Juristische Fakultät Übung im Strafrecht für Anfänger Prof. Dr. Frank Saliger Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, Wirtschaftsstrafrecht und Rechtsphilosophie Sachverhalt Teil 1 Das Ehepaar Anna (A) und Bertram (B) macht auf der Insel Juist Urlaub. Als B eines Abends einen Spaziergang in den Dünen macht, kommt ihm zufällig sein Nachbar (N) entgegen, mit dessen Frau B eine Affäre hatte. N stürzt sich wütend auf B und beginnt sogleich, auf ihn einzuschlagen. Um sich vor dem körperlich stark überlegenen N zu schützen, sieht B zu Recht keine andere Möglichkeit, als sein Taschenmesser zu ziehen und mit bedingtem Tötungsvorsatz ungezielt auf N einzustechen. N bricht zusammen. Obwohl B zutreffend davon ausgeht, dass N in Lebensgefahr ist und baldiger Hilfe bedarf, unternimmt er nichts. Auf seinem Heimweg wird er vom Wanderer (W) eingeholt, der ihm aufgeregt berichtet, er habe einen schwer blutenden Mann gesehen, und ihn nach der nächsten Möglichkeit zu telefonieren fragt. B erklärt dem W, er (B) habe schon das Notwendige veranlasst. Da W ziemlich erschöpft und ortsunkundig ist, gibt er sich damit zufrieden und setzt seinen Weg fort. In Wahrheit hatte B keinen Augenblick daran gedacht, für die erforderliche Hilfe zu sorgen, obwohl es ihm ein Leichtes gewesen wäre, mit seinem Handy einen Notarzt zu rufen. N stirbt, wäre aber gerettet worden, wenn N oder W den Notarzt verständigt hätten. Teil 2 Am nächsten Tag unternehmen A und B auf eigene Faust eine Wattwanderung. Dabei gesteht B der A seine Affäre. A ist entsetzt. Als B unversehens mit dem Fuß in einem schlammigen Priel stecken bleibt, meint A, dass dies die gerechte Strafe des Himmels sei und geht weiter. Dabei erwartet sie, dass B von der Flut eingeholt wird, hält es aber für gut möglich, dass er sich noch rechtzeitig befreit. Sie nimmt aber auch seinen Tod durch Ertrinken billigend in Kauf. Sie lässt sich auf der Strandpromenade nieder und sieht zu, wie langsam die Flut kommt. Sie beobachtet genüsslich, wie das Wasser erst über das Knie und dann über die Hüfte des B steigt und er sich vor Angst windet. Als sie jedoch sieht, wie das Wasser unaufhörlich in Richtung Kinn steigt, merkt sie, dass B sich wohl nicht mehr wird befreien können. Sie bekommt plötzlich Mitleid und denkt außerdem, dass B seine Lektion wohl gelernt habe. Sie ruft daher die Wasserwacht, die den B gerade noch rechtzeitig befreien kann. Wie haben sich A und B nach dem StGB strafbar gemacht? § 211 (Mord), § 221 (Aussetzung), §§ 223 ff. (Körperverletzungsdelikte) und §§ 239 ff. (Freiheitsdelikte) sind nicht zu prüfen. Ein Priel ist laut Duden eine „schmale, unregelmäßig verlaufende Rinne im Wattenmeer, in der sich auch bei Ebbe noch Wasser befindet“. Sommersemester 2015 Seite 1 von 8 Juristische Fakultät Übung im Strafrecht für Anfänger Prof. Dr. Frank Saliger Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, Wirtschaftsstrafrecht und Rechtsphilosophie Lösungsskizze Teil 1 A. Strafbarkeit des B gem. § 212 I 1 B könnte sich wegen Totschlags gem. § 212 I strafbar gemacht haben, indem er den N niederstach. I. Tatbestand 1. Objektiver Tatbestand N ist gestorben. Der Erfolg liegt daher vor. Er wäre nicht eingetreten, wenn B nicht mit seinem Taschenmesser auf N eingestochen hätte. Die Handlung des B war damit kausal i.S.d. conditio sine qua non-Formel. Durch die Stiche hat B auch ein rechtlich relevantes Risiko geschaffen, das sich im Tod des N verwirklicht hat. Dieser war dem B somit objektiv zuzurechnen. 