- Deutsche Mittelstands Nachrichten

Ausgabe 14
15. April 2016
Deutsche
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Finanzen
Die Renten in Deutschland sind nicht sicher
Anders als in den USA beruht das deutsche Rentensystem nicht auf Aktien, sondern auf festverzinslichen Papieren
I
n den 90er Jahren hat Deutschland im
Zuge der EU-Vorgaben die Versicherungsbranche dereguliert. Dadurch wurde
der Markt stärker für Unternehmen außerhalb der europäischen Grenzen geöffnet. Der Konkurrenzdruck stieg, zahlreiche Vorschriften wurden abgeschafft. Eine
entsprechende EU-Richtlinie hatte Vorschriften über Tarife, Prämien, Garantien
und Leistungen aufgehoben. In Deutschland war bis zu diesem Zeitpunkt der Garantiesatz traditionell von der Aufsicht
festgelegt worden. Eine neue Formel für
den Garantiesatz im Neugeschäft sorgte
dafür, dass die Unternehmen den Neukunden im Kampf um Marktanteile über Jahre
zu hohe Garantien versprachen. Auf bis zu
vier Prozent wurden die Garantiesätze angehoben, trotz tendenziell sinkender Renditen. Der Trend hielt bis 2003 an.
Die nun seit fast eineinhalb Jahren anhaltenden Niedrigzinsen führen
dazu, dass die Versicherer bei den hohen garantierten Renditen draufzahlen. Lag der nominale Durchschnitts-
Die EU-Politik gefährdet deutsche Renten.
Foto: Flickr/Metropolico.org/CC by sa 2.0
zins der gesamten Tagesgeldangebote
bei einer Anlagesumme von 10.000
Euro im März noch bei 0,30 Prozent,
sind es inzwischen nur mehr 0,08 Prozent. Mittlerweile geben 96 von 800
Banken bei einer Anlage von 10.000
Euro schon gar keine Zinsen mehr. Vor
Draghis Entscheidung im März waren
es 55 Banken, vor zwei Jahren lediglich
zwei.
Die Lage der Versicherer wird durch
eine Verschärfung der Regulierung an
anderer Stelle verschärft: Das zu Beginn des Jahres in Kraft getretene Regularium Solvency II zwingt die Versicherungen, einen größeren Kapitalpuffer
anzulegen, und verbietet gleichzeitig
die Anlage der Vermögen in riskantere
Anlageformen. Dieser Schritt soll die
Branche auf festere Beine stellen, entzieht ihr jedoch auch noch die letzte
Möglichkeit, zumindest den vor Jahren
gewährten Garantiezins zu erreichen.
Immobilien und Aktien sind durch
die neue Regulierung kaum mehr als
Anlagemöglichkeit für die Versicherungen greifbar. Für die Investition in Aktien müssen 49 Prozent des Investments
mit Eigenkapital gesichert werden, bei
Immobilien sind es mittlerweile 25 Prozent. Angesichts der schwierigen finanziellen Situation vieler Versicherer ist
dies kaum durchführbar.
Als von der EU einzig richtige, sichere Anlageform für Versicherungen
werden Staatsanleihen gesehen. Sie
Analyse
Deutsche Steuern sind zu hoch
Deutschland hat mit Belgien und
Österreich die höchsten Steuerabgaben
in der EU. Vor allem bei den Zweitverdienern sei die Last sehr hoch. Hier diene sie
eher dazu, diese von der Erwerbstätigkeit
abzuhalten, kritisiert die OECD in ihrem
Länderbericht zu Deutschland.
„Die Gesamtbelastung von Arbeitseinkommen durch Steuern und Sozialabgaben liegt in Deutschland nach wie
vor weit über dem OECD-Durchschnitt“,
heißt es im aktuellen Länderbericht der
OECD. Bei einem alleinstehenden Durchschnittsverdiener beispielsweise sei nur
in Belgien und in Österreich die Belastung durch Sozialabgaben und Steuern
höher als in Deutschland.
2015 habe die Belastung alleinste-
hender Durchschnittsverdiener nahezu
unverändert bei 49,4 Prozent der Arbeitskosten gelegen, erklärte die Organisation
für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung. In Österreich und Belgien
liegt sie bei 49,5 und 55,3 Prozent. Der
Durchschnitt in der Organisation, die 34
Mitgliedstaaten zählt, jedoch liegt bei
35,9 Prozent. Um die Steuer- und Abgabenlast auf Arbeit zu senken, empfiehlt
die OECD beispielsweise eine stärkere Besteuerung von Immobilien.
Sie kritisiert zudem, dass vom deutschen Steuersystem Fehlanreize ausgingen. Regeln wie das Ehegattensplitting
oder die beitragsfreie Versicherung nichterwerbstätiger Partner verringerten die
Motivation, eine Arbeit aufzunehmen.
Denn die Steuerbelastung steige stark,
wenn in einem Haushalt eine zweite Person eine Beschäftigung aufnehme. „Hohe
Steuern und Abgaben für Zweitverdiener
entmutigen vor allem Frauen, erwerbstätig zu werden“, sagte OECD-Direktor Pascal Saint-Amans. „Bei der Gestaltung des
Steuersystems sollte die Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen
stärker berücksichtigt werden. In jedem
Fall sollte das Steuersystem bestehende
Ungleichheiten nicht noch verstärken.“
Erst Anfang des Monats hatte sich
die OECD an die deutsche Bundesregierung mit Verbesserungsvorschlägen gewandt. Damals forderte sie eine weitere
Anhebung der Renten und den Ausbau
der Kinderbetreuung.
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müssen nicht mit Kapital unterlegt
werden. Allerdings führt der massive
Anleihekauf der EZB hier dazu, dass
die Rendite bei etlichen Staatsanleihen
ebenfalls extrem niedrig ist oder sogar
im negativen Bereich liegt. Durch den
Ankauf sind auch immer weniger solche Papiere auf dem Markt.
Der Bundesregierung kommt die
neuerliche Diskussion um unsichere
Renten nicht gelegen. Knapp eineinhalb Jahre vor der Bundestagswahl
wollen beide Regierungsparteien die
Gunst der Rentner mit Geschenken
gewinnen. CSU-Chef Horst Seehofer
brachte eine Erhöhung der Altersbezüge ins Gespräch. Arbeitsministerin
Andrea Nahles kündigt ein neues Rentenkonzept an. Bundesfinanzminister
Schäuble attackiert die EZB und fordert
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eine Wende in der Zinspolitik. Der IWF
dagegen unterstützt die Negativzinsen
– aus verständlichen Motiven: In den
USA stehen ebenfalls Wahlen an, und
die sind noch bedeutsamer als jene in
Deutschland. Ein langfristiges Konzept
fehlt allen Beteiligten, weil das Leben
auf Kosten der künftigen Generationen
bisher zum Standard-Repertoire der internationalen Politik gehört hat.
