1 Freitag, 15.04.2016 SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs

1
Freitag, 15.04.2016
SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs: Vorgestellt von Jürgen Kesting
Betörend kantabler Saxophonton
Brett Dean | Ross Edwards | Peter Sculthorpe
Island Songs
Amy Dickson, Sopran- und Altsaxophon
Sydney Symphony Orchestra
SONY CLASSICAL 88875169062
Dynamisch ausdifferenziertes Singen
Magdalena Kožená
Monteverdi
La Cetra • Andrea Marcon
Archiv Produktion 479 4595
Schlank singende Bässe
Jan Dismas Zelenka
Psalmi Vespertini I
Ensemble Inégal
Prague Baroque Soloists
Adam Viktora
Nibiru 01612231
Extreme Dynamik, extreme Tempi
Kaleidoscope
The new album by Khatia Buniatishvili
Mussorgsky: Bilder einer Ausstellung
Igor Strawinsky: Drei Sätze aus Petruschka
Ravel: La Valse
SONY CLASSICAL 88875170032
Faszinierende Begegnung mit japanischer Musik
Toshio Hosokawa
Voyage VIII | Voyage x nozarashi |
Stunden-Blumen | Arc song | Lied
Melvyn Poore | Tadashi Tajima |
ensemble musikFabrik | Peter Rundel, Ilan Volkov
WERGO WER 6860
Signet „SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs“ … heute mit Jürgen Kesting. Herzlich
willkommen! Mit den fünf Neuerscheinungen, die ich Ihnen in kommenden 87 Minuten
vorstelle, nehme ich sie mit auf eine musikalische Zeitreise. Sie beginnt im frühen
17. Jahrhundert mit Madrigalen und Arien von Claudio Monteverdi, gesungen von der
Mezzosopranistin Magdalena Kožená; danach folgt eine Anthologie von Versper-Psalmen
des böhmischen Komponisten Jan Dismas Zelenka mit dem Ensemble Inégal und den
Prager Barocksolisten. – Unter den Titel „Kaleidoscope“ hat die georgische Pianistin Khatia
Buniatishvili ihre CD mit Modest Mussorgskys „Bildern einer Ausstellung“, Maurice Ravels
„La Valse“ und Igor Strawinskys „Drei Sätzen aus Petruschka“ gestellt. Beschließen möchte
ich die Sendung mit zeitgenössischer Musik des japanischen Komponisten Toshio
Hosokawa.
2
Zunächst aber zu einem Spätstarter der klassischen Instrumente: dem Saxophon. Die
australische Saxophonistin Amy Dickson hat bei drei Komponisten ihres Kontinents Werke
für ihr Instrument in Auftrag gegeben. Zum Auftakt hören Sie den Beginn „Lament and
Yearning“ aus den „Island Songs“ von Peter Sculpthorpe:
Peter Sculpthorpe: ISLAND SONGS, „Lament and Yearning“ (Ausschnitt)
8:35
Der Beginn „Lament and Yearning“ aus den „Island Songs“ von Peter Sculpthorpe. Es ist
eine Tondichtung, die im ersten Teil auf Folk Songs zurückgreift, die im Zweiten Weltkrieg
auf der Thursday Insel vor Australien gesungen wurden. Der zweite Teil ist ein Angstgesang – Ausdruck der Furcht davor, dass die Insel als Folge des Klimawechsels in den
Wassern zu versinken droht. Amy Dickson wurde begleitet vom Sydney Symphony
Orchestra unter Benjamin Northey.
