Viel heiße Luft

WirtschaftsWoche vom 07.08.2015
Autor:
Seite:
Schürmann, Christof
016
Nummer:
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Gattung:
Titel Geld + Börse
Zeitschrift
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033
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DAX
Viel heiße Luft
Aufgeschobene Abschreibungen, versteckte Leasingschulden und Pensionslasten - die
Kurshausse überdeckt massive Bilanzprobleme im Dax. Was die Finanzchefs verschweigen.
Aktionäre, die sich im Frühjahr durch
die 250 Seiten des Geschäftsberichts der
Lufthansa gearbeitet haben, rieben sich
verwundert die Augen: Innerhalb von
zwei Jahren war der Anteil des Eigenkapitals an der Bilanzsumme von 29,1
Prozent auf nur noch 13,2 Prozent
geschrumpft. Das Eigenkapital ist das
Geld, das sich Konzerne bei ihren Anlegern besorgt und über zurückgelegte
Gewinne aufgebaut haben. Je höher die
Quote, desto solider ist ein Unternehmen finanziert.
Der Einbruch bei der Lufthansa verwunderte, weil der Konzern in diesen zwei
Jahren keine Milliardenverluste ausgewiesen hatte, sondern Gewinne. In einer
Mitteilung unterstrich das Dax-Unternehmen gar, die Ergebnisprognose sei
"erreicht", "Weichen für die Zukunft"
seien gestellt. Trotzdem sank die Quote
weiter, auf nur noch 7,5 Prozent Ende
März.
Anleger, die kontinuierlich die Berichte
der Kölner Fluggesellschaft verfolgen,
hätten ahnen können, dass Böses droht:
Jahrelang durften Unternehmen in ihren
Bilanzen mit den Rückstellungen für
ihre Pensionäre ziemlich lax umgehen.
Die Lufthansa nutzte das reichlich und
bekam deswegen bei unserer Bilanzanalyse der Dax-Unternehmen vor zwei
Jahren die rote Karte (WirtschaftsWoche 32 2013). Tatsächlich ist der Kurs
seither um knapp ein Fünftel gefallen.
Ganz im Gegensatz zum weiter steigenden Dax liegt er auf dem Niveau von
vor fünf Jahren; dieses Jahr hinkt der
Kurs dem deutschen Leitindex ein knappes Drittel hinterher, seit der Veröffentlichung des Geschäftsberichts ging es
mit der Aktie um bis zu 15 Prozent
bergab. Ein Grund: Schwindet das
Eigenkapital eines Konzerns, wird es
wahrscheinlicher, dass er demnächst
seine Aktionäre zur Kasse bittet. Eine
Kapitalerhöhung durch Ausgabe neuer
Aktien würde den Anteil am Gewinn,
der den Altaktionären zusteht, schmälern - das mögen Investoren nicht.
Ein solches Erweckungserlebnis droht
freilich nicht nur den Lufthansa-Aktionären. Auch bei anderen Dax-Konzernen gilt: Schein und Sein klaffen mitunter deutlich auseinander. Die im Trend
ständig steigenden Kurse überdecken
viele Missstände: -- Fast alle DaxUnternehmen sind vom Niedrigzins
gebeutelt. Wie die Lufthansa müssen sie
immer mehr Kapital für MitarbeiterPensionen reservieren.
-- Große Probleme bereitet rund der
Hälfte, dass sie Firmen teuer eingekauft
hat. Sie hat mehr bezahlt, als in den
Zukäufen an Vermögen steckt.
-- Zudem wird in Zukunft eine neue
Regelung für die Bilanzierung von Leasingverträgen die Schulden in der Bilanz
bei allen erhöhen - zum Teil dramatisch.
Beim Leasing kaufen Unternehmen
Fahrzeuge oder Anlagen nicht, sondern
übernehmen diese auf Zeit, dafür zahlen sie dann Leasingraten.
Weil Korrekturen drohen, ist das Eigenkapital häufig aufgeblasen; die Schulden dagegen sind zu niedrig ausgewiesen. Das heißt: Den Aktionären wird ein
hohes Vermögen gezeigt, das so gar
nicht existiert.
