O. Chlewnjuk: Stalin - H-Net

Oleg V. Chlewnjuk. Stalin: New Biography of a Dictator. New Haven: Yale University Press, 2015. 392 S. ISBN 978-0300-16388-9.
Reviewed by Bernd Bonwetsch
Published on H-Soz-u-Kult (April, 2016)
O. Chlewnjuk: Stalin
Stalin-Biografien gibt es inzwischen viele. Die erste –
und letzte – wirklich bahnbrechende war die von Dmitri Wolkogonow “Stalin. Triumph und Tragödie. Ein politisches Porträt”. Dimitri Wolkogonow, Stalin. Triumph
und Tragödie. Ein politisches Porträt. Aus dem Russischen von Vesna Jovanoska, Düsseldorf 1989. Sie beruhte nicht nur auf internen Kenntnissen wie etwa die
verdienstvollen Stalin- bzw. Stalinismus-Darstellungen
der Dissidenten Roy Medwedjew und Anton AntonowOwssejenko, sondern auf der Kenntnis bis dahin unzugänglicher, offizieller Quellen. Aber sie erschien vor 25
Jahren. In dieser Zeit ist im Hinblick auf die Erschließung von Quellen und die Erforschung der Persönlichkeit und Politik Stalins viel getan worden – nicht zuletzt
von Oleg Chlewnjuk selbst, der als Mitarbeiter des ehemaligen Zentralen Parteiarchivs, des heutigen Staatsarchiv für Soziale und Politische Geschichte, einen in vielem privilegierten Zugang zu wichtigen, wenn auch keinesfalls allen relevanten Quellen besaß. Das Präsidentenarchiv war ihm beispielsweise ebenso verschlossen wie
das Archiv des Außenministeriums, das Archiv des FSB
und andere mehr. Ein wirklich großer Mangel ist und
bleibt, dass es zu vielen Sitzungen des Politbüros oder Besprechungen bei Stalin nur Beschlussprotokolle gibt und
dass wir bisher nur im Falle von Besprechungen in seinem Dienstzimmer im Kreml wissen, mit wem er überhaupt gesprochen hat. Zudem hat aus guten Gründen
niemand, der sich auch nur in der Nähe der Macht bewegte, ein Tagebuch geführt, und nur zwei Teilhaber der
Macht – Nikita Chruschtschow und Anastas Mikojan –
haben Memoiren hinterlassen. Das sind grundsätzliche
Defizite, die auch Chlewnjuk in seiner Darstellung nicht
vergessen machen kann und die ihn häufig zu Vermutungen nötigen. Aber er verfügt über eine hervorragende Kenntnis der zugänglichen archivalischen und publi-
zierten Quellen sowie auch der für manche Fragen doch
vorhandenen Memoirenliteratur.
Aufgrund dieser seiner Quellenkenntnis durfte man
auf Chlewnjuks Stalin-Biographie gespannt sein. Vom
Aufbau unterscheidet sie sich von normalen“ Biogra”
phien dadurch, dass der persönliche und politische Werdegang Stalins in einen Rahmen eingefügt wird. Diesen
Rahmen bilden rein äußerlich die Vorgänge der letzten
Lebenstage Stalins in seiner die Nahe [Datsche]“ ge”
nannten Residenz bei Moskau von der Nacht vom 28.
Februar auf den 1. März 1953 bis zu seinem Tode am
5. März, die anschließenden Trauerveranstaltungen und
seine Beisetzung am 9. März im Lenin Mausoleum.
Anhand dieses Rahmens, in dem in Form einer Reportage das Verhalten des Dienst- und Wachpersonals Stalins und das der politisch wichtigsten Führungsfiguren
der letzten Jahre Stalins geschildert wird, könne man, so
Autor Chlewnjuk, seine Stalin-Biographie auf zwei Ebenen lesen: auf der Ebene der letzten Lebens- und ersten
Todestage sowie auf der Ebene der chronologisch abgehandelten wichtigen Themen im Leben Stalins: seiner Jugend im theologischen Seminar und in der sozialdemokratischen Bewegung, seiner Rolle im Bürgerkrieg, seiner Auseinandersetzung mit den innerparteilichen Konkurrenten, seiner Rolle für die Kollektivierung und forcierte Industrialisierung, seiner Rolle im Terror, die dann
durch die des obersten Kriegsherrn und schließlich durch
die des alt werdenden Gewaltherrschers in einer komplizierter gewordenen Nachkriegswelt abgelöst wurde.
