die Bundeswehr – die nötige Ausrüstung der Einheiten musste im ganzen Land mühsam zusammengesucht werden. Die Mängelverwaltung ist Ergebnis des Sparkurses des vergangenen Vierteljahrhunderts, in dem die Truppenstärke stark verringert wurde. Die Friedensdividende nach dem Ende des Kalten Krieges ist inzwischen komplett ausgeschüttet. Die vielen Konflikte in der Nachbarschaft, in der Ukraine, im Irak, in Syrien oder Libyen, haben ein neues Bedrohungsbewusstsein in Politik wie Bevölkerung entstehen lassen. Zugleich wachsen die Erwartungen der Verbündeten an Deutschland: Die Zeiten, in denen sich die Bundesregierung auf Scheckheft-Diplomatie zurückziehen konnte, scheinen vorbei. Die Bundesregierung ist sich der neuen Verantwortung be- 2 Mrd. Euro zusätzlich pro Jahr bekommt die Bundeswehr ab 2016. Bundesregierung wusst, die der größten Wirtschaftsmacht des Kontinents zukommt. „Gleichgültigkeit ist für ein Land wie Deutschland keine Option“, kündigte von der Leyen Anfang 2014 auf der Münchener Sicherheitskonferenz an. Bis Mitte nächsten Jahres will die Regierung unter ihrer Federführung ein neues Weißbuch erarbeiten, in dem die neue Sicherheitspolitik formuliert werden soll. Die Große Koalition hat angekündigt, den Verteidigungsetat deutlich anzuheben: In den kommenden vier Jahren soll die Bundeswehr jeweils rund zwei Milliarden Euro mehr bekommen. Mit dem Geld sollen unter anderem 100 bereits ausgemusterte Leopard-II-Panzer wieder flottgemacht werden. Das Heer bekommt außerdem 160 neue Transportpanzer, von der Leyen brachte gerade Milliardenaufträge für ein neues Luftverteidigungssystem und neue Kriegsschiffe auf den Weg. Till Hoppe Fazit Aus geschichtlichen Gründen hat sich Deutschland jahrzehntelang in der internationalen Sicherheitspolitik zurückgehalten. Das wachsende wirtschaftliche und politische Gewicht der Bundesrepublik in Europa führt aber dazu, dass die Partner mehr Engagement fordern – wenn nötig auch militärisch. Die Großmacht USA will nicht länger weitgehend allein für das Krisenmanagement etwa im Nahen Osten verantwortlich sein. Mehr Verantwortung zu übernehmen aber heißt: höhere Ausgaben für die Bundeswehr und wohl auch für die Geheimdienste. © Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an [email protected]. ahrscheinlich liegt es auch daran, dass es in Deutschland erstaunlich umständlich ist, eine neue Firma anzumelden: Mehr als 14 Tage ist man vorher mit dem Papierkram beschäftigt, haben die Experten vom Weltwirtschaftsforum in Davos ausgerechnet. In 73 Ländern auf der Welt geht es schneller. Nein, Deutschland ist wahrlich kein klassisches Gründerland: Gerade einmal sechs Prozent der Deutschen planen, in den nächsten drei Jahren eine Firma an den Start zu bringen, zeigen Umfragedaten des Global Entrepreneurship Monitors. Mit Ausnahme von Japan ist dieser Wert in allen G7-Staaten doppelt so hoch. Für die Volkswirtschaft kann es mittelfristig zum Problem werden, wenn es kaum jemand wagt, das Risiko der Selbstständigkeit der Sicherheit des Arbeitnehmerstatus vorzuziehen. Das gilt heute mehr als früher: Während es in der Industrie lange darum ging, mit der Großproduktion Mengenvorteile zu erzielen, kommt es inzwischen immer mehr auf passgenaue, technologisch ausgefeilte Produkte an. Doch dafür ist es notwendig, dass möglichst viele Ideen am Markt getestet werden. Natürlich müht man sich: Gründerzentren bieten günstige Büroräume, die Unis helfen ihren Absolventen, außerdem gibt es Ideen-Wettbewerbe um Fördermittel. Fazit In der Vergangenheit hatte Deutschlands industriell geprägte Wirtschaftsstruktur