Friedrich Dieckmann UTOPIE UND EUPHORIE Ein Vortrag1 I Utopie und Euphorie – gehören die beiden zusammen, sind sie womöglich Geschwister? Blickt man in den zweiten Teil des Goetheschen „Faust“, so findet man Euphorion als das Kind eines Hohen Paars, in dem sich eine utopische Konstellation liebend verwirklicht, die Einheit von Nord und Süd, von Mittelalter und Antike, von Griechentum und Deutschtum. Daß es eine utopische Verbindung ist, zeigt sich an diesem frühreifen Sohn, der ein ruhmsüchtiger Springinsfeld ist, sich der Schwerkraft enthoben glaubend und euphorisch zu Tode stürzend. „Träumt ihr den Friedenstag? / Träume wer träumen mag. / Krieg ist das Losungswort. / Sieg! und so klingt es fort.“ Der Chor weiß es besser: „Wer im Frieden / Wünschet sich Krieg zurück / Der ist geschieden / Vom Hoffnungsglück.“ Utopie, das ist die Imagination oder die Konstruktion einer gerechten, friedfertigglücksfähigen Welt, wie fast alle Kulturnationen sie als ein goldenes Zeitalter in eine vorzeitliche Vergangenheit projiziert haben.2 Ehe der unzähmbare Euphorion seine Eltern beängstigt, faßt Faust eine solche Welt als schon gewonnene in wundersame Verse: Und mütterlich im stillen Schattenkreise Quillt laue Milch bereit für Kind und Lamm; Obst ist nicht weit, der Ebnen reife Speise, Und Honig trieft vom ausgehöhlten Stamm. Hier ist das Wohlbehagen erblich, Die Wange heitert wie der Mund, Ein jeder ist an seinem Platz unsterblich: Sie sind zufrieden und gesund. 1 Gehalten am Gründonnerstag, dem 24. März 2016, im Foyersaal des Deutschen Theaters. Vgl. Otto Zöckler: Die Lehre vom Urstand des Menschen, Gütersloh 1879. Im Blick auf dieses gemeinsame Erbe taucht bei Zöckler zum ersten Mal das Wort Kulturnation auf. 2 2 Ob in ferne Vergangenheit verlegt, als gegenwärtig imaginiert oder als Aufgabe oder Verheißung ins Künftige gesetzt – die Utopie entspringt Zeiten der Krise, des Umbruchs, wenn eine alte Welt, ihre Strukturen und ihre Wertvorstellungen, sich erschöpft hat und ein neues Zeitalter in gärendem Anbruch ist. In solchen Zeiten verwirrend andrängender Kräfte entstehen Gegenbilder wünschbaren Gleichgewichts, die bis zu Entwürfen einer erreichbaren Zukunft gehen können; mit ihnen verbindet sich oft das Hochgefühl eines kämpferisch durchbrechenden Neuen: Incipit vita nova, ein neues Leben hebt an. Ernst Bloch hat dieses auf Dante zurückgehende Wort 1963 über das vorletzte Kapitel seiner „Tübinger Einleitung in die Philosophie“ gestellt; er gibt einen Hinweis auf die christliche Dimension dieses vita nova, den ich Ihnen im Blick auf Ostern nicht vorenthalten will. „Das selber Neue im christlichen Mythos“ sei, „daß keine Auferstehungsgötter aus uralter Zeit nachgeahmt werden, sondern daß die Auferstehung und das Leben, als völliges Novum der Geschichte, jetzt erst entsprungen sein sollen. Erst der gestorben-lebendige Jesus öffnete seinen Gläubigen die Erneuerung des inneren Menschen, von Tag zu Tag (2. Kor. 4,16), fundierte den Christen die Worte vom neuen Himmel und der neuen Erde (Jes. 26). Erst der vorher nie erschienene Stern, der den Magiern den Weg gezeigt hatte zu einem vordem noch nie gesehenen Ereignis, beleuchtete die Vision des Apokalyptikers vom neuen Jerusalem und das total umwälzende Wort seines Stadthaupts: Siehe, ich mache alles neu (Off. Joh. 21,5). So kam schließlich nur durch die Bibel eine so öffentlich wie zentral entspringende Vorstellung des Incipit vita nova in die Welt, obzwar noch keineswegs sein Begriff. ... Auf diese Weise veränderte sich auch der Begriff der Schöpfung zum Sinn einer zweiten Schöpfung, in re, nicht ante rem.3 Sie rückte, als Genesis des Rechten, bei den Evangelisten mitten in die Geschichte, beim Apokalyptiker an ihr Ende.