2. Subjektiver Tatbestand B handelte mit bedingtem Tötungsvorsatz. II. Rechtsw idrigkeit B könnte allerdings gem. § 32 wegen Notwehr gerechtfertigt sein. 1. Notwehrlage Dafür muss eine Notwehrlage bestanden haben, also ein gegenwärtiger rechtswidriger Angriff auf ein Rechtsgut des B. N schlug auf den B ein, es lag also eine von einem Menschen ausgehende Gefahr für die körperliche Unversehrtheit des B, mithin ein Angriff auf diese, vor. Dieser muss auch gegenwärtig gewesen sein, also unmittelbar bevorgestanden, gerade stattgefunden oder noch angedauert haben. N war noch dabei, auf B einzuschlagen, so dass der Angriff gerade stattfand und damit gegenwärtig war. Eine Notwehrlage lag also vor. 2. Notwehrhandlung Weiterhin muss das Niederstechen des N eine zulässige Notwehrhandlung darstellen. Bs Verteidigung richtete sich gegen N, also zulässigerweise gegen Rechtsgüter des Angreifers. Sie muss erforderlich gewesen sein, also ein geeignetes und das relativ mildeste Mittel zur Abwehr des Angriffes. Die Handlung des B war die einzige Möglichkeit, den Angriff auf seine körperliche Unversehrtheit zu beenden. Schließlich muss sie auch geboten gewesen sein, es dürfen also nicht ausnahmsweise Umstände vorliegen, wegen denen die Rechtfertigung des Angriffs aus sozialethischen Gründen unterbleiben müsste. Solche Gründe sind hier allerdings nicht ersichtlich. Die Affäre mit der Ehefrau stellt keine relevante Provokation dar. Die Handlung war daher geboten. 3. Subjektives Rechtfertigungselement B wusste, dass er angegriffen wurde, und handelte, um sich zu verteidigen. Das subjektive Rechtfertigungselement liegt also vor. 1 §§ ohne Gesetzesangaben sind im Folgenden solche des StGB. Sommersemester 2015 Seite 2 von 8 Juristische Fakultät Übung im Strafrecht für Anfänger Prof. Dr. Frank Saliger Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, Wirtschaftsstrafrecht und Rechtsphilosophie Das Niederstechen des N war daher gem. § 32 wegen Notwehr gerechtfertigt. II. Ergebnis B hat sich nicht wegen Totschlags gem. § 212 I strafbar gemacht. B. Strafbarkeit des B gem. §§ 212 I, 13 I B könnte sich allerdings wegen Totschlags durch Unterlassen gem. §§ 212 I, 13 I strafbar gemacht haben, indem er den N verletzt liegen ließ. I. Tatbestand 1. Objektiver Tatbestand a. Erfolg Der Tod des N ist eingetreten b. Nichtvornahme der gebotenen Rettungshandlung B unterließ es einen Notarzt zu verständigen, obwohl ihm dies möglich gewesen wäre. c. Quasi-Kausalität Die gebotene Rettungshandlung darf nicht hinzugedacht werden können, ohne dass der Erfolg mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit entfiele. Hätte B einen Notarzt verständigt, wäre N gerettet worden. Das Unterlassen war daher quasi-kausal. d. Garantenstellung P1: Garantenstellung aus Ingerenz trotz Rechtfertigung wegen Notwehr Der B muss jedoch auch für die Abwendung des Erfolgs rechtlich einzustehen gehabt haben, also Garant für das Leben des N gewesen sein. Eine Garantenstellung könnte sich hier allenfalls aus Ingerenz, also vorangegangenem Fehlverhalten ergeben. B hatte den N niedergestochen und so die Gefahr für das Leben des N geschaffen. Allerdings handelte er aus Notwehr und war daher gem. § 32 gerechtfertigt. Insofern könnte man das Vorliegen eines pflichtwidrigen Vorverhaltens verneinen. Dagegen spricht, dass der in Notwehr Handelnde nur zum Zeitpunkt der bestehenden Angriffslage von der Rechtsordnung das Recht bekommt, den Angreifer zu schädigen. Sobald, wie hier, keinerlei Gefahr mehr für den Angegriffenen besteht, ist diese Sondersituation zu Ende. Insofern