taz.die tageszeitung

Die Deutschen: Elf ohne Form
Gegen Italien versucht die Nationalmannschaft mal ein Testspiel zu gewinnen ▶ Seite 19
AUSGABE BERLIN | NR. 10979 | 13. WOCHE | 38. JAHRGANG
H EUTE I N DER TAZ
DIENSTAG, 29. MÄRZ 2016 | WWW.TAZ.DE
€ 2,10 AUSLAND | € 1,60 DEUTSCHLAND
Die Anti-Deutschen
AFD Völkisch-national, fundamental christlich, erzkonservativ
und unsozial. Antiegalitär, antifeministisch und antiökologisch
VOLL SÜSS Hannelore
Kraft: wie sich die NRWMinisterpräsidentin
vermarktet ▶ SEITE 7
VOLL INTEGRIERT
Ali Moradi: vom
abgelehnten Asylbewerber zum Flüchtlingsrat
in Sachsen ▶ SEITE 15, 16
Der offizielle
Entwurf des
AfD-Programms
ist eine Kampfansage
an die moderne
Bundesrepublik
▶ SEITE 3
VOLL EXPLOSIV Wie
Fischer in Tansania zum
Sicherheitsproblem
werden ▶ SEITE 5
Fotos: dpa und reuters (o.)
VERBOTEN
Guten Morgen,
liebe Kinder!
Na, kennt ihr schon den Unterschied zwischen Jungs und
Mädchen und ... Nein? Puh!
Dann ist ja alles gut. Denn
„Frühsexualisierung an den
Schulen“ und – noch schlimmer –„staatlich geförderte
Umerziehungsprogramme in
Kindergärten“ verunsichern
euch bloß und müssen „systematisch ‚korrigiert‘“ werden.
Fordert die fürsorgliche AfD.
Schluss mit dem schwulen
Transgenderschweinskram! Ihr
müsst nur eins wissen: Männer
sind stark und Frauen kochen.
Und die Babys? Die bringt laut
AfD natürlich nach guter alter
deutscher Art
die Storch.
TAZ MUSS SEI N
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Bald auch mit Programm: Parteichefin Frauke Petry mit den AfD-Spitzenkandidaten der drei Landtagswahlen, Uwe Junge, André Poggenburg und Jörg Meuthen Foto: Wolfgang Rattay/reuters
KOMMENTAR VON JOHANNA ROTH ÜBER DIE PERFORMANCE DER AFD
Die aalglatte Frau Petry
G
enial ausgehebelt“, „komplett demontiert“, „entlarvend“: Politiker
wie Journalisten feiern den britischen Fernsehjournalisten Tim Sebastian
für ein kritisches Interview mit AfD-Chefin Frauke Petry in seiner Sendung „Conflict Zone“. Vor allem ein Satz Sebastians
begeistert alle: „Ich stelle die Fragen, die
ich stellen will.“
Na und? Dass dieser Grundsatz der
Pressefreiheit dermaßen viel Lob erhält, nur weil es sich bei der Interviewten
um Frauke Petry handelt, irritiert. Was
hat man denn erwartet? Ob Spiegel oder
Bunte: Über zu wenig Bühne kann Petry
derzeit nicht klagen. Und die bespielt sie
leider nicht schlecht. Tim Sebastian hat
zweifellos hervorragende, hartnäckige
Fragen gestellt. Allein: Frauke Petry hat
er damit weder geschwächt noch demontiert. Sie hatte zwar inhaltlich wenig zu
sagen, blieb aber redegewandt.
Beides ist für sich erschreckend, aber
kaum überraschend. Es passt zu ihrer Strategie, die lautet: Raus aus der
Schmuddelecke, rein in die Unis, in die
Wirtschaft und natürlich in die Parlamente. Die AfD will die Eliten, nicht die
kleinen Leute. Niemand verkörpert das
stärker als Petry. Ihr British English, Kostüm und Doktortitel sind keineswegs
Marginalitäten. Sondern eine Ansage.
Der aktuelle Entwurf des AfD-Grundsatzprogramms zielt demgemäß nicht
auf sozialen Frieden, den Petry kürzlich
noch als oberste Prämisse ihrer Politik
verkaufen wollte. Souveräner Nationalstaat, sorgenfreies Unternehmertum,
spießbürgerliche Idylle am Abendbrottisch: Das Papier ist eine zusammengeklaubte Mischung aus Marktradikalismus, völkischem Konservatismus und
antiegalitären Ideen, die Einwanderer
ebenso stigmatisieren wie Geringverdiener.
