Wachet auf, ruft uns die Stimme (BWV 140)

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Predigt im Gottesdienst am Ewigkeitssonntag (22. November 2015) in der St. JohannisKirche Würzburg im Rahmen des Würzburger Bachfestes
Wachet auf, ruft uns die Stimme (BWV 140)
Gnade sei mit Euch und Friede, von dem,
der da ist, der da war und der da kommt! (Amen.)
Liebe Gemeinde,
seien wir ehrlich: Im Grunde wollen alle nur das eine: das eben gehörte Werk gleich noch
einmal hören: Was für eine wunderbare Kantate!
Aber das ist jetzt nicht geplant. Wir hörten (und sahen) ihre Herrlichkeit – nun müssen wir ihr
gleichsam nach-horchend nach-denken. Heute, am Ewigkeitssonntag, am Totensonntag, am
letzten Sonntag des Kirchenjahres. Für diesen Sonntag wurde die Kantate geschrieben und am
25. November 1731 das erste Mal in Leipzig aufgeführt.
Eigentlich aber wurde dieser Sonntag gestern, am Vorabend, hier in der St. Johannis-Kirche
musikalisch ja ganz anders eingeläutet: „Wir setzen uns mit Tränen nieder/und rufen Dir im
Grabe zu: Ruhe sanfte, sanfte ruh“. Schmerzlich seufzten die Flöten vom Leitton h zum c, am
Ende der Matthäuspassion herrschte Grabesruhe in c-Moll – und die herrschte lange und
wurde auch nicht wie heute üblich, mit tosendem Applaus beschlossen. Leider konnte ich
nicht dabei sein, aber so wurde es mir erzählt.
Heute Morgen ist alles anders! Keine Karfreitagsgedanken in ersterbendem c-Moll, sondern
leuchtendes Es-Dur, tänzerisch nach vorne drängende Instrumente, ein klarer Rhythmus in
den punktierten Figuren und unter dem Cantus firmus des Sopran wimmelt es.
Aufbruchsstimmung. Alles wach im Eingangschor, und wie! Und dann dieser Takt 135: Auf
Zählzeit drei, also gegen den Takt beginnen die Altstimmen das „Alleluja“, ein Jubilieren in –
wie soll man es nennen? – träumerischer, noch etwas ungläubiger, kontrollierter
Freudentrunkenheit, in die auch Tenor und Bass einfallen. Musik in der Stimmung des
Psalms, den wir eben gehört haben: „Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird,
dann werden wir sein wie die Träumenden, …“
I. Doch halt! Alles der Reihe nach. Wir haben es hier und heute ja nicht nur mit dieser
Bachkantate zu tun und mit dem die Kantate prägenden Choral „Wachet auf, ruft uns die
Stimme!“, sondern zuallererst mit dem Evangelium des heutigen Sonntags, dem Gleichnis
von den klugen und törichten Jungfrauen aus dem Matthäusevangelium!
Eine irre Geschichte: Da campieren zehn junge Frauen – wo auch immer, ein Ort wird nicht
genannt. Vielleicht auf freiem Feld? Wir wissen es nicht. Sie wollen zu einer Hochzeit und
warten auf den Bräutigam. Doch der lässt auf sich warten. Sie haben alle Lampen dabei, die
einen sind gut ausgestattet mit Lampenöl, die anderen nicht. Die einen werden die klugen
genannt, die anderen die törichten. Aber einschlafen tun sie alle. Plötzlich, um Mitternacht,
ein lautes Rufen: „Siehe, der Bräutigam kommt! Geht hinaus, ihm entgegen!“ Und dann
nimmt das Elend seinen Lauf: Die sogenannten törichten fragen die sogenannten klugen, ob
2 sie ihnen etwas Sprit für ihre Lampen leihen, denn die sind inzwischen erloschen. Die
sogenannten klugen sagen: „Nein, sonst würde es für uns und euch nicht genug sein“, und
dann geben sie den Rat: „Geht aber zum Kaufmann und kauft für euch selbst!“ – Na, das sind
ja tolle Freundinnen! Um Mitternacht zum Kaufmann gehen und einkaufen? Geht’s noch?
