Nach jetzt schon zwei Monaten in Santiago de Chile finde ich endlich die Zeit mich zu melden und euch ein wenig von meiner Arbeit und meinem Leben hier zu berichten. Dass schon zwei Monate vergangen sind, ist für mich schwer zu begreifen. Denn häufig habe ich das Gefühl, ich bin gerade erst angekommen, so wenn ich neue Orte entdecke, wie gestern die Poblacion La Victoria, die dieses Jahr ihren Geburtstag mit einem Karnevalsumzug feiert. Población nennt man hier die Arbeiterviertel, häufig auch im Sinne von Armutsvierteln, von denen viele aus Landbesetzungen der 50er und 60er Jahre hervorgegangen sind. La Victoria ist eine der berühmtesten Poblaciones, berühmt für ihren entschlossenen Widerstand gegen die Diktatur. Oder wenn ich feststelle, dass ich immer noch nicht auf dem Zentralfriedhof war um mir das Grab von Victor Jara anzuschauen oder das Pablo Neruda Museum zu besuchen. Oder jemand versucht mir etwas zu erklären und ich verstehe nichts , weil mein Spanisch immer noch nicht ausreicht. Andererseits kommt mir mein Leben in Deutschland auch manchmal schon unglaublich weit weg vor. So sind die Wege zur Arbeit schon so Routine, dass ich mich traue im Bus Musik zu hören und in der Metro fünf Minütchen die Augen zu schließen. Das war am Anfang überhaupt nicht denkbar, denn man könnte ja die Station verpassen, oder jemand könnte einen ansprechen und man muss schnell auf Spanisch umschalten. Aber nicht nur schnöde Arbeitsroutine hat sich eingeschlichen, auch schöne Routine. So kennt man mich mittlerweile am kleinen Gemüsestand nebenan von meiner Wohnung oder die Dame, die abends im Feierabend Empanadas an meiner Metrostation verkauft, mich nett mit „mi Niña“ grüßt, wenn ich mir mal wieder schnell etwas auf die Hand kaufe. Auf der Arbeit läuft es mittlerweile auch etwas entspannter für mich, da ich nicht mehr nur noch damit beschäftigt bin die Leute zu verstehen, denn mein Spanisch ist mittlerweile so gut, dass es für Fragen, wie es mir geht, wo die Filzstifte sind oder ob ich schon Mittag gegessen habe, reicht. Die Organisation, bei der ich arbeite, nennt sich La Caleta, das heißt auf deutsch so viel wie "Kleiner Schlupfwinkel", und arbeitet mit Kindern und Jugendlichen aus Poblaciones zur Frage, welche Rechte sie haben. La Caleta hat mehrere Zweigstellen, aber die größte Stelle befindet sich in La Legua, wo ich arbeite. La Legua ist eine Poblacion, die in Satiago sehr stigmatisiert ist. So werden Jugendliche, die in ihrer Bewerbung als Wohnort La Legua angeben, sofort aussortiert, denn in La Legua leben angeblich nur Kriminelle und Drogenhändler. Tatsächlich ist der Drogenhandel ein Problem in La Legua, doch der Staat reagiert mit bloßer Staatsgewalt, das heißt an jeder zweiten Ecke stehen Polizisten mit Maschinengewehren und Panzerwagen. Da sich die Kriminalität in einem bestimmten Teil von La Legua konzentriert, wird dieses Viertel von der Polizei quasi eingekesselt. Da ich in einem anderen Teil von La Legua arbeite, bin ich nicht so betroffen von dieser Situation und bekomme auch nicht so viel davon mit. Die Caleta versucht die Kinder aus dem Viertel zu organisieren und ihnen ihre Rechte beizubringen, aber auch konkrete Aktionen zu machen um die Erwachsenen darauf aufmerksam zu machen, an welchen Stellen die Rechte der Kinder beschnitten werden. Es wird mit den Kindern gemeinsam überlegt, was man konkret machen kann um die Situation zu verbessern. Da ein Recht der Kinder auch die Mitbestimmung ist, organisiert die Caleta Versammlungen von Repräsentanten. Jede Gruppe wählt einen oder mehrere Repräsentanten, der sie vertritt und man trifft sich regional, landesweit und sogar auch Südamerika weit. Ich arbeite mit einem Mitarbeiter und einem Praktikanten von der Universität in zwei solcher Gruppen. Eine hat sich gerade erst gegründet und eine gibt es seit Mai diesen Jahres. Zur Zeit organisieren wir gerade unsere Beteiligung am Karneval, der einmal im Jahr in La Legua statt findet, am 9. November ist es so weit. Wir machen mit den Kindern außerdem ein Mauergemälde, das sie sich für das Zentrum, in dem wir arbeiten, gewünscht haben. Einen Teil davon haben wir letzte Woche endlich in einer Ganztagsaktion fertig gestellt. Ein Freund des Praktikanten hat die Umrisse für uns an die Wand gesprüht und wir haben diese mit den Kindern ausgemalt. Mittags haben dann zwei Mütter für uns gekocht. Dass es überhaupt nicht einfach ist die Kinder zu organisieren und mit ihnen zu arbeiten, merke ich vor allem in der Gruppe, die sich erst neu gegründet hat. Wir verbringen sehr viel Zeit damit, Spiele zu machen, in denen die Kinder als Gruppe zusammenarbeiten müssen, denn das ist eine Sache die ihnen unglaublich schwer fällt. Wenn ihnen etwas nicht passt, ärgern sie andere Kinder oder gehen einfach weg. Ein anderes großes Problem ist, dass es vielen Kindern unglaublich schwer fällt sich länger als fünf Minuten zu konzentrieren. All dies sind Eigenschaften, die ihren Ursprung meist im Familienleben haben. So schlafen viele Kinder nicht viel, weil sie mit vielen Familienmitgliedern in einem Haus wohnen, wo kaum Ruhe einkehrt oder gerade ein neues Baby geboren wurde, was alle auf Trab hält. In vielen Familien fehlt auch die Zeit für die Kinder, weil die Eltern den ganzen Tag arbeiten oder mit ihren eigenen Problemen wie psychische Erkrankungen, Alkoholismus oder Arbeitslosigkeit beschäftigt sind. Doch an Freude und Zuneigung fehlt es den meisten Kindern nicht, so haben sie immer eine Umarmung zu vergeben oder einen Scherz auf Lager um auch die kleinste Malaktion zu einer Sauerei zu machen. Mir macht die Arbeit mit den Kindern viel Spaß, auch wenn ich nach manchen Tagen nur noch ins Bett falle, weil es so anstrengend ist und mir die Kommunikation mit den Kindern immer noch schwer fällt. Ihr Spanisch ist natürlich ein ganz anderes als das der Erwachsenen und viele verstehen nicht, was es heißt eine Sprache zu lernen. So ist neulich ein Kind richtig böse geworden, weil ich es nicht verstanden habe, was keinesfalls an der Lautstärke lag, wie der Junge wohl dachte sondern an den Vokabeln, die mir einfach fremd waren. Über den 1. November haben wir ein langes freies Wochenende, den viele in Santiago nutzen, um der Großstadt zu entkommen. Pauline, meine FSJ-Kollegin hier, und ich planen ebenfalls einen Ausflug nach Valparaiso fahren, um uns etwas auszuruhen und etwas Neues kennen zu lernen.
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