Die Deutschen: Elf ohne Form Gegen Italien versucht die Nationalmannschaft mal ein Testspiel zu gewinnen ▶ Seite 19 AUSGABE BERLIN | NR. 10979 | 13. WOCHE | 38. JAHRGANG H EUTE I N DER TAZ DIENSTAG, 29. MÄRZ 2016 | WWW.TAZ.DE € 2,10 AUSLAND | € 1,60 DEUTSCHLAND Die Anti-Deutschen AFD Völkisch-national, fundamental christlich, erzkonservativ und unsozial. Antiegalitär, antifeministisch und antiökologisch VOLL SÜSS Hannelore Kraft: wie sich die NRWMinisterpräsidentin vermarktet ▶ SEITE 7 VOLL INTEGRIERT Ali Moradi: vom abgelehnten Asylbewerber zum Flüchtlingsrat in Sachsen ▶ SEITE 15, 16 Der offizielle Entwurf des AfD-Programms ist eine Kampfansage an die moderne Bundesrepublik ▶ SEITE 3 VOLL EXPLOSIV Wie Fischer in Tansania zum Sicherheitsproblem werden ▶ SEITE 5 Fotos: dpa und reuters (o.) VERBOTEN Guten Morgen, liebe Kinder! Na, kennt ihr schon den Unterschied zwischen Jungs und Mädchen und ... Nein? Puh! Dann ist ja alles gut. Denn „Frühsexualisierung an den Schulen“ und – noch schlimmer –„staatlich geförderte Umerziehungsprogramme in Kindergärten“ verunsichern euch bloß und müssen „systematisch ‚korrigiert‘“ werden. Fordert die fürsorgliche AfD. Schluss mit dem schwulen Transgenderschweinskram! Ihr müsst nur eins wissen: Männer sind stark und Frauen kochen. Und die Babys? Die bringt laut AfD natürlich nach guter alter deutscher Art die Storch. TAZ MUSS SEI N Die tageszeitung wird ermöglicht durch 15.714 GenossInnen, die in die Pressevielfalt investieren. 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Vor allem ein Satz Sebastians begeistert alle: „Ich stelle die Fragen, die ich stellen will.“ Na und? Dass dieser Grundsatz der Pressefreiheit dermaßen viel Lob erhält, nur weil es sich bei der Interviewten um Frauke Petry handelt, irritiert. Was hat man denn erwartet? Ob Spiegel oder Bunte: Über zu wenig Bühne kann Petry derzeit nicht klagen. Und die bespielt sie leider nicht schlecht. Tim Sebastian hat zweifellos hervorragende, hartnäckige Fragen gestellt. Allein: Frauke Petry hat er damit weder geschwächt noch demontiert. Sie hatte zwar inhaltlich wenig zu sagen, blieb aber redegewandt. Beides ist für sich erschreckend, aber kaum überraschend. Es passt zu ihrer Strategie, die lautet: Raus aus der Schmuddelecke, rein in die Unis, in die Wirtschaft und natürlich in die Parlamente. Die AfD will die Eliten, nicht die kleinen Leute. Niemand verkörpert das stärker als Petry. Ihr British English, Kostüm und Doktortitel sind keineswegs Marginalitäten. Sondern eine Ansage. Der aktuelle Entwurf des AfD-Grundsatzprogramms zielt demgemäß nicht auf sozialen Frieden, den Petry kürzlich noch als oberste Prämisse ihrer Politik verkaufen wollte. Souveräner Nationalstaat, sorgenfreies Unternehmertum, spießbürgerliche Idylle am Abendbrottisch: Das Papier ist eine zusammengeklaubte Mischung aus Marktradikalismus, völkischem Konservatismus und antiegalitären Ideen, die Einwanderer ebenso stigmatisieren wie Geringverdiener. Die AfD will die Eliten, nicht die kleinen Leute. Dafür steht Petry Vier weitere Todesopfer BELGIEN Assad erobert Ruinen Infolge der Anschläge in Brüssel sind nun 35 Menschen gestorben BRÜSSEL dpa/taz | Knapp eine Woche nach den Anschlägen von Brüssel hat sich die Zahl der Todesopfer um vier auf nun 35 erhöht. Die vier seien in den vergangenen Tagen ihren Verletzungen erlegen, teilte die Staatsanwaltschaft am Montag mit. Hinzu kommen noch die drei Selbstmordattentäter. Dass