“4 Es gibt in den vier Evangelien nur einen einzigen Moment der Euphorie, das ist der Jubel des Palmenzweige streuenden Volkes bei Jesu Einzug in Jerusalem; er erweist sich als lebensgefährlich, indem er der Oberschicht der Hauptstadt klarmacht, daß es 3 „In re, nicht ante rem“: Innerhalb der Wirklichkeit, nicht vor ihr. Ernst Bloch: Tübinger Einleitung in die Philosophie, Bd. 13 der Gesammelten Werke, Frankfurt am Main 1970, S. 394 f. 4 3 Zeit wird, diesen Prediger wider die Reichen und die Schriftgelehrten und die Geschäftemacher im Tempel ans Messer zu liefern. Dabei setzte dieser ja nicht auf äußeren Umsturz, sondern auf innere Einkehr, einen stillen Vorgang, auch wenn er sehr vielen gepredigt wurde. Die Erzählungen der Evangelisten sind auch dann auf einen Ton der Stille gestimmt, wenn sie berichten, wie Tausende sich um den Wundermann scharen; niemand hat das sinnfälliger gemacht als Rembrandt in seinen radierten Predigtszenen. Incipit vita nova: der Satz hat metaphysisch-moralische Dimensionen und er hat unmittelbar historische. Ein neues Leben regt sich unter der Decke des als unhaltbar erkannten alten und macht sich anheischig, die im alten System unbeherrschbar gewordenen Übelstände durch die Installation eines neuen zu beheben; so geschah es, jeweils auf Revolutionen zulaufend, im jakobinischen Freimaurertum des späten 18. Jahrhunderts und in dem andersartigen Orden des organisierten Kommunismus. Die Hoffnungen galten einer brave new world, einer schönen neuen Welt – der Vers findet sich in Shakespeares „Sturm“. Die junge Miranda, die an der Seite ihres Vaters in völliger Einsamkeit aufgewachsen ist, bricht bei Shakespeare in diese Worte aus, als sie mitten im Wald die höfische Gesellschaft auf sich zukommen sieht, die der Luftgeist Ariel im Auftrag Prosperos, ihres Vaters, durcheinandergewirbelt und dann vor dessen Behausung geführt hat. Unter ihr sind drei Fürsten, die ihren Vater einst vom Thron gestoßen haben, zwei von ihnen haben vor wenigen Stunden noch einen Mordanschlag auf den dritten geplant: so sieht die schöne neue Welt aus, der sich Miranda gegenüber glaubt. Es ist keine Utopie, was sie in die euphorischen Worte ausbrechen läßt, sie erliegt der Illusion, daß das äußerlich Anziehende auch das Gute sei. Mirandas Freudenruf ist ein Archetypus, wie er immer wieder aufsteigt, wenn ein von langer Hand Wünsch-, aber nach Lage der Dinge Undenkbares unversehens eintritt. In der witzereichen DDR kursierte die Geschichte von dem Mann, der sich jeden Morgen ostentativ aus dem Fenster lehnt, um in den Himmel zu sehen, bis es seiner Frau eines Tages zuviel wird und sie ihn fragt, warum er das tue. „Na ja“, gibt der Mann zur Antwort, „ich habe gehört, eines schönen Tages bricht der ganze Laden zusammen.