Schlaf ist wie Musik - Schlafmedizin

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Montag, 10. August 2015 —
Bern
Nachts in Bern (11) – Schlafen
«Schlaf ist wie Musik»
Beim Schlaf spielten Zentren des Gehirns wie ein Orchester zusammen, sagt Claudio Bassetti, Direktor der Klinik
für Neurologie am Berner Inselspital. Am Schlaf-Wach-Zentrum werden die «Misstöne» untersucht.
setti. In einem Netzwerk, an dem unter
anderen die Universität Freiburg und
die Università della Svizzera Italiana
­teilnehmen, seien zurzeit zwanzig Forschungsteams aktiv. Geforscht werde
etwa zum Thema Schlaf und Gedächtnis
oder zu den bisher unbekannten Ursachen von schweren Erkrankungen wie
zum Beispiel der Narkolepsie, der exzessiven Tagesschläfrigkeit. Bassettis besonderes Interesse gilt der Frage, welche Rolle der Schlaf bei der Regeneration nach einem Hirnschlag oder Schädel-Hirn-Trauma spielen könnte. Dabei
stelle sich die Frage, inwiefern der
Schlaf experimentell verändert werden
könnte, um zur Erholung nach einem
Hirnschlag beitragen zu können, sagt
Bassetti.
Die Entzauberung des Träumens
Schlafkoje im Inselspital: Neurologe Claudio Bassetti mit einer Elektrodenkappe zur Messung der Gehirnströme schlafender Patienten. Foto: Valérie Chételat
Bernhard Ott
Das Gehirn schläft nicht. Es ist während
der ganzen Nacht aktiv. Einige Regionen
des menschlichen Zentralorgans sind
dabei aktiver als andere. Trotzdem muss
der Mensch schlafen. «Im Bereich des
Frontallappens schlafen wir am tiefsten», sagt Claudio Bassetti, Chefarzt der
Universitätsklinik für Neurologie am
Berner Inselspital. Der Frontallappen ist
das Zentrum für Kohärenz, Kritikfähigkeit, Selbstkontrolle und soziales Verhalten. Er ist tagsüber besonders beansprucht durch Reize aller Art. «In der
Nacht muss sich das Gehirn erholen und
Gedächtnisspuren abspeichern», sagt
Bassetti. Für einen erholsamen Schlaf
brauche es aber ein Zusammenspiel verschiedener Zentren des Gehirns. «Schlaf
ist wie Musik. Man muss sich das wie das
Spiel eines Orchesters vorstellen.» Dieses spiele nicht immer perfekt. «Wird
aber eine Geige entfernt, kommt es zu
Misstönen, das heisst zu einer Schlafstörung», sagt Bassetti.
Böses Erwachen im Fahrsimulator
Menschen mit chronischen Schlafstörungen werden am Schlaf-Wach-Zentrum (SWZ) der Klinik für Neurologie behandelt. In den Räumen des Zentrums
im Operationstrakt Ost werden aber
auch Störungen des Wachzustandes diagnostiziert und behandelt. Dabei geht es
zum Beispiel um Wachhaltetests,
Einschlaftests und Fahrten am Fahr­
simulator zwecks Abklärung der Fahrtauglichkeit. «Dabei kommt es immer
wieder vor, dass sich Patienten krass
überschätzen», sagt Bassetti. Die Messung der Hirnströme ergebe, dass sie
kurz nach Fahrbeginn eingenickt seien.
«Trotzdem behaupten sie steif und fest,
sie hätten nicht geschlafen.» Störungen
des Wachzustandes seien nicht zwingend auf Schlafstörungen zurückzuführen. Nicht selten stecke aber zum Beispiel ein Schlafmanko dahinter, das behandelt werden müsse. «Wir machen die
Tests ja nicht, um den Leuten die rote
Karte zu zeigen, sondern um sie auf eine
Krankheit und mögliche Therapien hinzuweisen», sagt Bassetti. Wer damit
prahle, wenig Schlaf zu benötigen, erzähle meist Unsinn. Diese Patienten litten unter dem Napoleon-Syndrom, der
von sich behauptet habe, nur drei bis
vier Stunden Schlaf zu benötigen. «Die
meisten Leute brauchen heute zwischen
sechs bis zehn Stunden Schlaf.»
