WirtschaftsWoche vom 07.08.2015 Autor: Seite: Schürmann, Christof 016 Nummer: Auflage: Ressort: Gattung: Titel Geld + Börse Zeitschrift Reichweite: 033 172.273 (gedruckt) 135.234 (verkauft) 145.854 (verbreitet) 0,87 (in Mio.) DAX Viel heiße Luft Aufgeschobene Abschreibungen, versteckte Leasingschulden und Pensionslasten - die Kurshausse überdeckt massive Bilanzprobleme im Dax. Was die Finanzchefs verschweigen. Aktionäre, die sich im Frühjahr durch die 250 Seiten des Geschäftsberichts der Lufthansa gearbeitet haben, rieben sich verwundert die Augen: Innerhalb von zwei Jahren war der Anteil des Eigenkapitals an der Bilanzsumme von 29,1 Prozent auf nur noch 13,2 Prozent geschrumpft. Das Eigenkapital ist das Geld, das sich Konzerne bei ihren Anlegern besorgt und über zurückgelegte Gewinne aufgebaut haben. Je höher die Quote, desto solider ist ein Unternehmen finanziert. Der Einbruch bei der Lufthansa verwunderte, weil der Konzern in diesen zwei Jahren keine Milliardenverluste ausgewiesen hatte, sondern Gewinne. In einer Mitteilung unterstrich das Dax-Unternehmen gar, die Ergebnisprognose sei "erreicht", "Weichen für die Zukunft" seien gestellt. Trotzdem sank die Quote weiter, auf nur noch 7,5 Prozent Ende März. Anleger, die kontinuierlich die Berichte der Kölner Fluggesellschaft verfolgen, hätten ahnen können, dass Böses droht: Jahrelang durften Unternehmen in ihren Bilanzen mit den Rückstellungen für ihre Pensionäre ziemlich lax umgehen. Die Lufthansa nutzte das reichlich und bekam deswegen bei unserer Bilanzanalyse der Dax-Unternehmen vor zwei Jahren die rote Karte (WirtschaftsWoche 32 2013). Tatsächlich ist der Kurs seither um knapp ein Fünftel gefallen. Ganz im Gegensatz zum weiter steigenden Dax liegt er auf dem Niveau von vor fünf Jahren; dieses Jahr hinkt der Kurs dem deutschen Leitindex ein knappes Drittel hinterher, seit der Veröffentlichung des Geschäftsberichts ging es mit der Aktie um bis zu 15 Prozent bergab. Ein Grund: Schwindet das Eigenkapital eines Konzerns, wird es wahrscheinlicher, dass er demnächst seine Aktionäre zur Kasse bittet. Eine Kapitalerhöhung durch Ausgabe neuer Aktien würde den Anteil am Gewinn, der den Altaktionären zusteht, schmälern - das mögen Investoren nicht. Ein solches Erweckungserlebnis droht freilich nicht nur den Lufthansa-Aktionären. Auch bei anderen Dax-Konzernen gilt: Schein und Sein klaffen mitunter deutlich auseinander. Die im Trend ständig steigenden Kurse überdecken viele Missstände: -- Fast alle DaxUnternehmen sind vom Niedrigzins gebeutelt. Wie die Lufthansa müssen sie immer mehr Kapital für MitarbeiterPensionen reservieren. -- Große Probleme bereitet rund der Hälfte, dass sie Firmen teuer eingekauft hat. Sie hat mehr bezahlt, als in den Zukäufen an Vermögen steckt. -- Zudem wird in Zukunft eine neue Regelung für die Bilanzierung von Leasingverträgen die Schulden in der Bilanz bei allen erhöhen - zum Teil dramatisch. Beim Leasing kaufen Unternehmen Fahrzeuge oder Anlagen nicht, sondern übernehmen diese auf Zeit, dafür zahlen sie dann Leasingraten. Weil Korrekturen drohen, ist das Eigenkapital häufig aufgeblasen; die Schulden dagegen sind zu niedrig ausgewiesen. Das heißt: Den Aktionären wird ein hohes Vermögen gezeigt, das so gar nicht existiert. Allein die Summe der für die Altersvorsorge zurückzulegenden Mittel verdirbt