Die AfD will die Eliten,
nicht die kleinen Leute.
Dafür steht Petry
Vier weitere Todesopfer
BELGIEN
Assad erobert Ruinen
Infolge der Anschläge in Brüssel sind nun 35 Menschen gestorben
BRÜSSEL dpa/taz | Knapp eine
Woche nach den Anschlägen
von Brüssel hat sich die Zahl
der Todesopfer um vier auf
nun 35 erhöht. Die vier seien in
den vergangenen Tagen ihren
Verletzungen erlegen, teilte die
Staatsanwaltschaft am Montag
mit. Hinzu kommen noch die
drei Selbstmordattentäter.
Dass erst jetzt weitere Todesopfer bekannt gegeben wur-
den, erklärte die Sprecherin der
Staatsanwaltschaft, Ine Van Wymersch, mit unterschiedlichen
Zuständigkeiten der Behörden
und Verzögerungen im Informationsfluss.
Die belgische Justiz erließ zudem Haftbefehle gegen drei weitere Terrorverdächtige. Sie waren tags zuvor festgenommen
worden. Ein vierter Mann kam
wieder frei.
Konstruktive Vorschläge? Wenig. Aber
das stört die AfD-Wähler kaum, ebenso
wie Widersprüche in der Programmatik
– Grenzen für Menschen, aber bloß nicht
für Handelsware. Protestwähler lesen
kein Parteiprogramm. Täten sie es, würden sie sich empört abwenden. Stattdessen bewundern sie eine stur lächelnde,
aalglatte Frauke Petry. Die sich nicht von
der kritischen, nach AfD-Logik ohnehin
parteiischen Presse von ihrer Linie abbringen lässt.
Im AfD-Grundsatzprogramm stehen
gefährliche Dinge. Die Zeit der dumpfen Altherrenparolen aber ist mit Petry
endgültig vorbei. Um sie zu entzaubern,
braucht es mehr als kritische Fragen.
Weiterhin fahndet die belgische Polizei nach dem dritten
Täter vom Flughafen. Die Beschreibung des Mannes mit Hut
auf der Internetseite der Polizei
wurde um ein Video ergänzt. Die
Ermittler gehen offenbar davon
aus, dass der in der vergangenen
Woche gefasste Fayçal C. anders
als vielfach vermutet nicht der
Mann auf dem Foto ist.
▶ Schwerpunkt SEITE 4
SYRIEN
Armee vertreibt Islamisten aus Palmyra
DAMASKUS ap/taz | Trupps des
syrischen Kampfmittelräumdienstes haben am Montag Minen und Sprengfallen in der von
der Terrormiliz „Islamischer
Staat“ zurückeroberten antiken Oasenstadt Palmyra beseitigt. Ein Militärsprecher sagte,
der IS habe sowohl in Wohngebieten als auch in dem zum
Unesco-Weltkulturerbe gehörenden historischen Teil Spreng-
fallen hinterlassen. Truppen der
Regierungsarmee von Diktator
Baschar al-Assad und mit ihnen
verbündete Milizen hatten am
Sonntag Palmyra zurückerobert,
das zehn Monate vom IS besetzt
war. Der IS brachte in dieser Zeit
Dutzende von Menschen in Palmyra um und zerstörte einige
historische Stätten.
▶ Der Tag SEITE 2
▶ Meinung + Diskussion SEITE 12
02
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
NACH RUF
NACH RICHTEN
REGIONALVERKEH R
UN I-SPITZEN FORSCHUNG
Bahn-Marktanteil sinkt weiter
Wanka für zweites
Förderprogramm
BERLIN | Für Bahnfahrgäste wer-
Druck eingestellt: der „Independent“ vom Samstag Foto: Archiv
Der letzte
Independent
Z
um Schluss hat man in London noch einmal alle Register gezogen. Der britische
Independent erschien am Samstag in seiner letzten Ausgabe mit
einer 16-seitigen Souvenirbeilage, in der die Höhepunkte des
Blattes noch einmal nacherzählt
werden. Die meisten Mitarbeiter der Tageszeitung waren am
Karfreitag zur Produktion in die
Redaktion gekommen. Aufmacher der Abschiedsausgabe ist
eine exklusive Geschichte über
eine britische Beteiligung an einem Plan, den saudiarabischen
König zu töten.
