FOKUS EVOLUTION Moleküle zum Appell m Anfang war das Chaos. So viel ist sicher. Vor vier Milliarden Jahren kreiste die Erde noch als heiße Kugel um die Sonne. Tausende Vulkane spieen die aufgestaute Hitze aus. Rotglühendes Magma schoss aus Hunderten von Kratern hervor, kroch über die bebende Ebene. Wie ein gärender Teig schwitzte der junge Planet Kohlendioxid, Wasserdampf, Methan und Ammoniak in seine dünne Atmosphäre aus – ein tödliches Gemisch. Kometen donnerten herab, bohrten sich tief in die Erdkruste: Kollisionen, so gewaltig, dass Felsen schmolzen. Nur langsam beruhigte sich der tobende Globus. Irgendwann in den darauf folgenden Millionen Jahren geschah das Rätselhafte: Das bunte Gemisch kleiner Moleküle aus der irdischen Gashülle ordnete sich zu größeren Strukturen, zu langen Ketten, zum Boten-Molekül RNA, zu Aminosäuren und schließlich zu den ersten primitiven Lebewesen – zu BakterienFäden. Was genau zwischen dem archaischen Chaos und dem Heraufdämmern des Lebens vor etwa 3,8 Milliarden Jahren passierte, weiß niemand. Man weiß noch nicht einmal, woher das irdische Wasser stammt. Reichte das, was als Wasserdampf aus den Fugen und Rissen des Planeten hervorzischte, um die ozeanischen Becken zu füllen? Oder brachte ein frostiger Komet das Wasser huckepack in Form von Eis auf die Erde? Bis heute kann kein Forscher der Welt wirklich überzeugend erklären, wie sich das prähistorische Durcheinander der Moleküle zu wohlgeordneten Strukturen umwandelte. Stanley Miller war einer der ersten, die in Experimenten nachspielten, was sich damals auf dem Globus er26 MA X P L ANCK F ORSCHUNG bislang kaum etwas. Irgendwann einmal müssen sich Moleküle jedenfalls zu einer Struktur gruppiert haben, die sich selbst kopieren kann. Hinter diesem geheimnisvollen Ereignis steckt das Prinzip der Selbstorganisation, das der Chemiker KLAUS KERN und seine Mitarbeiter am MAX-PLANCK-INSTITUT FÜR FESTKÖRPERFORSCHUNG in Stuttgart untersuchen. eignet haben könnte. 1953 sperrte Miller in seinem Labor an der Universität von Chicago Ammoniak, Methan, Wasserdampf und Wasserstoff in einen Glaskolben. Tagelang jagte er elektrische Entladungen durch das Gemisch, um die Gase zu chemischen Reaktionen anzuregen. Miller hatte einen bunten Cocktail organischer Verbindungen erwartet. Doch stattdessen fand er Erstaunliches: Aminosäuren. Die lebensfeindliche Urmischung hatte Bausteine des Lebens hervorgebracht. ERSTE BEGEGNUNG IN DER URATMOSPHÄRE Millers Versuch folgten viele Experimente, die erklären sollten, wie die Uratmosphäre tatsächlich ausgesehen haben könnte und wie aus den einfachen Molekülen die ersten größeren Strukturen entstanden sein könnten. Irgendwann müssen die einzelnen kleinen Bausteine des Lebens nämlich zueinander gefunden haben, um Proteine, RNA und DNA zu bilden. Was sie zusammenführte, war sicher nicht der Zufall, sondern das Prinzip der Selbstorganisation. Auf ihm beruhen die Prozesse des Lebens – und seine Entstehung allemal. Nur: Lange konnte niemand den Molekülen direkt zuschauen, wenn sie einander umschwirrten, berührten und sich schließlich zu einem größeren Bauwerk zusammenfügten. Die Selbstorganisation der Materie blieb rätselhaft. Es gab einfach kein Gerät, mit dem man den Tanz der Moleküle hätte beobachten können. Das hat sich geändert. Inzwischen stehen in vielen Laboren Apparate, mit denen Forscher in die Welt der Atome und Moleküle hineinzoomen – die Ras® tertunnelmikroskope. 