“ 4 Es geschah so, nicht unvorbereitet, aber durchaus überraschend, und der Ruf „Wahnsinn“ begleitete das unvermittelte Aufgehen einer Grenze, die nicht nur ihr Erbauer für dauerhaft gehalten hatte. Wenn danach auch sehr vieles besser und manches sogar gut wurde, so stellte sich doch bald heraus, was viele ohnedies wußten: daß den in the brave new world Eintretenden keine heile Welt blühte, sondern eine voller neuartiger Widersprüche. Die Euphorie derer, die acht Monate später die neuen Geldscheine schwenkten und vermittels ihrer die von ihnen selbst hergestellten Produkte dem Orkus überlieferten, steht uns noch vor Augen; es dauerte nicht lange, bis sie sich als Sozialhilfeempfänger wiederfanden. Die Vorstellung, daß es gelingen könne, Vorzüge der alten mit denen der neuen Gesellschaftsordnung zu verbinden, erwies sich bald als – utopisch, auch weil die Mehrheit der Wahlberechtigten sich in eine Miranda-Stimmung hineingesteigert hatte. Illusion, Utopie, Euphorie – das ist kein harmonischer Dreiklang, er bezeichnet eine immer neue Dissonanz. Es ist gerade sieben Monate her, daß die Invasion hilfsbedürftiger Menschen aus einem kriegszerrütteten oder übervölkerten Orient in Deutschland eine Welle menschlich-unmittelbarer Hilfsbereitschaft auslöste, die für die Überforderung der politischen Lenker und der staatlichen Instanzen einstand. War es romantische Euphorie, was hier das Krisenhafte einer außer Kontrolle geratenen Situation überspielte? Das im Weltmaßstab einzig dastehende deutsche Asylgesetz in seiner materiellen Ausgestaltung durch das Bundesverfassungsgericht zeigte sich in seiner utopischen Dimension: Deutschland als der aufnahmebereite Zufluchtsort aller „Verdammten dieser Erde“, falls sie nur den Fuß über die Grenze setzen. „Leicht beieinander wohnen die Gedanken, / Doch hart im Raume stoßen sich die Sachen.“5 Dem Sonntag der großen Gefühle und wunderbaren Taten folgte der Werktag der Ernüchterung, der Prüfung des Wünschenswerten am Zuträglichen; Hegel, der Dialektiker der Geschichte, nannte den Vorgang „Negation der Negation“. Das ging auf den Dreischritt des geschichtlichen Prozesses, und Hegel wußte: es kommt immer etwas anderes heraus, als sich die Schreitenden vorstellen. 5 Friedrich Schiller, „Wallensteins Tod“, 2. Akt, 2. Szene. 5 II Doch wie steht es um die Worte, mit denen wir hier hantieren, als verstünden sie sich von selbst? Euphorie können wir mit Hochgefühl, Hochgestimmtheit übersetzen – und Utopie? Auch das ist ein aus dem Griechischen abgeleitetes Wort, es kommt von Utopia, einer Wortbildung des Thomas More, die man mit Land im Nirgendwo übersetzen könnte. Als Utopie bezeichnet man von daher gemeinhin eine realitätsferne Wunschvorstellung, ein Traumbild ohne die Chance, ins Wirkliche überzutreten. Aber das ist im Blick auf Mores Buch entschieden zu kurz gegriffen. Der Autor, der sich latinisiert Morus nannte, übersetzte sein Kunstwort keineswegs, sondern verwendete es als topographische Bezeichnung; der Titel des detailreichen Berichts von einer fernen Insel, den der englische Humanist und Politiker 1516 vorlegte, lautete: „De optimo statu rei publicae deque nova insula Utopia“, „Vom besten Zustand des Staates oder von der neuen Insel Utopia“. Sein Erscheinen jährt sich in diesem Jahr zum fünfhundertsten Mal – Grund genug, ihm und seinem Verfasser näher zu