Unternehmen
Panama-Papers: EU will Unternehmen stärker durchleuchten
Zukünftig sollen Unternehmen die in der EU aktiv sind, Auskunft über ihre Aktivitäten in der EU und in Steueroasen geben
J
edes Jahr entgehen den EU-Ländern
Steuereinnahmen in Höhe von 50 bis
70 Milliarden durch aktive Steuervermeidung von Unternehmen. Angesichts des
wachsenden Drucks durch die Veröffentlichungen der Panama Papers will deshalb
nun auch die EU erste Konsequenzen ziehen. Ein neuer Vorschlag der EU-Kommission sieht vor, die Steuerzahlungen multinationaler Unternehmen transparenter
zu machen.
„Die Bekämpfung der Steuervermeidung gehört zu den wichtigsten Anliegen
dieser Kommission“, sagte Vizepräsident
Valdis Dombrovskis. Eine enge Zusammenarbeit zwischen den Finanzämtern
müsse Hand in Hand gehen mit öffentlicher Transparenz. „Heute machen wir
Informationen über die von multinationalen Unternehmensgruppen gezahlten Ertragssteuern für die Öffentlichkeit
leicht zugänglich, unter angemessener
Wahrung der Geschäftsgeheimnisse und
ohne zusätzlichen Verwaltungsaufwand
für KMU.“ Mit der Verabschiedung dieses
Vorschlags stelle Europa unter Beweis,
dass es gewillt ist, bei der Bekämpfung
von Steuervermeidung eine Vorreiterrolle
zu spielen, so Dombrovskis weiter.
Unternehmen mit weltweiten Einnahmen von mehr als 750 Millionen Euro
pro Jahr, sollen diese zukünftig komplett
aufschlüsseln und angeben, wo sie ihre
Steuern zahlen. Das soll auch für Unternehmen gelten, die nicht aus der EU kommen, hier aber tätig sind. EU-Schätzungen
zufolge würde diese neue Regelung europaweit etwa 6.000 Konzerne betreffen, in
Deutschland rund 1.200 Unternehmen:
„Die Bekämpfung der Steuervermeidung gehört zu den wichtigsten Anliegen dieser Kommission“, sagte Vizepräsident Valdis Dombrovskis.
Foto: EU-Kommission
„Diese Angaben werden fünf Jahre
lang verfügbar bleiben. Hintergrundinformationen (Umsatz, Beschäftigte und Art
der Geschäftstätigkeit) werden eine fundierte Analyse ermöglichen und müssen
für jedes EU Land veröffentlicht werden,
in dem ein Unternehmen tätig ist, sowie
für diejenigen Steuergebiete, die die internationalen Standards für verantwortungsvolles Handeln im Steuerbereich nicht
einhalten (sogenannte Steueroasen). Ferner müssen für die Geschäftstätigkeit in
anderen Steuergebieten weltweit aggregierte Zahlen veröffentlicht werden. Der
Vorschlag wurde sorgfältig austariert, um
zu gewährleisten, dass keine vertraulichen
Geschäftsinformationen
veröffentlicht
werden.“
Die Vorschläge, die noch mit dem EUParlament und den Mitgliedsländern abgestimmt werden müssen, wurden schon
seit Monaten ausgearbeitet. Als Reaktion
auf die Enthüllungen der Panama-Papers
zur Nutzung von Briefkastenfirmen in
Mittelamerika weitet die EU-Kommission
die geplante Regelung nun auch auf Firmengeschäfte in Steueroasen aus. Allerdings müssten sich die EU-Staaten dafür
zunächst auf eine gemeinsame Liste einigen, welche Länder sie außerhalb der
Union als Steueroasen brandmarken wollen. Anläufe für solch einen einstimmigen
Beschluss sind in der Vergangenheit stets
gescheitert.
Die deutsche Industrie sieht den
EU-Vorschlag kritisch. „Ein öffentliches
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Country-by-Country-Reporting führt zu
Wettbewerbsnachteilen von deutschen
und europäischen Unternehmen gegenüber anderen OECD- und G20-Ländern im
internationalen Wettbewerb“, sagte BDI-
Hauptgeschäftsführer Markus Kerber.
Mitbewerber würden durch die Veröffentlichungspflicht sensibler Unternehmensdaten auf Unternehmensstrukturen und
Margen schließen. „Vor allem, wenn ein
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Unternehmen nur ein Großprojekt in einem Land verantwortet, erkennen die Mitbewerber aus aller Welt die Projektstrukturen der erfolgreichen Unternehmen aus
Europa.“
Innovation
Generator macht Auto fast emissionsfrei
Forscher des Fraunhofer Instituts erproben seit April auf hessischen Straßen den GEV/one
Der GEV/one emittiert weniger als 80 Gramm CO2 auf 100 Kilometer.
A
n eine Million elektrische Fahrzeuge
auf Deutschlands Straßen bis 2020
glaubt kaum einer mehr. Nichtsdestotrotz gehen die Entwicklungen in Sachen umweltfreundlichere Autos weiter.
Mitarbeiter des Fraunhofer Instituts für
Betriebsfestigkeit und Systemzuverlässigkeit LBF haben ein Auto entwickelt,
dass eine noch bessere Umweltbilanz als
die bisherigen Elektroautos haben soll.
Denn nicht jeder Strom aus der Ladestation bzw. aus der Steckdose kommt von
Erneuerbaren Energien. Seit April ist der
GEV/one nun in Hessen auf Testfahrt.
GEV/one steht für generatorelektrisches Versuchsfahrzeug. Den
Wissenschaftlern zufolge nutzt es ausschließlich alternative Kraftstoffe und
unterscheitet die „jetzigen und künftigen CO2-Emissionsgrenzwerte deutlich“. Das Fraunhofer-Auto ist mit einem
Einzylinder-Motor ausgestattet und
kann seine benötigte elektrische Energie
selbst erzeugen. Ein Erdgasmotor und
ein elektrischer Generator sorgen dafür,
dass dem GEV/one nicht die Puste ausgeht.