Allein die Summe der für die Altersvorsorge zurückzulegenden Mittel verdirbt
den Finanzchefs Quartal für Quartal die
Laune. Binnen Jahresfrist sind die Pensionslasten der Dax-Konzerne um ein
Viertel gestiegen, auf zuletzt 372 Milliarden Euro, so die Unternehmensberatung TowersWatson. Grund ist der
Niedrigzins, da gilt für Unternehmen
wie für Privatanleger: Um denselben
Zinsertrag wie vor fünf Jahren zu erzielen, brauchen sie deutlich mehr Geld auf
der hohen Kante. Damit die versprochenen Betriebsrenten fließen, müssen sie
ihre Rücklagen in der Bilanz erhöhen,
was zulasten des Eigenkapitals und
damit des Aktionärsvermögens geht.
Oder sie müssen Bares aus der Kasse
nehmen und in die Pensionsfonds
stecken. Das Geld fehlt für Investitionen und Dividenden.
Nicht jedem Unternehmen müssen
Anleger misstrauen. Die Bilanzen von
Beiersdorf, BMW und Infineon etwa
stechen positiv hervor. Bei einer ganzen
Reihe jedoch droht, allen Jubelmeldungen zum Trotz, auf Sicht mehrerer Jahre
eine Abwertung des Vermögens, bis hin
zum Totalverlust des Eigenkapitals.
Deutlich schlechtere Überschüsse,
Bilanz- und Gewinnkennzahlen sind
wahrscheinlich.
1. GOODWILL: ZU OPTIMISTISCH
Um zu erkennen, wo Vorstände Gefahren verschweigen, welche Vermögenspositionen in der Bilanz überbewertet
sind und wessen Aktienkurs bedroht ist,
reicht es, die wesentlichen Zahlen zu
erfassen.
So ist es wichtig, zu erkennen, wie
Unternehmen den Wert ihrer zugekauften Töchter berichtigen: Werten sie ab,
zumindest dann, wenn sich Bremsspuren bei deren Geschäften einstellen?
Oder schreiben sie die nach einem harten Übernahmekampf gezahlten Aufschläge auf den erworbenen echten Vermögenswert einfach fort, was die
Gewinne schönt und das Eigenkapital
entlastet - so lange, bis eine Abwertung
nicht mehr aufzuschieben ist?
Ein Exklusiv-Check der Bilanzexperten
der Universität St. Gallen für die WirtschaftsWoche hat dabei ein klares
Ergebnis gebracht: Die aus Übernahmen resultierenden Milliardenrisiken
der 30 Dax-Konzerne sind erneut gestiegen. 243 Milliarden Euro an Zuschlägen, die die Unternehmen einst bei
Übernahmen als Prämie auf das Vermögen der neuen Tochter gezahlt hatten,
verbuchen die Finanzchefs inzwischen
in ihren Bilanzen. Knapp 27 Milliarden
Euro mehr als noch vor Jahresfrist und
200 Prozent mehr als vor 15 Jahren.
Anleger finden sie leicht unter einer
Position im Anlagevermögen, die entweder Geschäfts- und Firmenwert oder
Goodwill heißt (siehe Grafik links).
"SPIELBALL DER VORSTÄNDE"
Bilanzexperten kritisieren, dass Unternehmen diese als Vermögen verbuchte
Position kaum abwerten. "Die Goodwill-Position ist zum Spielball der Vorstände geworden", sagt Peter Leibfried,
Professor für Rechnungslegung und
Wirtschaftsprüfung in St. Gallen. Denn
seit gut einem Jahrzehnt geben die
Bilanzregelhüter Unternehmen jede
Menge Spielraum, wie sie den Goodwill nach der Ersteinbuchung in die
Bilanz behandeln dürfen. Statt wie früher - oder heute auch noch bei anderen
Gütern - jedes Jahr pauschal abzuschreiben, müssen Unternehmen wenigstens
jährlich prüfen, ob ihr Goodwill noch
werthaltig ist. Diese Prüfung heißt
Impairment Test (Werthaltigkeitstest).