könnte man die Herbeiführung des Todes aufgrund von Untätigkeit als eine Überschreitung der ohnehin großzügigen Befugnisse des § 32 sehen. Trotzdem ist zu fragen, ob die Rechtsordnung dem Opfer des ersten Angriffs mehr Pflichten auferlegen kann als einem beliebigen Unbeteiligten. Dies würde allerdings zu weit gehen. Der Täter befindet sich in einer von ihm selbst verursachten Lage, in der er von seinem Opfer wohl kaum Hilfe erwarten kann und wird. Zudem spricht schon die Anforderung „pflichtwidrig“ gegen die Annahme einer Garantenpflicht, da der Handelnde gerade rechtmäßig handelt. Bejahte man trotzdem eine Garantenstellung, würde man die bloße Kausalität des Vorverhaltens ausreichen lassen. Dies ginge jedoch zu weit. B war nicht Garant für das Leben des N (a.A. vertretbar). Sommersemester 2015 Seite 3 von 8 Juristische Fakultät Übung im Strafrecht für Anfänger Prof. Dr. Frank Saliger Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, Wirtschaftsstrafrecht und Rechtsphilosophie II. Ergebnis B hat sich daher nicht wegen Totschlags durch Unterlassen strafbar gemacht. C. Strafbarkeit des B gem. § 323c B könnte sich jedoch wegen unterlassener Hilfeleistung gem. § 323c strafbar gemacht haben, indem er den N liegen ließ. I. Tatbestand 1. Objektiver Tatbestand a. Unglücksfall Dafür muss zunächst ein Unglücksfall vorgelegen haben. Ein Unglücksfall ist ein plötzlich eintretendes Ereignis, das eine erhebliche Gefahr für ein Individualrechtsgut herbeiführt. Durch das Niederstechen wurde der N in seiner Gesundheit geschädigt und in Lebensgefahr gebracht. Trotzdem könnte man am Vorliegen eines Unglücksfalls zweifeln, weil B die Lebensgefahr in Notwehr herbeigeführt hat. Das Vorliegen eines Unglücksfalls ist jedoch ein objektives und für alle potentiellen Täter gleich zu bestimmendes Merkmal. Insoweit genügt, dass die Schädigung des N zumindest für diesen plötzlich ist. Hinweis: Die Frage, ob der in Notwehr die Gefahrenlage Hervorrufende tauglicher Täter des § 323c sein kann, ist daher im Rahmen der Zumutbarkeit zu prüfen, obwohl diese Frage in der Literatur immer wieder im Rahmen des Unglücksfalls erörtert wird. b. Unterlassen von Hilfe Der B unternahm nichts zur Rettung des N, obwohl dieser sofortiger Hilfe bedurfte und das Rufen eines Notarztes ihm ohne weiteres möglich gewesen wäre. c. Zumutbarkeit P2: Zumutbarkeit der Hilfeleistung für das Opfer des ursprünglichen Angriffs Die Hilfeleistung muss dem B weiterhin zumutbar gewesen sein. B wäre es ein Leichtes gewesen, den Notarzt per Handy anzurufen und so die Rettung des N herbeizuführen. Allerdings könnte man trotzdem anzweifeln, dass es dem B zumutbar war, den N zu retten, weil er diesen in nicht provozierter Notwehr in seine Notlage gebracht hat. Insofern wäre eine Hilfspflicht – weil widersinnig – auf jeden Fall zu verneinen, wenn ihm durch den N noch eine Gefahr drohte. So liegt der Fall hier jedoch nicht, da der N schon zusammengebrochen ist. Allerdings geht es bei der Zumutbarkeit – anders als bei der Frage nach der Garantenstellung aus Ingerenz – nicht darum, dem Opfer des ursprünglichen Angriffs zusätzliche Pflichten aufzuerlegen, sondern um die Frage, ob er wegen dieses Angriffs von der jeden Mitmenschen treffenden allgemeinen Solidaritätspflicht auszunehmen ist. Zwar könnte man auch diesbezüglich denken, dass der Angreifer jegliches Recht auf Hilfe verwirkt hat und eine solche von seinem Opfer rein tatsächlich nicht mehr erwarten kann und wird. Allerdings kommt die Rechtsordnung dem Opfer des ursprünglichen