Häusliche Gewalt ist kein Schicksal! Teil 1 der Arbeitshilfe des kfd-Diözesanverbandes Münster 1. Grundinformationen Vorwort „Häusliche Gewalt ist kein Schicksal“ „Gewalt gegen Frauen ist die vielleicht schändlichste aller Menschenrechtsverletzungen. Sie kennt keine Grenzen, weder geografisch, noch kulturell, noch im Hinblick auf materiellen Wohlstand. So lange sie anhält, können wir nicht behaupten, dass wir wirklich Fortschritte in Richtung Gleichstellung der Geschlechter, Entwicklung und Frieden machen.“ Kofi Annan ehemaliger Generalsekretär der Vereinten Nationen Häusliche Gewalt ist kein Schicksal – mit diesem Thema hat sich der Arbeitskreis Frauenfragen – Familienfragen in den letzten Monaten auseinandergesetzt. Damit dieses Thema kein Tabuthema bleibt und Frauen sich damit auseinandersetzen, wollen wir weitergeben, was uns dabei wichtig geworden ist: • In der kfd wollen wir unsere Augen öffnen für Frauen, die von Gewalt betroffen sind. • Betroffene Frauen sollen Raum für ihre Lebenssituation bekommen und ermutigt werden, Hilfe in Anspruch zu nehmen. • Wir möchten dafür sensibilisieren, welche Möglichkeiten und Grenzen es für Helferinnen gibt. • Es braucht die Auseinandersetzung mit der eigenen Einstellung zur Gewalt und eine klare Positionierung gegen Gewalt. Aus der Vielzahl der Arbeitshilfen, unter anderem des Bundesverbandes der kfd, der Arbeitstelle für Frauenseelsorge der Deutschen Bischofskonferenz, Gottesdiensten zur ökumenischen Dekade zur Überwindung von Gewalt und aus verschiedenen Leitfäden, haben wir ein Materialpaket zusammengestellt. Mit dieser Arbeitshilfe möchten wir die praktische Arbeit zu diesem schwierigen Thema in den Kreisdekananten, Dekanaten und vor Ort ermöglichen. Anhand des Inhaltverzeichnisses kann aus verschiedensten Elementen ausgewählt werden: • Es bietet Material, um und sich selbst mit dem Thema Gewalt auseinanderzusetzen. • Hier finden Sie auch konkrete Hilfen zur Planung einer eigenen Veranstaltung. • Für Rückfragen und Unterstützung stehen wir gerne zur Verfügung. Wir haben uns bemüht, alle Quellen vollständig zu recherchieren. Es war leider nicht in allen Fällen möglich, die Rechteinhaber zu ermitteln. Für entsprechende Hinweise sind die Herausgeberinnen dankbar. Für den Arbeitskreis Familienfragen – Frauenfragen des Diözesanverbandes Münster: Lilo Brummelt, Hedwig Glatzel, Gaby Haarmeyer, Anne Kuhn, Gaby Müller, Marga Müskens, Karola Schäfer, Claudia Tolle und Birgit Warburg. Kontakt über: Diözesanverband der kfd Münster, Breul 23, 48135 Münster, Tel. 02 51 / 4 95 47-1, [email protected], oder Gaby Haarmeyer vom Diözesanleitungsteam: [email protected] Claudia Tolle, Diözesanreferentin: [email protected] Häusliche Gewalt ist kein Schicksal · Teil 1: Grundinformation · Seite 1 Inhaltsverzeichnis Teil 1 Grundinformationen Vorwort _________________________________________________________ Inhaltsverzeichnis _________________________________________________ 1.3 Arten von Gewalt_________________________________________________ 1.4 Gewalt-Beispiele__________________________________________________ 1.4.1. Erfahrungen einer Frau ______________________________________ 1.4.2. Beispiel zur Ausübung und Duldung von Gewalt mit Kommentar _________________________________ 1.5 Gewalt in der Pflege ______________________________________________ 1.5.1. Einführung ins Thema _______________________________________ 1.5.2. Personale Gewalt gegen ältere Menschen – Hintergründe ______ Hilfen für Betroffene und Helfende Inhaltsverzeichnis _________________________________________________ 2.1 Checklisten 2.1.1. Hilfen für Betroffene ________________________________________ 2.1.2. Hilfen für Helfende __________________________________________ 2.2 Frauen-Beratungsstellen im Bistum Münster ________________________ 1 2 3 4 4 5 7 7 8 Teil 2 Teil 3 3.1 3.2 3.3 3.4 Teil 4 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 Teil 5 5.1 5.2 5.3 5.4 Methodische Hilfen Inhaltsverzeichnis _________________________________________________ Gewaltthermometer zur Einschätzung der eigenen Sicht von Gewalt ______________________________________ Botschaften zur Sensibilisierung gegen Gewalt an Frauen ____________ Schreibwerkstatt – Gewalt in der Pflege – Anregungen für die Praxis _________________________________________ Planung einer Veranstaltung: Modelle für die Praxis _________________ 3.4.1. Modell für 2 ½ Stunden ______________________________________ 3.4.2. Modell für 3-4 Stunden ______________________________________ Liturgie Inhaltsverzeichnis _________________________________________________ Gottesdienst – „Nein zu Gewalt an Frauen“ – am Beispiel der Tamar __ Gottesdienst – „Ich will mich nicht gewöhnen an Gewalt“ – am Beispiel der hartnäckigen Witwe _______________________________ Gottesdienst – „Gewalt in der Ehe“ – am Beispiel von Sarai und Waschti _________________________________ Abendgebet – „Gewalt in meiner Familie!?“ ________________________ Frauenkreuzweg – „Sprich nicht darüber, meine Schwester“ Die Passion Jesu und die alltägliche Gewalt gegen Frauen ___________ Praktisches Inhaltsverzeichnis _________________________________________________ Filme zum Thema „Häusliche Gewalt“ ______________________________ Flyer und Taschentuchpackungen __________________________________ Ausstellung Rosenstr. 76 – eine interaktive Ausstellung in NRW 2008 __________________________ Weitere Links und Adressen zum Thema ____________________________ 9 10 13 15 19 20 26 26 28 29 29 30 31 39 49 59 63 69 70 73 74 75 Häusliche Gewalt ist kein Schicksal · Teil 1: Grundinformation · Seite 2 1.3 Arten von Gewalt Hier finden sie Grundinformationen zum Thema Viele denken bei Gewalt an Krieg, Mord, Schläge, Freiheitsentzug, Vergewaltigung, Missbrauch. Diese Formen sind aber nur die Spitze eines Eisbergs. Tatsächlich beginnt Gewalt viel früher und ist mehr, als einen Menschen zu schlagen. Sie fängt in den Köpfen an und findet sich auch in gesellschaftlichen und kirchlichen Strukturen. Da wo Menschen gehindert werden zu leben wie sie wollen oder es aufgrund ihrer Begabungen könnten, kann Gewalt beginnen. In den Leitlinien 99 der kfd hat Johann Galtung Gewalt so definiert: „Gewalt liegt dann vor, wenn Menschen so beeinflusst werden, dass ihre aktuell körperliche oder geistige Verwirklichung geringer ist als ihre potenzielle (mögliche) Verwirklichung. Gewalt ist in das System eingebaut und äußert sich in ungleichen Machtverhältnissen und ungleichen Lebenschancen.