Aber gut: Besser spät als nie möchte man denken, doch als die Nachzüglerinnen zum
Hochzeitshaus kommen und rufen: „Herr, Herr, lass uns ein!“, da ist die Tür verschlossen,
und der Herr antwortet: „Wahrlich, ich sage euch: Ich kenne euch nicht.“
Spätestens jetzt wird deutlich, dass es dem Evangelisten nicht um eine realistische Erzählung
a lá „neulich bei einer Hochzeit“ geht, sondern dass ihm einzig der Schluss wichtig ist,
gleichsam die Moral von der Geschicht´, und das ist – leider – die verschlossene Tür und der
Satz „Ich kenne euch nicht.“ Ja, liebe Gemeinde, dem Evangelisten Matthäus ist es ernst: Es
gibt ein zu spät im Leben, dann ist die Tür zu und der, der sie öffnen könnte, der kennt dich
nicht mehr. Bitter. Wirklich bitter.
Liebe Gemeinde, die Geschichte von den klugen und törichten jungen Frauen hat die
christliche Frömmigkeit geprägt – besonders in der Antike und im Mittelalter. Es gibt eine
Vielfalt von Auslegungen, die an verschiedenen Stellen des Gleichnisses ansetzen. Am
wirkmächtigsten ist die Art von Auslegung geworden, die sich auf den Schluss konzentriert,
auf die verschlossene Tür, auf das „Ich kenne euch nicht!“. Der Bräutigam ist der
wiederkommende Christus, das Eingehen in den Hochzeitssaal und die verschlossene Tür sind
eine Darstellung des Endgerichts, das auf jeden Menschen nach dem Tode wartet. Wenige
Verse nach unserem Gleichnis schildert Matthäus dieses Endgericht ausführlich, wo die
Gesegneten zur Rechten in die Herrlichkeit eingehen und die Verfluchten zur Linken ins
ewige Feuer stürzen!
II. Wenn wir nun den Choral „Wachet auf ruft uns die Stimme“ betrachten, stellen wir
fest, dass dort dieses Gericht gar nicht vorkommt. Und das ist Programm, denn der Dichter
dieses Liedes, der Theologe Philipp Nicolai hat dieses Lied im Jahr 1599 in einer
Liedsammlung veröffentlicht, die den schönen Titel „Freudenspiegel des ewigen Lebens“
trägt. Und im Untertitel steht „Geistliches Braut-Lied von der Stimm zu Mitternacht / und von
den klugen Jungfrauen / die ihrem himmlischen Bräutigam begegnen.“
In der ersten Strophe gibt es eine Erinnerung an das Gleichnis, wenn es heißt: „Wo seid ihr
klugen Jungfrauen? / Wohlauf der Bräut’gam kommt, / steht auf die Lampen nehmt!/
halleluja! / macht euch bereit zu der Hochzeit / Ihr müsset ihm entgegengehn“. Jungfrau,
Bräut’gam, Hochzeit – alles da!
Aber dann, dann geht es ganz anders weiter: In der zweiten Strophe hört Zion die Wächter
singen. Die Stadt Jerusalem, die Tochter Zion freut sich auf ihren Freund, der vom Himmel
prächtig kommt: Das Herz tut ihr vor Freude springen! Nicht mehr Endgericht und Mahnung
zur Wachsamkeit stehen jetzt im Mittelpunkt, sondern Vorfreude, unbändige Vorfreude bricht
sich Bahn.
Und im dritten Vers sind wir am Ziel, da sind wir Konsorten, Verbundene der Engel, und
stehen mit ihnen um Gottes Thron. Halleluja! Das Gericht und die Warnung davor, die für den
Evangelisten Matthäus so wichtig sind, interessieren in diesem Choral nicht die Bohne.
III. Und Bach? Was ist mit Bach? Ich will es Ihnen sagen: In seiner Kantate interessiert ihn
die Warnung vor dem (Welt-)Gericht auch nicht die Bohne. Wie gesagt, Wachsamkeit strahlt
er ja schon aus, der klare Rhythmus im Eingangschor. Aber es ist eine freudige ErwartungsWachsamkeit, keine angstvolle Gerichts-Wachsamkeit, die uns da entgegenpulst.
Dann die zweite Strophe des Chorals, die Nummer vier der Kantate: „Zion hört die Wächter
singen“ – die Streicher spielen eine Festmusik in geerdet-kerniger Lage und darübe ersteht
golden-strahlend ein Tenor! Bach selbst hat diese seine Komposition wohl auch sehr gemocht,
3 denn er nimmt sie später als Orgelstück in eine Sammlung von Choralbearbeitungen auf, die
er kurz vor seinem Tod drucken ließ. Unabhängig von der Kantate ist diese Musik ein „BachHit“ geworden.
