Food-Lieferant: Ich hatte ein Rad und brauchte das Geld Essen auf Rädern 2016 – Erfahrungsbericht eines Kurierfahrers in Berlin ▶ Seite 13 AUSGABE BERLIN | NR. 10993 | 15. WOCHE | 38. JAHRGANG H EUTE I N DER TAZ DONNERSTAG, 14. APRIL 2016 | WWW.TAZ.DE € 2,10 AUSLAND | € 1,60 DEUTSCHLAND Im Dorf der verschwundenen Kinder Tränengas gegen Flüchtlinge Heftige Auseinandersetzungen an der Nordgrenze GRIECHENLAND NIGERIA Zwei Jahre nach der Entführung Hunderter Schulmädchen durch Boko Haram wollen ihre Familien nicht aufgeben. taz-Reportage aus dem Entführungsort Chibok ATHEN/IDOMENI dpa | Vor dem Grenzzaun bei Idomeni bleibt die Stimmung angespannt. Am Mittwoch kam es nahe dem wilden Flüchtlingscamp in Griechenland zu Ausschreitungen. Einige Dutzend Menschen versuchten den Zaun nach Mazedonien zu überwinden, um von dort weiter Richtung Norden zu gelangen. Mazedonische Polizisten schleuderten Tränengasgranaten über den Zaun. Am Samstag wird der Papst auf der griechischen Insel Lesbos erwartet, wo im Lager Moria mehr als 4.000 Menschen ausharren. In der Hafenstadt Piräus entspannte sich die Lage etwas. Mehr als 1.000 Migranten wechselten vom wilden Camp in ein organisiertes Aufnahmelager. ▶ Schwerpunkt SEITE 5 ▶ Meinung + Diskussion SEITE 12 DSCHUNGEL-KINO Nah am Original: Der Disney-Klassiker jetzt neu verfilmt mit einem Mogli-Darsteller und echten Tieren ▶ SEITE 15 COMPUTER-AUTOS Wie die Bundesregierung den Einsatz autonomer Fahrsysteme auf deutschen Straßen vorantreibt ▶ SEITE 8, 12 BERLIN Heute Kopftuch vor Gericht ▶ SEITE 21 Fotos (o.): David Oliveira, Walt Disney Verfahren gegen Volker Beck eingestellt VERBOTEN Lieber Herr Dr. Döpfner vom Bespringer-Verlag, wir kennen uns nicht, und ich habe leider auch bisher Ihre Zeitungen nicht lesen können. Dennoch wende ich mich in einem offenen Brief an Sie, denn es ist aufschlussreich, welche Reaktionen die Causa Böhmermann bei Ihnen ausgelöst hat. Ein Kristallisations- und Wendepunkt. Vorneweg möchte ich sagen: verboten findet Böhmermanns Gedicht nicht gelungen. verboten hat nicht gelacht. Aber es war schon mit Satirikern solidarisch, da waren Sie noch nicht geschlechtsreif und konnten weder blöde Ziegen noch reiche Witwen ficken. Egal: Friede sei mit Ihnen. Eltern der entführten Mädchen versammeln sich in Chibok – unter Militärschutz Foto: Katrin Gänsler BERLIN taz | Sie sind ein Symbol des islamistischen Terrors in Afrika: die weit über 200 Kinder aus Nigeria, die vor zwei Jahren in der Nacht vom 14. auf den 15. April von der islamistischen Miliz Boko Haram aus ihrem Internat im Dorf Chibok entführt wurden – und die bis heute spurlos verschwunden sind. „Bring Back Our Girls“ lautet die Protestparole der verzweifelten Eltern und Angehörigen. Sie hat ein weltweites Echo gefunden. In Nigeria trug sie vergangenes Jahr zur Wahlniederlage des damals amtierenden Präsidenten und damit zum ersten friedlichen demokrati- schen Machtwechsel in der Geschichte des Landes bei. In der Welt steht Chibok für die Grausamkeit von Boko Haram – und für die Beharrlichkeit einer Zivilgesellschaft, die ihre Kinder nicht aufgibt. Dies beschreibt taz-Reporterin Katrin Gänsler, der es unter großen Schwierigkeiten gelungen ist, Chibok zu besuchen und dort Familien von Verschwundenen zu treffen. Nigerias Nordosten ist nach wie vor Kriegsgebiet. Boko Haram kontrolliert zwar längst nicht mehr so große Gebiete wie vor einem Jahr und ist auch nicht mehr auf dem Vormarsch. Nigerias neuer Präsident Muhammadu Buhari hat die Armee effizienter strukturiert, die Nachbarländer Kamerun, Niger und Tschad helfen mit. Aber wo sich die Islamisten zurückziehen, hinterlassen sie ein verwüstetes Land, vor allem für die junge Generation. 