18 Montag, 10. August 2015 — Bern Nachts in Bern (11) – Schlafen «Schlaf ist wie Musik» Beim Schlaf spielten Zentren des Gehirns wie ein Orchester zusammen, sagt Claudio Bassetti, Direktor der Klinik für Neurologie am Berner Inselspital. Am Schlaf-Wach-Zentrum werden die «Misstöne» untersucht. setti. In einem Netzwerk, an dem unter anderen die Universität Freiburg und die Università della Svizzera Italiana teilnehmen, seien zurzeit zwanzig Forschungsteams aktiv. Geforscht werde etwa zum Thema Schlaf und Gedächtnis oder zu den bisher unbekannten Ursachen von schweren Erkrankungen wie zum Beispiel der Narkolepsie, der exzessiven Tagesschläfrigkeit. Bassettis besonderes Interesse gilt der Frage, welche Rolle der Schlaf bei der Regeneration nach einem Hirnschlag oder Schädel-Hirn-Trauma spielen könnte. Dabei stelle sich die Frage, inwiefern der Schlaf experimentell verändert werden könnte, um zur Erholung nach einem Hirnschlag beitragen zu können, sagt Bassetti. Die Entzauberung des Träumens Schlafkoje im Inselspital: Neurologe Claudio Bassetti mit einer Elektrodenkappe zur Messung der Gehirnströme schlafender Patienten. Foto: Valérie Chételat Bernhard Ott Das Gehirn schläft nicht. Es ist während der ganzen Nacht aktiv. Einige Regionen des menschlichen Zentralorgans sind dabei aktiver als andere. Trotzdem muss der Mensch schlafen. «Im Bereich des Frontallappens schlafen wir am tiefsten», sagt Claudio Bassetti, Chefarzt der Universitätsklinik für Neurologie am Berner Inselspital. Der Frontallappen ist das Zentrum für Kohärenz, Kritikfähigkeit, Selbstkontrolle und soziales Verhalten. Er ist tagsüber besonders beansprucht durch Reize aller Art. «In der Nacht muss sich das Gehirn erholen und Gedächtnisspuren abspeichern», sagt Bassetti. Für einen erholsamen Schlaf brauche es aber ein Zusammenspiel verschiedener Zentren des Gehirns. «Schlaf ist wie Musik. Man muss sich das wie das Spiel eines Orchesters vorstellen.» Dieses spiele nicht immer perfekt. «Wird aber eine Geige entfernt, kommt es zu Misstönen, das heisst zu einer Schlafstörung», sagt Bassetti. Böses Erwachen im Fahrsimulator Menschen mit chronischen Schlafstörungen werden am Schlaf-Wach-Zentrum (SWZ) der Klinik für Neurologie behandelt. In den Räumen des Zentrums im Operationstrakt Ost werden aber auch Störungen des Wachzustandes diagnostiziert und behandelt. Dabei geht es zum Beispiel um Wachhaltetests, Einschlaftests und Fahrten am Fahr simulator zwecks Abklärung der Fahrtauglichkeit. «Dabei kommt es immer wieder vor, dass sich Patienten krass überschätzen», sagt Bassetti. Die Messung der Hirnströme ergebe, dass sie kurz nach Fahrbeginn eingenickt seien. «Trotzdem behaupten sie steif und fest, sie hätten nicht geschlafen.» Störungen des Wachzustandes seien nicht zwingend auf Schlafstörungen zurückzuführen. Nicht selten stecke aber zum Beispiel ein Schlafmanko dahinter, das behandelt werden müsse. «Wir machen die Tests ja nicht, um den Leuten die rote Karte zu zeigen, sondern um sie auf eine Krankheit und mögliche Therapien hinzuweisen», sagt Bassetti. Wer damit prahle, wenig Schlaf zu benötigen, erzähle meist Unsinn. Diese Patienten litten unter dem Napoleon-Syndrom, der von sich behauptet habe, nur drei bis vier Stunden Schlaf zu benötigen. «Die meisten Leute brauchen heute zwischen sechs bis zehn Stunden Schlaf.» Nachts in Bern. 03.00 – 04.00 Kann Schlaf therapeutisch wirken? www.nachtsinbern.derbund.ch Am SWZ geht es aber nicht nur um Diagnose und Therapie, sondern auch um Forschung. Bassetti schätzt den Anteil der Forschung an seiner Arbeit auf 20 bis 30 Prozent. Als Klinikdirektor sei er vor allem beim Coaching von Forschungsteams tätig. «Bern ist nicht nur in der Schlafmedizin, sondern auch in der Schlafforschung führend», sagt Bas- Schlafmedizin ist eine relativ junge Disziplin. «Die Nacht war medizinisch gesehen eine Blackbox.» Noch vor zwei, drei Jahrzehnten waren viele S chlafstörungen unbekannt. Heute kennt die Medizin über 80 Krankheitsbilder im Zusammen hang mit dem Schlaf. Das häufigste Störungsbild der Patienten am SWZ sind Einschlaf- und Durchschlafstörungen. Jeder Mensch kennt akute Schlafstörungen etwa vor Prüfungen. «Zehn bis zwanzig Prozent der Bevölkerung leiden aber chronisch darunter», sagt Bassetti. Natürlich spielten dabei auch die kürzer werdenden Schlafzeiten und der zunehmende Stress eine wichtige Rolle. Die Ursachen könnten aber auch in Erkrankungen wie zum Beispiel Depressionen, Angststörungen oder unkontrollierten Beinbewegungen im Schlaf, dem sogenannten