erst jetzt weitere Todesopfer bekannt gegeben wur- den, erklärte die Sprecherin der Staatsanwaltschaft, Ine Van Wymersch, mit unterschiedlichen Zuständigkeiten der Behörden und Verzögerungen im Informationsfluss. Die belgische Justiz erließ zudem Haftbefehle gegen drei weitere Terrorverdächtige. Sie waren tags zuvor festgenommen worden. Ein vierter Mann kam wieder frei. Konstruktive Vorschläge? Wenig. Aber das stört die AfD-Wähler kaum, ebenso wie Widersprüche in der Programmatik – Grenzen für Menschen, aber bloß nicht für Handelsware. Protestwähler lesen kein Parteiprogramm. Täten sie es, würden sie sich empört abwenden. Stattdessen bewundern sie eine stur lächelnde, aalglatte Frauke Petry. Die sich nicht von der kritischen, nach AfD-Logik ohnehin parteiischen Presse von ihrer Linie abbringen lässt. Im AfD-Grundsatzprogramm stehen gefährliche Dinge. Die Zeit der dumpfen Altherrenparolen aber ist mit Petry endgültig vorbei. Um sie zu entzaubern, braucht es mehr als kritische Fragen. Weiterhin fahndet die belgische Polizei nach dem dritten Täter vom Flughafen. Die Beschreibung des Mannes mit Hut auf der Internetseite der Polizei wurde um ein Video ergänzt. Die Ermittler gehen offenbar davon aus, dass der in der vergangenen Woche gefasste Fayçal C. anders als vielfach vermutet nicht der Mann auf dem Foto ist. ▶ Schwerpunkt SEITE 4 SYRIEN Armee vertreibt Islamisten aus Palmyra DAMASKUS ap/taz | Trupps des syrischen Kampfmittelräumdienstes haben am Montag Minen und Sprengfallen in der von der Terrormiliz „Islamischer Staat“ zurückeroberten antiken Oasenstadt Palmyra beseitigt. Ein Militärsprecher sagte, der IS habe sowohl in Wohngebieten als auch in dem zum Unesco-Weltkulturerbe gehörenden historischen Teil Spreng- fallen hinterlassen. Truppen der Regierungsarmee von Diktator Baschar al-Assad und mit ihnen verbündete Milizen hatten am Sonntag Palmyra zurückerobert, das zehn Monate vom IS besetzt war. Der IS brachte in dieser Zeit Dutzende von Menschen in Palmyra um und zerstörte einige historische Stätten. ▶ Der Tag SEITE 2 ▶ Meinung + Diskussion SEITE 12 02 TAZ.DI E TAGESZEITU NG NACH RUF NACH RICHTEN REGIONALVERKEH R UN I-SPITZEN FORSCHUNG Bahn-Marktanteil sinkt weiter Wanka für zweites Förderprogramm BERLIN | Für Bahnfahrgäste wer- Druck eingestellt: der „Independent“ vom Samstag Foto: Archiv Der letzte Independent Z um Schluss hat man in London noch einmal alle Register gezogen. Der britische Independent erschien am Samstag in seiner letzten Ausgabe mit einer 16-seitigen Souvenirbeilage, in der die Höhepunkte des Blattes noch einmal nacherzählt werden. Die meisten Mitarbeiter der Tageszeitung waren am Karfreitag zur Produktion in die Redaktion gekommen. Aufmacher der Abschiedsausgabe ist eine exklusive Geschichte über eine britische Beteiligung an einem Plan, den saudiarabischen König zu töten. Die allerletzte Ausgabe erschien mit einer Banderole, auf der „Stop Press“ stand. Bei der Schwesterzeitung Independent on Sunday wurden die Druckmaschinen bereits am vorvergangenen Sonntag für immer gestoppt. Künftig werden die Blätter nur noch online erscheinen. Die Zeitung i, die billige, aber profitable Kurzausgabe des Blattes, wurde Anfang des Jahres für 24 Millionen Pfund an den Verlag Johnston Press verkauft. 