Die allerletzte Ausgabe erschien mit einer Banderole, auf
der „Stop Press“ stand. Bei der
Schwesterzeitung Independent
on Sunday wurden die Druckmaschinen bereits am vorvergangenen Sonntag für immer
gestoppt.
Künftig werden die Blätter
nur noch online erscheinen. Die
Zeitung i, die billige, aber profitable Kurzausgabe des Blattes,
wurde Anfang des Jahres für
24 Millionen Pfund an den Verlag Johnston Press verkauft.
1986 hatten drei Journalisten des konservativen Daily Telegraph die Idee, eine unabhängige Zeitung links von der Mitte
zu etablieren. Der Erfolg gab ihnen zunächst recht, 1990 lag die
verkaufte Auflage bei ­immerhin
423.000 Exemplaren. Doch als
Medienmogul Rupert Murdoch
einen Preiskrieg anzettelte und
seine Times für 10 Pence verschleuderte, ging es mit dem
Independent bergab.
Daran konnten weder Experimente mit Gemälden statt Fotos
oder Meinungsartikel auf der Titelseite noch das Schrumpfen
auf Boulevardformat etwas ändern. Selbst die Auszeichnung
als beste überregionale britische
Zeitung des Jahres 2004 brachte
keine Wende.
Die Zeitungsgründer gaben ihre Unabhängigkeit auf,
die Blätter gingen nacheinander an vier Investoren, zuletzt
an den ehemaligen russischen
Geheimdienstagenten Alexander Lebedew, der die Titel 2010
für den symbolischen Preis von
einem Pfund kaufte und dafür
die Schulden übernahm. Sein
Sohn Jewgeni, der seit vorigem
Jahr Herausgeber war, wollte
diese Verluste nun nicht länger
finanzieren.
100 Menschen haben mit
dem Ende der Printausgabe
ihre Jobs verloren. Sie mussten
ein Schweigegelübde ablegen,
um ihre Abfindung nicht zu gefährden. Weder mündlich noch
schriftlich dürfen sie sich über
die Schließung des Independent,
das Management oder die He­
raus­geber äußern.
Ganze 30 Mitarbeiter sollen
nun den Onlineauftritt stemmen. Es ist absehbar, dass sie
den großen Besucherrückstand
gegenüber den Internetseiten
der Konkurrenz nicht werden
aufholen können. RALF SOTSCHECK
Der Tag
DI ENSTAG, 29. MÄRZ 2016
den die Angebote im Regionalverkehr in den nächsten Jahren
noch vielfältiger. Die Deutsche
Bahn als Marktführer verliert
nach einer aktuellen Analyse
weiter Marktanteile an Konkurrenten wie Transdev oder National Express.
Bei den Vergabeverfahren für
die regionalen Schienennetze
sei der Wettbewerb wieder deutlich intensiver geworden, heißt
es in der Studie der Bundesarbeitsgemeinschaft Schienenpersonennahverkehr und der
Beratungsfirma BSL Transportation Consultants.
Die Bahntochter DB Regio
kam, gemessen an den Zugkilometern, 2014 auf einen Marktanteil von 74 Prozent. 2016
dürfte er auf unter 70 Prozent
sinken. So zeigt die Auswertung
der bis Ende 2015 abgeschlossenen Ausschreibungen, dass die
Deutsche Bahn für 2016 und
2019 nur je 24 Prozent der vergebenen Zugkilometer gewonnen hat. 2017 (87 Prozent) und
2018 (69 Prozent) liegt sie dagegen klar vorn. Der Regionalverkehr wird von den Bundesländern bestellt und bezuschusst,
darum kümmern sich die Verkehrsverbünde. (dpa)
BERLIN | Neben der Exzellenzini-
tiative für Spitzenforschung soll
es laut CDU-Bildungsministerin
Johanna Wanka bald ein weiteres Förderprogramm für kleinere Unis und Fachhochschulen geben. „Auch das geht nur
gemeinsam in einer Bund-Länder-Vereinbarung, dazu sind wir
gerade im Gespräch“, sagte sie.