den Finanzchefs Quartal für Quartal die Laune. Binnen Jahresfrist sind die Pensionslasten der Dax-Konzerne um ein Viertel gestiegen, auf zuletzt 372 Milliarden Euro, so die Unternehmensberatung TowersWatson. Grund ist der Niedrigzins, da gilt für Unternehmen wie für Privatanleger: Um denselben Zinsertrag wie vor fünf Jahren zu erzielen, brauchen sie deutlich mehr Geld auf der hohen Kante. Damit die versprochenen Betriebsrenten fließen, müssen sie ihre Rücklagen in der Bilanz erhöhen, was zulasten des Eigenkapitals und damit des Aktionärsvermögens geht. Oder sie müssen Bares aus der Kasse nehmen und in die Pensionsfonds stecken. Das Geld fehlt für Investitionen und Dividenden. Nicht jedem Unternehmen müssen Anleger misstrauen. Die Bilanzen von Beiersdorf, BMW und Infineon etwa stechen positiv hervor. Bei einer ganzen Reihe jedoch droht, allen Jubelmeldungen zum Trotz, auf Sicht mehrerer Jahre eine Abwertung des Vermögens, bis hin zum Totalverlust des Eigenkapitals. Deutlich schlechtere Überschüsse, Bilanz- und Gewinnkennzahlen sind wahrscheinlich. 1. GOODWILL: ZU OPTIMISTISCH Um zu erkennen, wo Vorstände Gefahren verschweigen, welche Vermögenspositionen in der Bilanz überbewertet sind und wessen Aktienkurs bedroht ist, reicht es, die wesentlichen Zahlen zu erfassen. So ist es wichtig, zu erkennen, wie Unternehmen den Wert ihrer zugekauften Töchter berichtigen: Werten sie ab, zumindest dann, wenn sich Bremsspuren bei deren Geschäften einstellen? Oder schreiben sie die nach einem harten Übernahmekampf gezahlten Aufschläge auf den erworbenen echten Vermögenswert einfach fort, was die Gewinne schönt und das Eigenkapital entlastet - so lange, bis eine Abwertung nicht mehr aufzuschieben ist? Ein Exklusiv-Check der Bilanzexperten der Universität St. Gallen für die WirtschaftsWoche hat dabei ein klares Ergebnis gebracht: Die aus Übernahmen resultierenden Milliardenrisiken der 30 Dax-Konzerne sind erneut gestiegen. 243 Milliarden Euro an Zuschlägen, die die Unternehmen einst bei Übernahmen als Prämie auf das Vermögen der neuen Tochter gezahlt hatten, verbuchen die Finanzchefs inzwischen in ihren Bilanzen. Knapp 27 Milliarden Euro mehr als noch vor Jahresfrist und 200 Prozent mehr als vor 15 Jahren. Anleger finden sie leicht unter einer Position im Anlagevermögen, die entweder Geschäfts- und Firmenwert oder Goodwill heißt (siehe Grafik links). "SPIELBALL DER VORSTÄNDE" Bilanzexperten kritisieren, dass Unternehmen diese als Vermögen verbuchte Position kaum abwerten. "Die Goodwill-Position ist zum Spielball der Vorstände geworden", sagt Peter Leibfried, Professor für Rechnungslegung und Wirtschaftsprüfung in St. Gallen. Denn seit gut einem Jahrzehnt geben die Bilanzregelhüter Unternehmen jede Menge Spielraum, wie sie den Goodwill nach der Ersteinbuchung in die Bilanz behandeln dürfen. Statt wie früher - oder heute auch noch bei anderen Gütern - jedes Jahr pauschal abzuschreiben, müssen Unternehmen wenigstens jährlich prüfen, ob ihr Goodwill noch werthaltig ist. Diese Prüfung heißt Impairment Test (Werthaltigkeitstest). Das Problem: Wer sich selbst überprüft, neigt naturgemäß nicht zu übermäßiger Kritik. Für den Test nehmen die Manager des Unternehmens und ihre Wirtschaftsprüfer einzelne Geschäftseinheiten unter die Lupe. Zeigt sich bei einer Geschäftseinheit, dass die ursprünglichen