“ Tatsache ist, dass nach einer repräsentativen Studie des Bundesfamilienministeriums (2004) • 40% aller in Deutschland lebenden Frauen seit dem 16. Lebensjahr körperliche oder sexuelle Gewalt in unterschiedlicher Schwere, Ausprägung und Häufigkeit erfahren haben. • 25 % aller Frauen – also jede vierte – haben solche gewalttätigen Übergriffe innerhalb ihrer Beziehung erlebt. Am häufigsten erleiden Frauen Gewalt zu Hause, vor allem durch Ehepartner, durch Väter und andere männliche Verwandte. Eine weitere von Gewalt durchzogene häusliche Situation kann die Pflege sein: Auch hier sind Frauen von Gewalt betroffen – als Gepflegte, aber auch als Pflegende. „Häusliche Gewalt“ nach einem Referat von Dr. Heide Mertens (kfd-Bundesverband) Häusliche Gewalt ist kein Schicksal! Gewalt kommt in allen sozialen Schichten vor. Seelische Gewalt Gewalt fängt oft mit Worten an. Sie wird meist nicht als Gewalt wahrgenommen, sie kann leichter versteckt werden. Sie kann fast alle nichthandgreiflichen Gewaltformen umfassen, insbesondere auch die Gewalt durch Worte: z.B. Beleidigungen, Erpressungen, Drohungen, versteckter oder offener Tadel, ständige Kritik und Herabsetzung. Seelische Gewalt kann bis hin zu totaler sozialer Isolation reichen. Ebenso gehören zur seelischen Gewalt alle Handlungen, die das Selbstbewusstsein der Frauen zerstören, das Bedrohen und Quälen von Dritten, z. B. der Kinder, oder die ständige Kontrolle über Bekanntschaften, soziale Beziehungen und Aktivitäten einer Frau. Ökonomische Gewalt Männer üben ökonomische Gewalt in Beziehungen aus, indem sie die Güter und finanziellen Mittel kontrollieren, sich weigern, genügend finanzielle Mittel für den Unterhalt der Familie zur Verfügung zu stellen, den wirtschaftlichen Beitrag der Frau durch inner- und außerhäusliche Arbeit nicht anerkennen oder wenn sie die Frau unter Druck setzen, ihren Beruf aufzugeben oder einzuschränken. Körperliche Gewalt Sie ist die offensichtlichste Form von Gewalt. Körperliche Gewaltanwendung umfasst Schläge, Fußtritte, Ohrfeigen, Würgen, Nachwerfen von Gegenständen und hinterlässt oft sichtbare Spuren. Sexuelle Gewalt Meint jeden ungewollten Akt sexueller Natur, der von einer anderen Person erzwungen wird. Sämtliche Formen sexueller Belästigung, jede erzwungene sexuelle Handlung oder Berührung sind Grenzüberschreitungen, sobald sie von einer der beteiligten Personen nicht erwünscht sind. Häusliche Gewalt ist kein Schicksal · Teil 1: Grundinformation · Seite 3 Keine dieser Formen von Gewalt ist privat. Niemand hat das Recht, diese Gewalt auszuüben. Meist steigert sich Gewalt im Laufe der Zeit. Aus Gewalt mit Worten werden Schläge. Deshalb ist es wichtig, rechtzeitig Hilfe und Unterstützung zu suchen, um der Eskalation der Gewalt vorzubeugen. Die Auswirkungen: Gewalt macht krank! Körperliche und seelische Gewalttaten hinterlassen bei Frauen Verletzungen, die als Traumatisierung bezeichnet werden. Betroffene fühlen sich nicht mehr wie Menschen, sondern wie Dinge behandelt. Sie fühlen sich durch andere Menschen oder Umstände fremd gesteuert. Sie leiden an der Ausweglosigkeit ihrer Lebenslage, sie fühlen sich in ihrem Handlungsspielraum auf ein Minimum begrenzt. Sie nehmen Schaden an Leib, Seele und ihrer persönlichen Würde. Sie leiden an existenziellen und anhaltenden Ängsten, grundlegenden Verunsicherungen, Gefühlen der ständigen Bedrohung und Hoffnungslosigkeit, sie erleiden traumatische Erfahrungen. Traumatische Zustände sind vielfach verbunden mit körperlichen und seelischen Erkrankungen wie Schlafstörungen, Magenschmerzen, Appetitlosigkeit, Herz-Kreislauferkrankungen, Konzentrationsmangel und Angstzuständen. Beschwerden