Nikolai Bucharin 2016-3-048 Hedeler, Wladislaw - H-Soz-Kult

W. Hedeler: Nikolai Bucharin
Hedeler, Wladislaw: Nikolai Bucharin. Stalins
tragischer Opponent. Eine politische Biographie.
Berlin: Matthes & Seitz Verlag 2015. ISBN:
978-3-957-57018-5; 639 S.
Rezensiert von: Andreas Oberender, Institut für Geschichtswissenschaften, HumboldtUniversität zu Berlin
Im Moskauer Museum für Moderne Geschichte Russlands, dem früheren Revolutionsmuseum, gibt es ein Exponat, das nicht
recht zu den anderen Ausstellungsstücken
passen will. Es ist ein Malkasten. Der Kasten enthält eine Palette mit eingetrockneten
Farbresten, mehrere Pinsel und ein paar zerdrückte Farbtuben, auf denen man noch den
Namen eines bekannten deutschen Herstellers von Künstlerfarben erkennen kann. Dieser Malkasten gehörte einst Nikolai Bucharin (1888–1938). In den 1920er-Jahren zählte
Bucharin zum Führungszirkel der Sowjetunion. Nach Lenins Tod galt er als bedeutendster Theoretiker der Kommunistischen Partei. Zunächst Verbündeter, später jedoch Kritiker und Widersacher Stalins, erlitt Bucharin das Schicksal vieler prominenter Altbolschewiki: Politische Marginalisierung, physische Vernichtung, Tilgung aus der Geschichte. Bucharins persönliche Hinterlassenschaft
beschränkt sich auf ein Objekt ohne politische Konnotation, das an eine der musischen
Leidenschaften dieses vielseitig interessierten
Mannes erinnert, die Malerei. Der Malkasten
verweist auf den privaten Bucharin, den Dichter, Tierfreund, Alpinisten. Doch wie verhält
es sich mit dem politischen Bucharin, dem
Revolutionär, Parteiführer und Theoretiker?
Welche Spuren hat er in der Geschichte hinterlassen, und welche historische Bedeutung
kommt ihm aus heutiger Sicht zu?
Bucharin, der vor allem als leidenschaftlicher Verfechter der Neuen Ökonomischen
Politik (NÖP) in Erinnerung geblieben ist,
lässt sich mit Lew Trotzki vergleichen. Noch
heute glauben Trotzkis Erben, die Geschichte der Sowjetunion hätte einen anderen, „besseren“ Verlauf genommen, wenn sich Trotzki
gegen Stalin durchgesetzt hätte. Auch Bucharin steht seit langem für eine vermeintliche
Alternative zu Stalins „Revolution von oben“
(forcierte Industrialisierung, Zwangskollekti-
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vierung der Landwirtschaft, Kulturrevolution). Deshalb hat er immer wieder das Interesse der Geschichtswissenschaft auf sich gezogen. Unter den westlichen Historikern, die
Bucharins Leben und politische Tätigkeit erforschen, nimmt Wladislaw Hedeler eine Sonderstellung ein. Hedelers intensive Beschäftigung mit Bucharin reicht bis in die frühen
1980er-Jahre zurück. Nach mehreren Einzelstudien und zwei bibliographischen Kompendien hat Hedeler eine Bucharin-Biographie
vorgelegt. Das ist in doppelter Hinsicht bedeutsam, zum einen in Hinblick auf die
Bucharin-Forschung selbst, zum anderen deshalb, weil die politische Biographik innerhalb
der deutschen Sowjetunion-Forschung noch
immer eine marginale Rolle spielt. Jede neue
biographische Arbeit ist daher zu begrüßen.
Die Biographie ist chronologisch angelegt
und in acht Teile gegliedert, die einzelnen
Abschnitten von Bucharins Lebensweg entsprechen. Ein Viertel des Textes entfällt auf
die Jahre 1936 bis 1938. Die Ausführlichkeit, mit der Hedeler Bucharins letzte Lebensphase behandelt, vermisst der Leser bei
vielen anderen Aspekten und Themen, seien sie politischer, seien sie privater Natur.
Bucharins Privat- und Familienleben nach der
Revolution wird ausgeblendet. Seine zweite und dritte Ehefrau finden erst am Ende des Buches Erwähnung, in einem Abschnitt über die Schicksale von Bucharins Angehörigen und Verwandten. Das ist symptomatisch für die gravierenden darstellerischen und inhaltlichen Defizite und Mängel
des Buches. Trotz ihres stattlichen Umfanges
ist die Biographie seltsam unergiebig. Über
weite Strecken wirkt der Text wie eine unbearbeitete Rohfassung. Es springen zahllose Komma- und Rechtschreibfehler ins Auge.
