Manos Tsangaris Ada SCORE Zum 200. Geburtstag von Ada

Manos Tsangaris
Ada SCORE
Zum 200. Geburtstag von Ada Lovelace
Wir denken da an jemand aus der Vergangenheit.
Eine Person.
Wir versuchen sie auszusprechen. Ein Name.
Der Name klingt in uns als eine geringe Teilmenge einer Erinnerung des
Verschwundenen, nur Reste von etwas, erscheinen.
Gebunden an Ursachen, Dinge, Gegenstände, Gedankenobjekte, Wirkungen, Leistungen,
die erinnert werden, aufgerufen innerhalb eines Erinnerungssystems.
Das System schwankt. Wir sind mittendrin.
Wir versuchen, Konturen zu erkennen.
Als wäre da ein Rand, eine Umrandung, also ein Ende abzusehen, etwas jenaseits des
Randes auszumachen.
Wir sind Teil des Systems, das sieht, das gesehen wird, das schwankt.
Wir erinnern immer auch Vergleichswerte, andere Systeme, andere Gelegenheiten, wo wir
zu sehen versuchten, - auch das schwankt.
Die Schwankung scheint zum System zu gehören.
Da kommt jemand und sagt, es ist bloß eine Störung.
Das System sei in Ordnung, seine Ränder und Maße würden gelten.
Seine Maße sind auch deine Maße, es schwanke zwar jetzt,
aber nicht wirklich, verstehen Sie.
Es ist bloß eine Störung.
Die erinnerte vergegenwärtigte Person zeichnet sich unterschiedlich ab.
Sie zeichnet sich ein in unser System aus Erinnern und Vergessen.
Das Zeichen hat Merkmale.
Es bewegt sich.
Jemand schaut dich an.
Vielleicht erst nach einer Weile?
Vielleicht auch sofort.
… so fort.
Jetzt also, immer zu, ie zuo … jetzt, immerzu.
Score. Etwas hat sich eingekerbt. Das Wort Score kommt von Kerben.
Wir tasten die Kerben ab.
Wir ertasten ihre Ränder.
Das Tasten schwankt.
Nichts ist dem Geist erreichbarer als das Unendliche.
Das Endliche schreibt, kerbt sich ein in unser System
aus Sprache, Zeichen, Erinnerung.
Das Endliche produziert Unendlichkeiten gegen unendlich.
Das Unendliche ist endlich wahrnehmbar, von den Rändern her.
Diese Zeichnung erzählt etwas von jemandem, von einer bestimmten Person,
die aufscheint in der Erinnerung.
Erinnerungen erzeugen Erinnerungen, … zeugen.
Wo sonst sollten wir sie finden, die Erzählung, die Person, die Zeichen, die sich eingekerbt
haben.
„Teile dein Wissen mit anderen,“ sagt jemand, der es wissen muss, „das ist eine gute
Möglichkeit, Unsterblichkeit zu erlangen.“
Aha, Wissen … geteilt … unsterblich.
Die unsterbliche Person und der unsterbliche Teil davon - ist ihr Wissen? - das zu uns
wandert über alle Zeiten hinweg, in Zeichen, in Zeichensprache, Chiffren unterscheidlicher
Art, also nicht um ein Erinnerungs-Bild, sondern ein System auszuzeichnen.
Die unsterbliche Person erscheint, gekerbt, auferstanden, wiederverlebendigt, in der
Fremde, in uns. Wir sind die Fremden und ihr verwandt über Botschaften und unsere
Lesarten.
Wir sind der, die oder das Fremde.
In Erzählungen erscheint sie - immerhin: da steckt das Wort „zählen“, die Zahl, schon drin.
Sonst könnten wir uns das gar nicht merken.
Wir würden nicht aufmerken können.
Etwas erscheint, indem es sich zusammenbindet mit anderem und als
Zusammengebundenes günstigenfalls zu einer Erzählung wird, sich unterscheidet von
anderen Verbindungen, Gebinden, Verbunden - oder Legato-Gestalten.
Die Plastizität der Gestalten und der Erinnerungen, das ist ihre Formbarkeit, gestaltet sich
in Legato-Formen, Modi des Erscheinens und Verschwindens in gebundener Form, die
sich unterscheiden. (Ist eben nicht eines wie das andere.)