Angriffs schon durch das sehr weite Notwehrrecht entgegen, so dass es nicht ungerechtfertigt erscheint, es nicht zusätzlich von weiteren allgemeinen Pflichten zu entlasten. Seiner emotionalen Ausnahmelage wäre zwar Rechnung zu tragen, wenn es z.B. aus Angst vor weiteren Angriffen untätig bliebe oder aus Sommersemester 2015 Seite 4 von 8 Juristische Fakultät Übung im Strafrecht für Anfänger Prof. Dr. Frank Saliger Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, Wirtschaftsstrafrecht und Rechtsphilosophie Aufregung bzw. Verwirrung die Situation nicht klar erkannte. Wenn es aber, wie hier, nur aus bloßer Gleichgültigkeit die Hilfe unterlässt, kommt dies eher einer Rache nahe als einer legitimen Selbstverteidigung. Die Hilfeleistung war dem B damit zumutbar (a.A. vertretbar). 2. Subjektiver Tatbestand Der B muss mit Vorsatz gehandelt haben. Er wusste um das Vorliegen der objektiven Tatbestandsmerkmale und ging trotzdem willentlich weiter. Vorsatz liegt also vor. II. Rechtsw idrigkeit Es bestehen keinerlei Anhaltspunkte für Rechtfertigungsgründe III. Schuld Auch Entschuldigungs- und Schuldausschließungsgründe sind nicht ersichtlich. IV. Ergebnis B hat sich daher wegen Unterlassener Hilfeleistung gem. § 323c strafbar gemacht. D. Strafbarkeit des B gem. § 212 I B könnte sich weiterhin wegen Totschlags gem. § 212 I strafbar gemacht haben, indem er dem hilfsbereiten W vorspiegelte, alles Erforderliche zu Rettung des N getan zu haben, und ihn daher von seinem Rettungsversuch abbrachte. I. Tatbestand 1. Objektiver Tatbestand a. Handlung Zunächst muss das Wegschicken des W eine Handlung sein. Insofern könnte man nämlich auch denken, dass das Verhalten des B allein in der Nicht-Rettung des N lag und insofern ein Unterlassen darstellte. Allerdings geht das Verhalten des B weit über die bloße eigene Nicht-Rettung hinaus. Hätte er dem W nicht versichert, alles zur Rettung Erforderliche getan zu haben, hätte W sich um die Rettung des N gekümmert und dessen Todeseintritt verhindert. B hat also einen rettenden Kausalverlauf abgebrochen und damit eine aktive Handlung vorgenommen. b. Erfolg Der Tod des N ist eingetreten c. Kausalität und objektive Zurechnung Hätte B dem W nicht vorgespiegelt, alles Notwendige getan zu haben, hätte W einen Notarzt gerufen, so dass N gerettet worden wäre. Die Handlung des B war daher kausal. Der Erfolg ist ihm zudem objektiv zurechenbar. 2. Subjektiver Tatbestand Der B handelte vorsätzlich. II. Rechtsw idrigkeit und Schuld B handelte rechtswidrig und schuldhaft. Sommersemester 2015 Seite 5 von 8 Juristische Fakultät Übung im Strafrecht für Anfänger Prof. Dr. Frank Saliger Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, Wirtschaftsstrafrecht und Rechtsphilosophie III. Ergebnis B hat sich daher wegen Totschlags gem. § 212 I strafbar gemacht. Die unterlassene Hilfeleistung, § 323c, tritt dahinter zurück. Teil 2 A. Strafbarkei t der A nach § 212 I , 13 I, 22, 23 I A könnte sich wegen versuchten Totschlags durch Unterlassen an B gem. §§ 212 I, 13 I, 22, 23 I strafbar gemacht haben, indem sie B trotz herannahender Flut im Priel stecken ließ und weiterging. Vorprüfung B ist nicht tot, das Delikt nicht vollendet. Der Totschlagsversuch ist als Versuch eines Verbrechens, vgl. § 12 I, gem. § 23 I strafbar. I. Tatbestand 1. Tatentschluss A muss mit Tatentschluss gehandelt haben. Tatentschluss entspricht dem subjektiven Tatbestand des vollendeten Delikts. Zunächst muss sie also Vorsatz bezüglich des Todes des B gehabt haben. Hier hielt es A für möglich, dass B