23.09.2015 ZfG-Ringvorlesung HS 2015: Altern, Sterben und Tod ZfG-Ringvorlesung Universität Zürich Sterben als Schicksal oder als Entscheidung Die gesellschaftliche Tendenz hin zum selbstbestimmten Sterben mit Organisationen wie EXIT Bernhard Sutter, Geschäftsführer, EXIT 1 ZfG-Ringvorlesung Universität Zürich Die Fakten sind: • vor Jahren riefen maximal 0.25 Prozent aller Sterbenden EXIT • heute sind es annähernd 1 Prozent Zwar sterben immer noch 99 Prozent anders, aber den Todeszeitpunkt selbst festzulegen und die letzten Leidenswochen mit einem Medikament abzukürzen, ist häufiger und wohl auch gesellschaftsfähiger geworden. 2 Bernhard Sutter: Sterben als Schicksal oder als Entscheidung 1 23.09.2015 ZfG-Ringvorlesung HS 2015: Altern, Sterben und Tod ZfG-Ringvorlesung Universität Zürich • Vor 25 Jahren, im Jahr 1990: Frau B. An der Abdankung sagte der Pfarrer: "Der Herrgott hat Fräulein B. zu sich gerufen." • Vor wenigen Wochen, im Sommer 2015: Frau Ph. Ihr Partner sagte: "Es ging rasch bergab mit ihr. Den Todeszeitpunkt selbst zu entscheiden, ist ein Menschenrecht." 3 ZfG-Ringvorlesung Universität Zürich • 1990 hat EXIT Deutsche Schweiz knapp 30 Patientinnen und Patienten beim selbstbestimmten Sterben begleitet. Eine Generation später: • 2015 wird EXIT wohl über 600 Patientinnen und Patienten beim selbstbestimmten Sterben begleiten. 20 Mal mehr. 4 Bernhard Sutter: Sterben als Schicksal oder als Entscheidung 2 23.09.2015 ZfG-Ringvorlesung HS 2015: Altern, Sterben und Tod ZfG-Ringvorlesung Universität Zürich Vier vordergründig denkbare Gründe für diese Multiplizierung: 1. ORGANISATORISCHE: EXIT 20x bekannter, 20 x besser, 20x erreichbarer, hat EXIT 20x mehr Mitglieder oder 20x mehr Kapazität? 2. MEDIZINSCHE: Sind wir 20x kränker? Gibt es 20x mehr gravierende Leiden? 3. DEMOGRAFISCHE: Bevöl. 20x grösser, 20x mehr Kranke, 20x mehr Hochaltrige? 4. GESELLSCHAFTLICHE: 20x mehr unter Druck? 20x weniger kirchengläubig? 20x selbstbestimmter? 20x mehr gewohnt, unsere Behandlung selber festzulegen? Oder: 20x wehleidiger? Die einzelne Antwort lautet stets: NEIN. Und doch ahnen wir, dass trotzdem alle diese Faktoren irgendwie mitspielen. 5 ZfG-Ringvorlesung Universität Zürich Eine Antwort mit Substanz kann wohl nur die Wissenschaft geben. Die Tendenz hin zum selbstbestimmten Sterben ist unverkennbar; was sie ausmacht, ist erst zu erahnen. Und wie die Gründe dann zu werten sind, ist nochmals eine andere Geschichte: • Ist es zu begrüssen, dass der heutige Patient nicht schicksalergeben ist, sondern mündig und informiert, dass er nicht einfach dem Spitalarzt überlässt, was und wie ihm geschieht? • Oder ist es im Gegenteil erschreckend und zu verhindern, dass Patienten das Leiden am Lebensende nicht mehr aushalten wollen und das Sterben medikamentös abzukürzen versuchen? 6 Bernhard Sutter: Sterben als Schicksal oder als Entscheidung 3 23.09.2015 ZfG-Ringvorlesung HS 2015: Altern, Sterben und Tod ZfG-Ringvorlesung Universität Zürich Die Schweizer Gesellschaft scheint zumindest diese ethischen Fragen längst grossmerheitlich entschieden zu haben: - jemandem ohne Eigennutz zum Sterben zu verhelfen, ist legal und seit den 1970ern breit akzeptiert, - gemäss Umfragen möchten vier Fünftel nicht mehr auf diese theoretische Option am Lebensende verzichten, - zwei Drittel halten sogar den so genannten Altersfreitod für gerechtfertigt - und gemäss Zürcher Abstimmung 2011 gestehen vier Fünftel das Recht auf die Letzte Hilfe sogar Patienten aus dem Ausland zu Die Basis für die vermehrte Inaspruchnahme von EXIT ist gelegt. 