Schachspielen hat ihn gerettet

In Fußgängerzonen fragt Rudolf Kautz, 56, Passanten:
„Wer spielt mit mir eine Runde Schach?“
Schachspielen hat
ihn gerettet
Er war Trinker. Aber viele Züge
im Voraus zu berechnen, das geht
nur nüchtern
Ich bedanke mich bei allen Menschen, die mit mir Schach ge­
spielt haben in den Fußgängerzonen Deutschlands! Sie haben ge­
holfen, dass ich den Mut nicht verlor und jetzt sogar eine normale
menschliche Wohnung habe, eine Sozialwohnung in Stuttgart.
13 Jahre war ich wohnsitzlos, reiste von Stadt zu Stadt.
Ich schlief in Grünanlagen oder Bahnhofsunterführungen,
und morgens stellte ich in der Fußgängerzone zwei Hocker hin,
einen Karton als Tisch und ein Pappschild. Da stand drauf: „Liebe
Leute! Wer spielt mit mir eine Runde Schach?“ Ich habe nie um
Geld gespielt, aber ich bat die Spielpartner um eine Spende.
Das Schachspielen hatte ich im Krankenhaus gelernt, in
Kasachstan. Ich war dort Fernmeldetechniker. 1992 hatte ich
einen schweren Arbeitsunfall und verlor ein Auge. In meinem
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Zimmer war ein Patient, der hatte ein Magnet-Schachspiel dabei.
Er brachte mir die Regeln und die wichtigsten Grundzüge bei.
Von da an faszinierte mich das Schachspiel. Aber ich habe nie in
einem Verein gespielt. In Kasachstan musst du viel bezahlen, um
Mitglied in einem Schachclub zu werden.
Als Spätaussiedler zogen meine Frau und ich mit unseren­
vier Kindern 1995 nach Deutschland. Meine beiden Großväter
stammen aus dem Schwabenland. Ich war damals 36 Jahre alt.
Aber ich fand mit meiner Ausbildung und mit meiner Behinde­
rung keine Arbeit in Deutschland. Irgendwann lernte ich Alko­
holiker kennen und fing an zu trinken. Der Kontakt zu meiner
Familie brach ab. Sie wollte mit mir nichts mehr zu tun haben.
Ich landete auf der Straße. Vier Jahre lang habe ich getrunken.
Die schlimmste Zeit meines Lebens. Ich wollte da raus. Das Schach­
spielen hat mir das Leben gerettet. Denn als Trinker kannst du
nicht Schach spielen. Dazu muss man nüchtern sein.
Seit ich trocken bin, spiele ich öffentlich Schach, zum Beispiel
in Köln, Düsseldorf, Mainz und in ein paar anderen Städten.
Manchmal bis zu 15 Partien an einem Tag. Dabei lerne ich viele
Menschen kennen. Manche kommen regelmäßig zu mir, wenn
sie wissen, dass ich wieder in ihrer Stadt bin. Es sind viele junge
Leute darunter, Schüler und Studenten. Sie nehmen sich mehr
Zeit als ältere Menschen. Und wir lernen voneinander.
Wenn ein Mensch sich hinsetzt, um Schach zu spielen, ist das
seine Entscheidung. Ich sage nicht, dass ich schlecht spiele. Aber
es gibt immer einen besseren Spieler. Und es gibt keinen, der
keinen Fehler macht. So wie im Leben.
Das Leben auf der Straße ist schwer. In Stuttgart hatte ich
­sieben Jahre lang in einer Unterführung des Bahnhofs gelebt, mit
Schlafsack, Schachspiel und allen meinen Sachen, aber voriges
Jahr musste ich gehen: Das Wachpersonal der Bahn sagte, die
­Haltestellen der Bahn seien nur dazu da, dass die Fahrgäste auf
die Bahn warten oder Besucher abholen. Na ja, das ist jetzt vorbei.
Ein Freund riet mir, einen Antrag auf eine Sozialwohnung zu
stellen. Und der Antrag ist tatsächlich bewilligt worden.
Jetzt habe ich die Schlüssel für eine Wohnung, meine Woh­
nung, und sogar einen Briefkastenschlüssel. Ich kann es kaum
fassen. Ich kann jetzt wie ein Mensch duschen und mich mit
heißem Wasser rasieren. Das Geld für Waschmaschine und
­Kühlschrank habe ich als „einmalige Hilfe“ bekommen. Und es
sind nur vier Bushaltestellen bis zur Universität. Die Universität
ist für mich wichtig, weil dort viele junge Menschen sind.
Die Mitspieler erzählen wenig von sich. Für sie ist es eine Ab­
wechslung nach der Vorlesung oder vor dem Ausgehen. Sie kom­
men bei mir vorbei, weil sie wissen, dass ich Zeit habe für ein
Spiel. Und es ist gut für meine Psyche. Ich bin unter Menschen
und tausche mich mit ihnen aus. Es ist das Beste, was ich machen
kann. Auch in der Königstraße darf ich inzwischen spielen, mit­
ten in der Stuttgarter Fußgängerzone. Das hat mir die Stadtver­
waltung jetzt offiziell erlaubt.
Mit dem Schachspielen mache ich weiter. Denn ich bin immer
noch auf Spenden angewiesen. Die kleine Rente reicht nicht zum
Leben. Und ich will meine Familie ja auch ein wenig unterstützen.
Demnächst fahre ich nach Madrid zu einem Turnier. Die Teil­
nahme hat ein Freund vermittelt. Ich bin ein reisender Schach­
spieler – mehr nicht.
e
Protokoll: Armin Thomas
FOTO: YVONNE SEIDEL
anfänge