Sollte auch mal schnell eine überdurchschnittliche Leistung (Beschleunigung) notwendig sein, steht zudem noch
ein 10 Kilowatt-Lithium-EisenphosphatAkkumulator zur Verfügung. Damit kann
auch die Bremsenergie aufgenommen
werden. Für Autobahnstrecken mit einem Tempo von 120 Kilometer pro Stunde und mehr wird ebenfalls auf die Batterie zurückgegriffen. „Beim Betrieb des
Erdgasmotors entstehen 20 Prozent weniger CO2-Emissionen als bei Benzinern
sowie deutlich verringerte NOx- bzw.
HC-Emissionen“, so die Wissenschaftler.
Auf 100 Kilometer emittiert das Fahr-
Foto: Fraunhofer LBF
zeug nach eigenen Angaben weniger als
80 Gramm CO2.
Die Energiebilanz des Fahrzeugs sei
damit „grüner“ als die von batterieelektrischen Fahrzeugen und habe mit überschüssigem Strom aus der Windenergie
sowie Power-to-Gas Anlagen sogar die
Perspektive für eine komplett CO2-neutrale Mobilität.
Der Generator hat neben der guten
Emissionsbilanz auch noch einen weiteren Vorteil. Dank ihm ist die Reichweite
des Fahrzeugs nicht begrenzt. Eine gute
Ladestationen-Infrastruktur ist nicht
notwendig. „Wir kombinieren in intelligenter Weise vorhandene Technologien
zu einem neuen Fahrzeugkonzept und
heben damit einige der fundamentalen
‚Nachteile‘ der Elektromobilität auf“, so
Rüdiger Heim, Bereichsleiter Systemzuverlässigkeit im Fraunhofer LBF.
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Innovation
Solarzelle gewinnt Energie aus Regen und Sonne
Wissenschaftler haben eine Solarzelle entwickelt, die auch aus Regentropfen Energie gewinnen kann
Diese zweidimensionale Struktur führt
zu
außergewöhnlichen Eigenschaften.
Erst im Jahr 2004
konnte von ein Forscherteam um Andre
Geim und Konstantin
Novoselov die stabile Existenz des Graphens nachgewiesen
werden. Für die Entdeckung seiner ungewöhnlichen Eigenschaften erhielten sie
2010 den Nobelpreis
für Physik. Obwohl
G r a p h e n s c h i c ht e n
extrem dünn sind, ist
das Material hoch fest
und widerstandsfähig. Ein weiterer Vorteil von Graphen ist
seine Leitfähigkeit.
So konnten WissenTreffen Regentropfen auf die Graphen-Beschichtung der Solarzelle, funktioniert das Graphen wie eine Elektrode, die aus den
schaftler aus den USA
Regentropfen die Ionen bindet.
Foto: Flickr/ julian/CC by sa 2.0
mit Diamant und Graphen supergleitfähige
aus
Graphen
überzogen.
Nanopartikel
entwickeln.
Auf atomarneuerbare Energien haben in den
vergangenen Jahren stark an Bedeu- Treffen Regentropfen auf die Graphen- rer Ebene kommt es normalerweise zu
tung gewonnen. Doch noch immer gibt Beschichtung der Solarzelle, funktio- Reibung, wenn Atome in Materialien,
es Aspekte, die diese Art der Energiege- niert das Graphen wie eine Elektrode, die gegeneinander geschoben werden,
winnung für Kritiker angreifbar machen. die aus den Regentropfen die Ionen sich quasi verhaken. Hier muss dann
So geht die Suche nach dem effektivsten bindet. Dabei bilden die positiv gelade- zusätzliche Energie aufgebracht werSpeichermedium für die Energien wei- nen Ionen aus dem Regenwasser und den, um diese Verhakung wieder zu
ter und die starke Abhängigkeit vom eine doppelte Schicht aus Elektronen lösen. Wenn aber die Diamantpartikel
Wetter schränkt die Stromgewinnung im Graphen einen natürlichen Kon- mit den „Graphen-Patches“ gegen eine
weiterhin ein. Regen oder starke Bewöl- densator. Die elektrische Potentialdif- große, diamantartige Kohlenstoffoberkung beispielsweise sind zur Gewinnung ferenz genügt, um Strom zu erzeugen. fläche gerieben werden, passiert etwas
von Solarenergie alles andere als gern Allerdings fehlt es der neuen Solarzelle anderes: Die Graphene rollen sich um
gesehen. Ein Team chinesischer Wissen- noch an nötiger Effizienz. Nach An- die Diamantpartikel herum zu etwas,
schaftler hat sich dieses Problems nun gaben der Wissenschaftler kann diese das auf nanoskopischer Ebene einem
angenommen.
bisher nur rund 6,5 Prozent der erhal- Kugellager gleicht. Dadurch reiben die
Forscher der Ocean University of China tenen Energie auch umsetzen. Zum Materialien sich nicht, sondern gleiten
(Qingdao) and Yunnan Normal Univer- Vergleich: Die derzeit effizientesten quasi übereinander. „Die Interaktion
sity (Kunming) haben im Fachmagazin Solarmodule erreichen 22 Prozent des zwischen dem Graphen und dem dia„Angewandte Chemie“ eine neue Solar- Sonnenlichts.
mantartigem Kohlenstoff ist wesentlich
zelle vorgestellt. Diese kann mit Son- Graphen ist in Wissenschaftskreisen ein für die Wirkung der Supergleitfähigkeit“,
ne und Regen Strom produzieren. Das beliebtes Material. Es besteht aus einer sagt Ali Erdemir, einer der Forscher. „Die
Besondere: Die Solarzelle ist mit einer einzigen Schicht von bienenwabenför- beiden Materialien sind voneinander
hauchdünnen, transparenten Schicht mig angeordneten Kohlenstoff-Atomen. abhängig.“
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Wirtschaft
Britische Unternehmen fürchten Brexit
Immer mehr Investoren und Unternehmen aus anderen Ländern ziehen sich mit ihren Aktivitäten in Großbritannien zurück
A
m 23. Juni sollen die Briten über den
Verbleib ihres Landes in der EU entscheiden. Das Land ist gespalten. In keiner
Umfrage konnte bisher eine eindeutige
Mehrheit für einen Verbleib oder einen
Austritt gefunden werden. Trotz des ausstehenden Referendums spüren viele
britische Unternehmen die potentiellen
Folgen eines Brexits schon.