treten. Thomas Morus, der sich bei der Niederschrift des Buches in diplomatischer Mission in Flandern und Frankreich aufhielt (er war seit 1504 Mitglied des Unterhauses), sandte das Manuskript seines Inselromans vor der Drucklegung an einen Freund und Kollegen, Erasmus von Rotterdam, den eminenten Altphilologen, Haupt des europäischen Humanismus. Drei Jahre später feierte Erasmus seinen Freund in einem Brief an Ulrich von Hutten, in dem sich der Satz findet: „Glücklich die Staaten, wenn der Herrscher allenthalben Beamte wie Morus an die Spitze stellt!“6 Erasmus lebte zu dieser Zeit im holländischen Löwen; es ist nicht auszuschließen, daß er einen mehr als nur lektoriellen Einfluß auf den lateinischen Text genommen hat. In der Erzählung selbst, die in der Löwener Universitätsdruckerei erschien, berichtet Thomas Morus in der 1. Person, wie er durch einen Antwerpener Freund einen weitgereisten Seefahrer kennenlernt, Raphael Hythlodeus, der zu einer Gruppe von Männern gehörte, die (der Vorgang ist authentisch) Amerigo Vespucci im Jahre 1504 an der Ostküste Brasiliens in einem Kastell zurückgelassen hatte. Hythlodeus, der von dort aus eigene Expeditionen 6 Thomas Morus: Utopia / Ein wahrhaft goldenes und ebenso heilsames wie erheiterndes Büchlein über den besten Staatszustand und über die neue Insel Utopia, verfaßt von dem hochberühmten THOMAS MORUS, Bürger und Vicecomes der rühmlich bekannten Stadt London, hg. von Jürgen Teller, aus dem Lateinischen von Curt Woyte, Leipzig: Reclam 1974, S. 141. Der Brief des Erasmus ist von Jürgen Teller übersetzt. 6 unternahm, berichtet, wie er zu einer großen Insel namens Utopia gelangt sei, die ihren Namen von einem weisen Staatsgründer namens Utopus habe, Utopier nennten sich seine Bewohner. Während der erste Teil des Buches aus dem Mund des Seefahrers (Hythlodeus ist griechisch und bedeutet Schaumredner, ein Distanzierungstrick des Autors) eine Kritik an englischen Zuständen vorträgt, geht der Autor im zweiten Teil dazu über, Lebensweise und Staatseinrichtung der Utopier detailliert zu beschreiben; zuvor aber gibt es eine Kontroverse zwischen ihm und Raphael über die Rolle des Privateigentums. „Wenn ich ganz offen meine Meinung kundgeben soll, mein lieber Morus“, nimmt der vielgereiste Raphael das Wort, „so muß ich sagen: Ich bin in der Tat der Ansicht, überall, wo es noch Privateigentum gibt, wo alle an alles das Geld als Maßstab anlegen, wird kaum jemals eine gerechte und glückliche Politik möglich sein, es sei denn, man will dort von Gerechtigkeit sprechen, wo gerade das Beste immer den Schlechtesten zufällt, oder von Glück, wo alles unter ganz wenige verteilt wird ..., der Rest aber ein elendes Dasein führt. So erwäge ich denn oft die so klugen und ehrwürdigen Einrichtungen der Utopier, die so wenig Gesetze und trotzdem eine ausgezeichnete Verfassung haben“.7 Raphael kommt auf Plato zu sprechen, der in seiner großen Klugheit erkannt habe, „daß es nur einen einzigen Weg zum Wohle des Staates gibt: die Einführung der Gleichheit des Besitzes. Diese ist aber wohl niemals dort möglich, wo die einzelnen ihr Hab und Gut noch als Privateigentum besitzen. Denn wo jeder auf Grund gewisser Rechtsansprüche an sich bringt, soviel er nur kann, teilen nur einige wenige die gesamte Menge der Güter unter sich, mag sie auch noch so groß sein, und lassen den übrigen nur Mangel und Not übrig“. Das ist eine Diagnose, in die wir aufgrund zuverlässiger Erhebungen im Welt- wie im nationalen Maßstab voll einstimmen können. Und die Therapie? Raphael Hythlodeus erklärt, der „festen Überzeugung zu sein, „das einzige Mittel, auf irgendeine gleichmäßige und gerechte Weise den Besitz zu verteilen und die Sterblichen glücklich zu machen, ist die gänzliche Aufhebung des Privateigentums.