4/2007 F OTOS : A XEL G RIESCH (2) A Über die ersten zaghaften Schritte, die das Leben auf der Erde machte, wissen Biologen Um Moleküle in Formation zu bringen und dabei zuzuschauen, ist schweres Gerät nötig: Steven Tait justiert das Rastertunnelmikroskop, das gleichzeitig Reaktionskammer ist. 4/2007 MAXP L ANCK F ORSCHUNG 27 FOKUS EVOLUTION BERG- UND TALFAHRT AUF DER OBERFLÄCHE Das Rastertunnelmikroskop ist dafür das ideale Werkzeug. Mit seiner elektrisch leitenden Spitze fährt es Berge und Täler einer Probe ab. Eigentlich fließt zwischen der Spitze und der darunter liegenden Probe kein Strom. Nähert man Spitze und Probe einander aber bis auf wenige Nanometer an, überlappen ihre quantenmechanischen Zustände. So können Elektronen aus der Probe den Spalt überbrücken – sie tunneln. Dieser Tunnelstrom reagiert ausgesprochen SELBSTORGANISATION ® MIKROSKOPIE Wild durcheinander schwirren Eisenatome, organische Di-Carbonsäuren und Bi-Pyridine zunächst in der Reaktionskammer. Auf der Kupferoberfläche ordnen sie sich dann wie von Geisterhand dirigiert zu einem regelmäßigen Gitter an, was die Stuttgarter Forscher mit dem Bild des Rastertunnelmikroskops belegen. 28 MA X P L ANCK F ORSCHUNG 4/2007 ® A BB .: SPL – A GENTUR F OCUS F ESTKÖRPERFORSCHUNG - S TEVEN T AIT interessieren vielmehr die Kräfte, die dahinter stecken: „Sowohl die Evolution als auch die Bildung molekularer Nanostrukturen beruhen auf Erkennungsmechanismen zwischen Molekülen, die sich gezielt zusammenfügen. Die zugrunde liegenden Prinzipien möchten wir verstehen.“ FÜR In den Labors von Klaus Kern am Max-Planck-Institut für Festkörperforschung in Stuttgart gibt es gleich mehrere der stattlichen Edelstahlapparaturen. Sie sehen aus wie eine Kreuzung aus Automotor und Satellit. Durch kleine dicke Bullaugen schaut man hinein in einen Raum, in den ein dünner Metalldraht ragt – die Messspitze des Mikroskops, eine Art Molekülfühler. Kern und seine Mitarbeiter beobachten damit atomgenau, wie sich Moleküle auf einer Oberfläche zu nanometerfeinen, also nur wenige millionstel Millimeter messenden Mustern anordnen. „Wir wollen herausfinden, wie Selbstorganisation funktioniert, welche Wechselwirkungen dazu führen, dass sich wie aus kleinen Legosteinen eine wohlgeordnete Struktur ergibt.“ Kern weiß, dass er damit nicht die Evolution des Lebens erklären kann. Das ist auch nicht sein zentrales Thema. Ihn AM URSPRUNG F OTO : A XEL G RIESCH / A BB .: MPI Phänomene in der Nanowelt faszinieren den Chemiker Klaus Kern. Unter anderem erforscht er, unter welchen Bedingungen sich Moleküle zu geordneten Strukturen gruppieren. empfindlich auf Abstandsänderungen, sodass das Mikroskop aus ihm das Bild eines Moleküls oder einer auf einer Oberfläche sitzenden Atomlage rekonstruieren kann. Wie andere Forscher auch arbeitet Kern bereits seit mehr als 15 Jahren mit Rastertunnelmikroskopen. Mit den Jahren hat er die Geräte verbessert und eigene Apparate entwickelt. Das Besondere an seinen Maschinen: Sie funktionieren bei unterschiedlichen Temperaturen. Sie arbeiten bei eiskalten minus 272 Grad Celsius genauso gut wie bei plus 120 Grad. Kern kann den Temperaturbereich beliebig variieren und seine Moleküle in der Nähe des absoluten Nullpunkts oder bei Backofenwärme beobachten. Nicht nur das: In der zentralen Kammer ihrer Geräte bringen die Forscher verschiedene Substanzen zusammen und beobachten sie gleichzeitig. Aus