Für die britischen Finanzvorstände ist das
derzeit größte Risiko ihrer Unternehmen
bei einem Austritt Großbritanniens aus
der EU zu finden. Drei Viertel der von Deloitte befragten Vorstände nannten einen
Verbleib des Landes in der EU vorteilhaft
für ihre Unternehmen. Ende des vergangenen Jahres waren es nur 62 Prozent. Es
gebe bereits spürbar weniger Fusionen
und Übernahmen, da Pläne aufgrund der
hohen Unsicherheit hinsichtlich des Referendums in der Schublade liegen bleiben,
so David Sproul von Deloitte. Bisher haben der Umfrage zur Folge ein Viertel der
Unternehmen bereits einen Notfallplan.
„Eine Entscheidung für einen Austritt
Großbritanniens aus der Europäischen
Union („Brexit“) würde zu anhaltender
Unsicherheit führen und wäre negativ
für die Bonität der in Großbritannien ansässigen Unternehmen aus der Automobilbranche, dem verarbeitenden Gewerbe,
der Nahrungsmittel- und Getränkeindustrie sowie dem Dienstleistungssektor“, hieß
es von der Ratingagentur Moody’s zum
Referendum. „Das größte Bonitätsrisiko,
das sich für die Unternehmen aus einem
Brexit kurzfristig ergeben könnte, besteht
Rund 43 Prozent der vom Umfrageinstitut ICM befragten Briten wollen den Brexit, 41 Prozent sprechen sich für den Verbleib in der EU aus.
Foto: Flickr/Medill DC/CC by 2.0
in der Unsicherheit, die sich in Bezug auf
Handelsbeziehungen,
Branchenregulierung und Arbeitsmobilität ergeben würde“:
„Ohne neue Vereinbarungen würden nach
einem Brexit für viele britische Unternehmen EU-Einfuhrzölle gelten, so z. B. 10
Prozent auf Automobile, was für Hersteller wie Jaguar Land Rover Automotive Plc
(Ba2, positiv) oder Aston Martin Holdings
(UK) Limited (B3, stabil) relevant wäre.
Von neuen Zöllen oder zollunabhängigen
Handelsschranken könnten ferner die Lieferketten derjenigen Unternehmen aus
dem verarbeitenden Gewerbe betroffen
sein, die Waren aus der EU einführen. (…).“
Mitte der Woche warnte der IWF vor einem Brexit. Dieser könnte global und
regional schweren Schaden anrichten,
da er etablierte Handelsbeziehungen unterbrechen würde, so IWF-Chefökonom
Maurice Obstfeld. „Wenn die Briten sich
dazu entscheiden, die EU zu verlassen,
werden viele Dinge geschehen. Es wird
eine große Unsicherheit entstehen –
nicht nur bezüglich Großbritanniens,
sondern bezüglich der gesamten Europäischen Union“, sagte auch der Ökonom Nouriel Roubini jüngst in einem
Gespräch mit dem Nachrichtensender
Bloomberg.
Die EU hat extra aufgrund des ungewissen Ausgangs des Referendums nun auch
einen geplanten EU-Gipfel verschoben.
Dieser hätte am 23. und 24. Juni stattfinden sollen. Nun soll er einige Tage nach
dem Referendum stattfinden, sodass der
Gipfel genutzt werden kann, um mögliche Konsequenzen über den Ausgang zu
ziehen.
Finanzen
Die EZB steht vor einem monumentalen Fehler
Mit der Politik der Negativzinsen und dem Ankauf von weiteren Staatsanleihen macht die EZB einen monumentalen Fehler
A
nderthalb Jahre des Aufruhrs an Rohstoff-, Währungs-, Aktien- und Kreditmärkten sind nicht ohne Spuren bei den
Entscheidungsträgern der Wirtschaftspolitik vorbeigegangen. Am aktivsten und in
gewissem Sinn am aggressivsten haben die
Ratsmitglieder der EZB reagiert. Sie wollen
den zarten, noch nicht breit abgestützten
Aufschwung in der Eurozone nicht gefährden. Leider soll diese löbliche Absicht über
die falsche Politikrezeptur umgesetzt werden.
EZB-Präsident Draghi hat wie schon
mehrfach zuvor die Märkte auf eine weitere geldpolitische „Lockerung“ vorbereitet.
Damit setzt er auch seine Ratskollegen im
Entscheidungsgremium unter Druck. Die
Absenkung des Leitzinses auf Null war vorprogrammiert. Übereinstimmend wurde
an den Märkten diese weitere Drehung
an der Zinsschraube erwartet. Der öffentliche Diskurs der Bundesbank gegen diese
Agenda ist ein untrügliches Anzeichen,
dass diese beiden Elemente Kernstücke
des Maßnahmenpakets darstellen werden.
Die geplante Abschaffung der 500-Euro-
Scheine deutet darüber hinaus darauf hin,
dass die Politik der Negativzinsen sogar
noch weiter ausgebaut werden soll. Diese
Agenda wäre ein sehr folgenschwerer Politikfehler.
Die Geldpolitik der EZB orientiert sich
an einem Inflationsziel für den harmonisierten Konsumentenpreisindex (hicp).
Als Preisstabilität wird seit der Gründung
der EZB willkürlich, d.h. ohne weitere empirische Fundierung, eine Jahresveränderungsrate des hicp von knapp unter 2
Prozent definiert. Dieses Ziel wird primär
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über Variationen der Interventionssätze/
Zinsen der EZB als geldpolitischem Instrument angepeilt. Seit Mai 2015 gehören
zusätzlich sehr bedeutende, monatliche
Staatsanleihenkäufe im Rahmen des TLTRO-Programmes zum Instrumentarium
der EZB. Sie stellen die Eurozonen-Variante der Politik der Quantitativen Lockerung
dar.
Im heutigen ersten Teil des Artikels
argumentieren wir anhand oder innerhalb
dieses geldpolitischen Konzepts oder Korsetts der EZB. Im zweiten Teil stellen wir
die Limiten und Fehler dieses Konzepts
bezogen auf die aktuelle Situation dar. Im
dritten Teil wird die Geldpolitik in einen
wirtschaftspolitischen Gesamtrahmen gestellt.