Nachts in Bern. 03.00 – 04.00
Kann Schlaf therapeutisch wirken?
www.nachtsinbern.derbund.ch
Am SWZ geht es aber nicht nur um Diagnose und Therapie, sondern auch um
Forschung. Bassetti schätzt den Anteil
der Forschung an seiner Arbeit auf 20
bis 30 Prozent. Als Klinikdirektor sei er
vor allem beim Coaching von Forschungsteams tätig. «Bern ist nicht nur
in der Schlafmedizin, sondern auch in
der Schlafforschung führend», sagt Bas-
Schlafmedizin ist eine relativ junge Disziplin. «Die Nacht war medizinisch gesehen eine Blackbox.» Noch vor zwei, drei
Jahrzehnten waren viele S
­ chlafstörungen
unbekannt. Heute kennt die Medizin
über 80 Krankheitsbilder im Zusammen­
hang mit dem Schlaf. Das häufigste Störungsbild der Patienten am SWZ sind
Einschlaf- und Durchschlafstörungen.
Jeder Mensch kennt akute Schlafstörungen etwa vor Prüfungen. «Zehn bis
zwanzig Prozent der Bevölkerung leiden
aber chronisch darunter», sagt Bassetti.
Natürlich spielten dabei auch die kürzer
werdenden Schlafzeiten und der zunehmende Stress eine wichtige Rolle. Die
Ursachen könnten aber auch in Erkrankungen wie zum Beispiel Depressionen,
Angststörungen oder unkontrollierten
Beinbewegungen im Schlaf, dem sogenannten Restless-Legs-Syndrom, liegen.
Ein Nebeneffekt der Forschung ist die
Entzauberung des Träumens. Die These
von Sigmund Freud (1856–1939), wonach
das Traumgeschehen zur psychischen
Gesundheit beitrage, sei heute weitgehend entkräftet, sagt Bassetti. «Es gibt
Patienten, die durch Medikamente oder
Hirnschäden traumlos wurden, und sich
trotzdem vögeliwohl fühlen.» Das Träumen sei aber nach wie vor eine «interessante mentale Aktivität» – etwa in Bezug auf Krankheiten, die mit einer Veränderung des Traumerlebens einhergingen. «Das zeigt die Komplexität des
Schlafes. Es geht nicht nur um Atmung
und Herz. Es geht auch ums Erleben und
um Träume», sagt Bassetti.
Tag der offenen Tür im Schlaf-Wach-Zentrum (SWZ) des Inselspitals, Samstag,
17. Oktober 2015, 10 bis 14 Uhr, Besichtigung SWZ; 11 bis 13 Uhr Kurzvorträge zu
Schlafstörungen im Hörsaal Ettore Rossi.
Verwischte Grenzen Mit dem Schlaf öffnet sich ein Zwischenreich. Was ist noch Realität, was ist schon Traum? Was scheidet
das Leben vom Tod? Wo beginnt das Jenseits, der grosse Schlaf, aus dem es vielleicht kein Erwachen mehr gibt? Simon Wälti
Er packt uns beim Schlafittchen
Nichts ist so erquicklich wie schlafen –
eine Stunde Schlaf sei besser als ein
Butterbrot, lautet ein altes Sprichwort.
Wen der Schlaf flieht, über den legt
sich eine bleierne Müdigkeit. Wer
schlecht schläft, fühlt sich wie gerädert. Wer wenig oder zu wenig schläft,
verbrämt dies nicht selten mit der
Erklärung, er oder sie brauche nicht
viel Schlaf, komme mit einigen wenigen Stunden aus. Bei solchen Personen
hat man oft das Gefühl, dass sich ihre
Gedanken im Kreis drehen oder dass
sie im gleichen Trott gefangen sind.