können selbst nach lange zurückliegenden Gewalterfahrungen – zum Beispiel in Kindheit und Jugend – noch auftreten. So werden oft psychosomatische Erkrankungen bei hochbetagten oder pflegebedürftigen Menschen eher mit Altersdemenz als solchen lange zurückliegenden Gewalterfahrungen – zum Beispiel auch im Krieg – in Zusammenhang gebracht. Quelle: Arbeitshilfe der kfd 2003 : Frauen stärken – Gewalt gegen Frauen überwinden – Referat Dr. Heide Mertens – ergänzt vom Arbeitskreis 1.4 Gewalt-Beispiele 1.4.1 Erfahrungen einer Frau Ich kann mir bis heute nicht erklären, warum ich das so lange ertragen konnte. Ich war jedes Mal wie starr und gelähmt. Nach außen täuschte er immer eine harmonische Ehe vor, denn er war der Meinung, was in der ehelichen Wohnung geschieht, geht niemanden etwas an. Erst machte er mich psychisch fertig mit Worten, die ich immer annahm. Dann … bekam ich eine geklatscht. Ich durfte nichts, zu niemandem Kontakt haben. Der psychische Terror war kaum noch auszuhalten. Hinzu kam noch die Gewalt, die sich später auch auf die Kinder übertrug. Mein Sohn bekam Albträume. Die sind noch da und werden ihn auch noch einige Zeit quälen. Bei uns gibt es häufig Streit, und ich werde geschlagen. Ich weiß, dass ich in ein Frauenhaus gehen kann, bin aber der Meinung, dass es ungerecht ist, wenn Frau und Kind aus der Wohnung müssen, und der Mann bleiben darf. Dann bekam ich immer öfter Schläge von ihm. Er bedrohte mich immer wieder mit einem Messer, bis ich solche Angst vor ihm hatte, dass ich mit meinem Kind bei Freunden übernachtete. Eines Tages wurde es mit dem Schlagen so schlimm, dass ich sogar über den Schreibtisch flog. Er schlug mich immer wieder und schubste mich hin und her und beschimpfte mich erneut. Meine Mutter sagte nur: „Du hast ihn geheiratet. Du musst ihn so nehmen wie er ist. Damit musst du leben.“ Ich habe den Schritt getan aus dieser Ehe hinaus und bin fest davon überzeugt, es durchzustehen. Häusliche Gewalt ist kein Schicksal · Teil 1: Grundinformation · Seite 4 Und ich kann nur vielen Frauen in ähnlichen Situationen Mut machen, den Schritt zu tun. Es lohnt sich! Er versprach mir, sich zu ändern. Er brachte mich fast so weit, mein Leben und das ungeborene Leben in mir zu beenden. Ich lebte fast zwei Jahre wie im Gefängnis. Ich durfte nicht aus der Wohnung, nur mit den Kindern zum Spielen. Dieser Mann hat uns die Heimat und die Freunde genommen. Es ist noch nicht zu spät…. Es ist noch nicht zu spät, neu anzufangen mit dir und deinem Leben. Es ist noch nicht zu spät, dich aus dem Käfig deiner dich fesselnden Vergangenheit zu befreien. Es ist noch nicht zu spät, dich fallen zu lassen, in die Angst vor dem neuen Unbekannten. Es ist noch nicht zu spät, in dir die Kraft und den Mut wachsen zu lassen, um endlich deinen Weg zu gehen, den Weg, der dich Schritt für Schritt dir selber näher bringt (Eine Betroffene) Quelle: „Netzwerk gegen häusliche Gewalt im Ilm-Kreis“, Landratsamt Ilm-Kreis Kontakt: Gleichstellungsbeauftragte (0 36 28) 73 82 03 1.4.2 Beispiel zur Ausübung und Duldung von Gewalt mit einem Kommentar Ein Beispiel für die Ausübung, Duldung, das Nicht-sehen-wollen und das Verschweigen von Gewalt gegen Frauen Beispiel Anna ist Christin … Vierzehn Jahre kontrollierte Annas Mann durch Beleidigungen, das Vorenthalten von Geld und brutale körperliche Gewalt ihr Leben und schränkte sie