Auf dieser zweiten, eher traditionellen Ebene bietet
Chlewnjuk eine nüchterne Schilderung der Karriere Stalins und seines Anteils an der politischen Entwicklung
der Sowjetunion. Ein neues Bild Stalins bzw. des Stalinis1
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mus entsteht dabei nicht. Vielmehr ist es die Sachlichkeit,
mit der Chlewnjuk überzeugt, wenn er den Weg Stalins
nachzeichnet und dabei mit vielen Legenden aufräumt,
die sich in der Literatur breitgemacht haben. Das beginnt
mit der Klärung des in den 1920er-Jahren geänderten Geburtsdatums vom 6./18. Dezember 1878 auf den 9./21. Dezember 1879 und geht über die angebliche Opposition gegen Stalin auf dem 17. Parteitag 1934, die angebliche Beteiligung Stalins an der Ermordung des scheinbaren Konkurrenten Kirow, die Verlagerung der Schuld am Gro”
ßen Terror“ auf den Volkskommissar Jeschow, die angebliche Geheimrede Stalins vor dem Politbüro am 19. August 1939, mit der der Schwenk zugunsten Deutschlands
begründet worden sein soll, und endet mit der nüchternen Darlegung der Tatsachen hinsichtlich angeblicher
Mordpläne Berijas gegenüber Stalin.
ten Vorgesetzten, dem Staatssicherheitsminister Ignatjew, Anweisungen. Dieser selbst vermied jedoch eine eigenständige Entscheidung und verwies die Wachleute an
die Mitglieder des Präsidiums des ZK, wie das Politbüro
seit dem 19. Parteitag hieß.
Damit wurde die Frage der an sich selbstverständlich gebotenen Hinzuziehung von Ärzten an die höchste
politische Führung weitergereicht. Sie erreichte als ersten Malenkow, der aber ebenfalls nicht die Hinzuziehung
von Ärzten anordnete, sondern zunächst einmal Berija,
Chruschtschow und Bulganin informierte, um die Verantwortung für das weitere Vorgehen auf mehrere Schultern zu laden. Die vier wiesen ebenfalls nicht die sofortige
Hinzuziehung von Ärzten an, sondern beschlossen, erst
einmal zu rekognoszieren. Als sie frühmorgens auf Stalins Datsche ankamen, gingen sie nicht etwa sofort zum
Patienten, sondern verhörten erst einmal das Wachpersonal. Dann wurden Berija und Malenkow als Delegation“
”
zu Stalin geschickt. Sie fanden ihn leicht schnarchend,
scheinbar schlafend vor, und man beschloss zu viert, ihn
nicht zu wecken, weil Stalin es ihnen später wahrscheinlich nicht verzeihen würde, ihn in seinem erbärmlichen
Zustand gesehen zu haben.
Wenn man dabei etwas vermisst, dann eine Auseinandersetzung mit der einschlägigen Literatur. In dieser
Hinsicht ist Chlewnjuk sehr kurz angebunden und beschränkt sich auf eher beiläufige, allgemeine Bemerkungen. So hat sich, um nur ein einziges Beispiel zu nennen,
der russische Historiker Sergei Slutsch in aller Ausführlichkeit mit Stalins angeblicher Rede am 19. August 1939
beschäftigt und deren Fälschungscharakter überzeugend
Aufgrund des Befundes, Stalin schlafe ja lediglich,
nachgewiesen. Nichtsdestoweniger wird man Chlewnwurde das Wachpersonal noch wegen des offenkundig
juks Stalin-Biographie zur sachlichen Klärung strittiger
unnötigen Alarms gescholten, und die vier zogen wieFragen zweifellos immer mit Gewinn heranziehen.