Politiker sagen es in die Mikrofone
und entschlummern dann wieder im
Fonds der abgedunkelten Limousine,
in der sie zum nächsten Termin hetzen.
Dort sagen sie dann, sie hätten auf dem
Weg die Akten studiert. Bei Feldherren
wäre man froh gewesen, sie hätten
häufiger geschlafen, statt Schlachtpläne ausgeheckt.
○○
Menschen versuchen, sich den Schlaf
nutz- und dienstbar zu machen – bis in
die entlegensten Winkel der REM-­
Phasen. Kunstschaffende und Dichter
greifen gerne auf den reichen Fundus
ihrer Träume zurück. Soll man das als
unzulässige Abkürzung auf dem Weg
zum Kunstprodukt schelten? Sie können ja nicht mit einer Kamera die
Traumbilder abfotografieren, so einfach geht es dann doch nicht. Andere
sind überzeugt, dass sich Gelerntes
und Antrainiertes im Schlaf verfestigen
lässt – wenn ein Sprinter im Schlaf
träumt, wie er dem Rekord entgegen-
fliegt, dann gibt das seinen Bewegungen am nächsten Tag Halt und Geschmeidigkeit. Sigmund Freud allerdings würde sagen, er leide an einem
Ödipus-Komplex und müsse dringend
in die Sprechstunde kommen.
○○
Einmal abgesehen von Psychoanalytikern, hat kaum jemand etwas gegen
schöne und unterhaltsame Träume
einzuwenden. Albträume aber können
zur Qual werden. Vor Jahren ging es in
einer Ausstellung im Museum für
Kommunikation um Stimmen aus dem
Jenseits und um Nachtmahre. Ein
Älpler, der in einem Video zu sehen
war, litt unter einem «Toggeli», das sich
in der Nacht auf seine Brust hockte
und ihm den Atem nahm. Trotz des
hartnäckigen Plaggeistes hatte der
Mann seinen Humor nicht verloren: Er
nahm einen Flachsrechen mit dicken,
rostigen Eisenzinken und legte sich diesen in der Schlafkammer auf die Brust.
«Jetzt kannst du kommen, Toggeli»,
sagte er dazu. Hoffentlich wurde das
«Toggeli» ordentlich gepiesackt.
○○
Schlummer und Schlaf habe sich
Prometheus von den Göttern für die
Menschen zum Trost erbeten, schreibt
Goethe. Doch was den Göttern so leicht
fällt, ist für die Menschen nur schwer
zu ertragen: Denn der Schlummer der
Götter wurde den Menschen zum
Schlaf, der Schlaf hingegen zu ihrem
Tod. Das Verhältnis von Schlaf und Tod
wird von den Menschen seit der Antike
als Geschwister­schaft empfunden. Hypnos und Thanatos sollen Zwillingsbrüder gewesen sein. Ob es aus dem Tod,
dem grossen Schlaf, wieder ein Erwachen gibt, darüber sind sich die besten
Köpfe der Menschheit seit jeher uneins.
Wie fest die Toten schlafen, können wir
an dieser Stelle nicht entscheiden.
Auf jeden Fall packt uns der Schlaf
allnächtlich am Schlafittchen und
entführt uns in ein Zwischenreich.
Schlafittchen hat übrigens nichts mit
Schlaf zu tun, sondern leitet sich von
Schlafittich her, womit im Neuhochdeutschen die Schwungfedern von
Enten- und Gänseflügeln bezeichnet
wurden. Anders ausgedrückt: Der
Schlaf lässt uns ruhen von den täglichen Anstrengungen. Er stutzt der
Wirklichkeit die «Fecken».