massiv ein. Dreimal musste sie ins Krankenhaus eingeliefert werden … Folgendes hat Anna mir erzählt: „Angst ist ein Gefühl, das alles andere übertrifft, denn alles ist diesem Gefühl unterworfen. Ich war vor Angst wie gelähmt und nur die Entschlossenheit, meine Kinder zu beschützen, setzte etwas Energie in mir frei, um mich dieser völligen Auflösung meines Ichs schließlich zu entziehen. Viel zu lange hatte ich Degradierungen und Demütigungen akzeptiert. Ich dachte ständig an die Worte des Hochzeitsgottesdienstes: ’In guten und schlechten Zeiten, in Gesundheit und Krankheit.’ Ich erlebte diese schlechten Zeiten, und ich war Teil der Krankheit, und irgendwie schien alles mein Fehler zu sein. Wenn unser Ehegelöbnis von Gott gesegnet worden wäre, wäre mir doch sicher geholfen worden? Mir war nie der Gedanke gekommen, dass in einer christlichen Ehe Missbrauch herrschen könnte. Ich war eine Versagerin. Und diese Überzeugung steigerte natürlich meine Isolation noch. Wenn man beginnt, sich sein Leben zurückzuholen, fühlt man sich verraten – von Gott, von der Kirche, von der Kommune. Es ist, als habe man dir etwas besonders Romantisches verkauft, und wenn du es aufmachst, ist es widerlich und faulig. Früher erwartete ich, dass die Kirche Antworten auf alle meine Fragen haben würde. Aber jetzt denke ich, dass ich Antworten auf viele der Fragen habe, die die Kirche stellen sollte.“ Quelle: (Lesley Macdonald, Jetzt schweigen die Frauen nicht mehr. Die Antwort der Kirche auf männliche Gewalt gegen Frauen, Reformierte Kirchenzeitung, RKZ 2, 1998, S. 65-71; S. 65) Häusliche Gewalt ist kein Schicksal · Teil 1: Grundinformation · Seite 5 Kommentar zum Beispiel Es wird von einer Frau berichtet, die in 14 Ehejahren gewaltförmigen Handlungen ihres Ehemannes ausgesetzt war und diese ertrug. Warum hat sie sich nicht eher gewehrt? Wie ist sie überhaupt an so einen Mann geraten? Wir haben keine Informationen über die Hintergründe dieses Berichts, darüber, wie sich dieses Paar gefunden, was die Partner zur Heirat bewogen hat, über die Vorgeschichte des Mannes, der Frau und unter welchen aktuellen Lebensbedingungen der gute (?) Anfang zum bösen Ende sich wendete. Die Paarforschung hat gezeigt, dass Gewalt häufig in einer ganz bestimmten Paarkonstellation auftritt. Die Männer erwarten von der Frau emotionale Versorgung und Anpassungsbereitschaft und von sich selber Sachlichkeit, Autonomie und die Vorherrschaft in der Paarbeziehung. Ihnen fällt es schwer, Gefühle auszudrücken, insbesondere negative. Außerhalb ihrer häuslichen Beziehung sind sie oft isoliert. In der Kindheit haben sie oft selbst körperliche Gewalt oder Gewalt gegenüber ihren Müttern erlebt. Ihr starkes Bedürfnis nach Nähe und die damit verbundene Angst um den Verlust naher Beziehungen lässt sie leicht zu Verfolgern werden. Die Frauen in dieser Konstellation orientieren sich typischerweise wie die Männer an traditionellen Rollenbildern. Die Wahl eines emotional bedürftigen, vordergründig chauvinistisch wirkenden Partners soll ihnen ermöglichen, besonders weiblich und anziehend zu bleiben, in der Tochterrolle zu verharren, um zu verführen und sich führen zu lassen. In ihrer Biographie haben sie subtile Formen von Gewalt in einem Klima von Härte und Verwöhnung erlebt. Ihnen ist es kaum möglich, eine eigene Position in der Paarbeziehung zu halten, und klar auszudrücken, was