DIE WELT - Die Onleihe

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MONTAG, 11. APRIL 2016
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Zippert zappt
THEMEN
Abitur wirklich
für alle?
DOROTHEA SIEMS
AFP/BULENT KILIC; GETTY IMAGES
I
Jagdszenen im Grenzgebiet
Der Sturm der Verzweifelten begann am Vormittag. Angestachelt durch ein in arabischer Sprache formuliertes Flugblatt, haben sich am Sonntag Hunderte von
Flüchtlingen im griechischen Grenzlager Idomeni zum Sturm auf die mazedonische Grenze aufgemacht. „Termin für den Marsch nach Mazedonien morgen,
Sonntag, um neun Uhr morgens“ hatte es in dem mutmaßlich von ausländischen
Aktivisten verfassten Aufruf geheißen. Hunderte versuchten daraufhin, den Grenzzaun zu durchbrechen. Grenzschützer feuerten Tränengas, Blendgranaten und
Gummigeschosse in die Menge, um den Ansturm zurückzudrängen.
Paris war das eigentliche Ziel
der Brüsseler Terroristen
Ermittlungsdruck ließ sie in Belgien zuschlagen. Verfassungsschutz warnt vor Attacken in deutschen Städten
WIRTSCHAFT
Für ihr Lieblingsgemüse
geben die Deutschen
gern etwas mehr aus
Seite 11
POLITIK
Wenn Germanisten
Schreibschwäche haben
Kommentar, Seite 4
POLITIK
Wo sie Donald Trump
zum Teufel jagten
Seite 8
SPORT
Tuchel schafft mit B-Elf
ein Unentschieden
Seite 16
Nr. 84
KOMMENTAR
B
ritische Forscher haben
herausgefunden, dass
Zeitungsleser sofort weiterblättern, wenn ein Artikel
mit den Worten „Holländische
Wissenschaftler haben herausgefunden“ beginnt. Dabei leisten
holländische Wissenschaftler
oft hervorragende Arbeit und
erforschen so gut wie alles.
Vor einigen Jahren haben sie
gemessen, wie lange ein Geschlechtsverkehr dauert. Sie
haben weltweit Tausende von
Schlafzimmern mit Bewegungsmeldern, Fotofallen, Hydrometern, Stoppuhren und Seismografen ausgestattet und sind dabei
zwangsläufig zu erstaunlichen
Ergebnissen gekommen. Ein
durchschnittlicher Geschlechtsverkehr dauert weniger als drei
Minuten, oft lässt sich die Dauer
kaum messen, da sind Werte im
Tausendstelsekundenbereich
entscheidend, so ungefähr wie
beim Viererbob. Geschlechtsverkehrsteilnehmer sehen das
merkwürdigerweise ganz anders,
gefühlt sind Werte von mehreren
Stunden möglich. Es gibt auch
große nationale Unterschiede.
Am längsten dauert es bei den
Briten, was am Linksverkehr
liegen könnte. Am schnellsten
sind die Türken, wofür sich Angela Merkel schon mal bei Präsident Erdogan entschuldigt hat.
D 2,50 EURO B
D
ie Brüsseler Dschihadistenzelle hatte nach den
Paris-Attentaten weitere
Anschläge in Frankreich
geplant, schlug wegen
Fortschritten der Ermittler dann aber
überstürzt in Brüssel zu. Das gab die
belgische Generalstaatsanwaltschaft am
Sonntag bekannt. Gegen den am Freitag
festgenommenen Mohamed Abrini – einer der Köpfe des Netzwerks – erließ die
belgische Justiz jetzt Haftbefehl wegen
terroristischer Aktivitäten. Extremisten
aus dem Brüsseler Viertel Molenbeek
gehörten zu den Attentätern der ParisAnschläge mit 130 Toten am 13. November. Am 22. März verübte die Zelle dann
Selbstmordanschläge am Flughafen von
Brüssel und in einer U-Bahn im EUViertel, bei denen 32 Menschen getötet
wurden.