Die EZB stellt ihrem Mandat gemäß
immer die Abweichung der aktuellen Inflationsrate von der als Preisstabilität interpretierten Zone knapp unter 2 Prozent
in den Vordergrund, wenn sie geldpolitisch etwas verändern will. Das kann auch
als Antwort auf eine institutionelle Restriktion interpretiert werden. Die Gründerväter des Euro verpassten der EZB ein
sehr enges Korsett, gestalteten sie nicht als
vollwertige Zentralbank mit einem komplexen Mandat (Preisstabilität, Beschäftigung, Finanzstabilität) und vollem Instrumentarium aus. Sie ist vielmehr eine
hochpolitische Kompromiss-Anstalt mit
einem sehr eng definierten und einzigen
Ziel der Preisstabilität und hat auch heute noch ein begrenztes Instrumentarium
und Rahmenwerk.
Die EZB-Spitze operiert deshalb in einem noch viel schwierigeren Umfeld als
die amerikanische Notenbank. Spätestens
seit 2011 ist auch diese in einem sehr misslichen Rahmen blockierter Finanzpolitik
gefangen. Doch das institutionelle und
politische Terrain der EZB ist ein eigentliches Minenfeld. Um dieser institutionellen Restriktion zu entgehen, setzt die EZB
bisweilen alle möglichen Hebel und Argumentationsraster in Bewegung, wenn aus
ganz anderen Gründen etwas erreicht werden soll. Dabei strapaziert oder dehnt die
EZB auch mal ihr Mandat. Das Programm
der Staatsanleihenkäufe etwa ist eigentlich oder mindestens dem Buchstaben
nach unverträglich mit dem ursprünglichen Politikrahmen, der ein absolutes und
striktes Verbot monetärer Staatsfinanzie-
rung vorsah. Dass dieses Verbot wie viele
andere Restriktionen unsinnig ist, war von
Vornherein klar und bestätigte sich in der
Eurokrise.
Notenbankpräsident Draghi hat mit
einer Mischung von innovativer Geldpolitik, exzellentem Marketing und auch
hohem politischem Geschick beinahe die
Quadratur des Zirkels geschafft und in
der schweren Krise von 2011/12 den Euro
vor dem Aus bewahrt. Für Europa wäre
ein Euro-Kollaps damals eine Katastrophe
gewesen. In Einzelfällen wie Griechenland
oder Zypern hat die EZB auch mal ein
Mitgliedsland unnötig drangsaliert oder
fast stranguliert. Solche kleineren Kollateralschäden wurden im tonangebenden
Deutschland aber mit Befriedigung registriert, haben dort die Glaubwürdigkeit
gestärkt und den Handlungsspielraum
der neuen Politik und Notenbankspitze
erweitert.
Seit 2012 genießt Notenbankpräsident Draghi den Ruf des Magiers. Insbesondere an den Finanzmärkten hat Draghi
eine treue und ergebene Gemeinde von
Analysten, Händlern und Portfoliomanagern. Aber auch in der Politik wird der
EZB-Spitze Kredit eingeräumt. Wird von
der EZB etwas Neues angedacht, so stößt
dies nicht per se auf Ablehnung, sondern
durchaus auf Bewunderung, Unterstützung oder zumindest Goodwill.
Der zumeist opponierende, deutsche
Bundesbankpräsident darf für das Heimpublikum pflichtschuldigst protestieren
und Gegenargumente zusammenstellen.
Banken- und Versicherungsverbände dürfen Zweifel anmelden. Gralshüter der monetären Orthodoxie und detailbesessene
Vertragsjuristen protestierten zunächst
lauthals, inzwischen aber immer mehr
kleinlaut. In der Praxis wird dann das gemacht, was Draghi und seine Verbündeten
im Voraus subtil angedeutet hatten. So
dürfte es auch diesmal sein.
Doch diesmal hat der Notenbankchef
Draghi die falsche Richtung eingeschlagen. Er ist, wenn er nicht etwas völlig Unerwartetes aus dem Hut zaubert, im Begriff, einen monumentalen Politikfehler
zu begehen. Zumindest dann, wenn er die
Richtung Negativzinsen und Ausweitung
der Staatsanleihenkäufe fortsetzt, welche
er angedeutet hat und die von den Märkten so verstanden worden sind.
15. April 2016
Wohlbemerkt, es geht nicht darum,
geldpolitische Innovation gegenüber einer
Orthodoxie abzulehnen oder mangelnde
Vertragstreue zu monieren. Wenn dem
Buchstaben nachgelebt würde, gäbe es
den Euro wohl nicht mehr. In einer Krise,
wo Regeln und Strukturen sich als falsch
konzipiert erweisen, müssen die Entscheidungsmacher über den Schatten springen
können. Es geht aber darum, dass die jetzt
eingeschlagene Richtung schlicht unsäglichen geldpolitischen Unsinn repräsentiert
und dieses Experiment wohl mit einem
gewaltigen Katzenjammer enden wird. Illusionen, dass mit diesen Einwänden die
Entscheidung beeinflusst wird, muss man
sich nicht hingeben. Aber es soll im Voraus
und in aller Deutlichkeit geschrieben sein.
Die offizielle Darstellung präsentiert
sich wie folgt: Im Februar 2016 ist die vorläufig errechnete hicp-Inflationsrate auf
minus 0.2 Prozent gefallen. Das ist eine
nicht unbeträchtliche Abweichung von
der definierten Preisstabilität. Sie erweckt
gar den Anschein von aktuellen oder zukünftigen Deflationsrisiken. Doch der
hicp-Index ist von seiner Konstruktion
und Methodologie ein schwacher, unpräziser Inflationsmaßstab.
Die mit Abstand größte Position in
den Budgets der Haushalte fehlt in diesem
Index: Das sind die Wohnungskosten für
selbst bewohntes Wohneigentum. Nur die
Mieten effektiv fremdvermieteter Wohnungen und die Nebenkosten zählen im
hicp zu den Ausgaben für die Wohnung,
aber nicht die Kosten selbst bewohnten
Wohneigentums. In der Eurozone wohnen rund zwei Drittel der Bevölkerung in
den eigenen vier Wänden. Diese Wohneigentümer geben aber mehr als 80 Prozent der Ausgaben aller Haushalte für die
Wohnung aus, weil in vielen Ländern die
Mieter die unterste Einkommensgruppe
darstellen.