Mythos, das ist das Wort, es zeichnet sich ab.
Mehrfach gekerbte Ränder, Randzonenzeichnungen, Randerscheinungen mit
erstaunlichen Übersetzungskräften, von dort nach hier, aus dem einen in das andere
Erinnerungssystem.
Eine Person, die sich unterscheidet.
Es scheint von den Dingen abzuhängen, mit denen sie sich beschäftigt hat.
Aber wieso die Mathemtik?
Aber wieso nicht?
„Ich bin im Besitz einer einzigartigen Kombination von Qualitäten, welche mir vortrefflich
geeignet erscheinen, um mich in erster Linie zum Entdecker der verborgenen Realitäten
der Natur zu prädestinieren.“ (Ada Lovelace)
mathanein im Griechischen heißt einfach „ich lerne“. Die Mathematik, deren Name davon
abgeleitet ist, ursprünglich eine der ersten Künste, techné - zu denen, ihr verwandt, auch
die Musik gehörte - bildet ein spekulatives System, das neben seinen imaginativen
Qualitäten vor allem an Fakten interessiert ist. Beweisbarkeiten. Kunst und Wissenschaft
sind hier nicht getrennt.
mathanein - ich lerne (übrigens verwandt mit dem deutschen Adjektiv „munter“), mathema
„das Gelernte, Kenntnis“ und die Mathematik, wie wir sie zu kennen glauben, ist für
manche eine Plage, für andere Basis und System gewagtester Höhenflüge.
„Es ist eine Besonderheit meines Nervensystes“, sagt Augusta Ada Byron King, Countess
of Lovelace, „dass ich einige Dinge wahrnehme, die niemand sonst erkennt.“
Die in ihre Unsterblichkeit gekerbte Person, die ihr Wissen mit uns teilt, überschreitet die
Grenzen dessen, was ihr vorgegeben und möglich zu sein scheint. Ihre
Erinnerungszeichen gewinnen Bedeutung und Gewicht, da wo die Zeit sich umkehrt. In
ihrer Zeit war sie zwar eine Ausnahmeerscheinung, aber ohne ihre Spuren, Kerben, das
Wissen, das sie teilen konnte, würde die Erinnerung keine Anhaltspunkte haben, kein
Score, kein legato, das anknüpfen könnte, kein angetriggertes System der Erregung. Die
Mathematik, techné, war einmal eine der ersten Künste - Schnittmenge von Wissenschaft
und Ästhetik.
Muss nicht jede brauchbare Definition oder Formel auch „schön“ sein? Schön, das ist mit
schon, also „schon da - schon wieder weg“ verwandt, was wiederum mit dem Erscheinen,
Schein und Lichtschein, zusammenhängt, mit Erscheinen und Verschwinden zu tun hat.
Schon da - schon … nicht mehr.
Erinnerungsbilder erscheinen im Bewusstsein an den Formen, an Gestalten, Kerben,
Stanzen, mit ihren Rändern, die sie in uns erzeugen können. Netze spannen sich auf
zwischen ihnen.
Genau genommen denken wir alle in Metaphern wie aus Filmbildern, wenn wir uns
erinnern, eine Art cineastischer Grammatik, speziell was Kamera-Funktionen, Syntax und
Montage angeht. Auf- und Abblende (siehe Erscheinen / Verschwinden), Totale, close up,
zoom, cut usw.
Die Maschine ist auch hier, ihren Flugeigenschaften gemäß, den musikalischen
Möglichkeiten nachgekommen, die sie hervorgebracht hat …
wie im Traum.
We are such staff as dreams are made on
and our little life is rounded with a sleep.
Wie im Traum: Erscheinen, verschwinden, eigentlich undenkbare Architekturen, wenn sie
nicht gerade hier gedacht würden, Gestalten, Momente. „Es ist eine Besonderheit meines
Nervensystems“, sagt Ada Lovelace, „dass ich einige Dinge wahrnehme, die niemand
sonst erkennt.“ Wie im Traum, schonungslos.