7 EXIT-Geschäftsstelle Zürich 8 Bernhard Sutter: Sterben als Schicksal oder als Entscheidung 4 23.09.2015 ZfG-Ringvorlesung HS 2015: Altern, Sterben und Tod ZfG-Ringvorlesung Universität Zürich Wie ist der Verein organisiert? BASIS 100‘000 Mitglieder OBERSTES ORGAN Generalversammlung STRATEGIE / KONTROLLE Vorstand (5 P.) GPK (3 P.) 9 ZfG-Ringvorlesung Universität Zürich Tätigkeiten (vier Säulen) Beratung (u.a. Suizidprävention) Patientenverfügung (schriftl. Behandlunsanw.) Verein EXIT Palliative Care (mit Stiftung Palliacura) Sterbehilfe (Begl. b. selbstb. Sterben) 10 Bernhard Sutter: Sterben als Schicksal oder als Entscheidung 5 23.09.2015 ZfG-Ringvorlesung HS 2015: Altern, Sterben und Tod ZfG-Ringvorlesung Universität Zürich Voraussetzungen für eine Freitodbegleitung • Urteilsfähigkeit (zur eigenen Willensentscheidung fähig und sich über die Folgen des Handelns bewusst) • Wohlerwogenheit, Autonomie und Dauerhaftigkeit des Sterbewunsches (siehe auch BGE 133 | 58) • Hoffungslose Prognose, unerträgliche Beschwerden oder unzumutbare Behinderung • Tatherrschaft • EXIT begleitet nur Vereinsmitglieder, diese müssen volljährig sein, Schweizer Bürgerrecht oder Schweizer Wohnsitz haben 11 ZfG-Ringvorlesung Universität Zürich Mitgliedschaft Kostet 45 Franken im Jahr oder einmalig 900 Franken, darin eingeschlossen sind: • Persönliche Patientenverfügung, sichere Hinterlegung und fachliche und juristische Hilfe bei Umsetzung • Beratung in allen von EXIT angebotenen Bereichen • Die Möglichkeit einer Freitodbegleitung • EXIT-Mitglied kann werden, wer volljährig ist und das Schweizer Bürgerrecht besitzt oder in der Schweiz Wohnsitz hat 12 Bernhard Sutter: Sterben als Schicksal oder als Entscheidung 6 23.09.2015 ZfG-Ringvorlesung HS 2015: Altern, Sterben und Tod ZfG-Ringvorlesung Universität Zürich • Angestellte, 35, ALS - vergleichbar mit Diane Pretty oder Debbie Purdy • Arzt, 56, bi-polare Störung, nach 30 Jahren erfolgloser Therapie • Monteur, 65 Lungenkrebs im Endstadium - vergleichbar mit Brittany Maynard, Timo Konietzka oder This Jenny • Malerin, 65, Alzheimer, vergleichbar mit Gunther Sachs oder Walter Jens • Metzger, 80, Altersbeschwerden – vergleichbar mit Hans Küng • Ehepaar, 86 und 81, chronisch-fortschr. Krankheit und Protastakrebs • Rentnerin, 95, Gebresten, Probleme Hören/Sehen- mit Heinrich Oswald 13 EXIT hilft 80 Prozent der Sterbewilligen anders als mit einer FTB 3000 Anfragen für Sterbehilfe Beratung 2000 gehen einen anderen Weg 1000 weitere Beratung 400 gehen anderen Weg 600 sterben mit EXIT 14 Bernhard Sutter: Sterben als Schicksal oder als Entscheidung 7 23.09.2015 ZfG-Ringvorlesung HS 2015: Altern, Sterben und Tod ZfG-Ringvorlesung Universität Zürich - durchschnittlich 77.5 Jahre alt - krebskrank oder polymorbid - 55 Prozent Frauen, 45 Prozent Männer - aus Ballungsräumen ZH, BE, BS - wenige Jahre EXIT-Mitglied - mit einigen Angehörigen und Freunden - 83 Prozent sterben zu Hause - nimmt Barbiturat oral ein - sind Menschen, die immer bewusst gelebt haben 15 ZfG-Ringvorlesung Universität Zürich zu Grunde liegende Diagnosen: - Krebs (40%) - Alterssterblichkeit (20%) --- Schmerzpatienten (13%) - Moto-Neuron-Erkrankungen (10%) - Lungen-Krankheiten (10%) --- andere (7%) 16 Bernhard Sutter: Sterben als Schicksal oder als Entscheidung 8 23.09.2015 ZfG-Ringvorlesung HS 2015: Altern, Sterben und Tod ZfG-Ringvorlesung Universität Zürich Noch vor zehn Jahren waren viel mehr Mediziner skeptisch bis ablehnend. Die SAMW-Umfrage von Ende 2014 dagegen zeigt: • Drei Viertel der Schweizer Ärzteschaft halten das selbstbestimmte Sterben von Patienten mit einem ärztlich verschriebenen Medikament für vertretbar. • Zwei Drittel auch bei Patienten, die nicht am Lebensende stehen. • Eine deutliche Mehrheit der befragten Ärztinnen und Ärzte ist bereit, Patienten zu beraten und die Voraussetzungen für Suizidhilfe abzuklären. • Fast 50 Prozent können sich zudem vorstellen, auch einmal ein Rezept für das Sterbemedikament auszustellen. • Die Suizidassistenz persönlich überwachen möchten dann aber viele Ärzte nicht (weniger als 50 Prozent). Der gesellschaftliche Wandel zeigt sich neben den Medizinern auch bei Heimen und Spitälern. 