1986 hatten drei Journalisten des konservativen Daily Telegraph die Idee, eine unabhängige Zeitung links von der Mitte zu etablieren. Der Erfolg gab ihnen zunächst recht, 1990 lag die verkaufte Auflage bei immerhin 423.000 Exemplaren. Doch als Medienmogul Rupert Murdoch einen Preiskrieg anzettelte und seine Times für 10 Pence verschleuderte, ging es mit dem Independent bergab. Daran konnten weder Experimente mit Gemälden statt Fotos oder Meinungsartikel auf der Titelseite noch das Schrumpfen auf Boulevardformat etwas ändern. Selbst die Auszeichnung als beste überregionale britische Zeitung des Jahres 2004 brachte keine Wende. Die Zeitungsgründer gaben ihre Unabhängigkeit auf, die Blätter gingen nacheinander an vier Investoren, zuletzt an den ehemaligen russischen Geheimdienstagenten Alexander Lebedew, der die Titel 2010 für den symbolischen Preis von einem Pfund kaufte und dafür die Schulden übernahm. Sein Sohn Jewgeni, der seit vorigem Jahr Herausgeber war, wollte diese Verluste nun nicht länger finanzieren. 100 Menschen haben mit dem Ende der Printausgabe ihre Jobs verloren. Sie mussten ein Schweigegelübde ablegen, um ihre Abfindung nicht zu gefährden. Weder mündlich noch schriftlich dürfen sie sich über die Schließung des Independent, das Management oder die He rausgeber äußern. Ganze 30 Mitarbeiter sollen nun den Onlineauftritt stemmen. Es ist absehbar, dass sie den großen Besucherrückstand gegenüber den Internetseiten der Konkurrenz nicht werden aufholen können. RALF SOTSCHECK Der Tag DI ENSTAG, 29. MÄRZ 2016 den die Angebote im Regionalverkehr in den nächsten Jahren noch vielfältiger. Die Deutsche Bahn als Marktführer verliert nach einer aktuellen Analyse weiter Marktanteile an Konkurrenten wie Transdev oder National Express. Bei den Vergabeverfahren für die regionalen Schienennetze sei der Wettbewerb wieder deutlich intensiver geworden, heißt es in der Studie der Bundesarbeitsgemeinschaft Schienenpersonennahverkehr und der Beratungsfirma BSL Transportation Consultants. Die Bahntochter DB Regio kam, gemessen an den Zugkilometern, 2014 auf einen Marktanteil von 74 Prozent. 2016 dürfte er auf unter 70 Prozent sinken. So zeigt die Auswertung der bis Ende 2015 abgeschlossenen Ausschreibungen, dass die Deutsche Bahn für 2016 und 2019 nur je 24 Prozent der vergebenen Zugkilometer gewonnen hat. 2017 (87 Prozent) und 2018 (69 Prozent) liegt sie dagegen klar vorn. Der Regionalverkehr wird von den Bundesländern bestellt und bezuschusst, darum kümmern sich die Verkehrsverbünde. (dpa) BERLIN | Neben der Exzellenzini- tiative für Spitzenforschung soll es laut CDU-Bildungsministerin Johanna Wanka bald ein weiteres Förderprogramm für kleinere Unis und Fachhochschulen geben. „Auch das geht nur gemeinsam in einer Bund-Länder-Vereinbarung, dazu sind wir gerade im Gespräch“, sagte sie. Erst danach sollten Details und Finanzvolumen bekannt gegeben werden. Eine Expertenkommission hatte Ende Januar empfohlen, die Förderung bis 2028 mit mindestens gleicher Finanzausstattung fortzusetzen. (dpa) TAZ.DE / TZI ATTACKE I N KABUL Unser Ziel: unabhängiger Onlinejournalismus ohne Bezahlschranke. Schon 7.400 Menschen zahlen freiwillig für taz.de. Alles rund um unsere Pay-Wahl unter taz.de/zahlich Anknüpfen im Netz www.taz.de Taliban greifen Parlament an KABUL | Die radikalislamischen Taliban haben das neue afghanische Parlamentsgebäude in Kabul gestern mit Raketen angegriffen. Die Geschosse schlugen in die Gebäude ein und ließen Scheiben zerbersten. TalibanSprecher Sabihullah bekannte sich zu dem Angriff. Es sei „besorgniserregend“, dass „der