Das Saxophon, der Familie der Klarinetten zugehörig, wurde 1840 von dem belgischen
Instrumentenbauer Adolph Sax entwickelt und 1846 patentiert. Den Reiz des Instruments –
seinen kantablen Zauber – wussten insbesondere französische Komponisten – Adam,
Meyerbeer, Bizet, später auch Claude Debussy und Jacques Ibert – zu nutzen. Populär
wurde das Saxophon allerdings erst als Instrument des Jazz. Nun sieht ganz so aus, als
könne die in England lebende Australierin Amy Dickson für den Durchbruch auch in der
klassischen Musik sorgen. Mit ihrem Album „Dusk and Dawn“ – einer Folge von
Arrangements populärer Melodien wie Normas „Casta Diva“ – gelangte sie, als Sirene
nächtlicher Klänge beschrieben, auf den ersten Platz der Klassik-Charts in Großbritannien.
Komponisten wie Philip Glass und John Tavener fanden sich bereit, Solostücke, die sie für
andere Instrumente geschrieben haben, dem Saxophon Amy Dicksons anzuvertrauen. Für
„Island Songs“ – nun schon Dicksons sechstes Album – hat sie bei Peter Sculthorpe und
zwei weiteren australischen Komponisten konzertante Werke in Auftrag gegeben: „Siduri
dances“ von Brett Dean und „Full Moon Dances“ von Ross Edwards.
Seine Musik stecke, so schreibt Edwards im Beiheft, voller Symbole, die sich auf die Umwelt
und deren Gefährdung beziehen. Der Komponist verbindet Vogelstimmen und einfache
Gesänge, Summen und Dröhnen sowie Lieder aus aller Welt, auch der Ureinwohner
Australiens, Südostasiens und des mittelalterlichen Europa. Dem Altsaxophon ist die Stimme
der universalen Mond-Göttin zugewiesen, die in einem Sanctus über sordinierten Streichern
ihren Gesang anstimmt. Amy Dickson spielt dieses Sanctus mit einem betörend kantablen
und farbig changierenden Ton.
Ross Edwards: FULL MOON DANCES, „Sanctus“
5:55
Das „Sanctus“ aus den „Full moon dances“ von Ross Edwards. Amy Dickson wurde begleitet
vom Sydney Symphony Orchestra, dieses Mal unter Miguel Harth-Bedoya.
„Bald feierlich-ernst und ruhig, bald leidenschaftlich, dann träumerisch und melancholisch
wie ein abklingendes Echo oder wie die unbestimmten Wehen des Klagens im Walde“ – so,
schrieb Hector Berlioz in seiner Instrumentationslehre, könne das Saxophon klingen, er
kenne kein anderes Instrument mit diesem „seltsamen Klang, der bis an die Grenzen der
Stille geht“. Wie wir aus der Aufführungsgeschichte wissen, hat es immer besonderer
Interpreten bedurft, die ihrem Instrument Geltung verschafft haben. Amy Dickson könnte eine
solche Pionierin sein. Ihre neue CD ist bei Sony erschienen. Spricht es vielleicht für ein
neues Interesse am Saxophon, dass auch in Deutschland eine famose Saxophonistin
hervorgetreten ist: Asya Fatayewa als Preisträgerin des Deutschen Musikwettbewerb!?
Im Zentrum von Claudio Monteverdis musikalischem Denken stand die Frage nach der
dramatischen Sinnvermittlung: die Darstellung von Empfindungen und Gefühlen.
Ausgangspunkt seiner musikalischen Sprache ist die l’oratione. Dass damit nicht einfach die
Rede gemeint ist, sondern „das vom Affektgehalt eines Textes gesteuerte Sprechen“ macht
3
Magdalena Kožená mit ihrer neuen Anthologie auf nachdrückliche Weise sinnenfällig.
Geradezu seismographisch lässt sie spüren, wie die Melodie in all ihren Bögen und Linien
ebenso wie durch ihre quasi-rhetorischen Verzierungen die Leidenschaften zum Ausdruck
bringt – ob den Zorn (ira), die Mäßigung (temperanza) oder die Demut (humilità), die der
Komponist in seinem berühmten Traktat in den Mittelpunkt stellte.