Das Problem: Wer sich selbst überprüft,
neigt naturgemäß nicht zu übermäßiger
Kritik. Für den Test nehmen die Manager des Unternehmens und ihre Wirtschaftsprüfer einzelne Geschäftseinheiten unter die Lupe. Zeigt sich bei einer
Geschäftseinheit, dass die ursprünglichen Annahmen über Ertrag, die Bareinnahmen aus den Geschäften oder die
erwarteten Zinsausgaben für die Einheit
zu optimistisch waren, müsste das
Management abwerten. So wie bei einer
überraschend kaputt gegangenen
Maschine. In der Praxis aber tricksen
viele Unternehmen, sobald eine Einheit
Abschreibungsbedarf hat; sie schlagen
schwache Einheiten starken zu, definieren Sparten neu oder verlängern den
Planungszeitraum. Für versierte Finanzvorstände ist es eine leichte Übung, den
Test zu schönen, um Investoren höhere
Gewinne und ein höheres Eigenkapital
zu zeigen. Das alles ist völlig legal. Das
Ergebnis: Seit die Unternehmen selbst
bewerten dürfen, was ihre bei Zukäufen
gezahlten Prämien noch wert sind,
schreiben sie kaum noch ab. "Der vor-
sichtige Kaufmann sollte eigentlich für
den langfristigen Unternehmenserfolg
auf Nummer sicher gehen, davon ist
aber nichts zu sehen", sagt Leibfried.
Abzulesen ist das an dem Check der
Dax-Bilanzen durch die Uni St. Gallen
und die WirtschaftsWoche: Die 30 Konzerne gehen derzeit im Durchschnitt
davon aus, noch über 250 Jahre Nutzen
aus dem Goodwill zu ziehen. Denn im
Durchschnitt haben die 30 Unternehmen den Wert 2014 nur um 0,39 Prozent abgewertet. Geht die Abwertung in
diesem Schneckentempo weiter, sind die
Firmenwerte erst im Jahr 2265 auf null.
NOCH IN 250 JAHREN WERTVOLL?
Ganz anders früher. Im Durchschnitt
unterstellten die Dax-Unternehmen bis
2004, als eine regelmäßige Abwertung
für ihre Firmenwerte noch obligat war,
eine Nutzungsdauer von knapp neun
Jahren - sie schrieben jährlich durchschnittlich 11,7 Prozent auf ihren Goodwill ab, so die Uni St. Gallen (siehe
Tabelle Seite 20).
250 Jahre Nutzen aus teuer erworbenen
Töchtern zu schöpfen ist völlig unrealistisch: Ob sich im Jahr 2265 noch
jemand für die von Bayer übernommenen Fußpflegeprodukte der amerikanischen Merck interessiert oder für die
Cloud-Dienstleister, die SAP laufend
einsammelt? Wohl kaum! Im Gegenteil:
Die durchschnittliche Lebensdauer von
Unternehmen sinkt kontinuierlich. Lag
sie für einen Konzern im S & P 500,
dem wichtigsten Aktienindex der Welt,
1958 noch bei gut 60 Jahren, ist sie
heute auf rund 19 Jahre gefallen. Bayer
etwa shoppt seit einem Jahrzehnt den
Goodwill hoch, Abschreibungen darauf
sind seither völlig unbekannt. Neben
kleineren Zukäufen haben insbesondere
der Erwerb von Schering und eben 2014
der Kauf der Konsumentensparte von
Merck & Co. den Goodwill hochgejazzt,
auf knapp 16,2 Milliarden Euro. Vom
Merck-Sparten-Kaufpreis über fast 11,2
Milliarden Euro verbuchte Bayer allein
gut 5,1 Milliarden Euro an Goodwill.
Gemessen an der bisherigen Bilanzpolitik, womöglich ein Ewigkeitsposten.
"Anleger sollten solche Positionen bei
der Analyse eigentlich sofort vom
Eigenkapital abziehen, denn sie haben
einen zweifelhaften Wert und vermindern zudem die Vergleichbarkeit", sagt
Gerrit Brösel, Professor für Betriebswirtschaftslehre an der Fernuni Hagen
und Experte für Wirtschaftsprüfung.
Zieht man den Goodwill ab, wären bei
Bayer 80 Prozent des Eigenkapitals ver-
schwunden. Bayer müsste sich dann bei
seinen Aktionären über 16 Milliarden
Euro besorgen, um wieder auf den alten
Kapitalstock zu kommen.
