PS NDL Barbara Frischmuth SoSe 2015 Rezension Das Verschwinden des Schattens in der Sonne – Barbara Frischmuth Ich sehe etwas vor mir. Die Umrisse, die Gestalt, die Farben. Ich kann alles klar beschreiben, doch habe ich es nicht wirklich wahrgenommen. Nicht wirklich gesehen. Oft streift man durch die Gegend, ohne sich des Durchstreiftens wirklich bewusst gewesen zu sein, mit doch so weitgeöffneten Augen, die verschlossener nicht sein könnten. Mit diesem und anderen Problemen hatte die junge Orientalistikstudentin in Barbara Frischmuths „Das Verschwinden des Schatten in der Sonne“ während ihres Aufenthalts in der Türkei zu kämpfen. Die Stadt in der sich die Ich-Erzählerin befindet, sowie der Name der IchErzählerin selbst, werden dem/ der Leser_in nie klar artikuliert. Aber durch die Erwähnung der Orte, Plätze und Bauwerke kann die Stadt auf Istanbul und Umgebung eingegrenzt werden. Die Protagonistin, welche ihre Reise für das Recherchieren zu dem geheimen Orden der Bektaschis angedacht hatte, wird herzlich aufgenommen, alle sind ihr gegenüber sehr aufgeschlossen und gerne bereit zu helfen. Doch wenn die richtigen Fragen fehlen? Allah. Muhammed. Ali. Fatma. Hasan. Hüseyn. Hacı Bektaş Veli. Teslim Taş. Balım Sultan. Kızıl Deli. Fatma Baci. Doğrul. Baba Ishak. Kaygusuz Abdal. Pir Sultan Abdal. Die IchErzählerin stellt ihr Wissen über die Türkei, ihre Geschichte, Literatur und Religion unter Beweis, doch für den/ die Leser_in kann es schwer sein, den Terminologien, Daten und Fakten zu folgen und die gewonnenen Informationen schlüssig zu einem Ganzen zusammen zufügen. Die Frage darüber zu klären, ob „Das Verschwinden des Schattens in der Sonne“ ein Reise-, Liebes-, Gesellschafts-, Istanbul-, Kriminal- oder Multikulturroman ist, steht mir fern, vereint Frischmuth mit dem Facettenreichtum ihrer Sprache nicht aus all diesen Gattungen etwas davon. Ganz in der kunstvollen frischmuthigen Manier verflechtet die Schriftstellerin ihre präzisen Sätze miteinander und je weiter die Handlung vorangetrieben wird, desto bewusster wird sich die Protagonistin darüber, dass die Geheimnisse dieses Ordens sich nicht mit dem Wissen aus Büchern und dem in der Universität erworbenen, erklären lassen. Denn sind es nicht die aktuellen Begebenheiten und die gegenwärtigen politischen Vorgänge, die auch gleichzeitig in Verbindung mit jenen stehen, die im verborgenen passieren und dies auch müssen. Vorstellungen wurden konstruiert. Erwartungen gebaut, erschaffen, geformt. Doch die Realität wird dem nie ebenbürtig gegenübertreten können, und das muss sie auch gar nicht. Katharina Maria Schor
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