Annahmen über Ertrag, die Bareinnahmen aus den Geschäften oder die erwarteten Zinsausgaben für die Einheit zu optimistisch waren, müsste das Management abwerten. So wie bei einer überraschend kaputt gegangenen Maschine. In der Praxis aber tricksen viele Unternehmen, sobald eine Einheit Abschreibungsbedarf hat; sie schlagen schwache Einheiten starken zu, definieren Sparten neu oder verlängern den Planungszeitraum. Für versierte Finanzvorstände ist es eine leichte Übung, den Test zu schönen, um Investoren höhere Gewinne und ein höheres Eigenkapital zu zeigen. Das alles ist völlig legal. Das Ergebnis: Seit die Unternehmen selbst bewerten dürfen, was ihre bei Zukäufen gezahlten Prämien noch wert sind, schreiben sie kaum noch ab. "Der vor- sichtige Kaufmann sollte eigentlich für den langfristigen Unternehmenserfolg auf Nummer sicher gehen, davon ist aber nichts zu sehen", sagt Leibfried. Abzulesen ist das an dem Check der Dax-Bilanzen durch die Uni St. Gallen und die WirtschaftsWoche: Die 30 Konzerne gehen derzeit im Durchschnitt davon aus, noch über 250 Jahre Nutzen aus dem Goodwill zu ziehen. Denn im Durchschnitt haben die 30 Unternehmen den Wert 2014 nur um 0,39 Prozent abgewertet. Geht die Abwertung in diesem Schneckentempo weiter, sind die Firmenwerte erst im Jahr 2265 auf null. NOCH IN 250 JAHREN WERTVOLL? Ganz anders früher. Im Durchschnitt unterstellten die Dax-Unternehmen bis 2004, als eine regelmäßige Abwertung für ihre Firmenwerte noch obligat war, eine Nutzungsdauer von knapp neun Jahren - sie schrieben jährlich durchschnittlich 11,7 Prozent auf ihren Goodwill ab, so die Uni St. Gallen (siehe Tabelle Seite 20). 250 Jahre Nutzen aus teuer erworbenen Töchtern zu schöpfen ist völlig unrealistisch: Ob sich im Jahr 2265 noch jemand für die von Bayer übernommenen Fußpflegeprodukte der amerikanischen Merck interessiert oder für die Cloud-Dienstleister, die SAP laufend einsammelt? Wohl kaum! Im Gegenteil: Die durchschnittliche Lebensdauer von Unternehmen sinkt kontinuierlich. Lag sie für einen Konzern im S & P 500, dem wichtigsten Aktienindex der Welt, 1958 noch bei gut 60 Jahren, ist sie heute auf rund 19 Jahre gefallen. Bayer etwa shoppt seit einem Jahrzehnt den Goodwill hoch, Abschreibungen darauf sind seither völlig unbekannt. Neben kleineren Zukäufen haben insbesondere der Erwerb von Schering und eben 2014 der Kauf der Konsumentensparte von Merck & Co. den Goodwill hochgejazzt, auf knapp 16,2 Milliarden Euro. Vom Merck-Sparten-Kaufpreis über fast 11,2 Milliarden Euro verbuchte Bayer allein gut 5,1 Milliarden Euro an Goodwill. Gemessen an der bisherigen Bilanzpolitik, womöglich ein Ewigkeitsposten. "Anleger sollten solche Positionen bei der Analyse eigentlich sofort vom Eigenkapital abziehen, denn sie haben einen zweifelhaften Wert und vermindern zudem die Vergleichbarkeit", sagt Gerrit Brösel, Professor für Betriebswirtschaftslehre an der Fernuni Hagen und Experte für Wirtschaftsprüfung. Zieht man den Goodwill ab, wären bei Bayer 80 Prozent des Eigenkapitals ver- schwunden. Bayer müsste sich dann bei seinen Aktionären über 16 Milliarden Euro besorgen, um wieder auf den alten Kapitalstock zu kommen. Brösel ist mit seinem harten Urteil kein Außenseiter, sondern Vertreter einer sich immer stärker durchsetzenden Meinung, die auch der Gesetzgeber gerade anerkannt