Die Schönheit, Schonheit … Vergänglichkeit aller Bilder und Zeichen, der
Erinnerungsmomente im Bewusstsein … ihr bedingtes Entstehen, ihre Flüchtigkeit, nur
momentane Kontur, die wir abtasten, die Struktur ihres Erinnerns, ihre UntereinanderVerbundenheit in uns, mag bloß Auslöser ihres schlussendlichen Verschwindens sein.
Vermutlich aber, erinnern wir einfach alles, merken es aber nicht.
Wenn nicht alles verschwände, könnte nicht nichts verloren sein.
Unser Geist, Mittler, ist ein Verbindungsglied des völlig Ungleichen, sagt Novalis in seinen
Erinnerungs-Aufzeichnungen, auch diese eine Voraus-Erinnerung in die Zukunft, ein
Geflecht, Netz aus wissbaren, untereinander
immer getrennten, d.h. unterschiedenen Einzel-Elementen, Gestalten, die er in ein paar
Monaten notiert hat ins Allgemeine Brouilllon, sein Skizzenbuch.
I woke up one morning and found myself famous. (Lord Byron)
Die Mathematik war etwas, woran sie, die Tochter des berühmten Dichters, Entdeckerin
verborgener Raltitäten der Natur, einen Moment lang ihre herausragenden Fähigkeiten
erproben und messen konnte. The analytical engine. Übersetzte sie in Tabellen und
Diagramme. Sie erkannte den Nutzen der Lochkarte, duch die Lichtschein fällt oder nicht.
Ein und Aus oder EinEin oder AusEin oder Aus usw.. Stanze, Kerbe, Wissen, das geteilt
wird, Verbindungsglied des Ungleichen, auf die einfachstmögliche Erscheinung hin
reduziert, schon da, schon wieder weg?
Jetzt, das von ie zuo herkommt, dem Immerzu, also Immerwährenden, jetzt … eine ganz
andere?
Das Erinnerungsbild, an ein paar Konturen geheftet, aus ihnen hervorgebracht, hier, in
einer Nacht im Jahr 1843, wo, wie im Fieber notiert, die Notes zur analytischen Maschine
ihres Mentors Charles Babbage verfasst werden in außergewöhnlicher Kenntnis der
Materie und absolut selbstständigem Denken. Dann geteilt, adressiert an jemanden, der
sie und ihre Fähigkeiten schon damals zu schätzen wusste, selbst eine Art Ausgestoßener
der Gesellschaft, der in ihrer Mitteilung, die Teilhabe eines anderen Systems erfuhr, das
ist ihre Allegorie, die sich anders mitteilte in dem Wissen um eine Mschine,
dampfgetrieben, ein algorithmisches Rechensystem, worin allerdings das Denken erneut
die feinmechanischen Möglichkeiten seiner Zeit überforderte.
Infolge kehrte dann Ada Lovelace der Mathematik irgendwann den Rücken zu. Eine
Schrift, geteilt, war genug. Schon da, schon wieder weg.
Der von der Schönheit weiß, hieß bei den Griechen der Gott der Unterwelt, der so viele
empfängt. Genau genommen alle. Er weiß also auch um die Endlichkeit von allem.
Schönheit ohne Endlichkeit, wäre das denkbar?
Von einem Stern bis zum nächsten ist es weit.
Wie weit entfernt von uns sind die Gegenstände unserer immer nur hier aufscheinenden
Erinnerung. Sind sie nicht alle gleich weit weg?
Etwas, das gestern geschah, ist es mir automatisch näher als jemand, die vor 200 Jahren
gelebt hat?
Nichts ist dem Geist erreichbarer als das Unendliche, sagt Novalis.
Wie weit entfernt sich in uns die Erinnerung?
Die Mitte scheint immer leer zu sein. Jetzt und immerzu.
Ob geritzt, gekerbt, gestanzt der gelocht. Die Reduktion auf die einfachst mögliche Gestalt
aus der, so scheint es, alle nur denkbaren und auch undenkbaren Komplexitäten
hervortreten können, erscheint uns in der Präsenz von Ada Lovelace, gerade angesichts
ihrer inneren Widersprüchlichkeit und Zerrissenheit, als taumelnd schönes
Erinnerungsbild, schön genug heute, und … schon wieder weg.
mts 101215 Attenbach