17 ZfG-Ringvorlesung Universität Zürich Hauptgründe sind nicht gesellschaftlicher Natur: - sind viel mehr EXIT-Mitglieder, - gibt immer mehr Alte, - diese werden immer älter - und damit am Lebensende auch immer kränker 18 Bernhard Sutter: Sterben als Schicksal oder als Entscheidung 9 23.09.2015 ZfG-Ringvorlesung HS 2015: Altern, Sterben und Tod ZfG-Ringvorlesung Universität Zürich Heute treten die Babyboomer ins Rentenalter. Wie keine Generation davor konnten sie das ganze Leben lang selbst bestimmen: welchen Beruf sie ausüben, wen sie heiraten, wo sie wohnen, welche Konsumgüter sie anschaffen, wie sie sich behandeln lassen. Die lassen sich nicht vom Herrn Doktor, vom Politiker oder Richter oder gar vom Pfarrherr sagen, wie sie zu sterben haben. 19 ZfG-Ringvorlesung Universität Zürich Das selbstbestimmte Sterben hat "Vorteile", auf die einige in unserer durchorganisierten Welt je länger je weniger verzichten möchten: - man kann ein ideales Datum und eine ideale Zeit wählen - man kann sich ausgiebig verabschieden, nichts bleibt ungesagt - man kann alle Papiere, alles Wichtige noch regeln - man muss nicht allein sterben - man liegt davor nicht unbestimmt lange, unansprechbar da - man stirbt zu Hause im eigenen Bett -die Angehörigen sind danach betreut, nicht nur am Todestag 20 Bernhard Sutter: Sterben als Schicksal oder als Entscheidung 10 23.09.2015 ZfG-Ringvorlesung HS 2015: Altern, Sterben und Tod ZfG-Ringvorlesung Universität Zürich Prominente für die Selbstbestimmung 21 ZfG-Ringvorlesung Universität Zürich Das Sterbemittel Natrium-Pentobarbital (NaP) ! ! ! ! ein Narkose- und Schlafmittel untersteht dem Betäubungsmittelgesetz sicheres und würdiges Sterbemittel – Tod erfolgt im Schlaf hohe Sicherheitskriterien erforderlich, welche nur eine anerkannte Sterbehilfeorganisation leisten kann 22 Bernhard Sutter: Sterben als Schicksal oder als Entscheidung 11 23.09.2015 ZfG-Ringvorlesung HS 2015: Altern, Sterben und Tod ZfG-Ringvorlesung Universität Zürich 1980 UdSSR marschiert in Afghanistan ein, Reagan wird zum US-Präsidenten gewählt, Georges-André Chevallaz ist Bundespräsident, Grün 80, Zürcher Jugendunruhen: • Bevölkerung CH: 6,3 Mio • Ausländeranteil: 15 Prozent • Lebenserwartung zw. 80-90J. • Alzheimer und Demenz noch tiefere Raten • Gesundheitsausgaben: 7 Prozent des BIP • Suizidrate: 25 auf 100'000 Pers. (Angabe WHO) 23 ZfG-Ringvorlesung Universität Zürich 2015 Euro- und Flüchtlingskrise, Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga: • Bevölkerung CH: 8.3 Mio • Ausländeranteil: 25 Prozent • Lebenserwartung 90 Jahre und darüber • 116’000 Demenzkranke • Gesundheitsausgaben: 12 Prozent des BIP • Suizidrate: 9 auf 100'000 Pers. (Angabe WHO) 24 Bernhard Sutter: Sterben als Schicksal oder als Entscheidung 12 23.09.2015 ZfG-Ringvorlesung HS 2015: Altern, Sterben und Tod Es lastete in der Schweiz noch nie so wenig Druck auf den Alten wie heute. Nicht nur in finanzieller Hinsicht dank AHV, 2. Säule, obligatorischer Krankenversicherung und dem Sozialstaat. Sie haben auch ein Angebot an Fürsorge zur Verfügung, das nie grösser war als heute: Betreuung zu Hause, Spitex, Mahlzeitendienst, betreutes Wohnen, Heime, Altersstationen, Palliativpflege, Hospize. Deshalb leben ja viele Betagte heute bis über 90 im eigenen Haushalt. 25 ZfG-Ringvorlesung Universität Zürich Das selbstbestimmte Sterben ist so alt wie die Menschheit: • after a life on the move, the tired nomade said: «Why don‘t you go ahead?» • the old Ainu who had little strength left declared: «I shall go up on the mountain one more time.» • the wise Inuit who was sick and old, said one night: «I need to step out.» ... and the whole tribe knew: They will not return. Heute noch oft wird die Methode des Sterbefastens angewandt. 26 Bernhard Sutter: Sterben als Schicksal oder als Entscheidung 13 23.09.2015 ZfG-Ringvorlesung HS 2015: Altern, Sterben und Tod ZfG-Ringvorlesung Universität Zürich Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. www.exit.ch 043 343 38 38 [email protected] 27 Bernhard Sutter: Sterben als Schicksal oder als Entscheidung 14
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