Erst danach sollten Details und
Finanzvolumen bekannt gegeben werden. Eine Expertenkommission hatte Ende Januar empfohlen, die Förderung bis 2028
mit mindestens gleicher Finanzausstattung fortzusetzen. (dpa)
TAZ.DE / TZI
ATTACKE I N KABUL
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Taliban greifen
Parlament an
KABUL | Die radikalislamischen
Taliban haben das neue afghanische Parlamentsgebäude in Kabul gestern mit Raketen angegriffen. Die Geschosse schlugen
in die Gebäude ein und ließen
Scheiben zerbersten. TalibanSprecher Sabihullah bekannte
sich zu dem Angriff. Es sei „besorgniserregend“, dass „der
Feind das Parlament im Herzen der Hauptstadt“ angreifen
könne, sagte der amtierende
Innenminister
Mohammed
Dschahed. Er werde „neue Sicherheitsmaßnahmen“ für den
Gebäudekomplex erlassen. (afp)
IS verliert Weltkulturerbe Palmyra
SYRIEN Truppen des Assad-Regimes vertreiben die Dschihadisten aus der Wüstenstadt und wollen weiter gegen
den „Islamischen Staat“ angehen. Die Zerstörungen des antiken Palmyra sind offenbar geringer als befürchtet
VON BEATE SEEL
BERLIN taz | Der „Islamische
Staat“ (IS) ist in Syrien und im
Irak militärisch stark unter
Druck geraten. Während die Regierung in Bagdad zum wiederholten Mal die Rückeroberung
der Stadt Mossul, einer Hochburg des IS, ankündigte, gelang
dem Assad-Regime und sei-
nen Verbündeten mit der Rückeroberung der Wüstenstadt Palmyra der bisher größte Erfolg
gegen die Dschihadisten.
Am Sonntag hatte die Regierungsarmee, unterstützt von
Kämpfern der libanesischen
Hisbollah und der russischen
Luftwaffe, die moderne Stadt
und das daneben liegende antike Palmyra nach dreiwöchigen
Kämpfen eingenommen. Nach
Angaben der Beobachtungsstelle für Menschenrechte zogen
die Dschihadisten ihr Hauptkontingent angesichts der vorrückenden Truppen Assads in
Richtung Osten ab, wo sie große
Teile der Provinzen Rakka und
Deir al-Sor kontrollieren. Die Regierung setzte ihre Kämpfe gegen den IS am Montag außer-
halb der Stadt fort und kündigte
an, Palmyra als Ausgangspunkt
für weitere Militäroperationen
auf Rakka und Deir al-Sor zu
nutzen. Am Vortag hatte die Armee bereits eine Offensive auf
Rakka angekündigt.
Als der IS im Mai vergangenen Jahres Palmyra eroberte,
gab es sogleich Befürchtungen,
die Extremisten würden – wie
Die Steine des berühmten Bogens von Palmyra liegen auf dem Boden. Doch das Monument erscheint wiederaufbaubar Foto: V. Sharifulin/dpa
Irak will IS-Zentrum Mossul angreifen
IRAK
zuvor schon im Irak – Monumente der antiken Anlage zerstören, die seit 1980 auf der Liste
des Weltkulturerbes steht. Die
barbarische Tat ließ nicht lange
auf sich warten. Zerstört wurden
der alte Baal-Tempel, dessen gewaltige Anlage das Stadtbild dominierte, der Baal-Shamin-Tempel, mehrere Turmgräber, der
Triumphbogen, Teile der berühmten Säulenallee und Artefakte im Museum.
Dennoch zeigte sich der
Chef der syrischen Altertümerverwaltung, Maamun Abdulkarim, optimistisch hinsichtlich des Wiederaufbaus und
der Restaurierung der Kulturgüter, denn die antike Stadt
ist offenbar in einem besseren
Zustand als erwartet. „Wir haben mit dem Schlimmsten gerechnet“, sagte Abdulkarim gegenüber der Nachrichtenagentur AFP. Die „beste Neuigkeit“
betreffe die berühmte, 15 Tonnen schwere Löwen-Statue, die
der IS im Juli zerstört hatte.
Die Einzelteile könnten wieder
eingesammelt und die Statue
könnte erneut aufgebaut werden, erläuterte er. Nun werde
man gemeinsam mit den Vereinten Nationen über den Wiederaufbau beraten.
Das Theater, das einst mit der
Agora das Zentrum des antiken
Palmyra war, ließen die Dschihadisten ungeschoren. Sie nutzen es als Hinrichtungsstätte für
ihre Gegner.
