Warum ich mich als Christ outen will

30.4.2015 »Warum ich mich heute als Christ outen will! BILD­Redakteur Daniel Böcking schreibt, was der ISIS­Wahnsinn für seinen Glauben bedeutet: ­ Politi…
(HTTP://WWW.BILD.DE/)
»Warum ich mich heute
als Christ outen will!
BILD-Redakteur Daniel Böcking erklärt, was der ISISWahnsinn für seinen Glauben bedeutet
Nonnen in Qaraqosh (Irak) stehen in ihrer zerstörten Kirche
Foto: facebook
Von DANIEL BÖCKING
28.04.2015 ­ 17:15 Uhr
Dieser Text fällt mir nicht leicht. Denn ich schreibe ihn nicht als „die BILD“ oder als
neutraler Reporter. Sondern als Christ. Als Christ, der mit dem ISIS­Wahnsinn überfordert
ist.
Auch mancher Kollege mag sich wundern, denn ich renne nicht täglich mit einem Schild durch die
Redaktion, auf dem steht: „Guckt mal! Ich bin Christ und versuche jeden Tag aufs Neue, mein
Leben in den Dienst von Jesus Christus zu stellen.“ Ich bin nicht die Kirche und kein Lobbyist
einer religiösen Organisation. Ich bin nur einer von Millionen Christen. Und zum ersten Mal
schreibe ich darüber. Denn ich kann nicht länger die Füße stillhalten – oder besser: die Finger. Für mich ist es
Zeit, laut von der Liebe Gottes zu erzählen und von der Vergebung durch Jesus Christus.
Von unseren Werten als Christen und warum sie genau jetzt so wichtig sind! Am liebsten
würde ich zu jedem ISIS­Kämpfer gehen und ihm sagen: „Hör auf mit dem, was du da tust
und kehr um! Gott liebt auch dich und kann dir vergeben. Das, was du da tust, hat nichts
mit Gott zu tun und ist in keiner Religion eine gute Tat.“
http://www.bild.de/politik/ausland/isis/warum­ich­mich­als­christ­outen­moechte­40730986.bild.html
1/4
30.4.2015 »Warum ich mich heute als Christ outen will! BILD­Redakteur Daniel Böcking schreibt, was der ISIS­Wahnsinn für seinen Glauben bedeutet: ­ Politi…
Okay, das ist unrealistisch – zumal die Aufmerksamkeitsspanne meines Gegenübers eventuell
lebensbedrohlich kurz wäre. Aber dennoch macht es mich fassungs­ und hilflos, wie stumm wir
Christen derzeit das Morden beobachten. Mir geht es hier nicht um die politische Ohnmacht oder
um das Entsetzen, das wir alle teilen – ob Christ oder nicht. Mir geht es konkret darum, dass wir
als Christen eine Botschaft mitzuteilen haben, und viele trotzdem still sind. Auch ich, bisher.
Haben wir Angst, uns zu unserem Glauben zu bekennen und entsprechend zu handeln,
weil andere vermeintlich gläubige Menschen so unfassbares Böses anrichten? Weil uns
der Glaube unangenehm geworden ist? Weil Religion plötzlich so oft nah am Fanatismus
scheint? Kein Glaube rechtfertigt ISIS. Und gerade weil sie Gott als Rechtfertigung
missbrauchen, muss es doch jedem Gläubigen im Herzen so weh tut tun, dass er schreien
will.
Oder wissen wir einfach nicht, was wir tun sollen?
In einem jüngst erschienenen ISIS­Propaganda­Video sind zwei Gruppen von
gefangenen Christen zu sehen, die von Dschihadisten in Libyen ermordet werden
Ich hatte vor wenigen Tagen die Ehre, Lord George Weidenfeld zuzuhören. Er sagte zur aktuellen
Lage sinngemäß: „Ich verstehe diese Generation Christen nicht. Ich verstehe nicht, dass sie
nichts tut.“ Da kam ich wieder ins Grübeln. Es werden Christen ermordet, weil sie zu ihrem
Glauben stehen. Und das soll keine Auswirkungen auf mein sichtbares Handeln als Christ
haben?
Das Neue Testament gibt uns keinen Kampfauftrag. Im Gegenteil: Es ruft zum Frieden auf,
oft sogar zum Erdulden von Ungerechtigkeiten. Auch Christen haben das schon ignoriert
und Furchtbares angerichtet. Aber müssen wir deshalb heute still sein? Ganz sicher nicht!
Im Gegenteil!
Wieder und wieder werden wir in der Bibel aufgefordert, uns frei und ohne Angst zu Gott und
Jesus zu bekennen. Und damit zu den Grundpfeilern der guten Nachricht: zu Liebe,
Barmherzigkeit und Vergebung. Auch dieses offene Bekenntnis ist eine Tat und der beste
Anfang.
Wie schön wäre es, wenn solche Botschaften Twitter und Co überfluten. Wenn wir von unserem
Glauben berichten, in dem es eben nicht um Rache oder Kreuzzüge geht. Jesus hat nicht „Auge
um Auge“ gepredigt, sondern die berühmte andere Wange, die wir hinhalten sollen. Er hat nicht
verdammt, sondern selbst dem größten Sünder Hoffnung auf Vergebung gemacht. Glaube darf
nicht zerstörerisch sein. Mein Glaube ist friedlich und versöhnlich. Gott kann sogar ISIS vergeben
(dieser Gedanke ist nicht neu (http://www.bild.de/politik/ausland/isis/christen­antworten­auf­mord­video­
40660914.bild.html) ).