Dieser größte Ausgabenposten repräsentiert zwischen 15 und 20 Prozent der
Gesamtausgaben der Haushalte in der Eurozone. Der hicp schließt jene Komponente aus, welche in den USA mit Abstand das
größte Gewicht im Verbraucherpreisindex
(cpi) oder Deflator des privaten Konsums
(pce) innehat. Und dies obwohl die Quote der Wohneigentümer in der Eurozone
über derjenigen in den USA liegt. Der Index hat andere schwere Konstruktionsfeh6
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ler, aber das ist der bedeutendste.
flation/Deflation (starker PreisAuch die zweitgrößte Kompofall) auslösen würden. Zentrales
Element dieser Betrachtungsweinente ist im Übrigen konzeptuell
falsch berechnet.
se waren Formen oder BefürchDie Festlegung, dass die 2
tungen des automatischen TeuProzent Wachstumsrate des hicp
erungsausgleichs. Durch solche
auf Jahresbasis Preisstabilität beKlauseln werden Erdölschocks
auf die Nominallöhne und mit
deuten sollen, ist dadurch völlig
zeitlicher Verzögerung auf die
willkürlich und wissenschaftlich
Preise von Gütern und Dienstdurch nichts begründet. Angesichts dieser Defizite können die
leistungen überwälzt. In dieser
2 Prozent nur eine grobe IndikaBetrachtungsweise
gehören
selbstverständlich die Verbraution sein. Es gibt keine Rechtfertihicp-Inflationsrate und Komponenten.
Grafik: DWN, Quelle: EZB
gung für ein eng definiertes Inflacherpreise einschließlich der
Energiepreise in eine Zielvariable
tionsziel in dem Sinne, dass eine
der Geldpolitik.
geringe Abweichung ganz masWeil Teuerungsausgleichssive Aktionen der Zentralbank
nach sich ziehen sollte.
klauseln mit der Macht der GeUmgekehrt ist das Gewicht
werkschaften schwanden, hat
der Energiepreise im hicp durch
sich die Lohnsetzung zunächst
das Fehlen bzw. die nicht korrekte
in den USA und heute praktisch
Erfassung anderer zentraler Komüberall in Europa strukturell
verändert. Dieser Mechanismus
ponenten weit überhöht. Denn
existiert nicht mehr oder hat
die 15-20 Prozent Wohnkosten
quantitativ weitgehend an Behätten wie viele andere Komponenten eine Trägheit, aber auch
deutung verloren. In den USA
eine eigene Dynamik im zeitliging die Fed deshalb in den
hicp-Inflationsrate und Komponenten 2.
Grafik: DWN, Quelle: EZB
1990er Jahren dazu über, die Verchen Ablauf. Die Energiepreise
dagegen haben Schwankungen
braucherpreise und später den
wie keine andere Komponente. Es
Deflator des privaten Konsums
sind gewaltige Preissteigerungen und AbDas wirft sehr wichtige und grundle- exklusive der Preise von Energie und Nahstürze, die sonst ihresgleichen suchen. Sie gend geldpolitische Fragen auf. Es gibt in rungsmitteln als Referenzgröße heranzuwurzeln in Variationen der Erdölpreise. In der geldpolitischen Literatur vor allem in ziehen. 2012 kehrte die Fed zur früheren
Europa folgen auch die Erdgas- und Kohle- den Vereinigten Staaten sehr kontroverse Praxis zurück und betrachtet den Deflator
Meinungen, wie mit dem Phänomen Erd- des privaten Konsums als ihre Zielvariable.
preise diesem Muster.
Zu 2) In den 1970er und frühen 1980er
Empirisch sind rund 50 Prozent oder ölpreise konzeptuell umzugehen ist. Zwei
mehr der gesamten hicp Inflationsdyna- Fragen standen und stehen dabei im Vor- Jahren hatte die amerikanische Notenmik auf die Energiepreise zurückzufüh- dergrund:
bank jedes Mal bei einem Erdölschock die
1. Sollen die Energiepreise überhaupt Zinsen drastisch angehoben und so die
ren. Die Dynamik dieses Index über die
letzten 20 Jahre ist von den Energieprei- in eine Ziel-Variable für ein Inflationsziel Rezession erst ausgelöst oder mindestens
verstärkt. Vor allem amerikanische Ökosen als einzelner Komponente dominiert. eingehen?
2. Wie soll die Notenbank auf durch nomen, zuvorderst Ben Bernanke, empAlle anderen Komponenten mit Ausnahme noch der Nahrungsmittelpreise haben die Erdölpreise induzierte Inflations- oder fahlen deshalb, bei Erdölschocks (scharfen
Disinflationsschübe reagieren? Soll sie Preisanstiegen) die Leitzinsen nicht mehr
praktisch keine zyklische Varianz.
die Zinsen erhöhen oder zu erhöhen, sondern unverändert zu besenken oder belassen?
lassen oder sogar proaktiv abzusenken.
Zu 1) Seit den 1970er
Wichtig dabei war, dass Erdölschocks
Jahren dominierte in der nicht mehr nur oder primär als Angebots-,
Nationalökonomie zu- sondern als Nachfrageschocks begriffen
nächst dieVorstellung, wurden. Erhöhte Erdölpreise reduzieren
dass Erdölpreisschocks per se das verfügbare Einkommen der
auf andere Preise durch- Haushalte und führen zu einem Einbruch
schlagen und eine ver- des Konsums und teilweise der Investitioallgemeinerte Inflation nen. Wichtig für diese Interpretation wa(starker
Preisanstieg ren vor allem die Arbeiten von James Habeim Erdöl) oder Disin- milton und Alan Blinder. Bernanke schloss
Erdölpreise in USD und in ECU / EUR.
Grafik: DWN, Quelle BP
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15. April 2016
daraus, dass eine zusätzlich geldpolitische werden rund zwei Drittel der Energie im- EZB plant? Die Frage zu stellen ist zuminStraffung bei einem Erdölschock nur den portiert. Erdölschocks üben demzufolge dest legitim.
ohnehin schon scharfen Nachfrageein- erhebliche Nachfrageeffekte aus.
Die EZB riskiert, weil sie ein falsches
Der Einfluss der Energiepreise domi- Konzept der Inflationssteuerung und eine
bruch verstärken würde. Bernanke setzte
seine Erkenntnisse in der großen Rezes- niert alle anderen Effekte auf die hicp-In- problematisch, ja inadäquate Zielvariabsion von 2008 um, als er trotz vorüber- flationsrate. Er ist bei weitem der stärkste le auswählt, zum dritten Mal in ihrer Gegehend erhöhter Inflationsrate die Fed Faktor. Was man nicht beeinflussen kann, schichte einen folgenschweren geldpolitisollte nicht entscheidender Teil der Ziel- schen Fehler zu machen. Sie überreagiert
Funds Rate scharf absenkte.