Meinung + Diskussion
SEITE 12
THEMA
DES
TAGES
Islamistische Extremisten verteidigen hartnäckig ihr Gebiet. Die USA fürchten einen Bruch des Mossul-Staudamms
ISTANBUL taz | Unterstützt von
US-amerikanischen Luftangriffen haben irakische Truppen
und verbündete Milizionäre
im Nordirak eine Offensive begonnen, die den Boden für die
Erstürmung der von den Extremisten des „Islamischen Staats“
(IS) beherrschte Großstadt Mossul bereiten soll. Dabei haben sie
den IS in den letzten Tagen aus
mehreren Dörfern zwischen
Makhmur, knapp siebzig Kilometer südwestlich der kurdischen Regionalhauptstadt Erbil, und Kayyra am Tigris vertrieben. Tausende Zivilisten
sind vor den Kämpfen in die von
den Kurden kontrollierte Kleinstadt Makhmur geflohen. Einige
Familien brachten in ihren Autos Verletzte und selbst Tote mit.
Die lokalen Behörden sind offenbar völlig überfordert. Jour-
nalisten vor Ort verbreiteten Bilder, die Hunderte von Flüchtlingen eingesperrt auf einem
Sportplatz zeigen. Ein Lokalpolitiker beklagte, dass die rund
3.000 Personen, die teilweise
nicht einmal das Nötigste ein-
Flüchtende Familien
brachten in ihren
Autos Verletzte
und selbst Tote mit
packen konnten, keinerlei Hilfe
erhielten.
Der am Donnerstag eingeleitete Angriff gilt als Testfall für
die irakische Armee, die im Juni
2014 ein Debakel erlebte, als sie
Mossul weitgehend kampflos
den IS-Extremisten überließ.
Ein Armeesprecher bezeichnete den Angriff als Auftakt der
mehrfach angekündigten Mossul-Offensive. Das Gebiet liegt
freilich mehr als siebzig Kilometer südlich von Mossul. Bis
dorthin ist es also noch ein langer Weg, und fürs Erste ist die
Bilanz für die rund 5.000 Soldaten und die eigens rekrutierten
sunnitischen Milizionäre eher
bescheiden. Die Einheiten hätten sich sofort zurückgezogen,
als sie unter IS-Feuer geraten
seien, berichteten Journalisten.
Kurdische Peschmerga-Kommandanten, die in der Region
einen Verteidigungsring bilden,
äußerten sich ähnlich.
Anders als anderen Orten
scheint der IS gewillt, den Kampf
um Kayyra aufzunehmen. Die
Kleinstadt liegt nicht nur an
einer wichtigen Verbindungs-
route von Süden nach Norden in
die irakische IS-Hauptstadt, sondern auch am Tigris, der natürlichen Barriere an der Ostgrenze
des Kalifats. Der IS hat nach
Angaben von Augenzeugen auf
den Angriff reagiert, indem er
Sprengschutzfallen gelegt und
seine Kämpfer in dicht besiedelte Wohngebiete verlegt hat.
Eine noch größere Gefahr
als vor den Extremisten droht
den Einwohnern der Region
aber möglicherweise vom Wasser. Denn flussaufwärts droht
mit dem Mossul-Staudamm
die größte Talsperre des Landes
zu bersten. Sollte der Damm
brechen, würde elf Milliarden Kubikmeter Wasser das gesamte Land südlich davon überschwemmen. Bis zu 1,5 Millionen Personen könnten getötet
werden, heißt es in einem US-
Bericht. Washington stuft das
Risiko derart hoch ein, dass die
Botschaft ihre Bürger Ende Februar aufrief, Evakuierungspläne
auszuarbeiten.
Amerikanische Ingenieure
warnten bereits vor zehn Jahren, dass der „gefährlichste
Staudamm der Welt“ jederzeit
brechen könnte. Die irakischen
Politiker beeindruckte das wenig. Seitdem der IS Mossul beherrscht, werden kaum mehr
Reparaturen
durchgeführt.
Kürzlich hat die Regierung in
Bagdad einen Reparaturvertrag mit dem italienischen Unternehmen Trevi unterzeichnet. Rom hat angekündigt, 450
Soldaten zum Schutz der Ingenieure und Techniker zu entsenden. Die Reparaturarbeiten
werden freilich frühestens im
INGA ROGG
Herbst beginnen.
Schwerpunkt
AfD
DI ENSTAG, 29. MÄRZ 2016
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
03
Merkwürdig: Diese Partei ist für strikte Geschlechterquotierung
im Bett, wenn es um Studium und Arbeit geht, aber dagegen
Wohin
des Wegs?