kleinen Nebenkammern schießen sie Atome und Moleküle auf eine Metalloberfläche. Vor wenigen Monaten haben Klaus Kern und seine Mitarbeiter Steven Tait, Alexander Langner und Nian Lin einen Coup gelandet. Wie Löwenbändiger in einer Manege ließen sie die Moleküle nach ihrer Pfeife tanzen: Im Mikroskop ordneten sich Eisenatome und verschiedene organische Moleküle wie von Geisterhand zu nanometerfeinen, wohlgeordneten Gitternetzen und Molekül-Strickleitern. Bislang ließen Forscher maximal zwei Bausteine aufeinander los, die recht einfach zu einem aufgeräumten Muster zusammenfanden. Die Stuttgarter aber schickten gleich eine ganze Mischung in die Kammer: Eisenatome DES LEBENS Beweise für die Ursprünge des Lebens gibt es nicht. Die Suche danach gleicht einem Indizienprozess zu Ereignissen vor rund vier Milliarden Jahren. Sicher ist nur, dass irgendwann Moleküle anfingen sich selbst zu organisieren und zu vervielfältigen. Dabei nahmen sie Energie von außen auf, um einen Zustand höherer Ordnung, nämlich den des Lebendigen, zu schaffen. In diesen Prozessen bildete sich dann auch Erbgut, das den Bauplan für Eiweiße, die wesentlichen Funktionsträger des Lebens, enthält. Doch noch immer ist nicht endgültig geklärt, welche Moleküle zuerst da waren: das Erbgut, wahrscheinlich in Form von RNA, oder die Proteine. Ein klassisches Henne-Ei-Problem. Für die sogenannte RNAWelt-Hypothese spricht, dass RNA Information trägt und zugleich an Stoffwechselprozessen beteiligt ist, die entwicklungsgeschichtlich sehr alt sind. Gegen die RNA-Hypothese sprach vor allem, dass sich RNA-Bausteine, die sogenannten Pyrimidin-Nukleotide, im Labor kaum ohne Hilfe von Proteinen erzeugen lassen. Die Proteine hätten damit zuerst da sein müssen. Für die Hypothese, dass das erste Leben auf Proteinen basierte, sprach zudem ein Experiment von Stanley L. Miller. Der Biologe und Chemiker hat schon 1953 in einer Mischung von Substanzen, wie sie möglicherweise auch in der Ursuppe enthalten waren, Aminosäuren erzeugt, indem er sie elektrischen Entladungen aussetzte. Bausteine der RNA unter ähnlichen urweltlichen Bedingungen herzustellen, ist dagegen noch nicht gelungen. Seit Kurzem gibt es für die RNA-Welt-Hypothese jedoch einen entscheidenden Beleg. Demnach können bestimmte RNA-Moleküle, die Ribozyme, selbst RNABausteine, nämlich Pyrimidin-Moleküle, synthetisieren. RNA kann also nicht nur mithilfe von Proteinen entstehen. Nebulös aber ist noch immer, was vor der RNA-Welt war. Möglicherweise entstanden zunächst RNA-ähnliche Moleküle mit simplerer Struktur, aus denen sich dann die erste RNA entwickelte. Denkbar ist aber auch, dass sie sich aus einfachen kleinen Molekülen zusammensetzte. Da dieses Rätsel bislang ungelöst ist, hat der Chemiker Robert Shapiro kürzlich noch eine dritte Hypothese ins Spiel gebracht. Er schlägt vor, dass es zuerst den Stoffwechsel gab: eine Kaskade gekoppelter chemischer Reaktionen zunächst sehr einfacher Moleküle. Eine dieser Reaktionen erzeugte Energie. Diese Energie nutzten andere Reaktionen, um eine höhere Ordnung zu schaffen und dabei allmählich auch komplexere Moleküle zu bilden. als zentrale Kreuzungspunkte des Gitternetzes, längliche Carbonsäuren mit sauerstoffhaltigen Anhängen und langgestreckte Bi-Pyridine mit stickstoffhaltigen Ringen. Steven Tait schaltet das Rastertunnelmikroskop an. Bopp-bopp, rattern die Pumpen los. Sie saugen die Luft aus der