In der Eurozone dagegen verharrt die größe des geldpolitischen Entscheidungs- auf starke Veränderungen der Rohölpreise.
EZB bei der klassischen Interpretation in prozesses sein. Von daher wäre es in der Sie interpretierte diese als Vorboten einer
Bezug auf Definition des Teuerungsin- Eurozone besser gerechtfertigt, den hicp Inflation, die sich nie materialisierte, und
dikators und geldpolitischer Reaktions- ex Energie als Zielvariable für die Geldpo- malt jetzt das Gespenst einer Deflation an
funktion. Die Energiepreise gehören zum litik zu nehmen. Hier zum Vergleich die die Wand. Eine solche Deflation ist ein efWarenkorb, der hicp wird inklusive Erd- Entwicklung beider Indikatoren: Die hicp- fektives Risiko, das aber locker vermieden
ölpreise betrachtet, und die Notenbank Inflationsrate lag im Jahresdurchschnitt werden kann, wenn die richtigen Schritte
erfolgen. Der erste solche
bemüht immer die ÜberFehler erfolgte 2008, der
wälzungsgefahren oder Inzweite 2011. Und dieser Dritflationserwartungen, wenn
ein Erdölschock gleich welte von 2016 riskiert, der bei
weitem
Folgenschwerste
cher Richtung auftritt.
von allen dreien zu werden.
Was wäre eigentlich
Im Jahr 2008 war
angemessen im Fall der Euder Finanzsektor auch in
rozone? Für die Eurozone
der Eurozone im Griff eisind die Öl- und Gaspreise
praktisch ein exogener Fakner schweren Finanz- und
Bankenkrise. Diese war im
tor. Sie werden nicht in Euro,
Herbst 2007 als Schwelsondern in Dollar gehandelt.
Die Eurozone hat keinen bebrand ausgebrochen, als
die Subprime-Krise immer
deutenden Einfluss auf die
weitere Kreise zog. Der InNachfrage, das haben China,
hicp-Inflationsraten.
Grafik:
DWN,
Quelle:
EZB
die Schwellenländer und der
terbankenmarkt brach auch
Dollarraum. Die Eurozone
in der Eurozone zusammen,
hat keine bedeutende eiweil die Banken gegenseitig
2015
bei
0
Prozent,
im
Februar
2016
bei
kein
Vertrauen
mehr hatten. Parallel dazu
gene Produktion von Erdöl und anderen
Rohstoffen. Sie werden importiert. Die Eu- minus 0.2 Prozent. Die hicp-Inflationsrate stiegen die Erdölpreise explosionsartig an.
rozone ist ein Preisnehmer auf den Welt- ex-Energie lag demgegenüber 2015 bei 0.9 In der Spitze im Mai 2008 erreichten sie
märkten. Veränderungen der Öl- und Gas- Prozent, im Februar 2016 bei 0.7 Prozent. fast 150 Dollar per Barrel. Für die Eurozopreise sind für die Eurozone primär ein Das sind lediglich rund 1 Prozent unter der ne bedeutete der Erdölschock schon allein,
Preiseffekt im Außenhandel, sie repräsen- recht willkürlich definierten Preisstabili- dass die gesamtwirtschaftliche Nachfrage
markant gedämpft wurde.
tieren veränderte Austauschverhältnisse tät.
Die Interbankenkrise entsprach zu(engl. terms of trade). Sie werden nicht von
Das Problem, abstrahiert man von
der Geldpolitik hervorgerufen.
den Erdölpreisen, liegt also darin begrün- sätzlich von einem massiven geldpolitiDie EZB kann sie nur insofern beein- det, dass die von der EZB beeinflussbare schen Schock. Denn die Banken vor allem
flussen, als der Dollarwechselkurs des Inflationsrate ganze 1 Prozent unter ihrem in den Peripherieländern, aber keineswegs
Euro von der Geldpolitik verändert wird. Zielwert liegt. Dabei repräsentiert der Zer- nur dort, vergaben Kredite besonders für
Der automatische Teuerungsausgleich in fall der Erdölpreise ein substantielles Kon- den Bau- und Immobiliensektor sowie für
Lohnklauseln ist in den letzten Jahrzehn- junkturprogramm für die Eurozone, vor Hypotheken und refinanzierten sie am Inten systematisch eliminiert worden. Die allem für den privaten Konsum. Die in den terbankenmarkt statt mit Kundengeldern.
letzten Überreste sind in der Eurokrise in Vordergrund gestellten Überwälzungsme- Das war das Geschäftsmodell der Banken
den Peripherieländern beseitigt worden. chanismen sind minimal. Der Erdölpreis in den Nullerjahren in der Eurozone. Die
Die gerade von Zentralbankiers gerne zi- wird nicht unendlich weiter sinken, son- Krise am Interbankenmarkt wirkte sich
tierten Überwälzungseffekte sind dadurch dern wahrscheinlich unterschießen und deshalb in einer sofortigen Kreditklemme
drastisch reduziert oder minimal gewor- sich dann irgendwo stabilisieren. Was ist bzw. -kontraktion an den Nicht-finanzielden. Hingegen hat die Eurozone massive das Problem? Gäbe es von daher irgendei- len Sektor aus. Die auf die hicp-InflationsNachfrageeffekte durch die Energiepreis- ne Notwendigkeit für extreme und einzig- rate fixierte EZB reagierte darauf – mit eischwankungen. Denn in der Eurozone artig geldpolitische Aktionen, wie sie die ner Verschärfung ihrer Zinspolitik.
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Die amerikanische Notenbank dagegen hatte die Leitzinsen bereits im Winter
2007/08 drastisch abgesenkt. Die hicp-Inflationsrate erreichte in der Spitze in den
Sommermonaten 2008 während zwei Monaten 4 Prozent, während die hicp-Inflationsrate ex-Energie auf 2.6 Prozent anstieg.
Parallel dazu stiegen auch die Nahrungsmittelpreise an, weil die Weltmarktpreise
für Weizen und andere agrarische Rohstoffe explodiert waren. Ohne Energie und
Nahrungsmittel überstieg die hicp-Inflationsrate die 2 Prozent nie. Trotzdem beließ die EZB die Geldmarktsätze auf dem
Stand von 4 Prozent und hob sie anfangs
Juli 2008 sogar noch auf 4.25 Prozent an.