Restless-Legs-Syndrom, liegen. Ein Nebeneffekt der Forschung ist die Entzauberung des Träumens. Die These von Sigmund Freud (1856–1939), wonach das Traumgeschehen zur psychischen Gesundheit beitrage, sei heute weitgehend entkräftet, sagt Bassetti. «Es gibt Patienten, die durch Medikamente oder Hirnschäden traumlos wurden, und sich trotzdem vögeliwohl fühlen.» Das Träumen sei aber nach wie vor eine «interessante mentale Aktivität» – etwa in Bezug auf Krankheiten, die mit einer Veränderung des Traumerlebens einhergingen. «Das zeigt die Komplexität des Schlafes. Es geht nicht nur um Atmung und Herz. Es geht auch ums Erleben und um Träume», sagt Bassetti. Tag der offenen Tür im Schlaf-Wach-Zentrum (SWZ) des Inselspitals, Samstag, 17. Oktober 2015, 10 bis 14 Uhr, Besichtigung SWZ; 11 bis 13 Uhr Kurzvorträge zu Schlafstörungen im Hörsaal Ettore Rossi. Verwischte Grenzen Mit dem Schlaf öffnet sich ein Zwischenreich. Was ist noch Realität, was ist schon Traum? Was scheidet das Leben vom Tod? Wo beginnt das Jenseits, der grosse Schlaf, aus dem es vielleicht kein Erwachen mehr gibt? Simon Wälti Er packt uns beim Schlafittchen Nichts ist so erquicklich wie schlafen – eine Stunde Schlaf sei besser als ein Butterbrot, lautet ein altes Sprichwort. Wen der Schlaf flieht, über den legt sich eine bleierne Müdigkeit. Wer schlecht schläft, fühlt sich wie gerädert. Wer wenig oder zu wenig schläft, verbrämt dies nicht selten mit der Erklärung, er oder sie brauche nicht viel Schlaf, komme mit einigen wenigen Stunden aus. Bei solchen Personen hat man oft das Gefühl, dass sich ihre Gedanken im Kreis drehen oder dass sie im gleichen Trott gefangen sind. Politiker sagen es in die Mikrofone und entschlummern dann wieder im Fonds der abgedunkelten Limousine, in der sie zum nächsten Termin hetzen. Dort sagen sie dann, sie hätten auf dem Weg die Akten studiert. Bei Feldherren wäre man froh gewesen, sie hätten häufiger geschlafen, statt Schlachtpläne ausgeheckt. ○○ Menschen versuchen, sich den Schlaf nutz- und dienstbar zu machen – bis in die entlegensten Winkel der REM- Phasen. Kunstschaffende und Dichter greifen gerne auf den reichen Fundus ihrer Träume zurück. Soll man das als unzulässige Abkürzung auf dem Weg zum Kunstprodukt schelten? Sie können ja nicht mit einer Kamera die Traumbilder abfotografieren, so einfach geht es dann doch nicht. Andere sind überzeugt, dass sich Gelerntes und Antrainiertes im Schlaf verfestigen lässt – wenn ein Sprinter im Schlaf träumt, wie er dem Rekord entgegen- fliegt, dann gibt das seinen Bewegungen am nächsten Tag Halt und Geschmeidigkeit. Sigmund Freud allerdings würde sagen, er leide an einem Ödipus-Komplex und müsse dringend in die Sprechstunde kommen. ○○ Einmal abgesehen von Psychoanalytikern, hat kaum jemand etwas gegen schöne und unterhaltsame Träume einzuwenden. Albträume aber können zur Qual werden. Vor Jahren ging es in einer Ausstellung im Museum für Kommunikation um Stimmen aus dem Jenseits und um Nachtmahre. Ein Älpler, der in einem Video zu sehen war, litt unter einem «Toggeli», das sich in der Nacht auf seine Brust hockte und ihm den Atem nahm. Trotz des hartnäckigen Plaggeistes hatte der Mann seinen Humor nicht verloren: Er nahm einen Flachsrechen mit dicken, rostigen Eisenzinken und legte sich diesen in der Schlafkammer auf die Brust. «Jetzt kannst du kommen, Toggeli», sagte er dazu. Hoffentlich wurde das «Toggeli» ordentlich gepiesackt. ○○ Schlummer und Schlaf habe sich Prometheus von den Göttern für die Menschen zum Trost erbeten, schreibt Goethe. Doch was den Göttern so leicht fällt, ist für die Menschen nur schwer zu ertragen: Denn der Schlummer der Götter wurde den Menschen zum Schlaf, der Schlaf hingegen zu ihrem Tod. Das Verhältnis von Schlaf und Tod wird von den Menschen seit der Antike als Geschwisterschaft empfunden. Hypnos und Thanatos sollen Zwillingsbrüder gewesen sein. Ob es aus dem Tod, dem grossen Schlaf, wieder ein Erwachen gibt, darüber sind sich die besten Köpfe der Menschheit seit jeher uneins. Wie fest die Toten schlafen, können wir an dieser Stelle nicht entscheiden. Auf jeden Fall packt uns der Schlaf allnächtlich am Schlafittchen und entführt uns in ein Zwischenreich. Schlafittchen hat übrigens nichts mit Schlaf zu tun, sondern leitet sich von Schlafittich her, womit im Neuhochdeutschen die Schwungfedern von Enten- und Gänseflügeln bezeichnet wurden. Anders ausgedrückt: Der Schlaf lässt uns ruhen von den täglichen Anstrengungen. Er stutzt der Wirklichkeit die «Fecken».
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