hat: Eine regelmäßige Abwertung, die den Goodwill sukzessive wieder auf null setzt, ist in Deutschland de facto wieder eingeführt. Vor gut zwei Wochen trat das Bilanzrichtlinie-Umsetzungsgesetz in Kraft. Darin steht geschrieben, dass Unternehmen den Goodwill über zehn Jahre abwerten müssen, wenn sie die genaue Nutzungsdauer des Goodwills nicht kennen. "Da niemand diese Nutzungsdauer genau schätzen kann, dürften zehn Jahre Abwertung für alle Unternehmen geboten sein", sagt Brösel. Dumm für Dax-Aktionäre und angenehm für Vorstände: Das Gesetz greift nur nach deutschem Recht, betrifft nur Unternehmen, die nach dem Handelsgesetzbuch bilanzieren. Die großen DaxKonzerne aber bilanzieren in erster Linie nach den Vorgaben des International Accounting Standards Board (IASB), das die globalen International Financial Reporting Standards (IFRS) erdenkt. Immerhin: "Auch dort gibt es eine Strömung, die für Unternehmen allzu günstigen Regeln zu kippen", sagt Leibfried von der Uni St. Gallen. IASBChef Hans Hoogervorst will die Rückkehr zu regelmäßigen GoodwillAbschreibungen "nicht ausschließen" (siehe Interview Seite 23). Ein wichtiges Argument gegen die aktuelle Regelung ist die Tatsache, dass organisch - also ohne Zukäufe - wachsende Unternehmen keinen Goodwill generieren: Ihre Investitionen in erhofftes Wachstum gehen ertragsmindernd in die Gewinn-und-Verlust-Rechnung ein. Gegenüber Unternehmen, die stark über Akquisitionen wachsen und diese nicht abwerten, sind deshalb aus sich heraus wachsende Unternehmen auf dem Papier klar benachteiligt: Ihre Gewinnrechnung und ihr Eigenkapital sehen vergleichsweise schwächer aus. Dabei ist ihre Bilanz eigentlich sauberer und nachvollziehbarer. So wie etwa die von Beiersdorf. Der Hamburger Kosmetikkonzern (Nivea, Tesa) zieht nur sehr wenig Goodwill durch die Bilanz und schreibt diese geringen Summen regelmäßig noch deutlich herunter. Was de jure noch nicht wieder eingeführt ist, sollten Anleger de facto berücksichtigen, vor allem bei Langfristvergleichen. Für den Dax bedeutet das etwa für 2014, dass die Gewinne aller 30 Unternehmen, eine regelmäßige Abwertung des Goodwill unterstellt, eigentlich knapp 40 Prozent unter den offiziell ausgewiesenen Gewinnen liegen. Gemessen an der erwarteten Gewinnsteigerung für 2015, sollten Investoren knapp ein Drittel der für dieses Jahr geschätzten Nettoüberschüsse von gut 77 Milliarden Euro abziehen. Damit notiert der Dax aktuell nicht mit einem Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) von geschätzt 14, sondern von geschätzt 20. NEUE BESEN KEHREN HEFTIG Dieses KGV von 20 ist der Wert, den Anleger im Langfrist-Check mit den bis zum Jahr 2004 ausgewiesenen KGVs vergleichen sollten. Zur Erinnerung: Bis 2004 werteten Unternehmen dem Goodwill regelmäßig ab und drückten damit ihre Gewinne. Selbst in der Hausse zum Ende des Jahrtausends war der Dax damit nicht annähernd so teuer wie heute: 1997 und 1998 etwa lag das KGV bei 13; richtig teuer wurde der Dax erst kurz vor dem Crash Ende 1999, als Anleger ein irrwitziges DurchschnittsKGV von 32 bezahlten. Aktionäre der im MDax notierten Bilfinger haben gemerkt, was passiert, wenn Investoren dem Goodwill plötzlich keinen Wert mehr beimessen. Der Ingenieurdienstleister schockt die Börse seit gut einem Jahr mit immer neuen Prognosekürzungen und Abschreibungen. Die