PARTEI Wer wissen will, was für ein
Deutschland die AfD sich vorstellt,
findet im Programmentwurf rabiaten
Wirtschaftsliberalismus – weg vom
Sozialstaat und von offener Gesellschaft
VON PASCAL BEUCKER
BERLIN taz | Es soll „allen Strö-
mungen“ in der AfD gerecht
werden: das neue Grundsatzprogramm, das die rechtspopulistische Alternative für
Deutschland sich auf ihrem Parteitag Ende April in Stuttgart geben will. Dabei wollen die Autoren nicht nur „unsere abendländische und christliche Kultur“
auf Dauer bewahren, sondern
auch „die historisch-kulturelle
Identität unserer Nation und
ein souveränes Deutschland als
Nationalstaat“. Sie träumen, wie
der Text zeigt, von jenen patriarchalischen Verhältnissen, als
noch die „traditionellen Wertvorstellungen und spezifischen
Geschlechterrollen in den Familien“ galten.
Auffällig ist, dass der jetzt offiziell veröffentlichte Programm­
entwurf, der auch vom AfD-Bundesvorstand mitgetragen wird,
gegenüber einer Vorläuferversion vom Februar an mehreren
Stellen deutlich entschärft worden ist. So fehlt etwa die Wiedereinführung des Schuldprinzips
bei Scheidungen. Die wäre der
AfD-Chefin Frauke Petry wie
auch ihrem derzeitigen Lebensgefährten, dem AfD-Funktionär
Marcus Pretzell, wohl teuer zu
stehen gekommen.
In anderen Fällen sind eindeutige durch vage Formulierungen ersetzt worden. Nun fordert die AfD nicht mehr, die öffentlich-rechtlichen Medien zu
privatisieren und einen steuerfinanzierten Staatsfunk „mit
zwei Rundfunksendern und
zwei Fernsehsendern“ einzurichten. Aber: Sie lehnt weiterhin „den geräteunabhängigen Zwangsbeitrag“ ab, ebenso
wie „zusätzliche Finanzierung
durch Werbeeinnahmen“.
Die Verlängerung der Lebensarbeitszeit ist ebenfalls nicht
mehr zu finden. Die passte
wohl kaum zu jener „Partei der
kleinen Leute“, von der Parteivize Alexander Gauland gern
spricht. Statt der zuvor geforderten Privatisierung der Arbeitslosen- und Unfallversicherung heißt es nur noch, die AfD
Das Programm
■■Was? Der jetzt vorliegende
Entwurf eines AfD-Grundsatzprogramms ist nach Angaben der
Partei „das erfolgreiche Ergebnis
langer Beratungen vieler engagierter Fachleute und zweimaliger Mitgliederumfragen“.
■■Wie? Ausgearbeitet hat ihn
eine 28-köpfige Bundesprogrammkommission. Verabschiedet werden soll das Papier auf
einem Mitgliederparteitag.
■■Wann und wo? Vom 30. April
bis zum 1. Mai in Stuttgart. Bis
zum 8. April haben Mitglieder
und Vorstände noch die Möglichkeit, Änderungsanträge einzureichen.
Zurück zur Paukschule
stehe „für grundlegende Reformen zum Wohle Deutschlands“.
Das betreffe „auch die Sozialversicherungen“.
In der Bildungspolitik setzt die
AfD auf die Prinzipien der alten Paukschule. „Leitungsbereitschaft und Disziplin sind Voraussetzung für eine erfolgreiche Wissensvermittlung“, heißt
es im Entwurf. Und: „Null-BockMentalität“ und „Disziplinlosigkeit“ seien nicht zu tolerieren
und „unter Einbeziehung der Erziehungsberechtigten angemessen zu ahnden“. Fordert die AfD
deshalb, das Strafmündigkeitsalter auf 12 Jahre abzusenken?
Von Gesamt- oder Gemeinschaftsschulen hält die AfD
nichts: „Die Einheitsschule führt
zu Qualitätsverlust.“ Nicht gut
findet die AfD auch, wenn gehandicapte Kinder den regulären Schulunterricht stören.
„Die Forderung, behinderten
Kindern Teilhabe am Bildungssystem zu garantieren, ist bereits umfassend und erfolgreich erfüllt“, findet die Partei.