sie wollen und was nicht. Von den Müttern konnten sie das nicht lernen, dem Vater gegenüber bleiben sie in der Rolle des kleinen Mädchens gefangen. Die sprachliche und emotionale Farbigkeit der Frau fasziniert und bedroht den Mann gleichzeitig. Sein eigener Mangel wird ihm vor Augen geführt, er zieht sich in Schweigen oder auf rationale Argumente zurück, was die Frau zu verzweifelter emotionaler Verfolgung bewegt. Wenn sie ihn damit nicht erreicht und sich aus Zorn über seine Blockade affektiv und körperlich von ihm zurückzieht, reagiert er nicht selten ebenfalls mit dem Körper als Machtquelle, durch die er überlegen ist. Typischerweise verlaufen solche Auseinandersetzungen zyklisch: auf einen gewalttätigen Ausbruch folgt eine Phase der Versöhnung, in der das Paar eine intensive Form von Intimität erlebt. „Es scheint, dass diese Versöhnungsrituale viele Frauen davon abhalten, der Gewalt durch Trennung oder das Aufsuchen einer Beratungsstelle ein Ende zu setzen, und dass damit Männern erspart wird, andere als brutale Formen der Auseinandersetzung zu suchen, was ihre Wut gegen sich selbst erhöht.“ (Rosemarie Welter-Enderlin 1996, S. 97) Anna führt das Unglück ihrer Ehe sehr stark auf ihre kirchliche Prägung zurück. Auch ihre Partnerwahl wird den ihr vermittelten Ehe Bildern entsprochen haben: der Mann ist das Haupt, die Frau ist ihm untertan; er liebe die Frau, sie fürchte den Mann (Eph 5, 22.33). Im Traugelöbnis haben beide versprochen, einander wechselseitig zu lieben und zu ehren. Doch dass ihr Mann sich zunehmend deutlicher gegen Gebot und Versprechen verhielt, konnte sie (zu) lange nicht als Unrecht wahrnehmen und sich nicht dagegen wehren. Sie spricht vielmehr von lähmender Angst, die sie allenfalls zum Schutz ihrer Kinder überwinden konnte. Wie kam es zu dieser inneren Blockade des Wahrnehmens, Denkens und Handelns? Vermutlich hat sie als Kind nicht hinreichend lernen können, eigene Wünsche auszudrücken, insbesondere Unmut und Ärger zu äußern, ohne verheerende Folgen befürchten zu müssen. Womöglich hat in ihrer Kinderstube die apostolische Mahnung „Ihr Kinder seid gehorsam euren Eltern“, „ehre Vater und Mutter, auf dass dir’s wohl gehe und du lange lebest auf Erden“ (Eph 6) eine große Rolle gespielt. Womöglich hat sie auch liebevolle Eltern gehabt, die Spannungen, offenen Ärger und Auseinandersetzungen in der Familie ängstlich zu vermeiden suchten, weil ihnen Versöhnung und Frieden besonders wichtig waren. Ein solches Klima erschwert die Entwicklung von Selbständigkeit und Freiheit und fördert „liebe“, angepasste Verhaltensbereitschaften, für die jedoch ein hoher Preis gezahlt werden muss: die innere, unbewusste Spaltung zwischen Gut und Böse. Anna sieht sich allein als Versagerin gegenüber Gottes Gebot. Das Gute gehört zu Gottvater und zur Kirche: die christliche Ehe, die der Mensch nicht scheiden soll, in der Missbrauch nicht sein kann, weil Frauen sich Häusliche Gewalt ist kein Schicksal · Teil 1: Grundinformation · Seite 6 opfern. Das Böse gehört zu ihr, der unwürdigen, nicht gesegneten Tochter. Erlösung aus diesem Zustand gibt es für sie dann nur durch Anpassung, Vergebung und Versöhnung und den Verzicht auf die Auseinandersetzung mit dem anderen über das geschehene Unrecht. In diesem Fall findet eine schädigende Anpassungsbereitschaft eine kulturelle Stütze durch die christliche Tradition, freilich in