Kammer. Hochreines Vakuum – tausendmal sauberer als in den Vakuumgeräten der Computerchip-Hersteller. Steven Tait erzählt von ewig langen Versuchsreihen, von der Suche nach der optimalen Temperatur, dem richtigen organischen Molekül. Es dauerte Monate, bis er endlich herausgefunden hatte, in welchem Rhythmus er die einzelnen Eisenatome und Moleküle in die Vakuumkammer und auf die Kupferoberfläche schießen musste. Atom nach Atom, Molekül für Molekül, im Abstand von mehreren Sekunden. Dann endlich hatte er es geschafft: Die Mischung bildete auf dem Kupferkristall das feine Gittermuster. Zuvor hatte sich Tait gemeinsam mit Kollegen vom Forschungszentrum Karlsruhe überlegt, wie die Moleküle beschaffen sein müssten, um sich mit Eisen zum Präzisionsmuster zu vereinigen. Tait griff schließlich zu den Carbonsäuren und stickstoffhaltigen Pyridinen. Je nach Mischung sah das Gitter anders aus. In manchen Fällen erwies sich das Pyridin als recht elastisch und tolerierte auch falsch eingebaute Moleküle. An solchen Stellen war das Gitter leicht verbogen. MOLEKÜLE FINDEN IHREN PLATZ Bei einem anderen Mischungsverhältnis war das Gitter weniger tolerant. Automatisch tauschte es die Moleküle aus, bis schließlich alles perfekt passte und die Defekte ausgeheilt waren. Gerade so als würde sich ein Bausatz Legosteine von allein zu einer Polizeistation zusammenfügen und falsch platzierte Steinchen ersetzen. „Wir haben erstmals im Detail direkt das selektive Wechselspiel zwischen verschiedenen Molekülen beobachten können, das von Bindungsenergien oder der Stabilität molekularer Strukturen gesteuert wird“, sagt Steven Tait. „Es ist faszinierend: Einfache kleine Moleküle haben sich erkannt und selbst organisiert, es scheint, als verfügten sie über ein Programm, das die Selbstorganisation und Selektion steuert.“ Programmiere man die Moleküle richtig, ließen sich beliebige Muster bauen, so Taits Fazit. Das erinnert sehr an die scheinbare Intelligenz der natürlichen Selbstorganisation: Seit Jahrmillionen tragen RNA und DNA die Informationen aller Lebewesen in sich. Sie setzen sich aus nur vier unterschiedlichen Bausteinen zusammen und doch entsteht daraus allein durch Selbstorganisation eine erstaunliche Artenfülle. Solche Prozesse folgen dem Bottom-up-Prinzip – nach dem sich Materie aus kleinsten Bausteinen selbst strukturiert. Dieses Prinzip würde auch die Halbleiterindustrie gerne anwenden: 4/2007 MAXP L ANCK F ORSCHUNG 29 FOKUS EVOLUTION 30 MA X P L ANCK F ORSCHUNG Wer macht den ersten Schritt? Zwei chirale Di(phenylalanin)-Moleküle nähern sich einander erst einmal vorsichtig an. 4/2007 In ihrem Balztanz passen die chiralen Moleküle ihre Form aneinander an und bilden so auch lange Ketten. F ESTKÖRPERFORSCHUNG - A LEXANDER B ITTNER / F OTO : A XEL G RIESCH FÜR Wie andere Vögel beim Balzen beobachten, verfolgt sie die Reaktion chiraler Moleküle im Rastertunnelmikroskop. Vor wenigen Monaten wohnte sie dem Tanz zweier chiraler Moleküle bei und machte in Abständen von wenigen Sekunden Aufnahmen von der Annäherung. Zusätzlich wertete sie von Kollegen am Londoner Kings College berechnete Simulationen aus. Damit wies Lingenfelder nach, dass chirale Moleküle, wie bereits vor mehr als 60 Jahren von Nobelpreisträger Linus Pauling postuliert, nicht einfach aneinander andocken. Sie umgarnen sich eher wie ein tanzendes Paar. Sie driften aufeinander zu, stoßen sich fort, ändern A BB .: MPI