wichtigsten Führungsfiguren inklusive Chef Roland Koch mussten gehen, der Kurs ist um bis zu zwei Drittel eingebrochen, während der MDax um 25 Prozent zulegte. Die Sorge, die der Kursverfall widerspiegelt, ist berechtigt. Denn bis heute hat Bilfinger nur gut 150 Millionen Euro auf den Goodwill abgeschrieben. Noch steht dieser mit 1926 Millionen Euro in der Bilanz; das Eigenkapital ist mit 1960 Millionen Euro nur unmerklich schwerer. Kaum im Amt, sprach der neue Chef Per Utnegaard vor Mitte Juni die nächste Warnung vor einem Verlust im ersten Halbjahr aus, unter anderem wegen erhöhter Abschreibungen. Utnegaard und sein neuer Finanzvorstand Axel Salzmann agieren schnell, auch deshalb, weil sie Abwertungen noch ihren Vorgängern zurechnen können. Das kommt häufig vor, ist die Quintessenz einer Studie von Silvia Rogler, Professorin für Rechnungswesen und Controlling an der TU Bergaka- demie Freiberg. Demnach räumen neue Manager die Bilanzen schnell auf, damit ihnen milliardenschwere Fehlinvestitionen ihrer Vorgänger nicht vor die Füße fallen. Ein neuer Finanzvorstand hält dann gleich im Schnitt 39 Prozent der Goodwill-Position für nicht mehr tragbar, neue Vorstandschefs veranlassen eine ebenfalls noch dramatische Abwertung um im Schnitt 31 Prozent. Irgendwann geht jeder Vorstand. Deshalb sollten sich Anleger fragen, welchen Wert sie Übernahmeprämien beimessen, die aus Sicht eines langjährigen Managements weder von Konjunkturschwankungen noch von Problemen im Unternehmen oder im Markt betroffen sind. Im Dax schleppt mehr als die Hälfte der Unternehmen einen Goodwill mit sich herum, der bei einer Abwertung mehrere Jahresergebnisse und im Extremfall das gesamte Eigenkapital auslöschen würde. "Wer kaum oder gar nicht abschreibt, der macht sich verdächtig", sagt Experte Leibfried. Auf diese Art verdächtig ist fast jedes zweite Dax-Mitglied: Bayer, die Post, E.On, Fresenius Medical Care, Fresenius, HeidelbergCement, Henkel, Linde, Merck, RWE, SAP, Siemens, ThyssenKrupp, VW. Würde Bayer etwa seinen Goodwill über zehn Jahre abschreiben, dann fiele der für 2015 erhoffte Nettogewinn knapp 39 Prozent geringer aus. Von dem von Bayer konstruierten und von Analysten übernommenen, nach oben adjustierten Gewinn blieben sogar nur 44 Prozent über. Statt eines polierten adjustierten KGVs für dieses Jahr von gut 19 kostete die Bayer-Aktie dann den mehr als 44-fachen Jahresgewinn. Ähnlich sieht es bei SAP aus. Statt eines geschönten KGVs von 18,6 kostete die Aktie ein KGV von 56. Wie schnell sich Milliarden in Nichts auflösen, zeigte erst Mitte Juli Microsoft. Der US-Riese wertete seine Handysparte ab, darunter das erst 2014 für 7,2 Milliarden Dollar eingekaufte Geschäft von Nokia. "Aus heutiger Sicht liegen die Zukunftsaussichten des Mobiltelefonsegments unter unseren ursprünglichen Erwartungen. Dementsprechend haben wir entschieden, auf Anlagen und Goodwill des Bereichs eine Wertberichtigung von rund 7,6 Milliarden Dollar vorzunehmen", sagte Microsoft-Chef Satya Nadella. Nahezu zeitgleich räumte der Rohstoffriese BHP Billiton eine Goodwill-Abwertung über 2,8 Milliarden Dollar auf seine US-Anlagen ein, klassifizierte diese aber flugs als "außer- ordentlich". Das ist nicht verboten, hat aber einen faden Geschmack: Denn BHP wertete damit bereits zum dritten Mal binnen drei Jahren