Feind das Parlament im Herzen der Hauptstadt“ angreifen könne, sagte der amtierende Innenminister Mohammed Dschahed. Er werde „neue Sicherheitsmaßnahmen“ für den Gebäudekomplex erlassen. (afp) IS verliert Weltkulturerbe Palmyra SYRIEN Truppen des Assad-Regimes vertreiben die Dschihadisten aus der Wüstenstadt und wollen weiter gegen den „Islamischen Staat“ angehen. Die Zerstörungen des antiken Palmyra sind offenbar geringer als befürchtet VON BEATE SEEL BERLIN taz | Der „Islamische Staat“ (IS) ist in Syrien und im Irak militärisch stark unter Druck geraten. Während die Regierung in Bagdad zum wiederholten Mal die Rückeroberung der Stadt Mossul, einer Hochburg des IS, ankündigte, gelang dem Assad-Regime und sei- nen Verbündeten mit der Rückeroberung der Wüstenstadt Palmyra der bisher größte Erfolg gegen die Dschihadisten. Am Sonntag hatte die Regierungsarmee, unterstützt von Kämpfern der libanesischen Hisbollah und der russischen Luftwaffe, die moderne Stadt und das daneben liegende antike Palmyra nach dreiwöchigen Kämpfen eingenommen. Nach Angaben der Beobachtungsstelle für Menschenrechte zogen die Dschihadisten ihr Hauptkontingent angesichts der vorrückenden Truppen Assads in Richtung Osten ab, wo sie große Teile der Provinzen Rakka und Deir al-Sor kontrollieren. Die Regierung setzte ihre Kämpfe gegen den IS am Montag außer- halb der Stadt fort und kündigte an, Palmyra als Ausgangspunkt für weitere Militäroperationen auf Rakka und Deir al-Sor zu nutzen. Am Vortag hatte die Armee bereits eine Offensive auf Rakka angekündigt. Als der IS im Mai vergangenen Jahres Palmyra eroberte, gab es sogleich Befürchtungen, die Extremisten würden – wie Die Steine des berühmten Bogens von Palmyra liegen auf dem Boden. Doch das Monument erscheint wiederaufbaubar Foto: V. Sharifulin/dpa Irak will IS-Zentrum Mossul angreifen IRAK zuvor schon im Irak – Monumente der antiken Anlage zerstören, die seit 1980 auf der Liste des Weltkulturerbes steht. Die barbarische Tat ließ nicht lange auf sich warten. Zerstört wurden der alte Baal-Tempel, dessen gewaltige Anlage das Stadtbild dominierte, der Baal-Shamin-Tempel, mehrere Turmgräber, der Triumphbogen, Teile der berühmten Säulenallee und Artefakte im Museum. Dennoch zeigte sich der Chef der syrischen Altertümerverwaltung, Maamun Abdulkarim, optimistisch hinsichtlich des Wiederaufbaus und der Restaurierung der Kulturgüter, denn die antike Stadt ist offenbar in einem besseren Zustand als erwartet. „Wir haben mit dem Schlimmsten gerechnet“, sagte Abdulkarim gegenüber der Nachrichtenagentur AFP. Die „beste Neuigkeit“ betreffe die berühmte, 15 Tonnen schwere Löwen-Statue, die der IS im Juli zerstört hatte. Die Einzelteile könnten wieder eingesammelt und die Statue könnte erneut aufgebaut werden, erläuterte er. Nun werde man gemeinsam mit den Vereinten Nationen über den Wiederaufbau beraten. Das Theater, das einst mit der Agora das Zentrum des antiken Palmyra war, ließen die Dschihadisten ungeschoren. Sie nutzen es als Hinrichtungsstätte für ihre Gegner. Meinung + Diskussion SEITE 12 THEMA DES TAGES Islamistische Extremisten verteidigen hartnäckig ihr Gebiet. Die USA fürchten einen Bruch des Mossul-Staudamms ISTANBUL taz | Unterstützt von US-amerikanischen Luftangriffen haben irakische Truppen und verbündete Milizionäre im Nordirak eine Offensive begonnen, die den Boden für die Erstürmung der von den Extremisten des „Islamischen Staats“ (IS) beherrschte