Strukturen von der Art, wie sie die Stuttgarter jetzt erschaffen haben, könnten künftig auch als Sensoren für Gase dienen, sagt Steven Tait. Die Weite der Nanogitter-Maschen ließe sich durch Variation der Moleküllänge verändern. Taits Idee: für jedes Gasmolekül die passende Maschengröße einstellen. Auch als Katalysator-Oberfläche für chemische Prozesse zwischen bestimmten Molekülen wären solche Strukturen geeignet. Doch Klaus Kern bremst die Erwartungen, denn industrielle Bottom-up-Verfahren sind noch in weiter Ferne. „Mich begeistert einfach, dass die Natur simpel, aber effektiv ist“, sagt Kern. Auch seine Mitarbei- DER TANZ DER MOLEKÜLE FÜR PASSENDE MASCHEN FÜR JEDES GAS terin Magali Lingenfelder untersucht eines dieser universalen und auf den ersten Blick simplen Natur-Phänomene – die Chiralität, die Händigkeit von Molekülen. Liegen unsere Hände mit beiden Handflächen auf einer Tischplatte, können wir die linke und rechte Hand nicht zur Deckung bringen. Chirale Moleküle verhalten sich ähnlich. Bei ihnen wird Chiralität durch die Lage der Liganden, der anhängenden Molekülgruppen, bestimmt. Je nach der Anordnung der Anhängsel unterscheiden Chemiker zwischen einer D- und einer L-Form. Nur Moleküle gleicher Chiralität passen zueinander und reagieren miteinander. So wie man bei der Begrüßung nur mit der rechten Hand die Rechte seines Gegenübers umgreifen kann. Die Eigenschaften chiraler Mo- F OTO : A XEL G RIESCH / A BB .: MPI Ihr Traum ist, Nanostrukturen, Bauteile und Transistoren auf ComputerChips bottom-up wachsen zu lassen. Bislang entstehen Silizium-Chips in umgekehrter Richtung – top-down. In die Siliziumscheibe, den Wafer, werden kleine Strukturen geätzt. Die Miniaturisierung dieser Muster, die immer leistungsfähigere Chips ermöglicht, stößt inzwischen jedoch an Grenzen. Filigrane Bauteile durch Selbstorganisation wachsen zu lassen, hat da durchaus Charme. Virus mit Goldverzierung: Ein Goldpartikel, zu erkennen als gelb-orange Kugel, heftet sich ans Ende des Tabakmosaik-Virus. F ESTKÖRPERFORSCHUNG - M AGALI L INGENFELDER Wie Moleküle sich selbst zu regelmäßigen Strukturen organisieren, untersucht Steven Tait mit dem Rastertunnelmikroskop. Seine Kollegin Magalí Lingenfelder erforscht mit diesem Instrument, wie sich chirale Moleküle erkennen. leküle unterscheiden sich mitunter verblüffend: In einer blau blühenden Salbei-Art leuchten Flavon-Farbpigmente, an denen Zucker der D-Form hängen, in knackigem Indigo. Dasselbe Flavon-Molekül mit Zucker der L-Form bringt es höchstens auf ein zartes Babyblau. Bis heute rätseln Experten, warum in den Körpern aller Lebewesen nur eine Form chiraler Moleküle vorkommt. So baut der Organismus stets nur L-Aminosäuren in seine Proteine und D-Zucker in die großen Biomoleküle DNA und RNA ein. Warum die Evolution L-Aminosäuren und DZucker favorisiert, darüber streitet man seit Jahrzehnten. Lingenfelder nähert sich auf ihre Art dem Chiralitätsrätsel. ihre Haltung und umarmen sich schließlich, wenn sie in richtiger Position sind. Induced fit nannten das die Forscher dereinst nüchtern. Lingenfelder hat gezeigt, dass Pauling recht hatte, und liefert damit ein Mosaiksteinchen zum Verständnis der Chiralität. Alexander Bittner, ebenfalls Mitarbeiter in der Arbeitsgruppe Nanoscience von Klaus Kern, kommt anders als seine Kollegen Lingenfelder und Tait ohne Rastertunnelmikroskop aus. Er ergründet die Selbstorganisation von Materie