viele Vorteile: Um globale Märkte dominieren zu können, brauchen Firmen eine bestimmte Größe. Doch für den Übergang zur Ökonomie von morgen täte es dem Land gut, mehr Mut zu Und es gibt auch Lichtblicke: Zumindest im High-Tech-Bereich ist die Zahl der Gründungen zuletzt gestiegen. Gleichzeitig gibt es unter den Entrepreneuren inzwischen deutlich mehr, die sich selbstständig machen, weil sie eine Chance wahrnehmen wollen – und nicht, weil fehlende Jobchancen sie dazu zwingen, wie eine Umfrage der KfW-Bankengruppe zeigt. Und in Berlin gibt es sogar eine regelrechte Start-upSzene, manche sprechen gar von Europas Digitalhauptstadt. Doch insgesamt gelingt es noch immer nicht, erfolgversprechende Start-ups von der Garage bis zur Börsenreife zu führen: Manche werden von großen US-Konzernen wie Apple und Microsoft weggekauft. Manche überleben die Wachstumsphase nicht: Im europäischen Vergleich ist der Anteil der neuen Firmen, die nach zwei Jahren noch aktiv sind, sehr klein. Ein Grund dafür dürfte das eher geringe Angebot an Risikokapital sein. Hans-Christian Müller 6% der Deutschen wollen in den nächsten drei Jahren eine Firma gründen. Global Entrepreneurship Monitor zeigen. Sonst mangelt es bald an innovativen Ideen. Die Politik sollte es Firmengründern einfacher machen, indem sie den Zugang zu Kapital erleichtert und Bürokratie abbaut. Und die Menschen müssen umdenken: Mit einer Idee zu scheitern darf kein Makel sein. 2014 ddp images/Martin Oeser +10 61,7 % Handelsblatt Quelle: Credit Suisse Global Wealth Report Zu viele Abbrecher Fehlende Perspektive D D ie Bildungsrepublik Deutschland birgt weit mehr Risiken als Chancen für die Wirtschaft. Das gilt vor allem für die Quantität des Nachwuchses, also das Arbeitskräftepotenzial: 2015 werden 850 000 junge Menschen die Schulen verlassen, im Jahr 2025 sind es nur noch rund 730 000. Damit sinkt das Potenzial für junge Fachkräfte weit stärker als die Gesamtbevölkerung. Das ist selbst dann ein enormes Problem für Unternehmen, wenn die Konjunktur sich abkühlt. Verschärfend hinzu kommt die Struktur des Nachwuchses: Bei den Akademikern wird es auf Sicht zwar Engpässe bei technischen Berufen geben. Insgesamt aber ist das Nachwuchsproblem hier überschaubar, weil mittlerweile mehr als jeder Zweite an eine Hochschule strebt. Ein Massenproblem steht hingegen der dualen Berufsausbildung ins Haus: Spätestens 2024 sinkt die Gesamtzahl der beruflich Qualifizierten unter den Bedarf. 2030 fehlen nach Prognosen des Bundesinstituts für Berufsbildung dann im günstigsten Fall eine Million nichtakademische Fachkräfte – es könnten auch 1,7 Millionen sein. Als Gegenmaßnahme sollen einerseits Studienabbrecher gewonnen und andere von wenig aussichtsreichen Studienfächern „umgelenkt“ werden. Das größere Potenzial birgt jedoch die Gruppe am unteren Rand: Schulabbre- Fazit 14 % weniger junge Menschen als heute werden im Jahr 2025 die Schulen verlassen. Kultusministerkonferenz cher und solche mit schlechten Abschlüssen. Heute gibt es 1,3 Millionen Menschen zwischen 20 und 29 Jahren ohne Berufsabschluss. Qualitativ sieht es etwas besser aus: Die Pisa-Ergebnisse zeigen über die Jahre einen positiven Trend. Das heißt: Der Nachwuchs lernt heute zumindest in den Kernfächern mehr als vor ein, zwei Jahrzehnten. Auch die Migranten unter den Schülern sind dank vieler Reformen im Schulwesen deutlich besser geworden, ohne aber zu den übrigen Schülern aufgeschlossen zu haben. Die größte Herausforderung der nächsten Jahre besteht daher darin, den kontinuierlich wachsenden Anteil von Migranten und auch