Eine „ideologisch motivierte Inklusion ‚um jeden Preis‘ “ verursache nur erhebliche Kosten
und behindere Schüler in ihrem Lern­erfolg. „Die AfD setzt
sich deshalb für den Erhalt der
Förder- und Sonderschulen ein.“
Ordoliberale Mottenkiste
Von der von Petry ausgerufenen
„Partei des sozialen Friedens“ ist
wenig zu entdecken. Der Entwurf ist vielmehr von rabiatem
Wirtschaftsliberalismus durchdrungen. Das Sozialstaatsgebot
des Grundgesetzes? Gibt es für
die AfD nicht. Absolutes Alleinstellungsmerkmal: Im Gegensatz zu den Grundsatzprogrammen von SPD, Grünen, Linkspartei, CDU, CSU und selbst der FDP
taucht der Begriff „Sozialstaat“
in dem AfD-Entwurf kein einziges Mal auf.
Das Gleiche gilt für die Wörter „Mitbestimmung“ und „Gewerkschaften“: Arbeitnehmerrechte sind für die Partei irrelevant, sie singt lieber das Loblied
auf das freie Unternehmertum,
dem der Staat „keine bürokratischen Knüppel zwischen die
Beine“ zu werfen hat. Kernbotschaft: „Die AfD will ein investitions- und innovationsförderndes wirtschaftliches Umfeld.“
Eingriffe des Staates in das
Wirtschaftsleben seien „auf das
notwendige Minimum zu begrenzen“. Nur der gesetzliche
Mindestlohn soll offenbar bleiben: Er schütze Niedriglohnempfänger „vor dem durch die
derzeitige Massenmigration zu
erwartenden Lohndruck“.
Für die AfD gilt: „Je mehr
Wettbewerb und je geringer die
Staatsquote, desto besser für
alle.“ Nur in Ausnahmen dürfe
„der Staat unternehmerisch tätig sein.“ Nicht tabu sind die
Privatisierung des öffentlichen
Wohnungseigentums und der
öffentlichen Daseinsvorsorge.
Allerdings sollen darüber letztlich „Bürgerentscheide auf der
jeweiligen staatlichen Ebene
entscheiden“.
Weniger Staat, mehr Militär
„Ein schlanker, aber starker
Staat“ ist das Ziel der AfD. Dazu
gehört, „die Staatsaufgaben zu
reduzieren“ und auf „die vier
klassischen Gebiete“ zu konzentrieren: „innere und äußere Sicherheit, Justiz, Auswärtige Beziehungen und Finanzverwaltung“.
Die AfD will „den finanziellen
Staatszugriff auf die Einkommen und Vermögen der Bürger“
zurückdrängen und etwa die
Erbschaft- und die Vermögensteuer abschaffen. Anders als in
ihrem Februar-Entwurf fordert
sie jedoch nicht mehr, auch die
für die Kommunen überlebenswichtige Gewerbesteuer loszuwerden. Diese soll jetzt nur
noch überprüft werden. Originell ist, dass die Partei eine
„verbindliche Steuer- und Abgabenbremse im Grundgesetz“
fordert – „analog zur Schuldenbremse“. Die Obergrenze „sollte
AKW ja, Klimaschutz nein
Wie sähen deutsche Gemeinden wie diese wohl aus, ginge es nach der AfD? Foto: Hans-B. Huber/laif
der heutigen Steuer- und Abgabenquote entsprechen“.
Die AfD will sowohl die
Staatseinnahmen als auch die
Staatsschulden reduzieren. Wo
soll gespart werden? Dafür kommen eigentlich nur der Sozialund der Bildungsbereich infrage. Der Entwurf verrät hier
lediglich, wo die Partei mehr
ausgeben will: bei der Polizei,
der Justiz, dem Militär und den
Nachrichtendiensten. Da gilt:
„Die bisher praktizierte Finanzierung nach Kassenlage lehnt
die AfD ab.“ Denn: „Sicherheit
und Freiheit Deutschlands und
seiner Verbündeten sind im Finanzhaushalt mehr als heute
angemessen zu berücksichtigen.“
Besonders die Bundeswehr
hat es der AfD angetan. Deutschland benötige „Streitkräfte, deren Führung, Stärke und Ausrüstung an den Herausforderungen künftiger Konflikte
orientiert ist und höchsten internationalen Standards entspricht, die gründlich und an
den modernen Einsatzerfordernissen orientiert ausgebildet werden“. Außerdem fordert
die Partei die „Rückkehr zur Allgemeinen Wehrpflicht“ für „alle
männlichen Staatsbürger im Alter zwischen 18 und 28 Jahren“,
denen „eine gründliche, kriegsund einsatzorientierte Ausbildung“ ermöglich werden müsse.