5.000 Kinder haben im Kriegsgebiet Nordostnigerias und in Grenzregionen der Nachbarländer ihre Eltern verloren, sagt das UN-Kinderhilfswerk Unicef. 1.800 Schulen sind zerstört. 670.000 Kinder haben ihre Schulplätze verloren. 2,3 Millionen Menschen, davon 1,3 Millionen Kinder, sind auf der Flucht. Immer öfter werden Kinder als Selbstmordattentäterinnen eingesetzt – allein 44 im Jahr 2015, drei Viertel davon Mädchen. Viel zu wenig wird dafür getan, im Nordosten Nigerias ein normales Leben wiederaufzubauen. Der Krieg gegen radikale Islamisten, darauf weisen Experten immer wieder hin, ist allein militärisch nicht zu gewinnen. Zu einer zivilen Strategie würde aber gehören, die Opfer zu unterstützen – eben auch die Überlebenden und Hinterbliebenen des Terrors von Boko Haram. DOMINIC JOHNSON ▶ Reportage SEITE 3 BERLIN taz | Abgehakt: Die Berliner Staatsanwaltschaft hat das Verfahren gegen den Grünen-Abgeordneten Volker Beck wegen eines mutmaßlichen Drogenfundes eingestellt. Die Einstellung erfolge aufgrund geringer Schuld und gegen Zahlung einer Geldbuße von 7.000 Euro, erklärte die Staatsanwaltschaft am Mittwoch. Der Politiker war Anfang März mit 0,6 Gramm einer verdächtigen Substanz erwischt worden. Dabei handelte es sich laut Medienberichten um die synthetische Droge Crystal Meth. Beck entschuldigte sich gestern in einem Statement. „Mein Verhalten war falsch und es war dumm.“ Er äußerte sich nicht dazu, ob er sein US Mandat behalten wolle. ▶ Inland SEITE 6 TAZ MUSS SEI N Die tageszeitung wird ermöglicht durch 15.754 GenossInnen, die in die Pressevielfalt investieren. Infos unter [email protected] oder 030 | 25 90 22 13 Aboservice: 030 | 25 90 25 90 fax 030 | 25 90 26 80 [email protected] Anzeigen: 030 | 25 90 22 38 | 90 fax 030 | 251 06 94 [email protected] Kleinanzeigen: 030 | 25 90 22 22 tazShop: 030 | 25 90 21 38 Redaktion: 030 | 259 02-0 fax 030 | 251 51 30, [email protected] taz.die tageszeitung Postfach 610229, 10923 Berlin taz im Internet: www.taz.de twitter.com/tazgezwitscher facebook.com/taz.kommune 40615 4 190254 801600 KOMMENTAR VON STEFAN REINECKE ÜBER DEN UMGANG MIT DEN RECHTSPOPULISTEN IM PARLAMENT D ie Frage, ob man die AfD resolut ausgrenzen soll, darf seit den Landtagswahlen als beantwortet gelten – insbesondere in Sachsen-Anhalt. Die Rechtspopulisten bilden in Magdeburg die zweitstärkste Fraktion. Die politische Klasse kann ein Viertel der Wählervoten nicht ignorieren oder pauschal unter Naziverdacht stellen. Im Schweriner Landtag grenzen die etablierten Parteien die NPD zu Recht komplett aus. Doch dies auch mit der AfD zu tun, ist unklug. Sie ist ideologisch verschwommener – und ein radikales Berührungsverbot der etablierten Parteien wäre für sie wohl eine Vitaminspritze. Denn die Rechtspopulisten inszenieren Vitaminspritze für die AfD sich gern als Robin-Hood-Figur, die gegen ein übermächtiges System rebelliert. Auch wenn es Überwindung kostet, ist es daher richtig, die AfD in den Landtagen formal wie eine normale Fraktion zu behandeln. Und politisch mit aller Schärfe zu bekämpfen. Der Erfolg der AfD fußt auf einer doppelten Botschaft: Sie gibt sich gern bürgerlich und lobt in Nazisprech die „Volksgemeinschaft“, so der AfD-Chef in Sachsen-Anhalt, André Poggenburg. Die Aufgabe von Medien und Demokraten ist es, die Kluft zwischen SaubermannImage und rechtsradikalem Unterbau aufzuzeigen. Das ist eine Chance für die Demokratie. In Sachsen-Anhalt hat die CDU diese Chance auf haarsträubende Weise ausgeschlagen. Im Landtag hat sie einen Politiker der zweitstärksten Fraktion, der