Brösel ist mit seinem harten Urteil kein
Außenseiter, sondern Vertreter einer
sich immer stärker durchsetzenden Meinung, die auch der Gesetzgeber gerade
anerkannt hat: Eine regelmäßige Abwertung, die den Goodwill sukzessive wieder auf null setzt, ist in Deutschland de
facto wieder eingeführt. Vor gut zwei
Wochen trat das Bilanzrichtlinie-Umsetzungsgesetz in Kraft. Darin steht
geschrieben, dass Unternehmen den
Goodwill über zehn Jahre abwerten
müssen, wenn sie die genaue Nutzungsdauer des Goodwills nicht kennen. "Da
niemand diese Nutzungsdauer genau
schätzen kann, dürften zehn Jahre
Abwertung für alle Unternehmen geboten sein", sagt Brösel.
Dumm für Dax-Aktionäre und angenehm für Vorstände: Das Gesetz greift
nur nach deutschem Recht, betrifft nur
Unternehmen, die nach dem Handelsgesetzbuch bilanzieren. Die großen DaxKonzerne aber bilanzieren in erster
Linie nach den Vorgaben des International Accounting Standards Board
(IASB), das die globalen International
Financial Reporting Standards (IFRS)
erdenkt. Immerhin: "Auch dort gibt es
eine Strömung, die für Unternehmen
allzu günstigen Regeln zu kippen", sagt
Leibfried von der Uni St. Gallen. IASBChef Hans Hoogervorst will die Rückkehr zu regelmäßigen GoodwillAbschreibungen "nicht ausschließen"
(siehe Interview Seite 23).
Ein wichtiges Argument gegen die aktuelle Regelung ist die Tatsache, dass
organisch - also ohne Zukäufe - wachsende Unternehmen keinen Goodwill
generieren: Ihre Investitionen in erhofftes Wachstum gehen ertragsmindernd in
die Gewinn-und-Verlust-Rechnung ein.
Gegenüber Unternehmen, die stark über
Akquisitionen wachsen und diese nicht
abwerten, sind deshalb aus sich heraus
wachsende Unternehmen auf dem
Papier klar benachteiligt: Ihre Gewinnrechnung und ihr Eigenkapital sehen
vergleichsweise schwächer aus. Dabei
ist ihre Bilanz eigentlich sauberer und
nachvollziehbarer. So wie etwa die von
Beiersdorf. Der Hamburger Kosmetikkonzern (Nivea, Tesa) zieht nur sehr
wenig Goodwill durch die Bilanz und
schreibt diese geringen Summen regelmäßig noch deutlich herunter.
Was de jure noch nicht wieder eingeführt ist, sollten Anleger de facto
berücksichtigen, vor allem bei Langfristvergleichen. Für den Dax bedeutet
das etwa für 2014, dass die Gewinne
aller 30 Unternehmen, eine regelmäßige
Abwertung des Goodwill unterstellt,
eigentlich knapp 40 Prozent unter den
offiziell ausgewiesenen Gewinnen liegen. Gemessen an der erwarteten
Gewinnsteigerung für 2015, sollten
Investoren knapp ein Drittel der für dieses Jahr geschätzten Nettoüberschüsse
von gut 77 Milliarden Euro abziehen.
Damit notiert der Dax aktuell nicht mit
einem Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV)
von geschätzt 14, sondern von geschätzt
20.
NEUE BESEN KEHREN HEFTIG
Dieses KGV von 20 ist der Wert, den
Anleger im Langfrist-Check mit den bis
zum Jahr 2004 ausgewiesenen KGVs
vergleichen sollten. Zur Erinnerung: Bis
2004 werteten Unternehmen dem Goodwill regelmäßig ab und drückten damit
ihre Gewinne. Selbst in der Hausse zum
Ende des Jahrtausends war der Dax
damit nicht annähernd so teuer wie
heute: 1997 und 1998 etwa lag das KGV
bei 13; richtig teuer wurde der Dax erst
kurz vor dem Crash Ende 1999, als
Anleger ein irrwitziges DurchschnittsKGV von 32 bezahlten.