Mit dem Verzicht auf eine sorgfältige Bearbeitung des Manuskripts hat der Verlag sowohl
dem Autor als auch den Lesern einen schlechten Dienst erwiesen. Zu den darstellerischen
Schwächen gehören endlose Blockzitate, abrupte chronologische und thematische Sprünge innerhalb von Kapiteln, Diskrepanzen zwischen Kapitelüberschriften und Kapitelinhalten sowie ausuferndes Name-Dropping. Im
Buch kommen Hunderte von Personen vor,
die Hedeler in den meisten Fällen nicht angemessen einführt und vorstellt. Gelegent-
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lich gleitet Hedeler in den Sprachduktus
der DDR-Geschichtswissenschaft ab: Bucharin „vermochte es nicht, die Dialektik von
Produktivkräften und Produktionsverhältnissen wissenschaftlich exakt zu bestimmen,
konnte nicht zu einer eindeutigen Definition der Triebkräfte der gesellschaftlichen Entwicklung gelangen“ (S. 93).
Die inhaltlichen Schwächen, die bei der
Lektüre zu Tage treten, lassen sich schon
in der Einleitung erahnen. Hedeler formuliert keinerlei Fragestellungen, die das Buch
strukturieren könnten. Es fehlen Überlegungen, was eine politische Biographie ausmacht.
Von einer Anbindung des Buches an den aktuellen Forschungsstand kann nur in Ansätzen die Rede sein. Der Blick ins Literaturverzeichnis offenbart eine irritierend selektive Rezeption der Sekundärliteratur zur sowjetischen Geschichte der 1920er- und 1930erJahre. Augenscheinlich existiert die westliche
und russische Forschung der letzten 25 Jahre für Hedeler nicht. Das Hauptproblem besteht jedoch darin, dass das Buch keine politische Biographie ist, wie es der Untertitel ankündigt. Hedeler interessiert sich nur
für Bucharins intellektuellen Werdegang und
Wirken als marxistischer Theoretiker. Allerdings unterzieht er kaum eine von Bucharins zahlreichen Schriften einer eingehenden
Analyse und kritischen Würdigung. Der Inhalt von Bucharins Broschüren und Artikeln
bleibt in den meisten Fällen verschwommen.
Selbst über das bekannte „ABC des Kommunismus“, das Bucharin während des Russischen Bürgerkrieges zusammen mit Jewgeni Preobrashenski verfasste, geht Hedeler mit
wenigen Worten hinweg (S. 177). In den Kapiteln, die Bucharins Jugend und Leben im
Exil behandeln, stehen theoretische Debatten innerhalb der russischen Sozialdemokratie im Vordergrund. Der junge Bucharin beteiligte sich an den Kontroversen zwischen Lenin, Georgi Plechanow und Alexander Bogdanow. Ob diese Dispute aus heutiger Sicht
überhaupt noch von Belang sind, diese Frage hat sich Hedeler nicht gestellt. Auch in
den Kapiteln über die Revolutions- und Bürgerkriegszeit und die 1920er-Jahre, die eigentlich den ergiebigsten Teil der Biographie
ausmachen müssten, untersucht Hedeler fast
ausschließlich Bucharins Tätigkeit als Publi-
zist und Theoretiker. Das politische Geschehen der 1920er-Jahre kommt nur am Rande
vor. Es entsteht kein aussagekräftiges und zusammenhängendes Bild von Bucharins politischen und sonstigen Aktivitäten.
Weder befasst sich Hedeler mit Bucharins
Rolle in der Komintern-Führung, noch untersucht er Bucharins langjährige Tätigkeit als
Chefredakteur der Parteizeitung „Prawda“.