AfD, zum Vizepräsidenten des Parlaments gewählt – und dann den Linksparteimann Wulf Gallert widerwillig erst im zweiten Wahlgang nominiert. Das zeigt, dass viele in der CDU-Fraktion mehr Sympathien für einen völki- Gespaltene Demokraten: Effektiver lassen sich die Populisten kaum stärken schen Populisten als für einen tadellosen linken Demokraten haben. Das ist ein fatales Signal. Es sind nun nicht die demokratischen Parteien, die einen Keil in die AfD treiben und deren bigottes Spiel bloßlegen – im Gegenteil: Die Rechtspopulisten spalten die Demokraten. Effektiver lässt sich die AfD kaum stärken. Dieses Fiasko geht auf das Konto jenes CDU-Flügels in Magdeburg, der offenbar lieber mit der AfD anbändeln würde, als mit SPD und Grünen regieren zu müssen. Offiziell werden CDU-Granden nicht müde, zu betonen, dass die Union von der AfD eine Mauer trennt. Diese Mauer hat nun einen Riss bekommen. Inland SEITE 7 02 TAZ.DI E TAGESZEITU NG PORTRAIT NACH RICHTEN EU-USA-PRIVACY-SH I ELD JUSTIZMI N ISTER MAAS Datenschützer kritisieren Abkommen Mehr Schutz vor Mieterhöhungen BERLIN | Bitte noch mal nachar- Erika Rabau, der „Puck“ von Berlin, ist gestorben Foto: J. Kosowska Die Fotografin der Berlinale In diesem Februar war sie zum ersten Mal nicht dabei. Saß nicht bei den Berlinale-Pressekonferenzen in der ersten Reihe, selbstredend in Ledermontur, um den Hals Schal, rasselnde Ketten und jede Menge Fototechnik, auf dem Kopf die in alle Richtungen wuselnden graublonden Haare. Schlurfte nicht durch die Gänge, die Leica-Fototasche hinter sich herziehend wie ein Hündchen. Hockte auch nicht zusammengesunken, aber quietschfidel in einem Sessel der VIP-Lounge, zu der nur wenige FotografInnen Zutritt haben: „Rufst du mir ein Taxi?“ Gefragt wurde, wer gerade neben ihr saß, egal ob Hollywoodgast oder Kollege, gesiezt wurde aus Prinzip nicht. Passte auch gar nicht zu ihrer unfassbar jugendlichen Tonlage. Die Fotografin, BerlinaleAficionada und Gelegenheitsschauspielerin Erika Rabau ist tot. Sie war vielleicht die letzte Frau, die es schaffte, aus ihrem wahren Alter ein Geheimnis zu machen – jedenfalls sei sie an einem 23. Dezember geboren worden, so viel hatte sie stets kichernd verraten. Der Regisseur Lothar Lambert hatte ihr noch im Sommer letzten Jahres den Film „Erika – mein Superstar“ gewidmet, 2008 hatte Samson Vincent ihren Spitznamen in seiner Dokumentation „Der Puck von Berlin“ manifestiert. Friedrich Holländer habe sie einst so genannt, erklärte Erika Rabau, weil sie wie der Puck aus dem „Sommernachtstraum“ überall plötzlich auftauche. Ihr Leben war mit Leidenschaft mindestens so vollgestopft wie ihre Wilmersdorfer Wohnung mit Negativen. Sie lebte in Argentinien, in Paris, am längsten in Berlin. Sie konnte in vier Sprachen plaudern, hatte in unzähligen Filmen kleine Auftritte, darunter bei Fassbinder und Wim Wenders. Und sie fotografierte – am meisten auf dem Filmfest. Ihre Bilder, 2008 herausgegeben in „Stars – die Gesichter der Berlinale“, sind Dokumente des Moments. Denn Erika Rabau mochte es nicht, ihre Motive zu inszenieren. Ihre charmant-professionellen Schnappschüsse bezeugen das komplizenhafte Verhältnis, das sie in kürzester Zeit zu Menschen aufbauen konnte. Vielleicht weil jeder spürte, mit wie viel Feuer und echtem menschlichem Interesse sie bei der Sache war. JENNI ZYLKA Der Tag DON N ERSTAG, 14. APRI L 2016 beiten – das ist die Botschaft, die die europäischen Datenschützer gestern an die EU-Kommission geschickt haben. Es ist die offi zielle Stellungnahme der Artikel-29-Datenschutzgruppe zum Privacy Shield, der Vereinbarung zwischen EU und USA, die das alte Safe-Harbor-Abkommen