Auf das Blut kommt es an
Die im Februar-Papier noch erhobene Forderung nach einer
allgemeinen Dienstpflicht gleicher Dauer für Frauen wurde
hingegen wieder gestrichen.
Vornehmste Aufgabe der Frauen
ist es ja, Kinder zu gebären,
weshalb sich die AfD strikt gegen alle Versuche wendet, „Ab-
Der Begriff
­“Sozialstaat“
­taucht in
dem AfD-Entwurf
kein einziges
Mal auf
treibungen zu bagatellisieren,
staatlicherseits zu fördern oder
sie gar zu einem Menschenrecht
zu erklären“. Die AfD nennt das
„Willkommenskultur für Neuund Ungeborene“.
Die Parole: „Mehr Kinder statt
Masseneinwanderung“– allerdings sind nicht irgendwelche
Kinder willkommen, sondern
solche mit dem richtigen, deutschen, Blut. Deshalb soll die Reform des deutschen Staatsangehörigkeitsgesetzes vom Jahr
2000, bei der das völkische Abstammungsprinzip (ius sangui-
nis) um das Geburtsortprinzip
(ius soli) ergänzt wurde, rückgängig gemacht werden. Kinder „sollen nur dann die deutsche Staatsangehörigkeit durch
Geburt erwerben, wenn mindestens ein Elternteil Deutscher ist“,
fordert die AfD.
Gegen „Gender-Ideologie“
Doch es sind nicht nur die Migranten, die nach AfD-Ansicht
„den Fortbestand der Nation
als kulturelle Einheit“ gefährden. Auch „falsch verstandener Feminismus“ und „GenderIdeologie“ bedrohen die heile
deutsche AfD-Welt: „Die Gender-Ideologie
marginalisiert
naturgegebene Unterschiede
zwischen den Geschlechtern
und wirkt damit traditionellen
Wertvorstellungen und spezifischen Geschlechterrollen in den
Familien entgegen.“ Mehr noch:
„Gender Mainstreaming und die
generelle Betonung der Individualität untergraben die Familie
als wertegebende gesellschaftliche Grundeinheit.“
Demgegenüber bekennt sich
die AfD „zur traditionellen Familie als Leitbild“. Die Partei
ist zwar vehement für eine Geschlechterquotierung im Bett,
lehnt diese aber „im Studium
oder in der Arbeitswelt generell
ab, da Quoten leistungsfeindlich
und ungerecht sind und andere
Benachteiligungen schaffen“.
Erhalten bleiben soll ebenso
die Atomkraft in Deutschland.
„Die Ausstiegsbeschlüsse aus
der Kernkraft von 2002 und 2011
waren sachlich nicht begründet
und wirtschaftlich schädlich“,
findet die Partei. Deswegen setzt
sie sich für eine Laufzeitverlängerung der derzeit noch in Betrieb befindlichen deutschen
Atomkraftwerke ein. Außerdem befürwortet sie, „die Forschung zur Kernenergie sowie
Reaktor- und Kraftwerkstechnik wiederaufzunehmen bzw.
fortzusetzen“.
Da die AfD generell die Energiewende ablehnt, ist sie auch
dafür, das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) „ersatzlos abzuschaffen“. Das EEG sei „staatliche Planwirtschaft und eine
Abkehr von der Sozialen Marktwirtschaft“. Ebenso fordert die
Partei, die Energiesparverordnung (EnEV) und das Erneuerbare-Energien-Wärme-Gesetz
(EEWärmeG) „ersatzlos zu kassieren“. Von Windkraftanlagen
hält die AfD auch nicht viel, weil
sie „das Bild unserer Kulturlandschaften“ zerstören würden.
Auch mit der Klimaschutzpolitik müsse Schluss sein. Die
Partei bestreitet, „dass die menschengemachten
CO2-Emissionen zu einer globalen Erwärmung mit schwerwiegenden Folgen für die Menschheit
führen“. Deswegen bedürfe
es auch keiner zwangsweisen
Senkung der CO2-Emissionen,
die nur „den Wirtschaftsstandort schwächen und den Lebensstandard senken“ würden. Und:
„Klimaschutz-Organisationen
werden nicht mehr unterstützt.“