„Viele Elemente in den Ermittlungen
haben gezeigt, dass die Terrorgruppe ursprünglich die Absicht hatte, ein zweites
Mal Frankreich zu treffen“, erklärte die
Generalstaatsanwaltschaft. „Von der Geschwindigkeit der Fortschritte der laufenden Ermittlungen überrascht, trafen
sie eilig die Entscheidung, in Brüssel zuzuschlagen.“ Am 18. März hatten die belgischen Fahnder Salah Abdeslam festgenommen, eine Schlüsselfigur der Pariser
Anschläge. Am Freitagabend ging ihnen
in der Brüsseler Vorstadt Anderlecht
dann Abdeslams Jugendfreund Abrini
ins Netz. Mit Aufnahmen einer Überwachungskamera vom Brüsseler Flughafen
konfrontiert, gestand er den Ermittlern
zufolge, der „Mann mit Hut“ zu sein, der
die beiden Flughafenattentäter begleitet
hatte. Dadurch offenbaren sich engste
Zusammenhänge zwischen den Pariser
und den Brüsseler Attentaten.
Ziele der Terroristen für neue Anschläge seien das Pariser Büroviertel La
Défense und ein katholischer Verein gewesen, erklärte Claude Moniquet dem
belgischen Fernsehsender RTL. Der Experte für Terrorismusbekämpfung und
ehemalige Mitarbeiter des französischen Geheimdienstes steht in engem
Kontakt mit den belgischen Ermittlern.
Sie hätten in dem Unterschlupf der Attentäter von Brüssel entsprechende
Hinweise gefunden. „In einem Computer, der offenbar einem der Brüder El
Bakraoui gehörte, gibt es eine Reihe von
Dokumenten“, sagte er. Ibrahim El Bakraoui hatte sich am Brüsseler Flughafen in die Luft gesprengt, sein Bruder
Khalid in der Metro. „In einem Diagramm erscheint ein Dossier ‚Ziel‘. Da-
„Wer etwas getan hat, muss bezahlen“
in ihren Köpfen passiert. Wir waren
glücklich, uns ging es gut, wir sind
ausgegangen, wir haben gelacht.
Jetzt können wir nicht einmal mehr
vor die Tür gehen.“ Salah Abdeslam,
26, ist ein Hauptverdächtiger der
Ermittlungen zu den Pariser Terroranschlägen vom 13. November. Sein
Bruder Brahim hatte sich bei der
Mordserie mit insgesamt 130 Todesopfern in die Luft gesprengt.
Der Vater des mutmaßlichen ParisTerroristen Salah Abdeslam hofft,
dass sein Sohn aussagen wird. „Ich
hoffe, dass alle reden werden“, sagte
der Vater in einem Interview des französischen Radiosenders Europe 1.
„Wer etwas getan hat, muss bezahlen.“ Der 67-Jährige sagte, er sei „sehr
traurig“. „Ich weiß nicht, wie die Kinder in solche Machenschaften geraten … Wirklich, ich verstehe nicht, was
rin werden zwei Ziele in Paris genannt:
das Einkaufszentrum in La Défense und
der Sitz eines konservativen katholischen Vereins.“ Nach Ansicht der Ermittler hätte das Attentat Ostern stattfinden können. Für Frankreichs Premierminister Manuel Valls ist der ursprüngliche Plan der Attentäter von
Brüssel, erneut in Frankreich zuzuschlagen, „ein weiterer Beweis für die sehr
hohe Bedrohung, die auf ganz Europa
und vor allem auf Frankreich lastet“.