ersetzen soll. Dieses hatte im vergangenen Oktober der Europäische Gerichtshof für ungültig erklärt. Zwar gebe es „wichtige Verbesserungen“ gegenüber Safe Harbor, sagte Isabelle Falque-Pier rotin, Präsidentin der Gruppe und Leiterin der französischen Datenschutzaufsicht. Immerhin werde die problematische Massenüberwachung nun thematisiert. Aber manche Datenschutzprinzipien würden nicht oder nur unzureichend berücksichtigt. Zum Beispiel eine Begrenzung der Nutzung erhobener Daten für andere Zwecke. Auch sei es für Verbraucher schwierig, herauszufinden, an wen sie sich wenden können, wenn sie den Rechtsweg beschreiten wollen. Insgesamt sei das Abkommen in der jetzigen Form zu komplex und nicht alle Regelungen seien in sich konsistent. (taz) BERLIN | Mieter sollen besser vor kräftigen Mieterhöhungen geschützt werden. Justizminister Heiko Maas (SPD) plant nach der Mietpreisbremse ein weiteres Paket mit Mietrechtsänderungen. Die Möglichkeiten der Vermieter, nach Modernisierungen die Miete zu erhöhen, werden eingeschränkt. Künftig sollen sie nur noch 8 statt 11 Prozent der Kosten im Jahr auf die Miete umlegen dürfen. Auch darf die Miete nach einer Modernisierung innerhalb von acht Jahren nur um maximal 3 Euro pro Quadratmeter steigen. (dpa) GROSSES KI NO TSCH ECH I EN Große Kinostreifen, kleine Perlen, Flops und Oscar-Kandidaten sowie Interviews mit Regisseuren und Schauspielern: Alles nachzulesen auf taz.de/film Rezensionen Filmtipps Interviews www.taz.de Polizist rammt betrunken 51 Autos PRAG | Ein tschechischer Poli- zeibeamter hat mit seinem privaten Geländewagen im Prager Stadtzentrum 51 geparkte Autos gerammt – anschließend floh er in seinem stark zerbeulten Fahrzeug. Nachdem Passanten Alarm geschlagen hatten, konnte eine Streife die Amokfahrt des Kollegen stoppen. Dieser habe sich geweigert zu „pusten“, sagte ein Polizeisprecherin. Ärzte hätten später mehr als ein Promille Blutalkohol festgestellt. Die Polizei versucht nun, die Besitzer aller 51 beschädigten Autos ausfindig zu machen. (dpa) Die AfD rückt weiter nach rechts BRÜSSEL Im EU-Parlament sitzen nur noch zwei Abgeordnete der Partei, deren bisherige Fraktion sie nicht mehr im Boot haben wollte. Nun wird in der AfD für ein Zusammengehen mit dem Front National geworben VON SABINE AM ORDE Die Wahlen zum Europaparlament im Mai 2014 waren der erste große Erfolg der AfD. Sieben Prozent holte die Partei aus dem Stand und zog mit sieben Abgeordneten in das Brüsseler Parlament. Viel übrig ist davon nicht: Nach der Abspaltung des Lucke-Flügels im vergangenen Sommer gibt es nur noch zwei AfD-Abgeordnete – in einer gemeinsamen Fraktion sitzen sie nun nicht mehr. Die konservative und EU-kritische EKR hat am Dienstagabend Marcus Pretzell, NRWLandeschef und Lebensgefährte von Parteichefin Frauke Petry, aus der Fraktion ausgeschlos- sen. Bis zum Parteitag Ende des Monats bleibe er fraktionslos, sagte Pretzell der taz. „Ich werde die Entscheidung, wie es weitergeht, dem Parteitag überlassen.“ Dieser kommt in Stuttgart zusammen, um über ein Grundsatzprogramm zu entscheiden. Beatrix von Storch, die zweite Abgeordnete, war bereits am Freitag ihrem drohenden Rausschmiss aus der EKR zuvorgekommen und quasi eine Fraktion weiter nach rechts gerückt: zur EFDD, zu der vor allem die britische Ukip um ihren Chef Nigel Farage, aber auch die italienische 5-Sterne-Bewegung gehört. Die Ukip habe für ein Referendum über den Verbleib in der EU gekämpft, „das ist ge- nau unsere Position“, sagte von Storch der taz. Die Äußerungen von Pretzell, Petry und von Storch darüber, als letztes Mittel der Grenzsicherung auch auf Geflüchtete