Die Stimme von Magdalena Kožená ist voller und klangreicher geworden. Dies gereicht ihr
zum besonderen Vorteil bei der dramatischen Deklamation der Ottavia aus „I’Incoronazione
di Poppea“. Zu Beginn der Abschiedsszene der verstoßenen Königin – „Addio, Roma“ – hat
Monteverdi mit dem stammelnden Beginn – Zitat Ulrich Schreiber – „geradezu eine
Sprachstörung, ein Verstummen angesichts erlittenen Unrechts komponiert“. In dieser in
einem engen Ambitus geführten und in einem Tritonus zusammenstürzenden Melodie
erinnert Koženás dramatische Deklamation an ein großes Vorbild wie Janet Baker.
Claudio Monteverdi: L’INCORONAZIONE DI POPPEA, „Addio, Roma!“
4:10
„Addio, Roma!“ – der Abschiedsgesang der von Nero verstoßenen Königin Ottavia aus
Claudio Monteverdis „I’Incoronazione di Poppea“. Magdalena Kožená wurde begleitet vom
La Cetra Barockorchester Basel unter Andrea Marcon. – Im Zentrum ihrer Anthologie stehen
zwei zentrale Stücke aus dem Achten Madrigal-Buch: „Combattimento di Tancredi e
Clorinda“ aus den „Canti guerrieri“ und das „Lamento della ninfa“ aus den „Canti amorosi“.
Hier soll auf ein weniger bekanntes, aber nicht weniger eindringliches Stück aus dem siebten
Madrigalbuch hingewiesen werden: „Con che soavità“ Dem Titel dieses inständigen
Liebesgesangs entspricht Magdalena Kožená mit dem Zartgefühl ihres farbenreichen und
dynamisch ausdifferenzierten Singens.
Claudio Monteverdi: MADRIGALBUCH VII, „Con che soavità“
5:15
In diesem Liebesgesang – „Con che soavità“– wird jener Moment der Lust beschworen, die
Ewigkeit will. Nicht zuletzt hat das famose La Cetra Barockorchester Basel unter Leitung von
Andrea Marcon dafür gesorgt, dass diese von der Archiv-Produktion veröffentlichte
Sammlung von Magdalena Kožená zu einem Juwel geworden ist.
Die Werke des Böhmischen Komponisten Jan Dismas Zelenka zeugen, so schrieb einst
Johann Friedrich Rochlitz in der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“, „von einem Tiefsinn,
von einer Kenntnis gelehrter Harmonik und einer Geübtheit in deren Handhabung, die ihm
seinen Stuhl nahe an den Johann Sebastian Bachs rücken“. Dieses Urteil des bedeutenden
Musikhistorikers hat erst dank der Arbeit des kürzlich verstorbenen Nikolaus Harnoncourt,
wie auch der eines Frieder Bernius und anderer Vertreter der historischen Aufführungspraxis
Breitenwirkung bekommen. Noch immer aber gibt es Werke, die zu entdecken sind – wie
zum Beispiel die drei Zyklen von Vesper-Psalmen, die Zelenka als Hofkomponist zwischen
1725 und 1728 für die, der Heiligen Dreifaltigkeit geweihten Königlichen Kapelle des
Dresdner Hofes geschrieben hat. Das Ensemble Inégal mit den Prager Barocksolisten –
Sopran, Altus, Tenor und vier Bässe – hat mit Vesper-Psalmen aus dem Jahre 1725 ein
Großprojekt begonnen. Jeder Zyklus beginnt mit dem „Dixit Dominus“, so dass die PsalmenVertonungen bei allen Verspern des liturgischen Jahres gesungen werden können
Jan Dismas Zelenka: DIXIT DOMINUS, „Dixit Dominus“
2:00
Das einleitende „Dixit Dominus“ zu dem Psalm „Dixit Dominus“ mit den Prager
Barocksolisten. Es ist nach der Zählung des ZWV, des Zelenka-Werkverzeichnisses von
Wolfgang Reich, der Psalm Nr. 66. Die Geschichte der Verspern-Kompositionen, die 1610
mit Claudio Monteverdis Marien-Vesper begann – „Vespro delle Beata Vergine“ –, gehört zu
den spannungsvollsten Kapiteln der gesamten Kirchenmusik. Über die Abfolge der Psalmen
und die Anpassungen an die jeweiligen Feste des Kirchenjahres und die Namensfeste der
4
Heiligen, die „sanctorale“, wird der Hörer durch die Musikologin Janice Stockigt, Verfasserin
einer wichtigen Zelenka-Monographie, in Kenntnis gesetzt.
