268/60 60 Sonntag, 4. Mnl lftöO i*i WOCHENENDE Nr. 268 (Fornnusßftbo Nr. 121) Das Fräulein im Steinbruch gebrochen. oe. Steinbruch Im Jura. Der Fels wird nicht mehr Algon Wasser sickert aus rd e Wand. Schwarz-grüno Streifen aus Weg auf dem hellen Jurakalk. Stille. Rechts ein markieren seinen Autofried' ->;f hinter Drahtgeflecht. Andere Wagen zwischen Büschen, einer ohne Kotflügel. In der Mitte zwei Holzhütten, dahinter ein Haus aus Betonsteinen, noch nicht verputzt. Auf einem Stein ein Handschuh, auf einem Balken eine Zange. Das Steinhaus ist bewohnt. Seit 1966 lebt die junge Bildhauerin Owsky Kobalt in dem Steinbruch. Sie hat das getan, wovon andere redon. Sie hat sich in die Einsamkeit zurückgezogen. Sie fand die Einsamkeit in unserem übervölkerten Land. Owsky Kobalt hat das Wohnhaus im eigenen HänSteinbruch selbst entworfen und zum großen Teil mit einzigen dlrekden errichtet. Strom- und Telephonlnitung sind die Jleitt akzeptieren es. Sie wenn sie es beim Einkaufen antreffen. Sie sehen, daß es den Steln gleich achtet wie manche in der Gegend, dio damit seit jeher ihr Brot verdient haben. «Steinbruch Im Jura» sind dlo ersten Wörter dieses Berichts. Wir haben nicht geschrieben, wo im Jura Owsky Kobalt lebt. Wir möchten nicht dazu beitragen, daß Zeitgenossen, die aus einem , mit Leben sehr eigener Art eine Sensation zu machen suchen Kamera und Tonbandgerät in dem Steinbruch vorfahren. Die Bildhauerin will mit ihnen keine Zeit verlieren. Sie arbeitet zu hart, oft zehn Stunden im Tag. Apropos Leben wir nicht in einer fortschrittlichen Zeit? Marguerite, Tochter des Im Jahre 1275 verweigerte Komtesse Florent, Grafen von Holland, einer Bettlerin ein Almosen. Diese trug auf ihren Armen Ihre Zwillingskinder, und Marguerite gab als Vorwand ihrer Weigerung an, daß es unmöglich sei, zwei Kinder zugleich von demselben Vater zu bekommen. Dlo empörte Bettlerin folgenden Jahre brachte behexte sie mit dem «bösen Blick», und im -linge, als es die Komtesse 365 Kinder zur Welt, das heißt so viele Tage im Jahr gibt. Marguerite war damals 42 Jahre alt und, wie Darunter, so läßt man es sich von der dialektkundigen Freundin gohörnto Katze hat mir mein übersetzen: «Dieso verdammte und Bügeleisen gestohlen! sie soll es zurückbringen!» und, beim großen Plakat: «Dieser reißende und gierige Wolf hat mir sechs Likörgläser und mein Plumeau (Federbett) gestohlen! er muß es mir zurückbringen!» Oh, Pech und Schwefeil Es ist Montag, und keiner der sonst So eilt man denn . üblichen Sonntagsphotographen ist zu sehen Photoapparat zurück zum Ferienhaus, tolephoniort um einen doch bereits am nächsten Morgen sind die Plakate weg, in der Köpfe, und nur ein glückTrattoria schüttelt man nichtswissend dio licher Zufall führt einen zu einem Weiblein, das uralt ist und alles geht. Sie über das Dorf weiß: «Ja, ich kenne dlo Frau, gegen die es Bettelpack ist das!» kommt aus einer Lumpenfamilie, richtiges Haus, «Und sie hat gestohlen?» «Wir nehmen es an. Denn in dem weggekommen.» Und im weitem in dem sie wohnt, sind die Sachen Gespräch kommt das Bild einer Familie zusammen, deren Mitglieder einstmals dio Aermsten des Dorfes waren und es draußen Garagebosltzer, SBB-Beamter, in der Walt zu etwas gebracht haben: Arbeiter in der großen Stadt Zürich. Nur diese eine Schwester lebt *im Heimatdorf, und mit ihrem im Hotelservice schwor erarbeiteten Spargeld zieht sie stellvertretend für ihre Famille den Neid der wenlgor glücklichen Bewohner auf sich, so daß man sie ruhig des Likörgläsern und eines Diebstahls eines Bügeleisens, von sechs Plumeaus anklagen darf. man der Geschichte entnehmen