schließen zu lassen, und zunehmende Kontakte der AfD zur österreichischen FPÖ waren letztlich der Anlass, warum die EKR von Storch und Pretzell aufgefordert hatte, die Fraktion zu verlassen. Beatrix von Storch ist jetzt in einer Fraktion mit der rechtspopulistischen Ukip Pretzell, der bereits früher mit Ukip liebäugelte, forderte die AfD-Mitglieder nun auf, auf dem Parteitag Ende des Monats über die künftige Fraktions mitgliedschaft im EU-Parlament abzustimmen. Neben der EFDD-Fraktion kommt die nationalistische und rechtsextreme ENF-Fraktion in Betracht, zu der der französische Front National (FN) und die FPÖ gehören – von der EKR wären das gleich zwei Schritte weiter nach rechts. Björn Höcke, AfD-Rechter aus Thüringen, hat auf dem Landesparteitag am Wochenende bereits dafür geworben, die Gemeinsamkeiten der AfD mit dem Front National zu betonen. Die Patriotische Plattform, der Beatrix von Storch, Marcus Pretzell und Alexander Gauland bei Protesten gegen die Flüchtlingspolitik der Regierung im Herbst F: Christian Ditsch Streit ums Grundsätzliche rechte Rand der AfD, wirbt mit Blick auf den Parteitag offensiv für ein Zusammengehen mit Front National und FPÖ. Sie kann sich dabei auf eine Annäherung berufen, die die Parteispitze in den vergangenen Wochen zur FPÖ vollzogen hat: Petry und Pretzell hatten im Februar in Düsseldorf mit FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache gemeinsame Visionen für Europa diskutiert, vor gut einer Woche hatte AfD-Vizechef Alexander Gauland FPÖ-Geschäftsführer Harald Vilimsky nach Nauen geladen. Am Wochenende hatte Gauland in der FAZ bereits über den Beitritt der AfD zu einer neuen Europafraktion unter Beteiligung des rechtsextremen Front National nachgedacht. Sollte sich in naher Zukunft eine neue Europafraktion aus EU-kritischen Parteien gründen, befürworte er den Beitritt der AfD-Abgeordneten, sagte Gauland. Im Dezember war Höcke von Petry und ihrem Kochef Jörg Meuthen, dem wirtschaftsliberalen Aushängeschild der Partei, noch scharf dafür kritisiert worden, dass er dem Front National zu dessen Wahlsieg bei den französischen Regionalwahlen gratuliert hatte. Er sehe den Front National weiterhin „sehr kritisch“, sagte der AfD-Chef jetzt auf Anfrage der taz. „Der FN ist nationalistisch und in der Wirtschaftspolitik sozialistisch ausgerichtet, wir sind patriotisch und freiheitlich. Das passt nicht zusammen.“ Meuthen sagt aber auch: „Jeder Abgeordnete kann selbstbestimmt den Wechsel von einer Fraktion zu einer anderen vollziehen.“ Hört sich nicht so an, als würde er sich einem weiteren Rechtsruck der AfD vehement entgegenstellen. THEMA DES TAGES PARTEITAG Die AfD will sich Ende April ein Programm geben. Viele Mitglieder sind mit dem entschärften Entwurf nicht einverstanden BERLIN taz | Am letzten Aprilwo- chenende wird es in der Stuttgarter Messehalle turbulent werden. Die AfD will sich ein Grundsatzprogramm geben, 1.300 Mitglieder haben sich bereits zum Bundesparteitag angemeldet. Der Entwurf der Programmkommission, der Diskussionsgrundlage sein soll, ist im Vergleich zu früheren Versionen entschärft. Die Privatisierung des Arbeitslosengeldes, die Wiedereinführung des Schuld- prinzips bei Scheidung, das generelle Verbot von Beschneidungen bei Jungen – alles gestrichen. Vielen passt das nicht. Rund 800 Ä nderungsanträge liegen vor, darunter zwei komplette Gegenentwürfe. Der eine kommt aus Niederbayern und hat es in sich, insbesondere was den Islam angeht. Die Autoren erklären diesen für verfassungsfeindlich und wollen den Bau und Betrieb von Moscheen verbieten, was ein massi- ver Eingriff in die Religionsfreiheit wäre. „Der