Jannik Oestmann, 15 Jahre, Georg-Herwegh-Gymnasium Nie wieder Der Junge stand in der Nacht auf der Autobahn-Brücke. Er blickte nach unten. Unter ihm rasten die Autos mit 120 Stundenkilometern vorbei. Und er wollte da unten seien. Es war sein Geburtstag. Der 4. Juli. An diesem Tag wollte er es zuende bringen, 14 Jahre nachdem es begonnen hatte. Es regnete. Genau die richtige melodramatische Atmosphäre. In einer Pfütze auf dem Boden erblickte der Junge sein Spiegelbild. Sie haben Recht, dachte der Junge, ich bin wirklich unglaublich fett. Er hasste den Jungen in der Pfütze. Er hasste ihn dafür, nicht schlank zu seien, er hasste ihn dafür keine Freunde zu haben. Er blickte auf seine Uhr. 11:30. Noch eine halbe Stunde, dann würde er es beenden. Für immer. Nie wieder. Der Junge in der Pfütze meldete sich: „Du weißt, dass die Tatsache, dass du dir gerade eine solche Nacht ausgesucht hat; es regnet, es ist dein Geburtstag und um Mitternacht; ausdrückt wie sehr du dich für dein Leben interessierst?“ Der Junge wandte sich von der Pfütze ab. Er wusste nicht mehr, wann er angefangen hatte mit seinem Spiegelbild zu reden. „Hör auf. Es nervt. Was weißt du schon? Ich komme mir immer vor wie Gollum wenn ich mit dir rede.“ „Wenigstens hast du jemanden mit dem du reden kannst.“ „Haha, sehr witzig.“ Der Junge in der Pfütze schwieg. Und der Junge am Geländer auch. 11:45. Ein Pärchen schritt über die Brücke. Es bemerkte denn Jungen und schritt zu ihm. Dieser zog sich die Kapuze tiefer ins Gesicht. Er wollte nicht erkannt werden. Nie wieder. „Können wir dir helfen? Wo sind deine Eltern?“ „Mir geht’s gut. Sie kommen gleich wieder, keine Sorgen.“ „Sicher, können wir dir nicht helfen?“ „Nie wieder.“, wisperte der Junge. „Was?“ Der Junge schwieg. Das Pärchen ging genervt an ihm vorbei. „Es ist ungeheuer bezeichnend wie du die Hilfe anderer ablehnst.“, meinte der Junge in der Pfütze. „Was weißt du denn schon?“ „Nun, alles was du weißt, da ich du bin.“ „Achne. Das war eine rhetorische Frage.“ „Ich weiß.“ 11:50. Nie wieder. Diese Worte halten im Kopf des Jungen wieder. „Weißt du was mich wirklich stört?“, fragte der Junge in der Pfütze. „Dass du selbst vormachst dein Leben macht keinen Sinn mehr. Du hast noch zig Jahre vor dir mit zig Möglichkeiten. Die Leute von heute siehst du nie wieder. Du könntest eine Familie gründen, einen gut bezahlten Beruf ergreifen aber aus purem Egoismus entscheidest du dich Suizid zu begehen, nur weil du mit deinem momentanen Leben unzufrieden bist. Eigentlich willst du doch nur Aufmerksamkeit.“ Der Junge wurde wütend. Und zwar weil der Junge in der Pfütze wahrscheinlich Recht hatte. Kurz überlegte er, wieder nach Hause zu gehen, das Ganze zu lassen. Er schüttelte den Kopf. Nie wieder, dachte er. „Du weißt, dass ich dein Gedanken kenne. Nie wieder, Nie wieder. Es nervt. Und es ist so doppeldeutig. Du hast noch so viel vor dir. Schmeiß dein Leben nicht wegen ein paar Idioten weg!“ „Halt den Mund!“, schrie der Junge den anderen an. „Du bist nicht ich! Du bist einfach ein imaginärer Freund, eine Einbildung. Du hast keine Ahnung von dem Leben, dass ich täglich lebe, von dem was ich täglich durchmache. Tu mir einen Gefallen und halte den Mund. Das hier ist meine Entscheidung, mein Leben das ich beende. Und du machst mir das nicht kaputt!“ Voller Zorn trat der Junge in die Pfütze. „All die Arschlöcher die mich Tag für Tag quälen, all die falschen Internet Profile von mir, all die beleidigenden Kommentare: Ihr habt gewonnen!“ 11:55. „Nie wieder!“, schrie der Junge in die Nacht hinein. Er sah sein Leben. Er selbst mit seinen Eltern und anderen Verwandten. Sein Vater, wie er starb. Wie er auf die neue Schule kam, fest im Glauben das nun alles gut wurde. Wie er weinend im Bett lag. Wie seine Mutter ihn umarmte und schließlich wie er selbst oben auf der Brücke stand und „Nie wieder!“, rief. Doch hier endete es nicht. Er sah seinen Körper auf der Straße aufschlagen, sah seine Mutter weinen. Er sah Mitschüler, die um ihn trauerten. Er sah die Gesellschafft, die sich nicht dafür interessierte ob er tot war oder lebendig und einfach weitermachte. Er sah sich selbst, vielleicht 20, wie er mit anderen Leuten in einer WG lebte, wie er studierte und eine Frau kennenlernte. In seinem Kopf hörte er die Stimme des Jungen in der Pfütze. „All diese Chance verschwendet. Vollidiot.“ Der Junge geriet in Panik. Er stand wieder auf der Brücke. Er war nicht gesprungen. Er sah in die Pfütze. Nur sein Spiegelbild, still und bewegungslos. 12:00. Mitternacht. Er war 14. Er wusste nicht was er sagen sollte. Das einzige was über seine Lippen kam war ein einziges Wort. „Danke.“ Er würde mit all den Mobbern fertig werden. Er würde sich Hilfe suchen. All diese Leute waren es nicht wert. Der Junge wandte sich von der Brücke ab und stieg auf sein Fahrrad. Diese Nacht war nicht das Ende seines Lebens. Es war der Anfang. Er warf einen letzten Blick auf die Brücke. „Nie wieder!“, flüsterte er und radelte nach Hause.
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