Aktionäre der im MDax notierten Bilfinger haben gemerkt, was passiert,
wenn Investoren dem Goodwill plötzlich keinen Wert mehr beimessen. Der
Ingenieurdienstleister schockt die Börse
seit gut einem Jahr mit immer neuen
Prognosekürzungen und Abschreibungen. Die wichtigsten Führungsfiguren
inklusive Chef Roland Koch mussten
gehen, der Kurs ist um bis zu zwei Drittel eingebrochen, während der MDax
um 25 Prozent zulegte.
Die Sorge, die der Kursverfall widerspiegelt, ist berechtigt. Denn bis heute
hat Bilfinger nur gut 150 Millionen
Euro auf den Goodwill abgeschrieben.
Noch steht dieser mit 1926 Millionen
Euro in der Bilanz; das Eigenkapital ist
mit 1960 Millionen Euro nur unmerklich schwerer. Kaum im Amt, sprach der
neue Chef Per Utnegaard vor Mitte Juni
die nächste Warnung vor einem Verlust
im ersten Halbjahr aus, unter anderem
wegen erhöhter Abschreibungen.
Utnegaard und sein neuer Finanzvorstand Axel Salzmann agieren schnell,
auch deshalb, weil sie Abwertungen
noch ihren Vorgängern zurechnen können. Das kommt häufig vor, ist die
Quintessenz einer Studie von Silvia
Rogler, Professorin für Rechnungswesen und Controlling an der TU Bergaka-
demie Freiberg. Demnach räumen neue
Manager die Bilanzen schnell auf, damit
ihnen milliardenschwere Fehlinvestitionen ihrer Vorgänger nicht vor die Füße
fallen. Ein neuer Finanzvorstand hält
dann gleich im Schnitt 39 Prozent der
Goodwill-Position für nicht mehr tragbar, neue Vorstandschefs veranlassen
eine ebenfalls noch dramatische Abwertung um im Schnitt 31 Prozent.
Irgendwann geht jeder Vorstand. Deshalb sollten sich Anleger fragen, welchen Wert sie Übernahmeprämien beimessen, die aus Sicht eines langjährigen Managements weder von Konjunkturschwankungen noch von Problemen
im Unternehmen oder im Markt betroffen sind. Im Dax schleppt mehr als die
Hälfte der Unternehmen einen Goodwill mit sich herum, der bei einer
Abwertung mehrere Jahresergebnisse
und im Extremfall das gesamte Eigenkapital auslöschen würde. "Wer kaum oder
gar nicht abschreibt, der macht sich verdächtig", sagt Experte Leibfried. Auf
diese Art verdächtig ist fast jedes zweite
Dax-Mitglied: Bayer, die Post, E.On,
Fresenius Medical Care, Fresenius, HeidelbergCement, Henkel, Linde, Merck,
RWE, SAP, Siemens, ThyssenKrupp,
VW.
Würde Bayer etwa seinen Goodwill
über zehn Jahre abschreiben, dann fiele
der für 2015 erhoffte Nettogewinn
knapp 39 Prozent geringer aus. Von
dem von Bayer konstruierten und von
Analysten übernommenen, nach oben
adjustierten Gewinn blieben sogar nur
44 Prozent über. Statt eines polierten
adjustierten KGVs für dieses Jahr von
gut 19 kostete die Bayer-Aktie dann den
mehr als 44-fachen Jahresgewinn. Ähnlich sieht es bei SAP aus. Statt eines
geschönten KGVs von 18,6 kostete die
Aktie ein KGV von 56.
Wie schnell sich Milliarden in Nichts
auflösen, zeigte erst Mitte Juli Microsoft. Der US-Riese wertete seine Handysparte ab, darunter das erst 2014 für 7,2
Milliarden Dollar eingekaufte Geschäft
von Nokia. "Aus heutiger Sicht liegen
die Zukunftsaussichten des Mobiltelefonsegments unter unseren ursprünglichen Erwartungen. Dementsprechend
haben wir entschieden, auf Anlagen und
Goodwill des Bereichs eine Wertberichtigung von rund 7,6 Milliarden Dollar
vorzunehmen", sagte Microsoft-Chef
Satya Nadella. Nahezu zeitgleich räumte
der Rohstoffriese BHP Billiton eine
Goodwill-Abwertung über 2,8 Milliarden Dollar auf seine US-Anlagen ein,
klassifizierte diese aber flugs als "außer-
ordentlich". Das ist nicht verboten, hat
aber einen faden Geschmack: Denn
BHP wertete damit bereits zum dritten
Mal binnen drei Jahren ab. Der Kurs
rutschte nach der neuerlichen Abwertung auf ein Fünf-Jahres-Tief.