Der Text – sehr lang, gründlich und profund, wenn auch nicht leicht zu lesen – ist ein
Schlüssel zum Verständnis des liturgischen Kontextes der Psalmi Vespertini. An den ersten
Zyklus – bestehend aus Dixit Dominus, Confitebor tibi Domine, Beatus vir, Laudate pueri
Dominum, In Exitu Israel und Magnificat – hat Zelenka ein De profundis ZWV 50 angefügt,
das er schon 1724 nach der Nachricht vom Tode seines Vaters geschrieben hatte. Sie hören
daraus das einleitende „De profundis“ und das abschließende „Gloria Patri“ – eine für die
Psalmen charakteristische „Doxologie“, also ein Lob Gottes; achten Sie einmal auf die
schlank singenden Bässe der Prager Barocksolisten und das energisch spielende Ensemble
Inégal unter Leitung von Adam Viktoria.
Jan Dismas Zelenka: DE PROFUNDIS, „De profundis“, „Gloria Patri“
6:55
Das war das „De profundis“ und das abschließende „Gloria Patri“ aus dem Psalm „De
profundis“, der als Vespern-Psalm wie als Totenmesse gesungen werden kann. Sie hörten
die Bässe der Prager Barocksolisten und das Ensemble Inégal unter Leitung von Adam
Viktoria. Über die Musiker ist im Beiheft des Labels Nibiru leider nichts zu erfahren.
SWR2, Treffpunkt Klassik – Neue CDs, heute mit Jürgen Kesting.
Der Farbenreichtum der Musik, – so erklärt Khatia Buniatishvili in einem als Interview
ausgegebenen geschwätzigen Werbetext im Beiheft zu ihrer CD – der Farbenreichtum der
Musik habe sie auf die Idee gebracht, ihrem Album mit Mussorgskys „Bildern einer
Ausstellung“ und Strawinskys Petruschka-Sätzen den Titel „Kaleidoscope“ zu geben. Bei
ihrer Darstellung wählt sie Extreme: des Rhythmus, der Dynamik oder, wie etwa beim „Ballett
der unausgeschlüpften Küken“, der Tempi. Während Mikhail Pletnev, dessen Aufnahme
weithin Referenzcharakter zuerkannt wird, ein bedächtiges Tempo wählt – die Küken
gleichsam stakeln lässt –, wird das Scherzino von Khatia Buniatishvili zu einem
mechanischen Ballett – gut zu hören im unmittelbaren Vergleich: zuerst also Mikhail Pletnev
und direkt im Anschluss Khatia Buniatishvili.
Modest Mussorgsky: BILDER EINER AUSSTELLUNG,
„Ballett der unausgeschlüpften Küken“
Mikhail Pletnev (Virgin 7 911692)
Khatia Buniatishvili
1:30
1:00
Die Unterschiede der von Mikhail Pletnev und Khatia Buniatishvili gewählten Tempi für das
„Ballett der unausgeschlüpften Küken“ aus Mussorgskys „Bilder einer Ausstellung“ sind
beträchtlich: 60 übereilte Sekunden bei der georgischen Pianistin, eine Minute 30 bei Pletnev
für ein plastisches, groteskes Bild.
Modest Mussorgskys „Bilder einer Ausstellung“ – komponiert 1874 in Erinnerung an den
Maler Victor Hartman, zehn musikalische Bilder, verbunden durch eine in wechselnder
Gestalt vorkommende Promenade – wurden erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufgeführt.