Schließlich die dritte Strophe, der Schlusschoral. Dieser vierstimmige Satz bildet heute mit
der Nummer 535 den Abschluss des Stammteils unseres Evangelischen Gesangbuches. Er
führt wie das Trio der zweiten Strophe ein Eigenleben – völlig losgelöst von der Kantate. Er
ist in zahlreichen Chormusik- wie Bläserheften abgedruckt und stets nur mit dieser Strophe
verbunden. Viele Choristen singen ihn auswendig. Auf jeden Fall auch ein „Bach-Hit“. Er ist
„das Gloria“ überhaupt: „Kein Aug hat je gespürt / kein Ohr hat je gehört / solche Freude“.
Und dann ist absolut bemerkenswert, was Bachs Kantate über die drei vertonten
Choralstrophen bietet: Das erste Rezitativ nach dem Eingangschor – vom Tenor gesungen –
gibt nach dem Eingangschor sozusagen einen fröhlichen Marschbefehl: „Ihr Töchter Zions
kommt heraus, (…) / Der Bräutgam kommt, der einem Rehe und jungen Hirsche gleich auf
denen Hügeln springt und euch das Mahl der Hochzeit bringt“ und dann das nachfolgende
Duett, meiner Meinung nach das einzige Werk der Kantaten, in der ein bisschen geseufzt
wird, denn der Sopran, die Personifizierung der hoffenden Seele singt sehnsuchtsvoll: „Wann
kömmst du, mein Heil“ .
Hier sei noch einmal eine Rückschau auf gestern Abend erlaubt: Das Duett beginnt in der
Solovioline und in der Sopranstimme mit einem seufzenden Sextsprung, der an welche
berühmte Arie in der Matthäuspassion erinnert? Richtig, an die „Erbarme-dich-Arie“! Die
fängt eigentlich genauso an, nur einen halben Ton tiefer.
Aber auch hier gilt: Heute ist alles anders. Anders als gestern muss die Solistin, die
symbolisch die gläubige Seele verkörpert, diese Arie nicht alleine durchstehen, sondern auf
die Frage „Wann kömmst du, mein Heil?“ antwortet nach noch nicht einmal einer Taktlänge
der Bass, der symbolisch die Stimme Jesu verkörpert, und beruhigt sie: „Ich komme, dein
Teil!“, dann bittet der Sopran: „Eröffne den Saal zum himmlischen Mahl“, und der Bass
antwortet sofort: „Ich öffne den Saal zum himmlischen Mahl“. Alles ist gut.
Noch besser das zweite Rezitativ und das zweite Duett: Der Bass singt dem Sopran zu: „So
geh herein zu mir, du mir erwählte Braut! Ich habe mich mit dir von Ewigkeit vertraut. (…)
Vergiss, o Seele, nun die Angst, den Schmerz, den du erdulden müssen, auf meiner Linken
sollst du ruhn, und meine Rechte sollst du küssen.“ Und im Duett sind sie dann ganz vereint:
Der Bass, die Stimme Jesu, ergänzt einfach den Satz des Soprans, der jubelnden Seele: „Mein
Freund ist mein / Und ich bin sein: Die Liebe soll nichts scheiden / ich will mit dir in
Himmels Rosen weiden, da Freude die Fülle, da Wonne wird sein.“ Dieser Dialog ist ein
gegenseitiges Sich-Bestätigen, ja ein Überschlagen im Liebesglück. Mehr Paradies geht nicht!
IV. Liebe Gemeinde, wir können feststellen: Bach hat sich in seiner Kantate über „Wachet
auf ruft uns die Stimme“ klar auf die Seite des Choraldichters Philipp Nicolai geschlagen –
und nicht auf die des Evangelisten Matthäus, dessen Gleichnis diesem Choral zugrunde liegt.
Dabei hätte man mit diesem Choral auch eine andere Kantate bauen können: Statt zweier
Liebesduette hätte Bach ja auch zwei bedrohliche Gerichts- und Höllenarien dazu stellen
können – also ein Inferno der Angst, statt eines Klangfest voller Liebe, und es gibt genügend
Beispiel, dass er so etwas konnte.