subjektiv verzerrtem Verständnis. Quelle: Rat der EKD, 1999 (Teil II) 1.5 Gewalt in der Pflege 1.5.1 Einführung Der größte Teil der psychisch Kranken und/ oder pflegebedürftigen alten Menschen lebt zu Hause. Seit Jahren werden immer mehr Fälle von Vernachlässigung, Misshandlung, Medikamentmissbrauch, Freiheitseinschränkung und offener sowie verdeckter Gewalt gegenüber pflegebedürftigen Menschen in stationären Einrichtungen und in der häuslichen Pflege bekannt. Eingehende Untersuchungen, Erfahrungen und auch Rückfragen haben ergeben, dass es sich bei diesen Missständen um keine Einzelfälle, sondern um ein sozialpolitisches bundesweites Problem ersten Ranges handelt. Die Medien greifen vermehr Berichte über Missstände in Alteneinrichtungen auf. Nur selten werden demgegenüber Gewalthandlungen aus Kliniken oder gar aus dem häuslichen Umfeld in den Medien aufgegriffen. Zu bedenken ist, dass der größte psychisch Kranken und/oder pflegebedürftigen alten Menschen zu Hause lebt. Bekannt ist auch, dass der familiäre Bereich quasi tabu ist, obwohl vermutet werden muss, dass dort Aggressionen und Gewalthandlungen häufig auftreten und die Dunkelziffer noch höher ist als in Institutionen. Die „Bonner Initiative gegen Gewalt im Alter – Handeln statt Misshandeln“ (HdM) hat im Jahr 2001 bei ihrem Krisentelefon 4600 Anrufe verzeichnet. Dabei ging es um folgende Tatbestände: • Misshandlungen an Senioren, • Vernachlässigungen, • seelische Misshandlungen, • Freiheitsbeschränkungen, • Körperverletzung, • finanzielle Ausbeutung und • Fragen der rechtlichen Betreuung durch Juristen. Quelle: Arbeitshilfe der kfd 2003: Frauen stärken – Gewalt gegen Frauen überwinden Häusliche Gewalt ist kein Schicksal · Teil 1: Grundinformation · Seite 7 1.5.2 Personale Gewalt gegen ältere Menschen – Hintergründe und Ursachen Personale Gewalt gegen ältere Menschen Die Einschränkung der Bewegungsfreiheit ist eine der häufigsten Formen von Gewalt gegen älteren Menschen. Erst vor diesem Hintergrund geschehen persönliche Gewalthandlungen. Symptome werden nicht ernst genommen, alte Menschen werden beschämt, bloßgestellt, bedroht, sexuell belästigt, vergewaltigt. Sie werden beschimpft, angeschrieen, beleidigt, geschlagen, verletzt, gefesselt, eingesperrt. Ihnen werden Medikamente vorenthalten oder überdosiert, Nahrung vorenthalten, sie werden vernachlässigt, isoliert und finanziell ausgebeutet, erleiden psychische Störungen und sind Misshandlungssituationen in der Regel hilflos ausgeliefert. Sie wehren sich häufig mit massiven Verhaltensstörungen. Oft genug wird auf diese dann noch mehr oder intensiver mit Misshandlungen, zum Beispiel Zwangseinweisung, Heimunterbringung, Fixierung oder Psychopharmakaeingabe reagiert. Die Einschränkung der Bewegungsfreiheit ist eine der häufigsten Formen von Gewalt gegen ältere Menschen. Sie kann bestehen in der Veränderung der Umgebung (Einweisung in ein Heim), Reduzierung des körperlichen Bewegungsspielraums (Fixierung am Bett oder Sessel), Beschränkungen des Bewegungsspielraums der Umgebung (Einweisung in geschlossene Stationen) oder die Beschränkung des inneren Bewegungsspielraums (Ruhigstellung durch Medikamente). Quelle: Arbeitshilfe der kfd, 2003: Frauen stärken – Gewalt gegen Frauen überwinden Häusliche Gewalt ist kein Schicksal · Teil 1: Grundinformation · Seite 8
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