2. LEASING: VIEL SCHULDENKOSMETIK
Günstig auslegen dürfen Unternehmen
nicht nur die Regeln zum Goodwill auf
der Vermögensseite. Über geschickt
gestrickte Leasingverträge können sie
auch Schulden außerhalb der Bilanz
führen. Grob vereinfacht gesagt, müssen das Leasingobjekt und die mit ihm
verbundenen Schulden immer nur dann
bilanziert werden, wenn das Unternehmen den größten Teil der wirtschaftlichen Chancen und Risiken aus dem Leasingvertrag trägt. Liegen die Risiken
aber beim Leasinggeber, können Leasingobjekt und - schulden außerhalb der
Bilanz geführt werden. Der Effekt: Die
Leasinggesellschaften und Banken
basteln für die Unternehmen Verträge
möglichst so, dass die Schulden daraus
nicht in deren Bilanzen landen. Bei den
größten Unternehmen in Europa tauchen so rund vier Fünftel aller Verpflichtungen bisher nicht in der Bilanz
auf. Einer Schätzung von Credit Suisse
zufolge schafften es Konzerne weltweit,
in der Vergangenheit insgesamt 1700
Milliarden Dollar an Schulden aus ihren
Zahlenwerken herauszuhalten.
Damit will IASB-Chef Hoogervorst
Schluss machen. "Zum Jahresende"
wird sein Bilanzgremium die endgültige Fassung einer Neuregelung zu Leasingschulden vorlegen. Die läuft darauf
hinaus, dass - abgesehen von sehr kurzlaufenden Verträgen - alle Leasingverpflichtungen in die Bilanz müssen.
Wahrscheinlich dürfte dies zum Stichtag 1. Januar 2018 Pflicht werden. "Mit
den neuen Regeln werden sich auch für
den Aktionär wichtige Kennzahlen verändern", sagt Peter Adolph, Partner des
Stuttgarter Bilanzberatungsunternehmens FAS. So steigt unter anderem die
Bilanzsumme, das Verhältnis aus Schulden zur Bilanzsumme und zum Eigenkapital verschlechtert sich. "Verbessern
wird sich aber beispielsweise das Ergebnis vor Steuern und Zinsen, da Belastungen aus dem Leasing demnächst im
Zinsergebnis und nicht davor gebucht
werden müssen", sagt Adolph. Aktionäre, die hier nicht in die Falle laufen
wollen, sollten vor allem auf das Nettoergebnis ihres Unternehmens achten.
LUFTHANSA-SCHULDEN WÜRDEN SICH VERDOPPELN
Adolph und sein Team haben exklusiv
für die WirtschaftsWoche zum jeweils
letzten Bilanzstichtag der 30 Dax-Unternehmen berechnet, wie sich die Schulden mit der neuen Leasingregel erhöhen
werden: Unter dem Strich schnellen sie
um knapp 60 Milliarden Euro nach
oben. Besonders stark betroffen sind
Firmen mit vielen gemieteten Immobilien. Diese sollen künftig in der Bilanz
als Finanzierungsgeschäft, ähnlich wie
die Aufnahme eines Kredits, erfasst
werden. Absolut am stärksten trifft es
die Deutsche Telekom, deren Nettofinanzverbindlichkeiten von 42,5 Milliarden Euro (31. Dezember) um gut 14,7
Milliarden Euro zulegen (siehe Tabelle
links). Relativ stärker dagegen steigt die
Verschuldung etwa bei der Deutschen
Post und der Lufthansa. Bei der Fluggesellschaft verdoppelten sich die Nettoschulden, bei der Post legten sie, auf den
31. Dezember 2014 bezogen, sogar um
gut 380 Prozent zu.
3. PENSIONSLASTEN: GUT VERSTECKT
Binnen gut eines Jahrzehnts mehr als
verdoppelt haben sich die Altersvorsorgeverpflichtungen der Dax-Konzerne.