“ Das ist das Programm des Kommunismus in jenem urchristlichen Sinn, wie ihn die Apostelgeschichte im Anschluß an das pfingstliche Sprachwunder (alle verstehen auf einmal alle) beschreibt: „Alle aber, die gläubig waren geworden, waren beieinander 7 Thomas Morus: Utopia, a. a. O., S. 45 f. 7 und hatten alle Dinge gemeinsam.“ (Ap. 2, 44) Und später noch einmal: „...auch nicht einer sagte von seinen Gütern, daß sie sein wären, sondern es war ihnen alles gemeinsam.“ (Ap. 4, 32) Man kann in Morus’ Utopia die Übertragung der Lebensformen der christlichen Urgemeinde ins Staatlich-Allgemeine erblicken. Doch ist diese Transformation frei von Askese und Endzeiterwartung; sie hat es auf irdische Glückseligkeit abgesehen und läßt sich als eine Art vergesellschafteten Epikuräismus beschreiben. Statt völliger Gemeinwirtschaft erwägt Raphael etwas Gelinderes: Maßnahmen zur Beschneidung übermäßigen Reichtums. „Man könnte ja für den Besitz des einzelnen an Grund und Boden ein bestimmtes Höchstmaß festsetzen und ebenso eine bestimmte Grenze für das Barvermögen“. Aber das sei nichts anderes als warme Umschläge für einen todkranken Körper. „Auf eine vollständige Behebung der Übelstände und auf den Eintritt eines erfreulichen Zustands darf man ganz und gar nicht hoffen, solange jeder noch Privateigentum besitzt.“8 Es ist faszinierend zu sehen, wie hier wenige Jahrzehnte nach den Reisen des Kolumbus und der ihm folgenden Entdecker, in einer Zeit exzessiver Ausweitung der Kenntnisse, des Handels, der Eroberungen, der Reichtümer, aus der Feder eines führenden englischen Diplomaten und Gelehrten das Konzept einer Gegenwelt auftaucht, die von der Geißel der Besitzgier befreit ist, einer befriedeten Zone erfüllter Grundbedürfnisse und harmonischen Miteinanders. Morus’ Utopia ist von den Berichten der Entdecker selbst inspiriert; die Kunde, welche der Namenspatron des neuen Kontinents, Amerigo Vespucci, von dem naturnahen, friedfertig-genußfrohen Leben der in dem neuen Erdteil von ihm entdeckten Völker gegeben hatte, hat Morus’ Darstellung nachweislich beeinflußt. Seine „Utopia“ stellt die Verhaltensweisen des beginnenden Kolonialzeitalters vom Kopf auf die Füße: Die Eingeborenen nicht unterwerfen und ausbeuten, sondern auf sie schauen und von ihnen lernen. Der Verfasser, der als Ich-Erzähler des Zuhörer dieses Seefahrers ist, bekundet tiefgreifende Skepsis. Er sei „der entgegengesetzten Meinung, daß man sich niemals dort wohl fühlen kann, wo Gütergemeinschaft herrscht. Denn wie könnte die Menge der Güter ausreichen, wenn jeder sich um die Arbeit drückt, weil ihn ja keine Rücksicht auf Erwerb zur Arbeit anspornt und weil ihn die Möglichkeit, sich auf den Fleiß anderer zu verlassen, träge werden läßt?“ Das verweist auf eine Komplikation, die 8 Ebd., S. 47. 