Von 1919 bis 1929 gehörte Bucharin dem Politbüro an. Die zahlreichen Debatten über Fragen der Innen-, Außen- und Wirtschaftspolitik, die das Politbüro in dieser Zeit führte, finden in Hedelers Darstellung nur schwachen
Widerhall. Bucharins Beitrag zum Kampf gegen Trotzki und die linke Opposition bleibt
ebenso unklar wie sein persönliches Verhältnis zu Stalin und dessen Gefolgsleuten (bis
zu seiner Verhaftung Anfang 1937 wohnte Bucharin im Kreml). Hedeler sagt auch
nichts über Bucharins Beziehungen zu den
beiden anderen Wortführern der sogenannten rechten Abweichung, Regierungschef Alexej Rykow und Gewerkschaftschef Michail
Tomski, die sich Ende der 1920er-Jahre ebenfalls gegen Stalin stellten. Die Vernachlässigung des historischen Kontextes macht sich
immer dann besonders negativ bemerkbar,
wenn Hedeler Bucharins Veröffentlichungen
zu Wirtschaftsfragen behandelt. Auf dem
wirtschaftshistorischen Auge ist Hedeler vollkommen blind. Man kann keine BucharinBiographie schreiben, ohne auf die wirtschaftliche Entwicklung der Sowjetunion zwischen
1921 und 1928/29 einzugehen. Hedeler analysiert Bucharins Texte losgelöst vom tatsächlichen wirtschaftlichen Geschehen. Die zahlreichen Wendungen der Landwirtschaftspolitik, an denen auch Bucharin seinen Anteil hatte, werden nicht greifbar. Bucharins berühmter Appell an die Bauern „Bereichert euch!“
(April 1925) und die Kampagne „Mit dem
Gesicht zum Dorf“ (Licom k derevne) finden
kein einziges Mal Erwähnung.1 Anstatt sich
um eine eigenständige Position zur NÖP zu
bemühen, übernimmt Hedeler einfach Bucharins Sicht, die NÖP ermögliche das „Hineinwachsen in den Sozialismus“. War das eine realistische Annahme – oder nicht eher
1 Siehe dazu Markus Wehner, Bauernpolitik im proletari-
schen Staat. Die Bauernfrage als zentrales Problem der
sowjetischen Innenpolitik 1921–1928, Köln 1998.
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Wunschdenken? Bei der Lektüre fallen ständig Punkte auf, die unklar bleiben oder ungenügend ausgeführt werden: Wo war und was
tat Bucharin in den Tagen des Oktoberumsturzes? Was hat es mit der Angabe auf sich,
Bucharin sei 1922 im Prozess gegen die Sozialrevolutionäre „als Verteidiger“ aufgetreten
(S. 215)? Worum ging es in dem Vortrag, den
er 1936 während eines Paris-Aufenthaltes an
der Sorbonne hielt (S. 403)?
Unbefriedigend ist das Buch auch deshalb, weil Hedeler der Frage ausweicht, wie
Bucharin als Mensch und politischer Akteur einzuschätzen ist. Hedeler versucht sich
nicht an einer pointierten Charakterskizze
oder einem Psychogramm seines Protagonisten, auch nicht an einer nüchternen Bewertung von Bucharins Fähigkeiten. Er steht
Bucharin auffallend unkritisch gegenüber. Eine Tendenz zur Idealisierung und Verklärung
lässt sich nicht übersehen. Hedeler stilisiert
Bucharin zum „eigentlichen Testamentsvollstrecker“ Lenins, erhebt ihn in den Rang eines
„Politökonomen“, „Philosophen“ und „Gesellschaftswissenschaftlers“. Aber war Bucharin wirklich ein ernst zu nehmender Politiker,
Theoretiker und Wissenschaftler – oder nicht
eher ein genialer Dilettant, der von allem etwas konnte, malen, dichten, philosophieren,
über Ökonomie räsonieren? Wie die meisten
prominenten Altbolschewiki, die nach der Revolution an die Schalthebel der Macht gelangten, war Bucharin ein Amateur und Autodidakt, ein Mann ohne Beruf und praktische
Arbeitserfahrung. Bucharin kannte das Wirtschaftsleben nicht aus eigener Anschauung;
er hat nie eine Fabrik, eine Bank, einen Kontor von innen gesehen, von einem Bauernhof ganz zu schweigen. Ihm fehlte der fundierte technisch-ökonomische Sachverstand,
wie ihn nur wenige Parteiführer besaßen, etwa Leonid Krasin (Ingenieur, Betriebsdirektor) und Grigori Sokolnikow (promovierter
Volkswirt, Finanzfachmann). Bucharin, der
vor dem Ersten Weltkrieg ein wenig herumstudiert hatte, war kein Wissenschaftler. Aufgrund seiner vielen Funktionen hatte er in
den 1920er-Jahren gar keine Zeit für wissenschaftliche Forschungen. Hedeler hätte untersuchen müssen, wie Bucharin die Arbeiten sowjetischer Ökonomen und Agrarexperten jener Zeit rezipierte und für politische Zwecke
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nutzte. Bucharins Beziehungen zum Wissenschaftsbetrieb beleuchtet Hedeler aber ebenso
wenig wie andere Aspekte von Bucharins sozialer Vernetzung.