372 Milliarden Euro schulden sie ihren
aktuellen und künftigen Pensionären.
Ursache des Anstiegs ist der dramatische Renditerückgang. Denn Maßstab
für die Berechnung einer Pensionslast
sind die Renditen von Unternehmensanleihen mit einem sehr guten Rating. Mit
dieser Rendite werden die künftigen
Pensionsansprüche der Mitarbeiter auf
den Stichtag der Bilanz abgezinst. Die
Unternehmen berechnen dabei den Wert
der zukünftigen Zahlung. Je niedriger
die Zinsen, desto höher der Betrag, den
die Unternehmen bereithalten müssen.
Faustregel für Anleger: Sinkt der Rechnungszins um einen Prozentpunkt, dann
steigt die Pensionsverpflichtung eines
Unternehmens um 10 bis 20 Prozent.
Die Finanzchefs dürfen dabei mit einem
über Jahre geglätteten Zins rechnen.
Doch auch dieser ist rapide verfallen:
Lag er per Ende 2011 laut Unternehmensberatung Mercer noch bei 4,9 Prozent betrug er zum letzten Bilanzstichtag keine zwei Prozent mehr.
Wer sich da verkalkuliert, wird abgestraft. Mitte Juni erst musste der Logistiker FedEx einräumen, wegen einer
Änderung der Bilanzierung bei Pensionen tiefrote Zahlen zu schreiben. Der
Deutsche-Post-Konkurrent wies wegen
einer Belastung über 2,2 Milliarden Dollar vor Steuern, die aus einer Umstellung der Buchungsmethode für Pensi-
onszahlungen resultierte, völlig überraschend für das Geschäftsquartal bis
Ende Mai einen Verlust von 895 Millionen Dollar aus. Der Kurs rutschte binnen Minuten an der New Yorker Börse
um mehr als drei Prozent.
Um Kleingeld geht es auch im Dax
nicht: 71 Milliarden Euro oder mehr als
elf Prozent ihres Anteils am Vermögen
ihrer Unternehmen verloren Anleger in
Dax-Aktien zum Jahresende 2014
wegen der gestiegenen Pensionsverpflichtungen. Bewusst ist den Aktionären das meist nicht: Diese enormen
Verluste präsentierten die Finanzchefs
nicht in der Ertragsrechnung, sondern
verstecken sie im Eigenkapital, das entsprechend absackte - so wie etwa das
der Lufthansa. Wären die Lasten durch
die Gewinn-und-Verlust-Rechnung
gelaufen, hätten die Dax-Unternehmen
addiert 2014 rote Zahlen geschrieben.
GLEICHER ZINS FÜR ALLES
Über Jahre nutzten die Finanzchefs vielfach die Chance - von den Regeln
erlaubt - , das Minus überhaupt nicht
oder nur eingeschränkt zu zeigen. Das
rächt sich nun. "Anleger erkennen jetzt
endlich das wahre Ausmaß der Pensionsverpflichtungen", so IASB-Chef
Hoogervorst. Zu mehr Klarheit trägt
auch bei, dass Unternehmen nicht mehr
für ihre Abzinsung und den erwarteten
Ertrag unterschiedliche Annahmen treffen dürfen. Ein beliebter Trick ging bisher so: Um die Pensionsschuld zu ermitteln, zinsten die Finanzchefs das Kapital etwa mit drei Prozent ab. Als erhofften Ertrag aus dem reservierten Kapital
für die Mitarbeiter kalkulierte das
Management aber zum Beispiel mit
sechs Prozent Rendite. Die Differenz
verbuchten die Finanzchefs als hübschen Sonderertrag in den Gewinnrechnungen. Spätere Verluste dagegen versteckten die Zahlenprofis im Eigenkapital. Lücken in den Pensionstöpfen
kosten Aktionäre viel Geld: Daimler
etwa schoss Ende 2014 2,5 Milliarden in
seine inländischen Pensionstöpfe, E.On
knapp 1,3 Milliarden, VW gut 600 Millionen und Siemens eine gute halbe Milliarde Euro. 19 Milliarden Euro flossen
2013 und 2014 so aus den Geschäften
der Dax-Konzerne ab, nicht für Dividenden oder Investitionen, sondern in die
Depots der Pensionskassenmanager.