ab. Der Kurs rutschte nach der neuerlichen Abwertung auf ein Fünf-Jahres-Tief. 2. LEASING: VIEL SCHULDENKOSMETIK Günstig auslegen dürfen Unternehmen nicht nur die Regeln zum Goodwill auf der Vermögensseite. Über geschickt gestrickte Leasingverträge können sie auch Schulden außerhalb der Bilanz führen. Grob vereinfacht gesagt, müssen das Leasingobjekt und die mit ihm verbundenen Schulden immer nur dann bilanziert werden, wenn das Unternehmen den größten Teil der wirtschaftlichen Chancen und Risiken aus dem Leasingvertrag trägt. Liegen die Risiken aber beim Leasinggeber, können Leasingobjekt und - schulden außerhalb der Bilanz geführt werden. Der Effekt: Die Leasinggesellschaften und Banken basteln für die Unternehmen Verträge möglichst so, dass die Schulden daraus nicht in deren Bilanzen landen. Bei den größten Unternehmen in Europa tauchen so rund vier Fünftel aller Verpflichtungen bisher nicht in der Bilanz auf. Einer Schätzung von Credit Suisse zufolge schafften es Konzerne weltweit, in der Vergangenheit insgesamt 1700 Milliarden Dollar an Schulden aus ihren Zahlenwerken herauszuhalten. Damit will IASB-Chef Hoogervorst Schluss machen. "Zum Jahresende" wird sein Bilanzgremium die endgültige Fassung einer Neuregelung zu Leasingschulden vorlegen. Die läuft darauf hinaus, dass - abgesehen von sehr kurzlaufenden Verträgen - alle Leasingverpflichtungen in die Bilanz müssen. Wahrscheinlich dürfte dies zum Stichtag 1. Januar 2018 Pflicht werden. "Mit den neuen Regeln werden sich auch für den Aktionär wichtige Kennzahlen verändern", sagt Peter Adolph, Partner des Stuttgarter Bilanzberatungsunternehmens FAS. So steigt unter anderem die Bilanzsumme, das Verhältnis aus Schulden zur Bilanzsumme und zum Eigenkapital verschlechtert sich. "Verbessern wird sich aber beispielsweise das Ergebnis vor Steuern und Zinsen, da Belastungen aus dem Leasing demnächst im Zinsergebnis und nicht davor gebucht werden müssen", sagt Adolph. Aktionäre, die hier nicht in die Falle laufen wollen, sollten vor allem auf das Nettoergebnis ihres Unternehmens achten. LUFTHANSA-SCHULDEN WÜRDEN SICH VERDOPPELN Adolph und sein Team haben exklusiv für die WirtschaftsWoche zum jeweils letzten Bilanzstichtag der 30 Dax-Unternehmen berechnet, wie sich die Schulden mit der neuen Leasingregel erhöhen werden: Unter dem Strich schnellen sie um knapp 60 Milliarden Euro nach oben. Besonders stark betroffen sind Firmen mit vielen gemieteten Immobilien. Diese sollen künftig in der Bilanz als Finanzierungsgeschäft, ähnlich wie die Aufnahme eines Kredits, erfasst werden. Absolut am stärksten trifft es die Deutsche Telekom, deren Nettofinanzverbindlichkeiten von 42,5 Milliarden Euro (31. Dezember) um gut 14,7 Milliarden Euro zulegen (siehe Tabelle links). Relativ stärker dagegen steigt die Verschuldung etwa bei der Deutschen Post und der Lufthansa. Bei der Fluggesellschaft verdoppelten sich die Nettoschulden, bei der Post legten sie, auf den 31. Dezember 2014 bezogen, sogar um gut 380 Prozent zu. 3. PENSIONSLASTEN: GUT VERSTECKT Binnen gut eines Jahrzehnts mehr als verdoppelt haben sich die Altersvorsorgeverpflichtungen der Dax-Konzerne. 