23 Glückliche Senioren Wer länger lebt, kann länger gesund sein Lebenszufriedenheit in verschiedenen Bereichen nach Altersgruppen (2012) 16–17 Jahre ALLGEMEINE LEBENSZUFRIEDENHEIT 18–64 Jahre Über 65 Jahre VORHANDENE FREIHEIT FINANZIELLE SITUATION ARBEITSBEDINGUNGEN WOHNSITUATION ZUSAMMENLEBEN GESUNDHEIT KAREN FOX / GETTY IMAGES Quelle: Bundesamt für Statistik Die Rechnung ist scheinbar einfach: Die demografische Alterung führt zu einer massiven Erhöhung der Gesundheitskosten, denn je älter wir werden, desto anfälliger für Krankheiten sind wir. Der Bund hat dazu dicke Studien verfasst, die den Demografie-Effekt in Zahlen fassen. So sollen die Gesundheitskosten bis im Jahr 2060 von heute schon 12 Prozent auf fast 16 Prozent des Bruttoinlandproduktes ansteigen. Besonders stark ins Gewicht fallen die Kosten für die Pflege, namentlich für Demenzkranke. Doch so einfach ist das nicht. Die demografische Alterung ist nicht der Hauptgrund für die steigenden Kosten, wie der Altersforscher François Höpflinger betont. In den letzten Jahrzehnten kam es nicht nur zu einer Erhöhung der Lebenserwartung, sondern auch der behinderungsfreien Lebenserwartung. Senioren sind länger fit. «Wenn ältere Menschen später hilfs- und pflegebedürftig werden, erhöht sich der Pflegebedarf langsamer, als dies eine demografische Fortschreibung aktueller Zahlen andeutet.» Schon heute zeigt die Statistik: Die Gesundheitskosten nehmen erst gegen das 80. Lebensjahr stark zu. Die Gesundheitskosten alter Menschen seien nicht vom Alter abhängig, sondern davon, wie nah sie dem Tod sind, sagt Höpflinger. Das beste Mittel gegen den Kostenanstieg ist seiner Meinung nach die Gesundheitsförderung – und die Bildung. Eine bessere Ausbildung führt zu einem besseren Lohn und zu einer besseren Absicherung im Alter. Die Gesundheit ist davon abhängig. Ganz vermeiden lassen sich Alterspflege und hohe Kosten aber nicht. Wer länger lebt, kann länger Steuern zahlen Ältere Menschen haben Geld, und zwar nicht wenig. Wie viel Vermögen die Pensionierten in diesem Land besitzen, darüber schweigen sich die Steuerverwaltungen aus. Philippe Wanner vom Institut für Demografie und Sozioökonomie der Universität Genf schätzt, dass die Personen im Ruhestand über das grösste Vermögen in der Schweiz verfügen. Laut der Stiftung Pro Senectute Schweiz sind mehr als die Hälfte der Vermögensmillionäre im AHV-Alter. Im Kanton Zürich machen Rentner rund 20 Prozent der Steuerpflichtigen aus. Von ihnen kommt aber die Hälfte aller Vermögenssteuern. Trotz einer steigenden Zahl von Senioren, die auf Ergänzungsleistungen angewiesen sind, leben heute also viele Rentner in einer komfortablen finanziellen Situation. Das kommt auch der Allgemeinheit zugute. «Auch Senioren zahlen Einkommens-, Vermögens- und Mehrwertsteuer», sagt Soziologe Peter Gross. «Wenn alle Pensionäre in einen Steuerstreik träten, würde das ganze Land lahmgelegt.» Dass man im Zusammenhang mit der Überalterung stets von einer Umverteilung von den Jungen zu den Älteren spricht, ärgert ihn. Das Steuergeld, das die Älteren zahlten, fliesse zum Beispiel zu einem grossen Teil in die Bildung und komme damit jüngeren Generationen zugute. «Wenn alle Pensionäre in einen Steuerstreik träten, würde das ganze Land lahmgelegt», sagt der Soziologe. g?Ja,gern! Männer holen auf 86 Jahre 85,2 84 82 Frauen 81,0 80 78 76 Männer 74 72 1980 1990 2000 2014 Die Lebenserwartung bei Geburt hat sich in der Schweiz deutlich erhöht. Die Männer haben zudem den Rückstand auf die Frauen etwas verringert. 