Hoffnung gibt es jedoch - sogar für die
stark gebeutelte Lufthansa. Zuletzt zog
der Rechnungszins für die Pensionen an,
auf zuletzt exakt 2,36 Prozent. Deshalb
ist die Eigenkapitalquote der Kölner
zwar noch nicht im Lot, aber wieder
deutlich gestiegen, auf 17,5 Prozent per
Ende Juni. Ganz im Gegensatz zum vorherigen Einbruch hob der Dax-Konzern
diese Verbesserung bei der Präsentation
der Halbjahreszahlen vergangene
Woche dann auch fett hervor.
Um mehr als 380 % legen die bilanzierten Schulden der Post zu 5,1 Mrd. Euro
frischen Goodwill kaufte Bayer ein Auf
7,5 % schrumpfte die Eigenkapitalquote
der Lufthansa 372 Mrd. Euro schwer
sind die Pensionsschulden der Dax-Konzerne.
++ DAX-CHECK ++
1. Die Uni St. Gallen hat für die WirtschaftsWoche die Abschreibungspolitik
der 30 Dax-Konzerne nach Übernahmen analysiert und zeigt daraus resultierende Gefahren für den Aktienkurs.
2. Die Stuttgarter FAS AG, die Unternehmen bei der Bilanzierung berät, hat
geprüft, welche Dax-Werte wegen neuer
Bilanzregeln demnächst hohe Schulden
aus Leasingverträgen ausweisen müssen.
3. Unsere Analysen der Geschäftsberichte geben Aufschluss über die Pensionslasten der Unternehmen.
LEASING
Leasing bedeutet, sich einen Gegenstand gegen fixe Gebühr (monatlich,
jährlich) zu leihen, mit einem festen
Nutzungsrecht über eine feste Laufzeit.
Unternehmen leasen alles Mögliche,
von Telefonen über Immobilien bis hin
zu Flugzeugen. Vorteil ist, dass weniger
Kapital gebunden wird.
++ WERTHALTIG ?++
Der Goodwill ist eine Vermögensposition in der Bilanz, die Firmen nicht veräußern können - anders als etwa
Maschinen. Er entsteht so: Kauft ein
Konzern eine Firma, wird deren Vermögen buchhalterisch in Einzelteile zerlegt
und bewertet. Ist der Kaufpreis für die
neue Tochter höher als das bewertete
Vermögen, wird die Differenz, eine Art
Übernahmeprämie, als Goodwill verbucht. Jährlich wird geprüft, ob der
Goodwill abgewertet werden muss.
Meist muss er es offenbar nicht. Kein
Wunder: Abschreibungen würden
Gewinne und Eigenkapital der Konzerne belasten.
[email protected]
ZITATE FAKTEN MEINUNGEN
"Wer kaum oder gar nicht abschreibt,
der macht sich verdächtig" "Anleger
sollten den Goodwill bei der Analyse
eigentlich sofort vom Eigenkapital
abziehen" .
Bilanzexperte Leibfried, Universität St.
Gallen Wirtschaftsprüfungsexperte Brö-
sel, Fern-Uni Hagen.
Firmenübernahme: Wie der Goodwill (Firmenwert) nach einer Übernahme entsteht (Beispiel) (BWL / Grafik)
Bilanzen: Viele Dax-Unternehmen ziehen seit Jahren Übernahmeprämien durch die Bilanz und schreiben diese
kaum noch ab (BWL / Tabelle)
Bilanzen: Als Vermögen bilanzierte Übernahmeprämien im Dax (BWL / Grafik)
Bilanzen: Wie die Dax-Unternehmen von der neuen Leasingbilanzierung betroffen sein werden (BWL / Tabelle)
Abbildung:
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Kräftig aufpoliert Lufthansa-Bilanz von Pensionsverpflichtungen belastet .
Genau hinschauen Bayer-Chlorproduktion Brunsbüttel. Der Konzern wächst sehr stark über Zukäufe,
Nebenwirkungen inklusive .
Immer tiefer Die Neubilanzierung von Leasingschulden trifft die Deutsche Post hart .
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