8 wir nicht nur aus der Theorie kennen (und neuerdings aus den Debatten über den Sinn eines Grundeinkommens), sondern aus der Praxis einer noch nicht lange zurückliegenden Gesellschaft, die, bei Garantie eines luxusfreien, aber auskömmlichen Lebens, das Privateigentum auf dem Gebiet der Herstellung – nicht der Aneignung – der Güter fast ganz zurückgedrängt hatte. Es ergab sich, daß in einer strikt vergesellschafteten, daher zentral gelenkten Produktion der Eifer der einzelnen teils nachläßt, teils systematisch gedämpft wird und damit die Leistungs- und Innovationsfähigkeit des Ganzen schwindet. Raphael gibt Morus’ Einwand nicht nach. „Wärst du mit mir in Utopien gewesen“, antwortet er, „so würdest du entschieden zugeben, du habest nirgendwo anders ein Volk mit einer guten Verfassung gesehen außer dort.“ Morus will nun Näheres erfahren, mit seinem Freund Peter Ägidius vernimmt er im zweiten Teil des Buches die „Nachmittagserzählung des Raphael Hythlodeus über die Gesetze und Einrichtungen der bisher nur wenigen bekannten Insel Utopia“. Was er zu berichten hat, ist immer wieder erstaunlich: durch die Modernität, um nicht zu sagen: die Aktualität des Beschriebenen. Dies vor allem in dem Schlußkapitel über „die Religion der Utopier“: sie ist von einer Pluralität, die nichts ausschließt. Die einen beten „die Sonne, die andern den Mond und wieder andere diesen oder jenen Planeten als Gottheit“ an, einige aber besondere Menschen, „die vor alters durch Tugend oder Ruhm geglänzt“ haben. „Aber der weitaus größte und zugleich weitaus klügere Teil glaubt an nichts von alledem, sondern nur an ein einziges, unerkanntes, ewiges, unendliches und unerforschliches göttliches Wesen, das ... dieses ganze Weltall erfüllt und zwar als tätige Kraft, nicht als körperliche Masse. ... Mit den Anhängern dieser Lehre stimmen auch alle anderen trotz aller Glaubensunterschiede ... überein ... und dieses göttliche Wesen nennen sie alle ohne Unterschied in ihrer heimischen Sprache Mythras.“9 Das Christentum, das ihnen die Seefahrer nahebrachten, habe den Utopiern besonders eingeleuchtet, nicht zuletzt durch die Kunde, daß „Christus an der gemeinschaftlichen Lebensweise seiner Jünger Gefallen gefunden habe“, wie diese „bei den Zusammenkünften der echten Christen noch heutigentags üblich“ sei. Ein jeder dürfe in Utopia seinen Glauben erläutern und für ihn werben, aber niemals so, daß er 9 Ebd., S. 112 f. Mythras ist ein Morussches Kunstwort. 9 andere Religionen herabsetze; wer das tue, werde mit Verbannung bestraft. Utopus, der Staatsgründer, habe „Religionsfreiheit für jedermann“ festgesetzt. Incipit vita nova, aber dieses vorweggenommene neue Leben einer Religionsverfassung von substantieller Toleranz hat Jahrhunderte schwerer Kämpfe gebraucht, um nur in Europa durchzudringen. Sie ist bisher nicht dazu gekommen, die Pluralität der Konfessionen durch die institutionalisierte Einsicht zu überbauen, daß nur ein einziger Gott sein könne, der alle Religionen in sich faßt; mit struktureller Notwendigkeit sind Religionen und Konfessionen kultisch-metaphysische Überhöhungen gewachsener Großgemeinschaften. Gleichwohl zeigt Morus’ Religionskapitel: die kluge Utopie ist utopisch nur in dem Sinn, daß sie einen langen Weg zur Realisierung vor sich hat. Auf andere Weise