Flügel“, in dem sich die AfD-Rechten um Thüringens Landeschef Björn Höcke organisiert haben, hat den Entwurf bereits für gut befunden: als „ernsthafte Alternative einer jungen, aufbrechenden Partei“. Der zweite Gegenentwurf nennt sich „politisches Manifest“. Der Entwurf der Programmkommission sei „zu ausführlich und zu stark an der Tagespolitik ausgerichtet“, sagt Martin Renner, einer der drei Verfasser des 17-seitigen Papiers. Es reiche, die politischen Koordinaten abzustecken. Der Vorteil dabei: Die Positionen bleiben so abstrakt, dass sich die Partei weiterhin nicht festlegen muss. Renner, Landesverband NRW, will, dass sich der Parteitag zuerst mit seinem Manifest befasst. Ob danach noch ein Grundsatzprogramm für nötig gesehen wird, bliebe abzuwarten. Renner hat sich bereits auf dem letzten Parteitag gegen die Bundesspitze mit einem schärferen Antrag zur Asylpolitik durchgesetzt. Als entschieden gilt bereits, dass das Thema Sozialpolitik in Stuttgart nicht diskutiert werden soll. Zu groß ist die Kluft zwischen den verbleibenden Wirtschaftsliberalen in der Partei und jenen, die die AfD als „Partei der kleinen Leute“ positionieren wollen. SABINE AM ORDE Reportage Nigeria DON N ERSTAG, 14. APRI L 2016 TAZ.DI E TAGESZEITU NG 03 Vor zwei Jahren hat die Terrormiliz Boko Haram knapp 300 Schülerinnen entführt. Von den meisten fehlt bis heute jede Spur Als der Terror die Tochter stahl Amos Lawan wollte, dass seine Tochter Comfort eine gute Schulbildung erhält. „Sie sollte studieren und es weit bringen“, sagt er. Seit 2014 ist sie in der Gewalt von Boko Haram. Dem Vater blieb nicht einmal ein Foto von ihr Die Ruine der Oberschule in Chibok, aus der Boko Haram in der Nacht vom 14. zum 15. April 2014 276 Mädchen entführte Fotos: Katrin Gänsler AUS CHIBOK KATRIN GÄNSLER Amos Lawan versucht ruhig zu bleiben. Doch irgendwann kann er nicht mehr. Die Stimme des großen, hageren Mannes mit dem zerfurchten Gesicht bebt: „Die Politiker spielen doch nur mit uns“, platzt es aus ihm he raus, „und die Regierung hat keine Ahnung.“ Um sich un ter Kontrolle zu bringen, atmet er zweimal tief durch und hört lieber nicht genau zu, was die Frauen und Männer sagen, die mit ihm im Schatten der hohen Bäume sitzen. Es würden ihn nur noch wütender und trauri ger machen. Politikerschelte ist normal in Nigeria und täglich millionen fach zu hören. Aber Lawans Aus bruch hat eine andere Qualität: Er wird immer deutlicher, wie sehr die Regierung bei der Suche nach den 219 entführten Mäd chen von Chibok geschlampt hat. „Meine Tochter Comfort ist unter ihnen“, sagt er. Seit genau zwei Jahren hat er nichts mehr von ihr gehört. Es geschah in der Nacht zum 15. April 2014. Ohne jeglichen Widerstand konnten Kämp fer der Terrormiliz Boko Ha ram in die Schlafsäle der staat lichen weiterführenden Schule von Chibok eindringen und 276 Schülerinnen zwischen 16 und 18 Jahren in ihre Gewalt bringen. Bisher gelang nur 57 die Flucht. Die ersten Informa tionen, die nach und nach an die Öffentlichkeit drangen, klangen bizarr und unwirklich. Knapp 300 entführte Schülerinnen müssten doch auffallen, hieß es. Nur den Eltern war sofort klar, dass ihnen etwas Schlimmes zu gestoßen sein musste, hatten sie doch kein Lebenszeichen ihrer Töchter mehr. Dabei wusste man schon vor her, dass die Region völlig unzu reichend geschützt ist. Im Jahr davor hatte Boko Haram mehr fach Schulen überfallen und junge Männer ermordet. Das öffentliche Entsetzen hielt sich aber in Grenzen. Auch die Ent führung der Mädchen machte im Westen erst Schlagzeilen, als die Twitter-Kampagne #Bring backourgirls weltweite Auf merksamkeit auf sich zog. Der Wind trägt die Worte von Elternvertreter Yakubu Nkeki herüber, der seinen Kummer ins Mikrofon brüllt. „Warum hat es erst geheißen, alle Schulen wer den aus Sicherheitsgründen ge schlossen, um Chibok zwei Wo chen später wieder zu öffnen? Amos Lawan Warum haben andere Schüler ihre Abschlussprüfungen in Maiduguri schreiben dürfen, wo es einen besseren Schutz gibt? Nur unsere Mädchen mussten plötzlich zurück nach Chibok.