Jesus von Nazaret und der Jesus der Christen

Jesus von Nazaret und der Jesus der
Christen
Predigt zu Mk 8,27-35 (B/24)
Khalil Gibran, ein im Libanon geborener Schriftsteller, der
in seinen philosophisch angehauchten Texten einen
Brückenschlag zwischen westlicher und arabischer Kultur
versucht und bis heute für viele nach Lebensweisheit
Suchende ein Geheimtipp ist – Khalil Gibran erzählt in
einer wenig bekannten Geschichte folgendes:
Einmal, alle hundert Jahre, trifft Jesus von Nazareth
den Jesus der Christen in einem Garten
zwischen den Hügeln des Libanon.
Und sie sprechen lange, und jedes Mal geht Jesus von
Nazareth fort,
indem er zum Jesus der Christen sagt:
”Mein Freund, ich fürchte, wir werden niemals,
niemals übereinstimmen.”
Verrückt, was da Khalil Gibran erzählt: Ausgerechnet die
Christen sollten ihren Jesus nicht kennen. Ausgerechnet
die Christen, die doch meinen, am besten über Jesus von
Nazaret Bescheid zu wissen. Die Christen, die wissen:
Jesus ist der Christus, der Sohn Gottes, die zweite
Person der allerheiligsten Dreifaltigkeit, der uns von
Sünde und Tod erlöst hat. Wer sonst sollte eigentlich
diesen Jesus von Nazaret wirklich von innen heraus
kennen, wenn nicht die Christen.
Aber in seiner Geschichte lässt Khalil Gibran
ausgerechnet Jesus von Nazaret dem Jesus der Christen
sagen: „Mein Freund, ich fürchte, wir werden niemals,
niemals übereinstimmen.”
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Haben wir etwas übersehen? Warum macht der Dichter
Gibran einen Unterschied zwischen Jesus von Nazaret
und dem Jesus der Christen? Worauf will er uns
aufmerksam machen?
Ich glaube, er führt die Stimme des Evangelisten Markus
weiter, der im heutigen Evangelium etwas Ähnliches
erzählt. Jesus fragt ab, was „die Leute“ über ihn denken –
und was im Unterschied dazu „seine eigenen Leute“ über
ihn denken. Stolz bekennt Petrus, was wir bis heute für
das Entscheidende an Jesus halten: „Du bist der
Christus, der Messias!“
Und siehe da: Jesus weist diese Antwort zurück. Er
gebietet seinen Jüngern darüber Schweigen. Genauso
wie er den Dämonen Schweigen gebietet, wenn sie Jesus
mit einem so schönen Titel ansprechen (vgl. Mk 3,11).
Soviel sollte klar sein: Mit den schönen Titeln kommen wir
Jesus nicht bei. Bei ihm geht es um etwas anderes. Und
darüber belehrt er seine Jünger in dieser Szene.
Am Ende steht es klipp und klar da. Jesus ruft außer den
Jüngern auch noch die Volksmenge zusammen und sagt
ihnen: „Wer mein Jünger sein will, der verleugne sich
selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach.
Wer sein Leben retten will, wird es verlieren. Wer aber
sein Leben um meinetwillen und des Evangelium willen
verliert, wird es retten.“
Es geht bei Jesus nicht um Titel, sondern um einen
Lebensweg. Und den kann man in den vielen
Geschichten über Jesus lernen.
Jesus ist sich klar: Wer so lebt, wie er es versucht hat,
erntet keinen Lorbeer, der steht nicht als glänzender
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Sieger da. Ja, der wird sogar anecken, gerade bei den
Großen und Mächtigen, besonders bei den religiösen
Führern. Wie hieß es soeben: „Der Menschensohn muss
… von den Ältesten, den Hohenpriestern und
Schriftgelehrten verworfen werden“ (Mk 8,31). Aber Jesus
lässt sich davon nicht beirren. Er vertraut auf seinen Gott:
„Nach drei Tagen werde er auferweckt“ (Mk 8,31), sagt
er.