im Reagenzglas und unter dem Elektronenmikroskop. Bittners wichtigstes Versuchsobjekt ist das für Menschen unschädliche Tabakmosaik-Virus, das aus einem RNA-Strang besteht, der von 2100 identischen Proteinbausteinen umhüllt ist – ein 300 Nanometer langes molekulares Würstchen im Schlafrock. Viren sind die seelenlosen Reproduktionsautomaten auf Erden. Sie infizieren Zellen, packen ihr Erbgut aus, programmieren die DNA ihres Wirtes auf Virenproduktion um und vervielfältigen sich so in beängstigender Geschwindigkeit – ein genial einfaches Prinzip. Das Tabakmosaik-Virus ist das am besten untersuchte Pflanzenvirus der Welt. Alexander Bittner, seine Kollegen und die Biologin Christina Wege von der benachbarten Universität Stuttgart haben trotzdem Neues damit vor. Sie nutzen es als selbstorganisierenden Rohstoff für nanometerkleine Bauteile. Startschuss für die Metallisierung: Alexander Bittner tropft die letzten Zutaten in einen Cocktail, in dem sich eine Metallschicht auf einem Virus abscheidet. Mit Metallatomen gefüllt könnten sie nanoelektronische Bauteile abgeben. Der Clou: Sobald pH-Wert und Temperatur in der Versuchslösung stimmen, heften sich die Proteinuntereinheiten an den RNA-Strang. Innerhalb weniger Minuten ist die RNA-Spirale umhüllt. Inzwischen haben die Forscher Zitrat-beschichtete Goldpartikel an die Enden des Virus geheftet, festgehalten von einem Zipfel RNA. Es genügte, Goldpartikel und Virenbestandteile zusammenzurühren – von allein ordnete sich die Mischung zu Nanohanteln. In einem anderen Experiment diente das Virus als Matrize für nanometerdünne Drähte. Es gelang, die Proteinhülle ohne RNA-Rückgrat wachsen zu lassen und den Hohlraum mit NickelAtomen zu füllen – potenzielle nanoelektronische Bauteile für die ferne Zukunft. IM MAGNETFELD WACHSEN SÄULEN Derzeit arbeiten die Stuttgarter an metallbeschichteten Virenstäbchen für die Ferrofluidik: Seit einigen Jahren dienen magnetische Partikel dazu, die Viskosität – die Zähigkeit – von Flüssigkeiten zu verändern. Im magnetischen Feld bilden die Partikel kleine Säulen oder Ketten. Diese Säulen können Erschütterungen abfangen. Ferrofluide sind deshalb vor allem als Stoßdämpfer von Interesse. Allerdings sind die Säulen aus lose verbundenen kleinen Partikeln empfindlich gegen heftige Bewegungen. Schütteln hebt die dämpfende Wirkung einer solchen Flüssigkeit schnell auf. Alexander Bittner will die Ketten aus lose verbundenen Partikeln jetzt durch längliche ferromagnetische Nanodrähte aus seiner Virenwerkstatt ersetzen. Die Stäbchen dürften den Scherkräften eher standhalten. „Viren und vor allem ihre RNA sind ein wunderbares Werkzeug“, sagt Bittner. „Die RNA funktioniert einfach gut.“ Anders als die DNA enthält sie nicht nur Information. Sie ist zugleich ein Arbeitstier, das ähnlich wie Proteine im Stoffwechsel direkt aktiv ist. Wahrscheinlich ist sie eines der ersten komplexen Moleküle aus Urzeiten, die die Evolution der Selbstorganisation in Schwung gehalten hat, noch ehe Proteine und DNA auftauchten. Einfach, schnell und effektiv – für Bittner sind das die wichtigsten Eigenschaften seines Virus-Nanoproduktionssystems. Selbst wenn die Selbstorganisation der Materie und ihre Rolle in der Evolution noch nicht völlig verstanden sind: Die Stuttgarter arbeiten damit schon ausgesprochen erfolgreich. 4/2007 MAXP TIM SCHRÖDER L ANCK F ORSCHUNG 31
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