Korrekt gewesen wäre eine zügige Zinssenkungsserie im Jahresverlauf 2008.
Die EZB hatte ein völlig einseitiges
oder einseitig interpretiertes geldpolitisches Konzept, das sich noch an einem
unbrauchbaren oder zumindest falsch
interpretierten Indikator orientierte. Die
Konsequenz des Ganzen: Die Eurozone geriet 2009 in eine außerordentlich scharfe
Rezession, viel gravierender als die Vereinigten Staaten. Die tiefste Rezession seit
den 1930er Jahren, von der sich die Eurozone nie mehr richtig erholte.
2011 wiederholte die EZB den gleichen
Fehler. Nach dem arabischen Frühling und
dem Angriff der Nato-Koalition auf das
Gaddafi-Regime in Libyen stiegen die Erdölpreise wieder über 100 Dollar per Barrel.
Sie blieben dort drei Jahre. Die hicp-Inflationsrate überstieg in einzelnen Monaten
im Jahr 2011 2.8 Prozent, doch ex-Energie
blieb sie klar unter 2 Prozent. Aufgrund
ihrer Fixierung auf die hicp-Inflationsrate
erhöhte die EZB die Leitzinsen im Jahresverlauf 2011 zweimal und schuf im Obligationenmarkt Erwartungen weiterer
Zinssteigerungen. Das Ganze geschah in
einem Umfeld der offenen EurozonenKrise.
Die Eurozone hatte sich keineswegs
von der Rezession erholt, die Arbeitslosigkeit war drastisch angestiegen. Griechenland, Irland und Portugal mussten sich
2010/2011 dem Troika-Diktat unterwerfen, andere Peripherieländer kamen unter
Druck. Dabei waren die letzten Reste von
Teuerungsausgleichsklauseln in den Vorjahren beseitigt worden. Die ganze Zinspolitik war ein einziger geldpolitischer
Fehler. Auf einen drastischen Nachfrageschock und auf eine erneute Interbankenkrise sattelte die EZB noch eine erhebliche Zinserhöhung drauf, die zusätzliche
Zinserwartungen schuf. Die EZB trug mit
ihrer verfehlten Geldpolitik erheblich
zur Eurozonen-Krise der Jahre 2011/2012
bei. Wiederum hatte sie mit Blick auf die
ausschließlich durch den Erdölschock verursachte Teuerungsbeschleunigung die
Zinspolitik prozyklisch verstärkend angepasst. Der Rest ist bekannt, die Eurozone
hat sich bis heute nicht wirklich von der
Eurokrise erholt.
Seit Jahresmitte 2014 sind die Erdölpreise drastisch eingebrochen, vergleichbar dem inversen Erdölschock von
1985/86. Ein willkommenes Konjunkturprogramm für die Eurozone, vor allem für
die krisengeplagten Peripherieländer. Die
hicp-Inflationsrate ist auf Null gefallen,
gegenwärtig sogar etwas darunter. Wiederum reagiert die EZB fast panikartig.
Sie führt Negativzinsen ein, installiert ein
riesig dimensioniertes StaatsanleihenKaufprogramm und bereitet eine Zukunft
mit noch viel mehr Negativzinsen vor –
beispiellose Aktionen, die einem gewaltigen, geldpolitischen Experiment entsprechen. Wäre die geldpolitische Lockerung
von 2 auf 1.5 Prozent erfolgt, würde man
ja nichts sagen. Aber der Marsch in strukturelle, auf lange Zeit angelegte Negativzinsen und die durch die Anleihenkäufe
erzwungen Verflachung der Zinskurve im
Negativzins- oder Nullzinsbereich sind
doch etwas anderes.
Die Geldpolitik der EZB wirkt als ein
prozyklischer Verstärker massiver Bewegungen der Energiepreise und im Kern
von Erdölschocks. Das ist ein schwerer
Fehler des geldpolitischen Konzepts, mit
seiner unmittelbaren Fixierung auf signifikante Abweichungen der hicp-Inflationsrate von der als knapp unter 2 Prozent definierten Preisstabilität. Die dominanten
Nachfrageeffekte der Erdölpreise werden
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unterschätzt, die Zinspolitik verstärkt die
Wirkung dieser Nachfrageeffekte.
In der heutigen Situation ist das Ganze noch erheblich riskanter. Signifikante
Deflationsrisiken bestehen zwar und sind
vorhanden, haben aber ganz andere Ursachen und müssen daher durch die Geld-,
Finanz- und allgemeine Wirtschaftspolitik ganz anderes angegangen werden. Der
Marsch Richtung Negativzinsen ist ein gigantischer, geldpolitischer Fehler, der die
Deflation von einer zusätzlichen Front anheizen würde.
Anfang April hat deshalb auch erstmals Bundesfinanzminister Wolfgang
Schäuble überraschend deutliche Kritik an
der EZB-Politik geäußert. Schäuble räumt
ein, dass die Deutschen bei den aktuellen
Zinsen Probleme mit ihrer Altersvorsorge bekommen könnte. Tatsächlich ist das
System der deutschen Vorsorge und Pensions-Kassen massiv unter Druck.
Bundesfinanzminister
Wolfgang
Schäuble hat die ultralockere Geldpolitik
der Europäischen Zentralbank (EZB) kritisiert. „Man kann nicht bestreiten, dass die
Auswirkungen der Geldpolitik in Deutschland zunehmend euroskeptische Bestrebungen nähren in einem wachsendem
Teil der Bevölkerung“, sagte Schäuble auf
einer Veranstaltung der Universität Basel.
Die Währungshüter in Frankfurt stünden
vor dem Problem, eine Entscheidung für
19 Euro-Länder treffen zu müssen.
Schäuble drückt sich noch diplomatisch aus: Die einheitliche Geldpolitik wirke sich auf Deutschland weniger günstig
aus, als auf andere Staaten. Vor allem in
der älteren Bevölkerung stießen die niedrigen Zinsen auf Ablehnung – trotz der
niedrigen Inflation. „Preisstabilität kann
nicht bei null sein, sondern muss bei zwei
Prozent sein. Wenn es nicht ein bisschen
mehr wird, wird es in der Wahrnehmung
weniger“, sagte Schäuble. Bisher hat sich
Schäuble immer auf die Position zurückgezogen, dass die EZB unabhängig sei.
Doch die EZB schadet den deutschen Sparern. Die gravierenden und absehbaren
Folgen dieser Entwicklung scheinen nun
auch Schäuble zu beunruhigen.
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