Großstadt Mossul bereiten soll. Dabei haben sie den IS in den letzten Tagen aus mehreren Dörfern zwischen Makhmur, knapp siebzig Kilometer südwestlich der kurdischen Regionalhauptstadt Erbil, und Kayyra am Tigris vertrieben. Tausende Zivilisten sind vor den Kämpfen in die von den Kurden kontrollierte Kleinstadt Makhmur geflohen. Einige Familien brachten in ihren Autos Verletzte und selbst Tote mit. Die lokalen Behörden sind offenbar völlig überfordert. Jour- nalisten vor Ort verbreiteten Bilder, die Hunderte von Flüchtlingen eingesperrt auf einem Sportplatz zeigen. Ein Lokalpolitiker beklagte, dass die rund 3.000 Personen, die teilweise nicht einmal das Nötigste ein- Flüchtende Familien brachten in ihren Autos Verletzte und selbst Tote mit packen konnten, keinerlei Hilfe erhielten. Der am Donnerstag eingeleitete Angriff gilt als Testfall für die irakische Armee, die im Juni 2014 ein Debakel erlebte, als sie Mossul weitgehend kampflos den IS-Extremisten überließ. Ein Armeesprecher bezeichnete den Angriff als Auftakt der mehrfach angekündigten Mossul-Offensive. Das Gebiet liegt freilich mehr als siebzig Kilometer südlich von Mossul. Bis dorthin ist es also noch ein langer Weg, und fürs Erste ist die Bilanz für die rund 5.000 Soldaten und die eigens rekrutierten sunnitischen Milizionäre eher bescheiden. Die Einheiten hätten sich sofort zurückgezogen, als sie unter IS-Feuer geraten seien, berichteten Journalisten. Kurdische Peschmerga-Kommandanten, die in der Region einen Verteidigungsring bilden, äußerten sich ähnlich. Anders als anderen Orten scheint der IS gewillt, den Kampf um Kayyra aufzunehmen. Die Kleinstadt liegt nicht nur an einer wichtigen Verbindungs- route von Süden nach Norden in die irakische IS-Hauptstadt, sondern auch am Tigris, der natürlichen Barriere an der Ostgrenze des Kalifats. Der IS hat nach Angaben von Augenzeugen auf den Angriff reagiert, indem er Sprengschutzfallen gelegt und seine Kämpfer in dicht besiedelte Wohngebiete verlegt hat. Eine noch größere Gefahr als vor den Extremisten droht den Einwohnern der Region aber möglicherweise vom Wasser. Denn flussaufwärts droht mit dem Mossul-Staudamm die größte Talsperre des Landes zu bersten. Sollte der Damm brechen, würde elf Milliarden Kubikmeter Wasser das gesamte Land südlich davon überschwemmen. Bis zu 1,5 Millionen Personen könnten getötet werden, heißt es in einem US- Bericht. Washington stuft das Risiko derart hoch ein, dass die Botschaft ihre Bürger Ende Februar aufrief, Evakuierungspläne auszuarbeiten. Amerikanische Ingenieure warnten bereits vor zehn Jahren, dass der „gefährlichste Staudamm der Welt“ jederzeit brechen könnte. Die irakischen Politiker beeindruckte das wenig. Seitdem der IS Mossul beherrscht, werden kaum mehr Reparaturen durchgeführt. Kürzlich hat die Regierung in Bagdad einen Reparaturvertrag mit dem italienischen Unternehmen Trevi unterzeichnet. Rom hat angekündigt, 450 Soldaten zum Schutz der Ingenieure und Techniker zu entsenden. Die Reparaturarbeiten werden freilich frühestens im INGA ROGG Herbst beginnen. Schwerpunkt AfD DI ENSTAG, 29. MÄRZ 2016 TAZ.DI E TAGESZEITU NG 03 Merkwürdig: Diese Partei ist für strikte Geschlechterquotierung im Bett, wenn es um Studium und Arbeit geht, aber dagegen Wohin des Wegs? PARTEI Wer wissen will, was für ein Deutschland die AfD sich vorstellt, findet im Programmentwurf rabiaten Wirtschaftsliberalismus – weg vom Sozialstaat und von