Warum hat Bach in dieser Kantate die helle Variante gewählt, die Variante mit Hochzeit,
Freudensaal und himmlischem Mahl?
Vielleicht ist er in diesem Fall einfach arbeitsteilig vorgegangen, denn er konnte ja damit
rechnen, dass damals bei ihm im Leipzig des Jahres 1731 ein aufrechter lutherischer Pfarrer
bei seiner Predigt über das Gleichnis von den klugen und törichten Jungfrauen mindestens
eineinhalb Stunden lang Gerichtsfurcht und Höllenangst verkündet hätte – das war damals so
4 üblich – keine Angst, das steht Ihnen heute nicht bevor. Ich glaube, Bach wollte mit dieser
Kantate einen klaren Kontrapunkt setzen, einen Kontrapunkt der Hoffnung gegen Gerichtsund Höllenangst– genauso wie Philipp Nicolai in seinem Choral.
Wie auch immer: Wir können froh sein, dass Philipp Nicolai und Johann Sebastian Bach uns
für diesen Tag, den Tag, an den wir besonders an unsere Toten und damit auch an unseren
Tod denken, einen so wunderbaren, liebevollen Choral und eine so wunderbare, liebevolle,
und liebestrunkene Kantate geschenkt haben, denn Furcht und Hölle haben wir ja aktuell
genug, besonders nachdem sich vor gut einer Woche eine Hölle in Paris aufgetan hat und
vielen der Alltag aus den Fugen geraten ist.
V. Was die großen Fragen nach dem ewigen Leben angeht, antwortet der christliche
Glaube mit Hoffnungsbildern. Natürlich gibt es eine Menge christliche Dogmatik, die
zuweilen den Anschein erweckt, zu wissen, was dort und dermal einst ist – zum Glück liest
und glaubt das heute niemand mehr wirklich. Wir beantworten die großen Frage, ob es hinter
dem Horizont weitergeht auch mit Sätzen, wie zum Beispiel dem, den wir vor der Aufführung
der Kantate im Glaubensbekenntnis gesprochen habe: „Ich glaube an (…) die Auferstehung
der Toten und das ewige Leben.“ Aber auch Christenmenschen wissen, wenn sie ehrlich sind,
dass dies eben ein Satz der Hoffnung ist, „nur“ ein Glaubenssatz, und ich meine das „nur“
hier keinesfalls wertmindert, sondern schlicht als eine angemessene Qualifizierung.
Es sind biblischen Bilder, zum Beispiel die vom ewigen Freudenmahl, Bilder von denen unser
Choral und unsere Kantate leben, die die Hoffnung speisen auf den guten Ausgang in Zeit und
Ewigkeit, oder anders gesagt: die Hoffnung darauf, dass am Ende Es-Dur steht und nicht cmoll.
VI. Aber halt, was ist mit dem Gericht? Hat Matthäus nicht recht: Kann die Tür nicht zu
sein, besteht nicht die Gefahr, dass Gott zu uns sagt: Ich kenne Euch nicht? Gäbe es nicht
genug Grund dazu bei all dem Hass und der Bosheit der argen falschen Welt1?
Liebe Gemeinde, darüber können wir nicht viele Worte machen, wir können alle nicht über
dieses Leben hinausblicken – außer wir riskieren Visionen. Und ob wir dann Angst haben,
oder Hoffnung schöpfen, liegt daran, welche Visionen wir haben.
Visionen? Morgen wird in Hamburg ein großer Deutscher zu Grabe getragen, der ehemalige
Bundeskanzler Helmut Schmidt, der vor knapp zwei Wochen im Alter von 96 Jahren
gestorben ist. Einer seiner berühmtesten Sätze lautet: Wer Visionen hat, der soll zum Arzt
gehen. Ich hoffe, es ist kein Sakrileg diesem großen Deutschen gegenüber, wenn ich ihm
entschieden widerspreche. Zumindest was die Hoffnung auf das ewige Leben angeht, sind
Visionen geradezu alternativlos.
Philipp Nicolais Choral und Johann Sebastian Bachs Kantate „Wachet auf, ruft uns die
Stimme“ entfalten mit großer Kunst heilsame, tröstliche und freudentrunkene Visionen über
den guten Ausgang unseres Lebens. Gott sei Dank dafür und lassen wir sie in unserem
Herzensgrunde funkeln2! Amen.
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Vergleiche EG 523, 1 Vergleiche EG 523, 3