372 Milliarden Euro schulden sie ihren aktuellen und künftigen Pensionären. Ursache des Anstiegs ist der dramatische Renditerückgang. Denn Maßstab für die Berechnung einer Pensionslast sind die Renditen von Unternehmensanleihen mit einem sehr guten Rating. Mit dieser Rendite werden die künftigen Pensionsansprüche der Mitarbeiter auf den Stichtag der Bilanz abgezinst. Die Unternehmen berechnen dabei den Wert der zukünftigen Zahlung. Je niedriger die Zinsen, desto höher der Betrag, den die Unternehmen bereithalten müssen. Faustregel für Anleger: Sinkt der Rechnungszins um einen Prozentpunkt, dann steigt die Pensionsverpflichtung eines Unternehmens um 10 bis 20 Prozent. Die Finanzchefs dürfen dabei mit einem über Jahre geglätteten Zins rechnen. Doch auch dieser ist rapide verfallen: Lag er per Ende 2011 laut Unternehmensberatung Mercer noch bei 4,9 Prozent betrug er zum letzten Bilanzstichtag keine zwei Prozent mehr. Wer sich da verkalkuliert, wird abgestraft. Mitte Juni erst musste der Logistiker FedEx einräumen, wegen einer Änderung der Bilanzierung bei Pensionen tiefrote Zahlen zu schreiben. Der Deutsche-Post-Konkurrent wies wegen einer Belastung über 2,2 Milliarden Dollar vor Steuern, die aus einer Umstellung der Buchungsmethode für Pensi- onszahlungen resultierte, völlig überraschend für das Geschäftsquartal bis Ende Mai einen Verlust von 895 Millionen Dollar aus. Der Kurs rutschte binnen Minuten an der New Yorker Börse um mehr als drei Prozent. Um Kleingeld geht es auch im Dax nicht: 71 Milliarden Euro oder mehr als elf Prozent ihres Anteils am Vermögen ihrer Unternehmen verloren Anleger in Dax-Aktien zum Jahresende 2014 wegen der gestiegenen Pensionsverpflichtungen. Bewusst ist den Aktionären das meist nicht: Diese enormen Verluste präsentierten die Finanzchefs nicht in der Ertragsrechnung, sondern verstecken sie im Eigenkapital, das entsprechend absackte - so wie etwa das der Lufthansa. Wären die Lasten durch die Gewinn-und-Verlust-Rechnung gelaufen, hätten die Dax-Unternehmen addiert 2014 rote Zahlen geschrieben. GLEICHER ZINS FÜR ALLES Über Jahre nutzten die Finanzchefs vielfach die Chance - von den Regeln erlaubt - , das Minus überhaupt nicht oder nur eingeschränkt zu zeigen. Das rächt sich nun. "Anleger erkennen jetzt endlich das wahre Ausmaß der Pensionsverpflichtungen", so IASB-Chef Hoogervorst. Zu mehr Klarheit trägt auch bei, dass Unternehmen nicht mehr für ihre Abzinsung und den erwarteten Ertrag unterschiedliche Annahmen treffen dürfen. Ein beliebter Trick ging bisher so: Um die Pensionsschuld zu ermitteln, zinsten die Finanzchefs das Kapital etwa mit drei Prozent ab. Als erhofften Ertrag aus dem reservierten Kapital für die Mitarbeiter kalkulierte das Management aber zum Beispiel mit sechs Prozent Rendite. Die Differenz verbuchten die Finanzchefs als hübschen Sonderertrag in den Gewinnrechnungen. Spätere Verluste dagegen versteckten die Zahlenprofis im Eigenkapital. Lücken in den Pensionstöpfen kosten Aktionäre viel Geld: Daimler etwa schoss Ende 2014 2,5 Milliarden in seine inländischen Pensionstöpfe, E.On knapp 1,3 Milliarden, VW gut 600 Millionen und Siemens eine gute halbe Milliarde Euro. 19 Milliarden Euro flossen 2013 und 2014 so aus den Geschäften der Dax-Konzerne ab, nicht für Dividenden oder Investitionen, sondern in die Depots der Pensionskassenmanager. Hoffnung gibt es jedoch - sogar für die stark gebeutelte Lufthansa. Zuletzt zog der Rechnungszins für die Pensionen an, auf zuletzt exakt 2,36 Prozent. Deshalb ist die Eigenkapitalquote