Auch Deutschland befindet sich nach
Einschätzung des Verfassungsschutzes
weiter im Fadenkreuz des Islamischen
Staats (IS). „Der IS will auch Anschläge
gegen Deutschland und deutsche Interessen durchführen“, sagte Hans-Georg
Maaßen, Präsident der Behörde, der
„Welt am Sonntag“. Das islamistischterroristische Potenzial hierzulande liege bei etwa 1100 Personen. „Deutsche
Städte werden in einem Zusammenhang
mit anderen Metropolen wie Paris, London oder Brüssel genannt“, sagte Maaßen. Er halte die Sicherheitslage für sehr
ernst, es lägen aber keine Erkenntnisse
über konkrete Pläne für Anschläge in
Deutschland vor. In der IS-Propaganda
würden Anhänger aufgerufen, auf eigene
Faust Anschläge auch in Deutschland
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durchzuführen.
n der hiesigen Bildungspolitik
herrscht eine merkwürdige Tonnenideologie vor. Stetig steigende
Abiturientenzahlen, immer bessere
Notendurchschnitte und übervolle
Universitäten gelten Politikern als
Indizien dafür, dass Deutschland seinem Ruf als Bildungsnation alle Ehre
macht. Die Wirklichkeit sieht indes
ganz anders aus, wie eine Studie der
CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung aufzeigt. Hochschulen und Betriebe schlagen Alarm. Denn ein
wachsender Anteil der Schulabgänger kann offenbar weitaus weniger,
als dies die Zeugnisse suggerieren.
Eklatante Mängel in der Rechtschreibung, Probleme in grundlegenden Bereichen der Mathematik und
Defizite beim Textverständnis sind
mittlerweile so verbreitet, dass Universitäten und Betriebe immer häufiger „nachholenden Schulunterricht“ betreiben müssen. Doch selbst
intensive Nachhilfe kann nicht verhindern, dass immer mehr junge
Leute in ihrer Ausbildung oder im
Studium scheitern. Das ist nicht nur
für die Betroffenen eine Katastrophe, sondern auch für die Wirtschaft, die angesichts des zunehmenden Fachkräftemangels auf niemanden verzichten kann.
Weil die Politik aus ideologischen
Gründen die Schulen unter Erfolgsdruck setzt, betreiben die Lehrer
Noten-Lifting und lassen selbst die
Schwächsten nicht durchfallen. Hinzu kommt, dass Hausaufgaben und
umfängliche Lektüre heutzutage den
Schülern kaum mehr zugemutet werden, weil statt der herkömmlichen
Fachkenntnisse eher allgemeine
Kompetenzen erworben werden sollen. Die Professoren bemängeln,
dass auf diese Weise zwar das Schwafeln, nicht aber die notwendigen
Grundlagen gelernt würden. Das
Problem: Im späteren Arbeitsleben
kommen die Dünnbrettbohrer meist
nicht weit. So erspart man der Jugend von heute zwar das Sitzenbleiben in der Schule, doch ein verstolperter Berufsstart ist viel schlimmer.
Die Inflation des Abiturs ist ein Irrweg. Vor allem die Schwächeren gehen in großen Klassen mit einer zunehmend heterogenen Schülerschaft
unter. Zwar erhalten die meisten von
ihnen dennoch die Studienberechtigung – doch studierfähig sind sie deshalb noch lange nicht. Aber auch den
Begabten schadet diese Bildungspolitik. Denn wer sich überhaupt nicht
anstrengen muss, um ans Ziel zu
kommen, wird demotiviert. Auch mit
den sozialen Kompetenzen hapert es
vielfach, wie die Arbeitgeber klagen.
Denn viele Jugendliche hätten nie gelernt, mit Misserfolgen konstruktiv
umzugehen. Kein Wunder, dass zu
viele bei den ersten Schwierigkeiten
gleich aufgeben.
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PANORAMA
Supercool, wir können ausschlafen!