offener Gesellschaft VON PASCAL BEUCKER BERLIN taz | Es soll „allen Strö- mungen“ in der AfD gerecht werden: das neue Grundsatzprogramm, das die rechtspopulistische Alternative für Deutschland sich auf ihrem Parteitag Ende April in Stuttgart geben will. Dabei wollen die Autoren nicht nur „unsere abendländische und christliche Kultur“ auf Dauer bewahren, sondern auch „die historisch-kulturelle Identität unserer Nation und ein souveränes Deutschland als Nationalstaat“. Sie träumen, wie der Text zeigt, von jenen patriarchalischen Verhältnissen, als noch die „traditionellen Wertvorstellungen und spezifischen Geschlechterrollen in den Familien“ galten. Auffällig ist, dass der jetzt offiziell veröffentlichte Programm entwurf, der auch vom AfD-Bundesvorstand mitgetragen wird, gegenüber einer Vorläuferversion vom Februar an mehreren Stellen deutlich entschärft worden ist. So fehlt etwa die Wiedereinführung des Schuldprinzips bei Scheidungen. Die wäre der AfD-Chefin Frauke Petry wie auch ihrem derzeitigen Lebensgefährten, dem AfD-Funktionär Marcus Pretzell, wohl teuer zu stehen gekommen. In anderen Fällen sind eindeutige durch vage Formulierungen ersetzt worden. Nun fordert die AfD nicht mehr, die öffentlich-rechtlichen Medien zu privatisieren und einen steuerfinanzierten Staatsfunk „mit zwei Rundfunksendern und zwei Fernsehsendern“ einzurichten. Aber: Sie lehnt weiterhin „den geräteunabhängigen Zwangsbeitrag“ ab, ebenso wie „zusätzliche Finanzierung durch Werbeeinnahmen“. Die Verlängerung der Lebensarbeitszeit ist ebenfalls nicht mehr zu finden. Die passte wohl kaum zu jener „Partei der kleinen Leute“, von der Parteivize Alexander Gauland gern spricht. Statt der zuvor geforderten Privatisierung der Arbeitslosen- und Unfallversicherung heißt es nur noch, die AfD Das Programm ■■Was? Der jetzt vorliegende Entwurf eines AfD-Grundsatzprogramms ist nach Angaben der Partei „das erfolgreiche Ergebnis langer Beratungen vieler engagierter Fachleute und zweimaliger Mitgliederumfragen“. ■■Wie? Ausgearbeitet hat ihn eine 28-köpfige Bundesprogrammkommission. Verabschiedet werden soll das Papier auf einem Mitgliederparteitag. ■■Wann und wo? Vom 30. April bis zum 1. Mai in Stuttgart. Bis zum 8. April haben Mitglieder und Vorstände noch die Möglichkeit, Änderungsanträge einzureichen. Zurück zur Paukschule stehe „für grundlegende Reformen zum Wohle Deutschlands“. Das betreffe „auch die Sozialversicherungen“. In der Bildungspolitik setzt die AfD auf die Prinzipien der alten Paukschule. „Leitungsbereitschaft und Disziplin sind Voraussetzung für eine erfolgreiche Wissensvermittlung“, heißt es im Entwurf. Und: „Null-BockMentalität“ und „Disziplinlosigkeit“ seien nicht zu tolerieren und „unter Einbeziehung der Erziehungsberechtigten angemessen zu ahnden“. Fordert die AfD deshalb, das Strafmündigkeitsalter auf 12 Jahre abzusenken? Von Gesamt- oder Gemeinschaftsschulen hält die AfD nichts: „Die Einheitsschule führt zu Qualitätsverlust.“ Nicht gut findet die AfD auch, wenn gehandicapte Kinder den regulären Schulunterricht stören. „Die Forderung, behinderten Kindern Teilhabe am Bildungssystem zu garantieren, ist bereits umfassend und erfolgreich erfüllt“, findet die Partei. Eine „ideologisch motivierte Inklusion ‚um jeden Preis‘ “ verursache nur erhebliche Kosten und behindere Schüler in ihrem Lernerfolg. „Die AfD setzt sich deshalb für den Erhalt der Förder- und Sonderschulen ein.