“ Die Eltern waren der Auf forderung gefolgt, sollten ihre Töchter doch einen besseren Ab schluss und ganz andere Chan cen als sie selbst haben. Ihr Ver trauen kam sie teuer zu stehen. Weit mehr als 100 Väter und Mütter treffen sich heute zum ersten Mal am Tatort. Während sie Nkeki zuhören, diskutieren oder schweigend zu Boden star ren, blickt Amos Lawan in Rich tung Schulgebäude. Viel zu se hen ist dort nicht. Es stehen nur noch die Grundmauern, die au ßen sandgelb und innen mint grün sind. Die Boko-Haram- Kämpfer haben das Gebäude bei ihrem Überfall vor zwei Jah ren in Brand gesteckt. Nun gibt es in den Räumen keinen einzi gen Tisch, keine Bank oder Ta fel mehr. Dafür wuchert über all trockenes, gelbes Gras. Der Regen muss in diesem Jahr erst noch kommen. Es hieß einige Male, dass die Schule bald wie der öffnet. Aber wie soll das ge hen, in diesem Zustand? Checkpoints aus Ölfässern Doch es ist nicht nur die zer störte Infrastruktur, sondern vor allem die Frage nach der Si cherheit. Boko Haram hat Chi bok immer wieder überfallen. Der letzte Selbstmordanschlag passierte im Januar. Auf dem Weg in den Ort gibt es heute viele Militärposten, wenn man aus Yola, der Provinzhauptstadt des südlich angrenzenden Bun desstaates Adamawa, anreist. Ir gendwann hört man auf, sie zu zählen, die provisorisch zusam mengeschusterten Konstruktio nen, Sandsäcke, dann Baum stämme, alte Ölfässer oder aus gebaute Türen von schrottreifen Autos. Immerhin zwingen sie die Fahrer, das Tempo zu dros seln. Mal schauen Soldaten ins Auto, mal Mitglieder der lokalen Bürgerwehr. Doch wer nicht ver dächtig aussieht, wird durchge winkt. Auch am südlichen Ortsrand von Chibok tun ein paar Solda ten ihren Dienst. Dort steht eine klapprige Schranke, die den Weg in den Ort zumindest erschwe ren soll. Bis zur Schule sind es jedoch noch einige Kilometer. Kein einziges Stückchen der Straße ist asphaltiert. Durch ein großes Schlagloch muss man ex trem langsam fahren. Bis heute dürfte es in dieser entlegenen Gegend nicht einmal Stunden brauchen, um Menschen ver schwinden zu lassen. Das Treffen der Eltern findet hier zwar unter großen Sicher heitsvorkehrungen statt. Um die Gruppe herum haben sich Sol daten und Polizisten positio niert. Das liegt auch daran, dass Aisha Muhammed-Oyebode da ran teilnimmt. Sie ist die Toch ter des 1976 ermordeten nigeria nischen Militärherrschers Mur tala Muhammed und leitet die Stiftung mit gleichem Namen. Diese hat die Zusammenkunft initiiert wie auch die für heute geplante Gedenkfeier. Sie gilt als Sensation, da sie von der Regie rung abgesegnet wurde. Denn eigentlich wollen die Machtha ber dort keine Besucher haben. Für eine Reise in die Region braucht es noch immer eine Genehmigung, die das Militär nicht freiwillig ausstellt. Amos Lawan hat einen Mo ment geschwiegen. Die Fal ten wirken nun noch tiefer als zu Beginn des Gesprächs. Auf die Frage, ob er sich sicherer fühlt als vor zwei Jahren, wi derspricht er sich. „Ja, es sind zwar mehr Soldaten hier“, sagt er, um zwei Sätze später zu rela tivieren: „Aber ganz ehrlich: Ich weiß nicht, ob sie uns wirklich helfen, sollte wieder etwas pas sieren. Vielleicht haben sie an dere Pläne.