100 Jahre leben Anzahl der 100-Jährigen in der Schweiz, mit Prognose fürs Jahr 2040 12 845 1556 277 61 1970 1990 2014 2040 Allerdings verzögert sich mit der langen Lebenserwartung der Vermögenstransfer über die Generationen. Kinder erben später das Vermögen ihrer Eltern. Das Geld fliesst also nicht dann, wenn man es zur Gründung einer Familie, zum Kauf eines Hauses oder zum Aufbau einer beruflichen Existenz brauchte, sondern in der Mehrheit erst nach dem 50. Lebensjahr. Die Summe, die jährlich von Hochbetagten zu Senioren fliesst, ist gewaltig. Der Ökonom Marius Brülhart von der Universität Lausanne errechnete kürzlich für das Schweizer Fernsehen ein Erbvolumen von 76 Milliarden Franken im Jahr 2015. Das Loch in der AHV von einer halben Milliarde erscheint plötzlich klein. Die finanziell gut gebetteten und aktiven Rentner sind auch eine interessante Zielgruppe für die Wirtschaft: Reisen, Kleider, Autos, gutes Essen. Auf diesem Weg fliesst ein Teil des Geldes wieder in den Wirtschaftskreislauf. Wer länger lebt, festigt die Gesellschaft Alte Menschen verjüngen unsere Gesellschaft. Viele Senioren kleiden sich modern, lassen sich scheiden, probieren neue Lebensformen aus. Ihr Verhalten unterscheidet sich immer weniger von demjenigen jüngerer. Altersforscher Höpflinger spricht denn auch von einer soziokulturellen Verjüngung, welche die demografische Alterung kompensiert. Die Lebensabschnitte Ausbildung, Erwerbsarbeit und Ruhestand sind längst aufgebrochen. Am meisten profitiert von der Langlebigkeit die Familie. Nie zuvor gab es Gesellschaften, in denen bis zu vier Generationen zusammenleben: Enkel, Eltern, Grosseltern und immer mehr auch Urgrosseltern. Da die Grosseltern noch in der Lage dazu sind, verbringen sie viel mehr Zeit mit den Enkeln als früher. Die Zuneigungsquote pro Kind steigt. Die Beziehungen in der Familie werden intensiver, der Zusammenhalt der Gesellschaft stärker. «Von einem Zusammenprall der Generationen kann keine Rede sein», sagt der Soziologe Peter Gross. Söhne und Töchter seien ihren Eltern über eine lange Zeitspanne näher und alterten mit ihnen, sagt auch Altersforscher Höpflinger. Das beeinflusse sie in ihrem eigenen Umgang mit dem Altern. Statt wie die eigenen Eltern bis zum Tode zu sparen, gehen viele Kinder lieber auf Reisen, solange sie fit sind. Oder sie bauen ihre Häuser früh um, damit sie im hohen Alter darin wohnen bleiben können. Die Vorteile einer Gesellschaft mit einer langen Lebenserwartung wirken aber weit über die Grenzen der Familie hinaus. So verbessert sich die Reflexions- und Diskussionskultur, wenn in öffentlichen Debatten nicht eine Generation die Wahrheit für sich beanspruche. Beispielsweise, wenn es um historische oder politische Fragen geht. Der Soziologe Peter Gross geht sogar so weit, zu sagen, dass ältere Generationen generell ihre Altersmilde ausspielen und auf ein friedlicheres Zusammenleben hinwirken können. «Zu viele Junge, die um ihre Position kämpfen, führen zu einer aggressiven Gesellschaft», sagt er und verweist auf Entwicklungsländer. Ideal seien wenige Kinder und mehr Alte. Gross nennt dies eine «gemässigte Bevölkerungsstruktur». «Senioren prügeln sich nicht nur weniger, sondern neigen auch weniger zu Völlerei und Trinkgelagen», sagt er. Sie führen ein bewusstes, stressfreies und ressourcenschonendes Leben. So gesehen sei es zu bedauern, dass es nicht mehr Nationalräte über 70 gebe. Diese Altersgruppe sei schlecht vertreten. «Oft wird behauptet, Ältere schauten nur für sich. Dabei haben ältere Menschen alle Generationen im Blick», sagt Gross. Es seien eher die Jüngeren, die nur für sich schauten.
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