Erzbischof ist
uneheliches Kind von
Churchills Sekretär
Ein Gymnasium in der Nähe von Aachen überlässt seinen Schülern, ob sie zur ersten Stunde oder lieber später kommen wollen
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LOTTO:
1 – 4 – 38 – 39 – 46 – 47
Superzahl: 2
Spiel77: 0 1 7 7 1 8 4
Super6: 2 5 5 8 1 8
ohne Gewähr
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„Börse am Mittag“ und
„Börse am Abend“
mit Dietmar Deffner
Um 12.45 und 18.15 Uhr
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A
ndere Schüler könnten glatt neidisch werden: Oberstufenschüler des Gymnasiums in Alsdorf bei Aachen dürfen länger
schlafen, wenn sie wollen. Sie können wählen, ob sie direkt
zur ersten Stunde um acht Uhr kommen oder zur zweiten gegen
neun Uhr. „Supercool, wir können ausschlafen“, ist Schulsprecher
Lars Meyer kurz nach dem Start immer noch begeistert. Als erste
Schule in Deutschland gehe das Alsdorfer Gymnasium auf die innere
Uhr von Jugendlichen ein, sagt der Chronobiologie-Professor Till
Roenneberg von der Ludwig-Maximilians-Universität München. Die
tickt nämlich anders als bei Erwachsenen: Bei der Synchronisation
mit dem Tag-Nacht-Rhythmus geht die innere Uhr der meisten Jugendlichen etwa bis zum 20. Lebensjahr nach. Sie können erst später
einschlafen. Müssen sie entgegen ihrer biologischen Uhr schon um
acht in der Schule sein, entsteht ein „sozialer Jetlag“. Drei Viertel der
Jugendlichen hätten damit zu kämpfen, sagt Roenneberg, die Schüler
sitzen dann halb schlafend im Unterricht. Außerdem fällt der wichti-
ge Anteil des Schlafes weg, der das erlernte Wissen vom Vortag konsolidieren soll. Die Wissenschaft fordert demnach seit zehn Jahren
einen späteren Unterrichtsbeginn. Das wird auch in der Politik gehört. Für einen späteren Schulbeginn müsse es einen Wandel in der
Wirtschaft geben, hatte Familienministerin Manuela Schwesig (SPD)
im vergangenen Jahr dem „Spiegel“ gesagt. Nach Einschätzung von
Eltern passe ein späterer Unterrichtsbeginn nicht zur Arbeitswelt.
Aber in die Lebenswelt der Jugendlichen: „Die erste Stunde war
immer eine Quälerei für mich. Ich war noch nicht richtig wach“,
erzählt der 17-jährige Luca Diehr in Alsdorf. Jetzt kommt er meistens
erst zur zweiten Stunde und fühlt sich fit. Es gibt – wenngleich seltener – aber auch Schüler wie Milena Kandetzki, 17: „Ich habe kein
Problem, früh aufzustehen, und komme immer zur ersten Stunde.“
Möglich werde die Gleitzeit in Alsdorf durch das besondere Unterrichtskonzept, wie Schulleiter Wilfried Bock sagt. Unterrichtet wird
nach dem Dalton-Plan der US-Pädagogin Helen Parkhurst. Neben
den herkömmlichen Stunden können sich die Schüler pro Woche
zehn Unterrichtsstunden selbst einteilen, um gestellte Aufgaben
eigenständig zu lösen. Dabei arbeiten Schüler aus unterschiedlichen
Klassen und Jahrgängen insgesamt zwei Stunden am Tag bei einem
Lehrer ihrer Wahl. Sie entscheiden selbst, mit wem sie arbeiten und
woran. Joelle und Julia, beide 16, sind morgens schon zur ersten
Stunde gekommen und machen Bio, andere lernen im selben Klassenraum Englisch oder Mathe. Wenn die Stunde herum ist, bekommen
sie vom Lehrer einen Stempel.
Luca Diehr schläft lieber aus und holt den Unterricht nach: „Früher haben wir in den Freistunden Karten gespielt, jetzt arbeitet man
und kann dafür länger schlafen.“ Wie verändert sich der Schlaf der
Schüler durch die Umstellung, fragt Wissenschaftler Roenneberg. Er
hat die Einführung der Gleitzeit wissenschaftlich begleitet, Daten
vorher und nachher erhoben. Das Ergebnis der Auswertung wird im
Sommer erwartet.
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