Aber erst in den 40er Jahren fand Mussorgsky die gebührende Anerkennung auch als
Komponist von Klaviermusik: durch den Einsatz von Alexander Brailowsky, Benno
Moseiwitsch und Julius Katchen. Besonders Vladimir Horowitz war es, der Mussorgskys
„Bildern“ öffentliche Anerkennung sicherte, doch erlaubte er sich starke Eingriffe in den
Notentext. Sei das Werk durch Ravel „orchestrated“ worden, so sagte er, habe er es
„pianostrated“. Er fand dabei viele Nachfolger oder auch: viele Nachahmer. Kein Hauptwerk
der gesamten Klaviermusik hat unter den Händen seiner Interpreten eine so unterschiedliche
Gestalt angenommen.
5
Das betrifft schon die einleitende Promenade: „Allegro giusto ... ma poco sostenuto“.
Pianisten wie Vladimir Horowitz, Swjatoslaw Richter oder Evgeny Kissin betreten den
Bildersaal erwartungsvoll – mit zügigem Gang. Folgen wir den ersten Schritten von Evgeny
Kissin.
Modest Mussorsgky: BILDER EINER AUSSTELLUNG, „Promenade“
Evgeny Kissin (RCA 63884)
0:50
Anders als Evgeny Kissin, der zügig von Bild zu Bild geht, schleicht sich Khatia Buniatishvili
in Pantoffeln aus Filz in den Bildersaal. Aber der Gnom des ersten Bildes, der mit seinen
krummen Beinen ungelenk stolpern und torkeln soll, wird bei ihr nicht zu einer grotesken,
keiner plastischen Figur.
Modest Mussorgsky: BILDER EINER AUSSTELLUNG, „Promenade“, „Gnomus“ 1:50
Khatia Buniatishvili
Die erste Promade und das erste Bild – „Gnomus“ – aus Mussorkskys „Bilder einer
Ausstellung“. Khatia Buniatishvili setzt bei ihrer Darstellung auf eine Dramaturgie der
Detailaffektation und des Stimmungshaften. Das „Alte Schloss“ klingt bei ihr wie ein Nocturne
für einen Salon. Wie die begleitende Bassfigur, das 373 Mal wiederholte Gis, zu einer
bohrend-dramatischen Stimme werden kann, ist bei Swjatoslaw Richter gut zu hören. Hier
zunächst ein Ausschnitt mit Khatia Buniatishvili und gleich danach Swjatoslaw Richter– erst
oberstimmen-melodische Gefühlskunst, dann ein schmerzvolles Ausdrucksstück.
Modest Mussorgsky: BILDER EINER AUSSTELLUNG, „Il vecchio castello“
Khatia Buniatishvili
Swjatoslaw Richter (Eurodisc GD 69079)
3:35
2:55
„Il vecchio castello“ – das „alte Schloss“ – bei Khatia Buniatishvili ein Salonstück, bei
Swjatoslaw Richter eine düstere Fantasie. In einigen der Bilder sucht Khatia Buniatishvili die
Extreme der Dynamik und der Tempi – bis hin zur Durchbrechung der pianistischen
Schallmauer. Die Metronomzahl für Baba-Yaga – es ist der Todesritt einer Hexe aus der
russischen Märchen- und Mythenwelt – ist Viertel = 120. Das bedeutet eine Spielzeit von
etwa vier Minuten. Khatia Buniatishvili reißt die Hütte auf Hühnerfüßen, so der Untertitel des
Bildes, in zwei Minuten und 43 Sekunden ein – mit der Folge, dass schon vor dem
monumentalen letzten Bild –„Das Heldentor in der alten Hauptstadt Kiew“ – die Spannung
völlig verbraucht ist.