Asylbewerbern von mehr als 30 Prozent besser zu fördern. Die Instrumente sind bekannt, oftmals fehlt es an der Umsetzung und an Geld. Ziemlich am Anfang steht die Elitenförderung: Der Anteil der Topschüler ist im internationalen Vergleich recht niedrig. Barbara Gillmann Das Bildungswesen droht einer der entscheidenden Stolpersteine für die deutsche Wirtschaft zu werden, weil es nicht genügend qualifizierten Nachwuchs hervorbringt. Das Problem wird bislang unterschätzt, weil der massive zahlenmäßige Einbruch erst bevorsteht – wenn sich dieser erst am Arbeitsmarkt zeigt, ist es viel zu spät. Nur wenn schnell massiv in die Qualität von Kindergärten und vor allem Schulen investiert wird, kann es gelingen, viel mehr Migrantenkinder und solche aus bildungsfernen Familien besser als bisher auszubilden. ie Ungleichheit ist ein zweischneidiges Schwert für eine Ökonomie: Ein gewisses Maß ist nötig – denn nur wenn die, die sich anstrengen, auch ordentlich dafür belohnt werden, werden sie es überhaupt versuchen. Doch andersherum gilt: Wenn die Menschen daran zweifeln, dass man überhaupt aufsteigen kann, dann werden sie sich im Zweifelsfall nicht die Mühe machen sich anzustrengen. Zu viel Ungleichheit kann also schaden. Genau das belegte jüngst auch eine OECD-Studie: Je ungleicher die Einkommen, desto kleiner ist das Wachstum, so die Forscher. Denn dann investiere die untere Mittelschicht nur wenig Zeit und Geld in die eigene Bildung. Das schade dann ihnen – und damit der ganzen Volkswirtschaft. Vor diesem Hintergrund droht Deutschland Gefahr: Die Einkommen sind stark auseinandergedriftet, zeigen Berechnungen des DIW Berlin – wenn auch größtenteils vor 2005. Seither stagniert die Ungleichheit immerhin. Heute verdienen die einkommensstärksten zehn Prozent knapp ein Viertel des Gesamteinkommens – und damit mehr als die ärmsten 40 Prozent. Im internationalen Vergleich ist die Ungleichheit damit sogar noch eher gering. Anders bei den Vermögen, da ist die Unwucht verhältnismäßig groß: Die reichsten zehn Fazit Prozent besitzen hierzulande gut 60 Prozent des Nettovermögens. Hinzu kommt, dass die soziale Durchlässigkeit der Gesellschaft in Deutschland nicht gerade groß ist, wie die OECD immer wieder kritisiert: In wenigen Ländern hängt der berufliche und gesellschaftliche Status, den jemand erreicht, so sehr vom Status der Eltern ab und so wenig von der eigenen Leistung. So gelingt es gerade einmal jedem vierten Deutschen, einen besseren Abschluss zu machen als die Eltern. Die Lösung ist einfach: mehr Investitionen in die Bildung. Denn die sind in Deutschland verhältnismäßig gering. Das Problem ist klar: Wenn die eigentlich Besten nicht nach oben kommen und mit nachrangigen Aufgaben vorliebnehmen müssen, bedeutet das im Umkehrschluss auch, dass oft die zweite oder dritte Wahl an den wichtigen Positionen sitzt. Das kann einer Volkswirtschaft nicht guttun. Norbert Häring, Hans-Christian Müller 10 % der einkommensstärksten Bürger verdienen ein Viertel des Gesamteinkommens. OECD Das deutsche Konsensmodell, mit starken Betriebsräten und Gewerkschaften und ausgeprägten Arbeitnehmerrechten, funktioniert gut. Aber nur solange die große Mehrzahl das Gefühl hat, mit den Vorgesetzten in einem Boot zu sitzen. Entwickelt sich dagegen eine Haltung des Die-da-oben und Wir-daunten, sinkt der Leistungswille. Und wenn die ganze Gesellschaft zunehmend als unfair wahrgenommen wird – weil die Reichen reich bleiben, weil Kinder von Arbeitern keine Chance haben und weil Einsatz nicht zählt – dann droht Gefahr.
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