Liebe Zuhörer,
was Khalil Gibran genauso wie schon der Evangelist
Markus uns Christen fragt ist: Pocht ihr nur auf schöne
Titel für Jesus als Christus und Gottes Sohn, oder geht
und lebt ihr wirklich in den Spuren des Jesus von
Nazaret? Besteht für euch Lebensgewinn und Glück
darin, euch für andere einzusetzen – und dabei ruhig den
Großen auf die Füße zu treten, oder wollt ihr mit dem
Christus und Gottessohn auf den Lippen nur selbst groß
rauskommen?
Oder mit den Worten Jesu selbst gesagt: Denkt ihr Gottes
Gedanken – in den Spuren des Jesus von Nazaret, oder
denkt ihr eure eigenen menschlichen Gedanken – in den
Spuren des Jesus der Christen?
Einleitung
Wenn ein Augustinus im 4. Jh. in die katholische Basilika
von Karthago ging, sah er das Christusbild seines
Jahrhunderts groß auf der Apsiswand: Christus als
Weisheitslehrer.
Wie anders ist das Christusbild, das Matthias Grünewald
über 1000 Jahre später im Isenheimer Altar gemalt hat:
Christus als der Leidende.
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Wie anders wieder das süßliche Jesusbild der Nazarener
im 19. Jahrhundert und der Schwester Faustina, das sich
vor allem in konservativ geprägten Kreisen größter
Beliebtheit erfreut.
Jede Zeit gibt auf die Frage Jesu, die wir heute im
Evangelium hören: „Für wen haltet ihr mich?“, ihre eigene
Antwort und fordert auch meine Antwort heraus.
Fürbitten
Herr, unser Gott. Jesus fragt: „Ihr aber, für wen haltet ihr
mich?“ Wir bitten dich:
Für alle, für die Jesus von Nazareth eine Bedeutung hat.
Für alle, die ihn als menschliches Vorbild verehren und
nacheifern
Für alle, die ein persönliches Verhältnis zu ihm haben.
V/A: Herr, erbarme dich
Für alle, die um die Wahrheit ringen
Für alle, die einen Zugang zum Glauben suchen
Für alle, die zu Christus stehen
V/A: Herr, erbarme dich
Für alle, die verantwortlich sind für die Bewahrung des
Glaubens
Für alle, die über ihn forschen, schreiben und predigen
Für alle, die religiöse Texte lesen und hören, bewerten
und beurteilen
V/A: Herr, erbarme dich
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Für alle, denen ein schweres Kreuz auf den Schultern
liegt
Für alle, die unverschuldet ins Elend gestürzt wurden
Für die Kranken und Sterbenden, die zum Kreuz
aufblicken
V/A: Herr, erbarme dich
Nach der Kommunion
In dem Buch „Wer ist Jesus von Nazaret – für mich?“ hat
Heinrich Spaemann Zeugnisse von Menschen unserer
Tage gesammelt. Da stehen Antworten wie diese:
BARBARA ALBRECHT: Jesus Christus ist der Grund meiner
Hoffnung
RUDOLF SCHNACKENBURG: Jesus ist mir die vorher nie
dagewesene und niemals überholbare Offenbarung
Gottes in seiner Zuwendung zu den Menschen und in
seinem Anspruch an die Menschen, und zwar in einer
Weise, dass ich selbst durch Jesus unmittelbar
angesprochen und herausgefordert bin ...
HELMUT GOLLWITZER: Er stört mich. Ich kann mich wegen
seines Dazwischentretens nicht verhalten, wie ich
zunächst wollte ... Er ringt mit mir! So gestört zu werden
ist das Heilsamste, was uns widerfahren kann.
DOROTHEE SÖLLE: Was tut er mir? Ich lerne von ihm, allen
Zynismus zu überwinden ... Er beschämt mich – meine
endliche, ungeduldige, teilweise, oberflächliche Bejahung.
Er lehrt mich ein unendliches, revolutionäres, nichts und
niemanden auslassendes Ja.
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VERA VON TROTT: Der mein ganzes Leben in Frage stellt –
und ihm Sinn gibt.
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