Modest Mussorgsky: BILDER EINER AUSSTELLUNG,
„Baba Yaga“, „Das große Tor von Kiew“
Khatia Buniatishvili
7:25
„Baba Yaga“ und „Das Heldentor“ aus Modest Mussorgkys Zyklus „Bilder einer Ausstellung“ – bei Khatia Buniatishvili eine nach Effekt haschende Raserei. Besser gelungen als
der Mussorgsky-Zyklus ist ihre Aufnahme der drei Sätze aus Igor Strawinskys „Petruschka“.
In dieser perkussiven Musik kann sie beweisen, dass die Frömmigkeit des Pianisten in der
Kraft und im Tempo seiner Oktaven liegt. Die Aufnahme ist bei Sony erschienen.
Der 1955 in Hiroshima geborene Toshio Hosokawa, ausgebildet zunächst in Tokio, dann seit
1976 in Berlin bei Isang Yun und seit 1983 in Freiburg bei Klaus Huber, ist als ein in zwei
Kulturkreisen tätiger Komponist ein Durchkreuzungsphänomen. Musik sei der Ort, so sagte
er, „an dem sich Töne und Schweigen begegnen“. Hosokawa hat erklärt, dass er die
traditionelle japanische Kunstmusik erst durch eine Kontrasterfahrung – durch die
Begegnung mit der westlichen Avantgarde – richtig kennengelernt und begriffen habe,
insbesondere den Gegensatz der kausal-logischen Struktur der westlichen Musik und der
6
Abfolge von gelebter und ins Bewusstsein gehobener Augenblicke. Bedeutende Erfolge
hatte Hosokawa mit seinem Trompetenkonzert „Im Nebel“, das 2014 vom NDR
Sinfonieorchester erstmals in Europa aufgeführt wurde, wie jüngst mit der Uraufführung der
Oper „Stilles Meer“ an der Hamburgischen Staatsoper.
Von seinem japanischen Lehrer übernahm Hosokawa die Idee einer Musik, die in
Klangschichten abläuft, die, wie unterschiedlich sie auch klingen mögen, ein einheitliches
Klangbild erreichen. Seit gut zehn Jahren arbeitet Hosokawa mit dem Ensemble musikFabrik
zusammen, dessen Musiker sich seit langem in seinen Dienst stellen. Mit ihnen hat er die
fünf Stücke seiner neuen CD aufgenommen. Den Rahmen bilden zwei Werke aus dem
Zyklus „Voyage“, also Reise. Es sind „Voyage VIII“ für Tuba und Ensemble und „Voyage X“
für Shakuhachi und Ensemble. Hinzu kommen das „Lied für Flöte und Klavier“, der „ArcSong“ für Oboe und Harfe sowie „Stunden-Blumen, Hommage à Olivier Messiaën“.
Es sind überwiegend Stücke für Solo-Instrumente und Begleitung. Das Solo-Instrument steht
für das Individuum, das Ensemble für die Natur oder das Universum. Für die „Voyage VIII“
ließ sich Hosokawa von der Musik tibetanischer Mönche anregen, die mit dem Einsatz der
Tuba wie aus den Tiefen der Erde und dem Rauschen des Windes emporsteigt.
Geschrieben hat Hosokawa das elaboriert-virtuose Stück für einen Solisten des Ensembles
musikFabrik: den Tubisten Melvyn Poore.
Toshio Hosokawa: VOYAGE VIII
12:55
Das war Toshio Hosokawas „Voyage VIII“ – gespielt von Melvyn Poore (Tuba) und dem
Ensemble musikFabrik. Die Aufnahme – eine faszinierende Begegnung mit der Klangwelt
der japanischen Musik – wurde von in der Edition Musikfabrik veröffentlicht.
Mit dieser musikalischen Kontrasterfahrung sind wir am Ende. Nähere Angaben zu den
heute vorgestellten CDs finden Sie im Internet unter www.swr2.de. Dort steht die Sendung
auch noch eine Woche lang zum Nachhören. Mit herzlichem Dank für Ihr Interesse
verabschiedet sich Jürgen Kesting. Hier, in SWR2, geht es jetzt weiter mit dem Kulturservice;
dann folgt aktuell mit Nachrichten.