sich befreit. Dies impliziert logisch, dass sie auch das Gegenteil, also sein Ertrinken, für möglich hielt. Dieses nahm sie auch billigend in Kauf, so dass sie mit bedingtem Vorsatz und damit mit Tatentschluss bezüglich des Todeseintritts handelte. Weiterhin stellte sie sich vor, untätig zu bleiben, obwohl es ihr möglich war, entweder den B selbst zu befreien oder – wie später geschehen – durch Alarmieren der Wasserwacht befreien zu lassen. Ihr war dabei bewusst, dass zumindest das Alarmieren der Wasserwacht mit Sicherheit zur Rettung des B führen würde. Sie hatte daher auch Tatentschluss bezüglich des Unterlassens und der Quasi-Kausalität. Außerdem muss sie Tatentschluss bezüglich des Vorliegens einer Garantenstellung gehabt haben. Ehegatten haben untereinander aus familiärer Verbundenheit und gem. § 1353 BGB eine Garantenstellung. A wusste, dass sie mit B verheiratet war. Der Tatentschluss bezüglich des Vorliegens der Garantenstellung ist daher zu bejahen. 2. Unmittelbares Ansetzen P3: Unmittelbares Ansetzen beim Unterlassungsdelikt Weiterhin muss A unmittelbar angesetzt haben. Das unmittelbare Ansetzen ist gegeben, wenn der Täter sich vorstellt, dass seine Handlung ohne wesentliche Zwischenschritte in die Tatbestandsausführung mündet. Wann der Täter beim Unterlassen unmittelbar ansetzt, lässt sich auf verschiedene Weise bestimmen. Man könnte zunächst auf die erste verstrichene Rettungsmöglichkeit abstellen. Dann hätte A schon angesetzt, indem sie B nicht sofort selbst aus dem Priel gezogen bzw. nicht direkt die Wasserwacht informierte. Allerdings befand sich B zu diesem Zeitpunkt noch in Sommersemester 2015 Seite 6 von 8 Juristische Fakultät Übung im Strafrecht für Anfänger Prof. Dr. Frank Saliger Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, Wirtschaftsstrafrecht und Rechtsphilosophie keiner konkreten Gefahr. Vielmehr bestand frühestens eine Gefahr für sein Leben, als sich ihm das Wasser tatsächlich näherte. Nähme man schon zu diesem frühen Zeitpunkt den Versuchsbeginn an, wäre der Unterlassungstäter, der gem. § 13 II als eher weniger gefährlich gesehen wird als der Begehungstäter, früher strafbar als letzterer. Es ist vielmehr vorzuziehen, den Versuchsbeginn danach zu bestimmen, wann eine der Begehungskonstellation entsprechende Gefahr für das Rechtsgut vorliegt. Insofern könnte man auch auf das Verstreichenlassen der letztmöglichen Rettungschance abstellen. Hier konnte B noch gerettet werden, so dass diese gerade nicht verstrichen war. Danach läge kein unmittelbares Ansetzen vor. Dies zeigt jedoch schon den Schwachpunkt dieses Ansetzungspunkts. Das Verstreichenlassen der letztmöglichen Rettungschance fällt regelmäßig mit dem Zeitpunkt der Vollendung zusammen, was nicht der Vorstellung des Gesetzes entspricht, die die Phasen von Versuch und Vollendung unterscheidet. Eine solche Unterscheidung muss auch beim Unterlassungsdelikt möglich bleiben. Insofern ist es vorzuziehen, auf den Zeitpunkt abzustellen, in dem das geschützte Rechtsgut ernsthaft gefährdet ist. Damit lässt sich auch der oben beschriebene wertungsmäßige Gleichlauf zum Begehungsdelikt herstellen. Eine ernsthafte Gefahr für das Leben des B ist hier spätestens entstanden, als sich das Wasser seinem Gesicht näherte. Damit lag ein unmittelbares Ansetzen vor. II. Rechtsw idrigkeit Mangels Rechtfertigungsgründen liegt die Rechtswidrigkeit vor. III. Schuld A verhielt sich auch schuldhaft. Insbesondere ist es nicht ersichtlich, dass es ihr unzumutbar war, ihren Ehemann zu retten. IV. Rücktritt Allerdings