Es kommt für den Leser nicht überraschend, dass Hedeler die Ansicht vertritt,
Bucharin stehe für eine „Alternative zu Stalins Kurs, vielleicht die einzig wirkliche Alternative, die es in der Geschichte der UdSSR
nach Lenins Tod gegeben“ habe (S. 288). Das
glauben all jene, die der Meinung sind, im
Rahmen der NÖP sei ein friedliches „Hineinwachsen“ in den Sozialismus möglich gewesen. Zweifel an dieser Sichtweise sind angebracht, heute wie schon in der Vergangenheit.
Jüngst hat Stephen Kotkin im ersten Band seiner Stalin-Biographie zu bedenken gegeben,
dass die Bolschewiki 1928/29 nicht vor der
Wahl „Stalin oder Bucharin?“ gestanden hätten. Bucharin habe keine echte Alternative zu
Stalin verkörpert, weder in persönlicher noch
in programmatischer Hinsicht. Ihm habe alles gefehlt, was nötig gewesen wäre, um Stalin zu verdrängen und zu ersetzen, Machtinstinkt, Führungsstärke, eine breite Anhängerschaft in der Partei. Die Bolschewiki hätten vor einer ganz anderen Wahl gestanden,
als ihnen gegen Ende der 1920er-Jahre klar
geworden sei, dass der Sozialismus, der Gegenentwurf zur kapitalistischen Wirtschaftsund Gesellschaftsordnung, nicht von selbst
Gestalt annehmen wollte: Entweder Preisgabe ihres Herrschaftsanspruchs, ihrer ideologischen Obsessionen und ihres Modernisierungsprogrammes – oder eine gewaltsame
Umgestaltung der sozioökonomischen Verhältnisse, wie sie Stalin vorschlug.2 Kotkins
Überlegungen sind überzeugender als Hedelers Versuch, Bucharin ein weiteres Mal als Alternative zu Stalin ins Gespräch zu bringen.
Als Ergebnis einer jahrzehntelangen Beschäftigung mit Nikolai Bucharin ist Hedelers Biographie eine herbe Enttäuschung. Erfordert die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit einem historischen Akteur wie
Bucharin neben kritischer Distanz nicht auch
ein gewisses Maß an Mut zum Ikonoklasmus und zur Respektlosigkeit? Ist der ernste und pietätvolle Tonfall, in dem Hedeler
über russische Marxisten und ihre Werke
2 Stephen
Kotkin, Stalin. Band 1: Paradoxes of Power,
1878–1928, New York 2014, S. 724–739.
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schreibt, in unserer heutigen Zeit noch angebracht? Bucharins Leben bietet den Stoff
für eine spannende Geschichte über Aufstieg
und Fall der linksradikalen russischen Intelligenz, über die Selbsttäuschung und ideologische Verblendung einer ganzen Generation.
Wladislaw Hedelers Bucharin-Biographie ist
eine vertane Chance. Als Referenzwerk für
den wissenschaftlichen Gebrauch kommt sie
nicht in Betracht. Das Buch überzeugt weder
als politische Biographie noch als Studie über
den Theoretiker Bucharin. Auf der vorletzten
Seite des Schlusskapitels erfährt der Leser zu
seiner Überraschung, dass das Buch ungeachtet seines Umfanges lediglich als „biographische Skizze“ zu verstehen ist, als Vorstudie
zu einer „lückenlosen Biographie“ (S. 542).
Ob es eine solche Biographie jemals geben
wird, ist zweifelhaft. Wer soll sie schreiben?
Wie wahrscheinlich ist es, dass sich ein anderer Historiker so intensiv mit Bucharin befassen wird, wie es Hedeler getan hat? Am Ende dieser Rezension steht der Wunsch, dass
in der deutschen Sowjetunion-Forschung eine Diskussion über konzeptionelle und darstellerische Aspekte der politischen Biographik beginnen möge. Die Schwächen und
Mängel von Wladislaw Hedelers BucharinBiographie sind auch der Tatsache geschuldet, dass eine solche Diskussion bisher nicht
geführt wurde.
HistLit 2016-3-048 / Andreas Oberender über
Hedeler, Wladislaw: Nikolai Bucharin. Stalins
tragischer Opponent. Eine politische Biographie.
Berlin 2015, in: H-Soz-Kult 19.07.2016.
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