“ Ordoliberale Mottenkiste Von der von Petry ausgerufenen „Partei des sozialen Friedens“ ist wenig zu entdecken. Der Entwurf ist vielmehr von rabiatem Wirtschaftsliberalismus durchdrungen. Das Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes? Gibt es für die AfD nicht. Absolutes Alleinstellungsmerkmal: Im Gegensatz zu den Grundsatzprogrammen von SPD, Grünen, Linkspartei, CDU, CSU und selbst der FDP taucht der Begriff „Sozialstaat“ in dem AfD-Entwurf kein einziges Mal auf. Das Gleiche gilt für die Wörter „Mitbestimmung“ und „Gewerkschaften“: Arbeitnehmerrechte sind für die Partei irrelevant, sie singt lieber das Loblied auf das freie Unternehmertum, dem der Staat „keine bürokratischen Knüppel zwischen die Beine“ zu werfen hat. Kernbotschaft: „Die AfD will ein investitions- und innovationsförderndes wirtschaftliches Umfeld.“ Eingriffe des Staates in das Wirtschaftsleben seien „auf das notwendige Minimum zu begrenzen“. Nur der gesetzliche Mindestlohn soll offenbar bleiben: Er schütze Niedriglohnempfänger „vor dem durch die derzeitige Massenmigration zu erwartenden Lohndruck“. Für die AfD gilt: „Je mehr Wettbewerb und je geringer die Staatsquote, desto besser für alle.“ Nur in Ausnahmen dürfe „der Staat unternehmerisch tätig sein.“ Nicht tabu sind die Privatisierung des öffentlichen Wohnungseigentums und der öffentlichen Daseinsvorsorge. Allerdings sollen darüber letztlich „Bürgerentscheide auf der jeweiligen staatlichen Ebene entscheiden“. Weniger Staat, mehr Militär „Ein schlanker, aber starker Staat“ ist das Ziel der AfD. Dazu gehört, „die Staatsaufgaben zu reduzieren“ und auf „die vier klassischen Gebiete“ zu konzentrieren: „innere und äußere Sicherheit, Justiz, Auswärtige Beziehungen und Finanzverwaltung“. Die AfD will „den finanziellen Staatszugriff auf die Einkommen und Vermögen der Bürger“ zurückdrängen und etwa die Erbschaft- und die Vermögensteuer abschaffen. Anders als in ihrem Februar-Entwurf fordert sie jedoch nicht mehr, auch die für die Kommunen überlebenswichtige Gewerbesteuer loszuwerden. Diese soll jetzt nur noch überprüft werden. Originell ist, dass die Partei eine „verbindliche Steuer- und Abgabenbremse im Grundgesetz“ fordert – „analog zur Schuldenbremse“. Die Obergrenze „sollte AKW ja, Klimaschutz nein Wie sähen deutsche Gemeinden wie diese wohl aus, ginge es nach der AfD? Foto: Hans-B. Huber/laif der heutigen Steuer- und Abgabenquote entsprechen“. Die AfD will sowohl die Staatseinnahmen als auch die Staatsschulden reduzieren. Wo soll gespart werden? Dafür kommen eigentlich nur der Sozialund der Bildungsbereich infrage. Der Entwurf verrät hier lediglich, wo die Partei mehr ausgeben will: bei der Polizei, der Justiz, dem Militär und den Nachrichtendiensten. Da gilt: „Die bisher praktizierte Finanzierung nach Kassenlage lehnt die AfD ab.“ Denn: „Sicherheit und Freiheit Deutschlands und seiner Verbündeten sind im Finanzhaushalt mehr als heute angemessen zu berücksichtigen.