muß, unverheiratet. Das geschah vor rund 700 Jahren. Wir können uns trotzdem gräflichen Schloß die Aufregung vorstellen, die damals auf dem herrschte, dio Suche nach Bettchen, Wiegen, Windeln, «Nuggis» und milchspendenden Ammen, die Sorgen der Mutter und die Schande jeden Knaben des Vaters, die Uebermüdung der Kanoniere, die für 24 und für jedes Mädchen 12 Böllerschüsse abzufeuern hatten wäre das Pulver damals schon erfunden gewesen. Atelier, 0ns noch unvollendete, schon bewohnte Hau*: in ilcr Mitte ein das einst eine Kantine war. Wasserleitung gibt es ten Verbindungen zur Außenwelt. Eine Vorläufig muli nicht. Die Bildhauerin will sich eine Zisterne bauen. sie das Wasser aus dem Tal heraufschleppen. Owsky «Man möchte mich immer als Original hinstellen», sagt Kobalt. «Ich bin kein Original. Ich will keines sein.» Ihr Entschluß, aus einem Stadtquartier in den Steinbruch umzuziehen, war der Entschluß, ihre Arbelt sehr ernst zu nehmen. Die Bildhauerin wollte mit dem Umzug in die Jurawildnis auch einen Strich unter ihre Lehrzeit ziehen. Owsky Kobalt hatte sich im Kinderspital Basel zur Laborantin, darauf in der Basler Gewerbeschule bei Martin Christ und Johanausgebildet und zugleich nes Burla zur Malerin und Bildhauerin einen Kurs in Schweißtechnik absolviert. Das Behauen dos Steins umgeht, hat hat ihr niemand beigebracht. Die Art, wie sie damit sie sich selbst erarbeitet. «Gelernte Steinhauer leiden, wenn sie luii zuschauen», lacht sie. bewegen. So dreht sich Fast alle ihre Steinplastiken lassen sich der «Sechsfüßler» um eine steinerne Achse und rollt mit sechs Kugeln auf seinem Sockel. Am oberen Teil, den dui Betrachter Höhlungen Halt. «Für mich ist anfassen soll, finden die Finger in bedingt», kommentiert die Bilddas Formale durch die Funktion Kugel und drei drehhauerin. Ein anderes Werk besteht aus einer Verspieltheit verbaren Kalotten. Kunst solcher Art könnte sich in Skulptur, der «KugelEine kleine, auseinandernehmbare lieren. schreiber», deutet das an. Daß Owsky Kobalt um diese Gefahr weiß, daß sie sehr andere Wege gehen kann, zeigen ein Grabstein und eine Grabplatte, an denen sie eben arbeitet. Dem befreundeten Bildhauer Alfred Gruber half sie einen Altar und einen Taufstein aushauen. Ihm verdankt sie es, daß sie für die Bruder-KlausenKirche in Bern ein Steinrelief schaffen konnte. dunkelgrüne Man betritt das selbstgebaute Haus durch eine Tür, die einst zu einer herrschaftlichen Villa gehörte. Aus Baum- Nun, In der Zwischenzelt ist vieles geschehen. Ein Mediziner würde unsere Geschichte eher bezweifeln, und auch der «böse Blick» hat von seiner Bedeutung verloren, wenn man auch heute Gegenden Italiens des noch in der Toscana und verschiedenen verweigert «mal occhio» wegen den Bettlern selten ein Almosen und in dpr Rretngnp nur ungern sein Haus photoqraphieren läßt, bringe. Unglück regard» kein damit der «Reuz» oder «mauvais Aber das sind, wie man weiß, rückständige Gegenden, in denen der Aberglaube gang und gäbe ist, währenddessen bei uns solcher Unsinn längst überwunden Ist. So bummelt man denn von solcher mittelalterlicher Finsternis hinweg ins Dörfchen B, das eine Freude wie die neuerbauten Villen zeifür Sonntagsphotographen und gen ein begehrter Ort in- und ausländischer Tessiner Freunde ist; ein Autobus wird einen abends nach Magliaso oder gar nach Lugano bringen, sonst hat es Hotels in der Nähe, und die PTT wird Telephone, Televon der grau und rosa gestrichenen Dorfpost aus gramme und Briefe befördern, schließlich ist man nicht ab der Welt. pittoresk mit den vielen B ist wirklich hübsch, mir etwas zu Diirrhhllrken, ineinander verschachtelten