der Kölner zwar noch nicht im Lot, aber wieder deutlich gestiegen, auf 17,5 Prozent per Ende Juni. Ganz im Gegensatz zum vorherigen Einbruch hob der Dax-Konzern diese Verbesserung bei der Präsentation der Halbjahreszahlen vergangene Woche dann auch fett hervor. Um mehr als 380 % legen die bilanzierten Schulden der Post zu 5,1 Mrd. Euro frischen Goodwill kaufte Bayer ein Auf 7,5 % schrumpfte die Eigenkapitalquote der Lufthansa 372 Mrd. Euro schwer sind die Pensionsschulden der Dax-Konzerne. ++ DAX-CHECK ++ 1. Die Uni St. Gallen hat für die WirtschaftsWoche die Abschreibungspolitik der 30 Dax-Konzerne nach Übernahmen analysiert und zeigt daraus resultierende Gefahren für den Aktienkurs. 2. Die Stuttgarter FAS AG, die Unternehmen bei der Bilanzierung berät, hat geprüft, welche Dax-Werte wegen neuer Bilanzregeln demnächst hohe Schulden aus Leasingverträgen ausweisen müssen. 3. Unsere Analysen der Geschäftsberichte geben Aufschluss über die Pensionslasten der Unternehmen. LEASING Leasing bedeutet, sich einen Gegenstand gegen fixe Gebühr (monatlich, jährlich) zu leihen, mit einem festen Nutzungsrecht über eine feste Laufzeit. Unternehmen leasen alles Mögliche, von Telefonen über Immobilien bis hin zu Flugzeugen. Vorteil ist, dass weniger Kapital gebunden wird. ++ WERTHALTIG ?++ Der Goodwill ist eine Vermögensposition in der Bilanz, die Firmen nicht veräußern können - anders als etwa Maschinen. Er entsteht so: Kauft ein Konzern eine Firma, wird deren Vermögen buchhalterisch in Einzelteile zerlegt und bewertet. Ist der Kaufpreis für die neue Tochter höher als das bewertete Vermögen, wird die Differenz, eine Art Übernahmeprämie, als Goodwill verbucht. Jährlich wird geprüft, ob der Goodwill abgewertet werden muss. Meist muss er es offenbar nicht. Kein Wunder: Abschreibungen würden Gewinne und Eigenkapital der Konzerne belasten. [email protected] ZITATE FAKTEN MEINUNGEN "Wer kaum oder gar nicht abschreibt, der macht sich verdächtig" "Anleger sollten den Goodwill bei der Analyse eigentlich sofort vom Eigenkapital abziehen" . Bilanzexperte Leibfried, Universität St. Gallen Wirtschaftsprüfungsexperte Brö- sel, Fern-Uni Hagen. Firmenübernahme: Wie der Goodwill (Firmenwert) nach einer Übernahme entsteht (Beispiel) (BWL / Grafik) Bilanzen: Viele Dax-Unternehmen ziehen seit Jahren Übernahmeprämien durch die Bilanz und schreiben diese kaum noch ab (BWL / Tabelle) Bilanzen: Als Vermögen bilanzierte Übernahmeprämien im Dax (BWL / Grafik) Bilanzen: Wie die Dax-Unternehmen von der neuen Leasingbilanzierung betroffen sein werden (BWL / Tabelle) Abbildung: Abbildung: Abbildung: Wörter: Urheberinformation: © 2015 PMG Presse-Monitor GmbH Kräftig aufpoliert Lufthansa-Bilanz von Pensionsverpflichtungen belastet . Genau hinschauen Bayer-Chlorproduktion Brunsbüttel. Der Konzern wächst sehr stark über Zukäufe, Nebenwirkungen inklusive . Immer tiefer Die Neubilanzierung von Leasingschulden trifft die Deutsche Post hart . 3639 Verlagsgruppe Handelsblatt GmbH 2015: Alle Rechte vorbehalten. Die Reproduktion oder Modifikation ganz oder teilweise ohne schriftliche Genehmigung der Verlagsgruppe Handelsblatt GmbH ist untersagt. All rights reserved. Reproduction or modification in whole or in part without express written permission is prohibited.
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