“ Besonders die Bundeswehr hat es der AfD angetan. Deutschland benötige „Streitkräfte, deren Führung, Stärke und Ausrüstung an den Herausforderungen künftiger Konflikte orientiert ist und höchsten internationalen Standards entspricht, die gründlich und an den modernen Einsatzerfordernissen orientiert ausgebildet werden“. Außerdem fordert die Partei die „Rückkehr zur Allgemeinen Wehrpflicht“ für „alle männlichen Staatsbürger im Alter zwischen 18 und 28 Jahren“, denen „eine gründliche, kriegsund einsatzorientierte Ausbildung“ ermöglich werden müsse. Auf das Blut kommt es an Die im Februar-Papier noch erhobene Forderung nach einer allgemeinen Dienstpflicht gleicher Dauer für Frauen wurde hingegen wieder gestrichen. Vornehmste Aufgabe der Frauen ist es ja, Kinder zu gebären, weshalb sich die AfD strikt gegen alle Versuche wendet, „Ab- Der Begriff “Sozialstaat“ taucht in dem AfD-Entwurf kein einziges Mal auf treibungen zu bagatellisieren, staatlicherseits zu fördern oder sie gar zu einem Menschenrecht zu erklären“. Die AfD nennt das „Willkommenskultur für Neuund Ungeborene“. Die Parole: „Mehr Kinder statt Masseneinwanderung“– allerdings sind nicht irgendwelche Kinder willkommen, sondern solche mit dem richtigen, deutschen, Blut. Deshalb soll die Reform des deutschen Staatsangehörigkeitsgesetzes vom Jahr 2000, bei der das völkische Abstammungsprinzip (ius sangui- nis) um das Geburtsortprinzip (ius soli) ergänzt wurde, rückgängig gemacht werden. Kinder „sollen nur dann die deutsche Staatsangehörigkeit durch Geburt erwerben, wenn mindestens ein Elternteil Deutscher ist“, fordert die AfD. Gegen „Gender-Ideologie“ Doch es sind nicht nur die Migranten, die nach AfD-Ansicht „den Fortbestand der Nation als kulturelle Einheit“ gefährden. Auch „falsch verstandener Feminismus“ und „GenderIdeologie“ bedrohen die heile deutsche AfD-Welt: „Die Gender-Ideologie marginalisiert naturgegebene Unterschiede zwischen den Geschlechtern und wirkt damit traditionellen Wertvorstellungen und spezifischen Geschlechterrollen in den Familien entgegen.“ Mehr noch: „Gender Mainstreaming und die generelle Betonung der Individualität untergraben die Familie als wertegebende gesellschaftliche Grundeinheit.“ Demgegenüber bekennt sich die AfD „zur traditionellen Familie als Leitbild“. Die Partei ist zwar vehement für eine Geschlechterquotierung im Bett, lehnt diese aber „im Studium oder in der Arbeitswelt generell ab, da Quoten leistungsfeindlich und ungerecht sind und andere Benachteiligungen schaffen“. Erhalten bleiben soll ebenso die Atomkraft in Deutschland. „Die Ausstiegsbeschlüsse aus der Kernkraft von 2002 und 2011 waren sachlich nicht begründet und wirtschaftlich schädlich“, findet die Partei. Deswegen setzt sie sich für eine Laufzeitverlängerung der derzeit noch in Betrieb befindlichen deutschen Atomkraftwerke ein. Außerdem befürwortet sie, „die Forschung zur Kernenergie sowie Reaktor- und Kraftwerkstechnik wiederaufzunehmen bzw. fortzusetzen“. Da die AfD generell die Energiewende ablehnt, ist sie auch dafür, das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) „ersatzlos abzuschaffen“. Das EEG sei „staatliche Planwirtschaft und eine Abkehr von der Sozialen Marktwirtschaft“. Ebenso fordert die Partei, die Energiesparverordnung (EnEV) und das Erneuerbare-Energien-Wärme-Gesetz (EEWärmeG) „ersatzlos zu kassieren“. Von Windkraftanlagen hält die AfD auch nicht viel, weil sie „das Bild unserer Kulturlandschaften“ zerstören würden. Auch mit der Klimaschutzpolitik müsse Schluss sein. Die Partei bestreitet, „dass die menschengemachten CO2-Emissionen zu einer globalen Erwärmung mit schwerwiegenden Folgen für die Menschheit führen“. Deswegen bedürfe es auch keiner zwangsweisen Senkung der CO2-Emissionen, die nur „den Wirtschaftsstandort schwächen und den Lebensstandard senken“ würden. Und: „Klimaschutz-Organisationen werden nicht mehr unterstützt.“
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