“ Die hatten sie anscheinend vor zwei Jahren, als die Boko-Ha ram-Kämpfer kamen und Com fort und alle anderen Mädchen holten. Knapp vier Wochen nach dem Vorfall veröffentlichte Am nesty International einen Re port mit brisantem Inhalt: Im Hauptquartier Maiduguri soll kaum vier Stunden vor dem Überfall eine Warnung einge gangen sein. Aber nichts pas sierte. Auch wird erzählt, dass die Schülerinnen sogar ange wiesen wurden, in ihren Schlaf sälen zu bleiben. Viele Details waren längst bekannt. Aber im Kopf von Comforts Vater setzen sie sich erst jetzt zu einem voll ständigen Bild zusammen. Er ist froh, dass seine Frau nicht dabei ist. „Das wäre zu viel für sie ge wesen“, erklärt er fast entschul digend. Man spürt, wie er in Ge danken zu Hause bei seiner Fa milie ist, in einem Haushalt, in dem es keine Freude mehr gibt, sondern Angst, Trauer und Un gewissheit. Dafür muss er nicht einmal sprechen. Lawan ist ein einfacher Mann, ein Bauer, wie fast alle hier. Comfort wäre jetzt 20 Jahre alt. Seit ihrer Entführung kann La wan nicht mehr arbeiten, häu fig nicht einmal mehr essen. „Manchmal bringe ich viel Es sen mit nach Hause. Aber wenn 200 km NIGER NIGERIA Abuja Maiduguri Chibok Uba Provinz Borno Yola KAMERUN Benin City Afrika NIGERIA Atlantik taz.Grafik: infotext-berlin.de ich es dann sehe, fühle ich mich so voll, so satt.“ Er schluckt, fängt sich aber schnell wieder. Keiner traut den Politikern Dabei schien sich vor einem Jahr das Blatt zu wenden, als Mu hammadu Buhari zum Präsi denten gewählt wurde. Vorgän ger Goodluck Jonathan hatte in der Chibok-Affäre eine denk bar schlechte Figur abgegeben. Nach fast drei Wochen äußerte er sich überhaupt zum ersten Mal zu dem Vorfall. In den Mo naten danach sagte er ein paar Mal: „Wir werden die Mädchen bald finden.“ Spätestens nach dem zweiten Mal dürfte ihm das niemand mehr geglaubt haben. Buhari war ehrlicher und ver kündete vor einem Jahr: Er wisse nicht, ob die Mädchen noch le bend gefunden werden, aber er wolle alles dafür tun. In Nord nigeria herrschte Hoffnung und Aufbruchstimmung. Bis nach Chibok kamen einige Politi ker, um mit den Eltern zu spre chen. Seitdem hat Amos Lawan nichts mehr von ihnen gehört. Auch passiert ist nichts. In den vergangenen Tagen gingen zwar Gerüchte um, dass es eine Löse geldforderung für die Mädchen gibt . Doch der Wahrheitsgehalt wird bezweifelt. Amos Lawan würde gern ein Foto seiner Tochter zeigen, auf die er so stolz ist. Er sagt es nicht, aber es ist deutlich zu spüren. Um das Mädchen auf die Schule zu schicken, musste er seine letzten Naira zusam menkratzen. Gut habe sie ge lernt, und der Vater wollte alles tun, um sie zu unterstützen. „Ich habe alle Bücher und das ganze Material gekauft, das die Schule gefordert hat. Sie sollte studie ren und es weit bringen.“ Nun hat der Vater nicht einmal mehr ein Bild seiner Tochter. Boko Ha ram hat ihm nicht nur sein Kind genommen, sondern auch sein Haus niedergebrannt. Ein paar Monate nach der Entführung ge lang es den Kämpfern, in Rich tung Süden vorzudringen. Nach dem er und seine Frau vor dem Nichts standen, flohen sie zu erst nach Mubi, dann nach Yola. Auch dort suchte er Comfort – ohne Erfolg. Ob er noch Hoffnung hat? „Wenn ich euch heute sehe, dann habe ich sie wieder“, sagt Amos Lawan. Die Worte hat er sich nicht zurechtgelegt, er möchte nicht höflich oder dip lomatisch klingen. Was er sagt, ist mehr als ernüchternd: Er hat mehr Vertrauen in eine Stif tung und drei Journalisten, die für nicht einmal zwei Stunden in Chibok sind und die er nicht kennt, als in die Regierung und die gesamte Armee seines Hei matlandes Nigeria.
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