Häusern und Palazzi, den Laubengängen und kopfsteingepflasterteii Geißelten, die auf winzig kleine Plätze mündens «Piazza del Sasso» heißt der eine, vielleicht groß, mit Treppchen links und Laubenbogen sechs auf sieben Meter Hauptrechts und weiter vorne ein Hof mit einem Haus, gegen die gasse hin, an dem zwei Plakate hangen: klein das eine, 60X100 cm groß, und imposanter das andere, von etwa 120X200 cm Größe gemalt, das größere Ein Katzenkopf mit Hörnern ist auf das eine Plakat zeigt einen stehenden Wolf mit gekreuzten Vorderbeinen Zunge. und einer roten, bis auf die Brust reichenden Auf ÄljerÄitg «Und was geschicht, wenn der Dieb die Sachen nicht zurückbringt?» Ein Gewährsmann der Gegend weiß es: «Dann versammeln vernageln die Tür. sich die Manner des Dorfes in einem Grotto. Sie In einem großen Kessel kochen und rühren sie eine alte Eisenkette lange, bis sich dorn Dieb die Gedärme im Bauche drehen und er so jammernd und flehend das Diebesgut zurückbringt.» «Warum wird dann die Tür zugenagelt?» «Dio Manner fürchten den .mal occhio".» Man bummelt aus dem sonnenbeschienenen Dörfchen, aus desWerbesendungen vermischte Radiomusik dringt. sen Fenstern mit TEE-Zug zu Komtesse Und plötzlich hat man Lust, den nächsten Marguerite zu nehmen, um sich nach den 365 Kinderchen zu er- kundigen, dio mit Hilfe von staatlichen Kinderzulagen, Werbeaufträgen, Milchpulver und Fertigmahlzeiten lw o h gedeihen. Denn, lieber Leser, leben wir denn heute nicht in einer fortschrittlichen Zeit? Rene simmen Nebenbei Michelangelo und die gereizten Kinder cgb. «Aermlich», nannte Sir Mortimer Wheeler, Präsident der Royal Academy, einen Großteil rd e Kunst rd e zweiten Hälfte Leidenschaft, Können und unseres Jahrhunderts. Er vermißt darin ein Ziel. eingebildet», kom«Vielleicht sind unsere heutigen Künstler zu mentierte er. «Vielleicht liegt die Schuld bei den Kunsthändlern, liegt es daran, die unbedingt Geschäfte machen wollen. Vielleicht daß uns die Zeltungen dazu erziehen, überall Sensationen zu erbegehren. weiß, eine Ich zu Neues etwas immer warten und Phalanx von Kunstkritikern wird über mich herfallen. Aber mit Michelangelo verglichen, erscheinen mir die meisten Werke der Gegenwart wie idiotisches Gekritzel und zusammenhanglose Farhklexe gereizter Kinder.» dem Robinsonspielplatz Von Peier Neugebauer OwsJcy Kobalt und Ihre beweglichen Plastiken stammen gesägte Scheiben dienen da und dort als Stufen. An einer farbige, in die Wand eingelassene Flaschen- Stelle fällt Licht durch böden in den Raum. Es gibt nur diesen einen Raum in dem Haus. geneigten FelsZwei Ebenen im Parterre passen sich dem leicht Flügel, auf der einen boden an; auf der unteren steht ein halben Meter höher gelegenen der Eßtisch. Auf dem Zwischenboden, dicht neben dem geländerlosen «Abgrund», ist ein eisernes verwundert, da der PhotoBett aufgestellt. Owsky Kobalt ist sehr graph fragt, ob sie im Schlaf noch nie ins Parterre gefallen sei. gekomDie Bildhauerin ist auch noch nie auf den Gedanken men, daß sie Angst in der Einsamkeit haben konnte. Zu den Pasgehören , Fasanen Füchse, santen, die regelmäßig vorbeikommen, Zweibeinige Nachbarn sind am Tag die zuweilen eine Viper. Leute vom Autofriedhof, ab und zu Holzarbeiter und ein Steinmetz in einem anderen Steinbruch. Vor dessen Werkstatt bearbeitet Owsky Kobalt gegenwärtig einen Stein im Freien. Sonst benützt sie die beiden Hütten als Ateliers. Die meist ziemlich mißtrauischen Jurassier der Ortschaften in der Nähe grüßen das Fräulein aus ücui Sieluuiuch freundlich. Neue Zürcher Zeitung vom 04.05.1969 '
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