der ab. Als das Wachpersonal, in der berechtigten Furcht,
Was nun die erste Ebene der Biographie Chlewnjuks im Falle des Todes von Stalin verantwortlich gemacht zu
betrifft, so erschöpft sie sich keineswegs in der Reporta- werden, gegen Morgen des 2. März der Führung“ erneut
”
ge der Vorgänge der Nacht vom 28. Februar auf den 1. den Zustand Stalins schilderten, rief diese zunächst einMärz 1953 bis zu seiner Beisetzung am 9. März. Chlewn- mal das Büro des Präsidiums des Zentralkomitees der
”
juk nutzt vielmehr diesen Rahmen, um die Essenz der KPdSU“ zusammen, acht Personen ohne Stalin. Dieses
absoluten Herrschaft Stalins über seine Umgebung und Kollektivgremium beschloss nun endlich, Ärzte an Staüber das ganze Land deutlich zu machen. Auch auf dieser lins Lager zu beordern. Diese sahen keine ÜberlebensEbene entsteht kein neues Bild des brutalen, im wahrs- chancen mehr für Stalin, so dass die über diese Nachten Sinne des Wortes über Leichen gehenden Diktators. richt offenkundig erleichterte politische Führung nun
Aber Chlewnjuk kann wesentliche Züge der Persönlich- nur noch Sorge hatte, dass der medizinische Tod noch
keit und der Herrschaftspraxis Stalins veranschaulichen. vor der Regelung der Machtfragen und der TrauerfeierSo zeigt er etwa am Beispiel des Umgangs mit dem reglo- lichkeiten eintreten würde.
sen, vom Schlaganfall getroffenen Stalin wie grotesk ähnChlewnjuk betont, dass das Verhalten Malenkows,
lich sich die furchtbesessenen Kleinen und Großen aus
Berijas,
Chruschtschows und Bulganins als Verschwöseiner Umgebung verhielten: Das Wachpersonal traute
rung
zur
Ermordung Stalins durch absichtlich unterlassesich nicht, bei Stalin anzuklopfen und nach dessen mögne
Hilfeleistung
interpretiert worden ist. Er kann den Gelichem Begehr zu fragen, selbst als dieser sich am Abend
genbeweis
zwar
nicht antreten, weist aber sehr plausibel
des 1. März noch nicht rührte, denn niemand ging ungedarauf
hin,
dass
viele
der Sowjetführer Stalin zwar sicher
rufen zu Stalin. Die Ankunft der Post für Stalin war deskein
längeres
Leben
wünschten, dass aber die Furcht,
halb ein höchst willkommener Vorwand, um ungebeten
durch
irgendwelche
Entscheidungen
Stalins Zorn herin Stalins Räume vorzudringen. Man fand den reglosen
vorzurufen
für
den
Fall,
dass
seine
Unpässlichkeit
vorStalin auf dem Boden in einer Urinlache, hob ihn auf eine
übergehen
sollte,
erheblich
größer
gewesen
sei
als
die
Couch und erbat, statt einen Arzt zu rufen, vom obers2
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vor seinem Tode und deshalb ein makabres, aber realistisches Motiv für das tatsächlich höchst sonderbare Verhalten der vier Führungsmitglieder gewesen sein wird.
Chlewnjuk nimmt dies zum Anlass, auf zahlreiche Fälle
hinzuweisen, in denen Stalins Zorn in Form von öffentlicher Demütigung bis hin zur Übergabe an die Organe“
”
zur strafrechtlichen Verfolgung als Verräter viele seiner
so genannten Mitkämpfer“ geradezu aus heiterem Him”
mel getroffen hat. Auf diese Weise habe er Persönlichkeiten wie Molotow, Mikojan und Berija, deren Macht normalen Sowjetbürgern unendlich groß scheinen musste,
noch kurz vor Ende seines Lebens in Angst und Schrecken gehalten. Selbst wenn sie mit der Zeit große Verantwortung für ihre Bereiche trugen, weil Stalin ange-
sichts seines Alters immer weniger wirklich kontrollieren konnte, so sollte doch niemand sich seiner Stellung
sicher, sondern jederzeit der Abhängigkeit von Stalin bewusst sein. In dieser Beziehung habe sich das Leben der
höchsten Führer fast nicht von dem der kleinen Leute unterschieden (S. 146).
Auf dieser Ebene der Stalin-Biographie Chlewnjuks
wird der von der Persönlichkeit Stalins abgeleitete Herrschaftsstil Stalins als persönliche Schreckensherrschaft
unter der Maske demokratisch legitimierter kollektiver
Herrschaft deutlich. Insofern muss man beide Ebenen der
Biographie lesen, um Stalin und seine Bedeutung für den
Weg Russlands im 20. Jahrhundert besser zu verstehen.
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Citation: Bernd Bonwetsch. Review of Chlewnjuk, Oleg V., Stalin: New Biography of a Dictator. H-Soz-u-Kult, H-Net
Reviews. April, 2016.
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