Ich hoffe, das klingt nicht zynisch für diejenigen, die direkt vom Leid betroffen sind. Keine
http://www.bild.de/politik/ausland/isis/warum­ich­mich­als­christ­outen­moechte­40730986.bild.html
2/4
30.4.2015 »Warum ich mich heute als Christ outen will! BILD­Redakteur Daniel Böcking schreibt, was der ISIS­Wahnsinn für seinen Glauben bedeutet: ­ Politi…
Ahnung, ob ich selbst zu so einer großen Vergebung fähig wäre. Aber das Neue
Testament gibt uns auch Aufgaben und Verpflichtungen – und zwar jedem von uns
Christen, nicht nur den Hauptberuflichen. Es ist kein Ruf zu den Waffen, sondern der Ruf,
das Böse mit Gutem zu überwinden. Nicht verschämt schweigen nach dem Motto „Zur Zeit
ist wohl nicht der richtige Moment für Glaubensbekenntnisse“ – sondern handeln. Klingt das zu naiv, zu abstrakt? Ich versuche es konkreter: Wann, wenn nicht jetzt, sollten wir
damit anfangen, Barmherzigkeit und Nächstenliebe in die Tat umzusetzen? Etwa 300 Christen
sollen noch im Nordosten Syriens als Geiseln gefangen gehalten werden. 15 äthiopische Christen
wurden vor einigen Tagen von ISIS­Kämpfern erschossen, 15 enthauptet und dabei gefilmt. Weil
es hier um die Rolle der Christen geht, erwähne ich nur diese neben so vielen anderen
grauenhaften Taten. Im Februar wurden 21 koptische Christen in Libyen geköpft. Gestorben für
ihren Glauben.
In einem ISIS­Propagandafilm haben die Terroristen eine Marienstatue umgeworfen
Wir stehen zum Glück nicht vor der Entscheidung: den eigenen Glauben leugnen oder sterben.
Gerade deshalb sollten wir jetzt umso deutlicher dazu stehen. Wir sollten wieder anfangen, von
dem Guten im Glauben zu berichten, auch wenn es aktuell nicht in Mode scheint. Und wir sollten
die Ärmel hochkrempeln und unser Christ­Sein sichtbar machen. Millionen Menschen sind auf der
Flucht. Gerade erst sind wieder 900 Menschen in der Hoffnung auf eine bessere Welt vor der
Küste Libyens ertrunken. Manche der Fliehenden schaffen es bis zu uns in die Nachbarschaft. 60
000 Syrer haben bei uns Asyl beantragt. Ich habe in den letzten Wochen viele
Flüchtlingsunterkünfte und Hilfsvereine angerufen, um zu sehen, ob es eine Möglichkeit zu helfen
gibt. Nur einmal hörte ich, dass keine weitere Unterstützung nötig sei. Alle anderen waren
dankbar und hatten großen Bedarf. (Nur am Rande: Ich hätte schon viel mehr beitragen können,
aber verdränge den christlichen Auftrag zu oft im eigenen Alltagsstress. Der Appell geht also
genauso an mich selbst.)
http://www.bild.de/politik/ausland/isis/warum­ich­mich­als­christ­outen­moechte­40730986.bild.html
3/4
30.4.2015 »Warum ich mich heute als Christ outen will! BILD­Redakteur Daniel Böcking schreibt, was der ISIS­Wahnsinn für seinen Glauben bedeutet: ­ Politi…
Ein Islamist zerschmettert ein Holzkreuz auf dem Altar einer Kirche
Es gibt viel zu tun! Es ist der richtige Moment, anderen beizustehen. Auch und erst Recht
im Namen von Jesus Christus. Mit Spenden, mit Hilfe in Asylbewerberheimen, mit
gemeinsamen Gebeten, mit Gesprächen, Bekenntnissen und Botschaften auf allen
Kanälen. Mit einer großen Koalition für das Gute im Namen Gottes. Laut, sichtbar, hörbar.
Jeder so gut wie er kann. Viele handeln schon – aber noch ist es keine Welle.
Ich habe für mich gelernt, was der Glaube in meinem Leben verändern kann. Wie mächtig die
Liebe ist. Ich bete oft für ein Ende dieses Wahnsinns, für die Opfer und die, die in Angst vor ISIS
leben müssen. Ich versuche auch, mit ehrlichem Herzen für die Täter zu beten. Dafür, dass sie
umkehren, ihre Grausamkeit bereuen und Vergebung erfahren. Ich bin nie allein mit meiner Wut
und Verzweiflung und meiner Hoffnung auf eine bessere Welt. Aber ich war bislang auch nicht
öffentlich damit.
Vor einigen Wochen las ich die Geschichte einer amerikanischen Journalistin „Why I am coming
out as a christian“ (http://www.thedailybeast.com/articles/2015/02/28/why­i­m­coming­out­as­a­christian.html) . Mir
ging dieser Artikel nicht mehr aus dem Kopf. Er war (wie man leicht erkennen kann) auch
Anregung für diesen Text. Christ­Sein bedeutet mehr, als stille Gebete und fromme Worte im
kleinen, privaten Kreis. Christ­Sein heißt handeln. In der Familie, im Freundeskreis, bei der
Arbeit, öffentlich. Nicht der Glaube ist ein Problem, sondern was der Mensch damit macht. Der
Glaube an Gottes Liebe, Gnade und Vergebung ist kein Problem, sondern unsere Chance.
Ich freue mich auf Meinungen und Diskussion auf Twitter: @DanielBoecking © Axel Springer AG. Alle Rechte vorbehalten
http://www.bild.de/politik/ausland/isis/warum­ich­mich­als­christ­outen­moechte­40730986.bild.html
4/4