könnte A gem. § 24 I strafbefreiend zurückgetreten sein. 1. Kein Fehlschlag Der Versuch darf nicht fehlgeschlagen sein. A hätte weiter untätig zuschauen können. Dann wäre B ertrunken. Insofern konnte sie die Vollendung noch herbeiführen, ein Fehlschlag liegt nicht vor. 2. Außertatbestandliche Zielerreichung P4: Ausschluss des Rücktritts wegen außertatbestandlicher Zielerreichung Trotzdem könnte der Rücktritt ausgeschlossen sein, weil A ihr eigentliches Ziel, ihrem Mann eine Lektion zu erteilen, schon durch dessen Todesängste erreicht hat. In einem solchen Fall könnte man nämlich sagen, dass der Täter durch die Herbeiführung der Vollendung nichts mehr gewinnt, also durch die Aufgabe der weiteren Tatausführung auch keine zu honorierende Leistung erbringt. Er begibt sich nicht zurück ins Recht, sondern unterlässt es bloß, einen weiteren deliktischen Erfolg herbeizuführen. Damit würde er das Rücktrittsprivileg und die Straffreiheit nicht verdienen. Dies ändert allerdings nichts daran, dass durch die Aufgabe der weiteren Tatausführung das Leben des Opfers gerettet wird. Aus Gründen des Opferschutzes ist damit der Aus- Sommersemester 2015 Seite 7 von 8 Juristische Fakultät Übung im Strafrecht für Anfänger Prof. Dr. Frank Saliger Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, Wirtschaftsstrafrecht und Rechtsphilosophie schluss des Rücktritts abzulehnen. Dies ist insbesondere deswegen wichtig, weil der Täter immer Interesse daran hat, das Opfer als Zeugen zu beseitigen. Weiterhin ist es nicht einzusehen, warum der gefährlichere mit direktem Vorsatz handelnde Täter gegenüber demjenigen besser gestellt wird, der nur bedingten Vorsatz aufweist. Schließlich muss es jedoch auf den Wortlaut des Gesetzes ankommen, der von der Tat spricht, nicht von einem dahinterstehenden Motiv. Insofern muss es auch hier auf die Verhinderung bzw. Nichtherbeiführung des tatbestandlichen Erfolgs ankommen. Der Rücktritt war daher nicht ausgeschlossen. 3. Taugliche Rücktrittshandlung Weiterhin muss eine taugliche Rücktrittshandlung vorliegen. Diese bestimmt sich danach, ob ein unbeendeter oder beendeter Versuch vorliegt. Ein Versuch ist beendet, wenn der Täter nach seiner Vorstellung alles Erforderliche getan hat, um den Erfolg herbeizuführen. In der Unterlassungskonstellation tritt der Erfolg jedoch stets unabhängig von einer Handlung des Täters ein. Insofern könnte man allenfalls zwischen unbeendetem und beendetem Versuch unterscheiden, wenn man darauf abstellt, ob der Täter bloß die ursprünglich unterlassene Handlung zur Erfolgsverhinderung nachholen oder ob er zusätzliche Rettungsmaßnahmen einleiten muss. Im Ergebnis kommt es jedoch immer darauf an, ob der Täter den Eintritt des Erfolgs verhindert hat, unabhängig davon, welche Handlung er vorgenommen hat. Hier gelang es der A durch Verständigen der Wasserwacht, die Rettung des B herbeizuführen. Dies ist damit eine taugliche Rücktrittshandlung. 4. Freiwilligkeit A muss freiwillig gehandelt haben. Dies ist der Fall, wenn sie durch autonome Motive motiviert war. Sie befreite B, weil er ihrer Ansicht nach schon genug gelitten hatte. Dieses Motiv hat nichts mit äußeren Zwängen zu tun und ist daher autonom. A handelte freiwillig. 5. Zwischenergebnis A ist somit strafbefreiend vom Versuch des Totschlags durch Unterlassen zurückgetreten. B. Ergebnis A hat sich damit nicht wegen versuchten Totschlags durch Unterlassen gem. §§ 212, 13 I, 22, 23 I strafbar gemacht. Sommersemester 2015 Seite 8 von 8
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