gilt dies von der Einrichtung eines Sechs-Stunden-Arbeitstags in der Inselbeschreibung des Seefahrers Raphael. In Utopia arbeiten alle, auch die Frauen, nach dem Maß ihrer Kräfte und Talente, wobei es die Aufgabe gewählter Familienvorsteher ist, „sich angelegentlich darum zu kümmern, daß niemand untätig herumsitzt, sondern jeder sein Gewerbe mit Fleiß betreibt“.10 Dabei muß er sich keineswegs kaputtmachen, wie das „fast überall das Los der Arbeiter“ sei. Die Utopier „teilen nämlich den Tag mitsamt der Nacht in vierundzwanzig gleiche Stunden ein und kennen eine Arbeitszeit von nur sechs Stunden. Drei Stunden arbeiten sie am Vormittag, danach essen sie zu Mittag und halten eine Rast von zwei Stunden. Dann arbeiten sie wieder drei Stunden und beschließen den Tag mit dem Abendessen.“ „Über all die Zeit zwischen den Stunden der Arbeit, des Schlafes und des Essens“, erfährt der Reisende, „darf ein jeder nach seinem Belieben verfügen“, mit dem Zusatz: „Die meisten treiben in diesen Pausen literarische Studien.“ In den frühen Morgenstunden aber herrscht der Brauch, „öffentliche Vorlesungen zu halten“, Utopia ist eine Bildungsrepublik. Aber sie ist auch eine Tugendrepublik, denn: „Keine Weinschenken, keine Bierhäuser, nirgends ein Bordell, keine Gelegenheit zur Verführung, keine Schlupfwinkel, keine Liederlichkeit; jeder ist vielmehr den Blicken der Allgemeinheit ausgesetzt, die ihn entweder zur gewohnten Arbeit zwingt oder ihm nur ein ehrbares Vergnügen gestattet“, zum Beispiel schachähnliche Brettspiele. Diese Allgemeinheit nennt Vergnügen „jede Bewegung und jeden Zustand des Körpers und 10 Ebd., S. 58. 10 des Geistes, worin wir unter Anleitung der Natur mit Behagen verweilen“.11 Doch „Anleitung der Natur“ ist ein ziemlich unbestimmter Begriff. Da alle arbeiten, müssen alle nicht besonders viel arbeiten, zumal all jene Gewerbe entfallen, „die bloß der Verschwendung und Genußsucht dienen“12; auch auf solchen Wegen kann man zu einer 36-Stunden-Woche kommen. Auch hier: ein langer, verschlungener Weg zum Wirklich-Werden dessen, was lange Zeit als „utopisch“ galt. So auf andere Weise bei der Nacktheitsprüfung der Brautpaare. In Utopia zeigt „eine gesetzte, ehrbare Matrone ... dem Freier das Weib, sei es ein Mädchen oder eine Witwe, nackt; und ebenso zeigt andererseits ein sittsamer Mann den Freier nackt dem Mädchen“.13 Das finden die Gäste aus Europa anstößig, aber sie lassen sich überzeugen: Gelte es in ihrer Heimat, „eine Ehefrau auszuwählen, eine Angelegenheit, die Genuß oder Ekel fürs ganze Leben zur Folge hat, so geht man mit solcher Nachlässigkeit zu Werke, daß man das ganze Weib kaum nach einer Handbreit seines Körpers beurteilt“, womit der Erzähler das Gesicht meint. Wie sehr die Utopier mit dieser Maßnahme einem kenntlichen Übelstand abhalfen, wird dem Leser klar, wenn er bedenkt, unter wie enormen Kleiderhüllen die europäischen Frauen zu jener Zeit verborgen waren. Auch hier können wir den Weg ermessen, den die Geschichte zurücklegen mußte, um den utopischen Vorschlag des Thomas Morus in einer Weise zu realisieren, die ihn überflüssig machte. Liest man aber von den Utopiern, daß diese Krieg führten nicht nur „zum Schutze ihrer eigenen Grenzen oder zur Vertreibung der ins Land ihrer Freunde eingedrungenen Feinde“, sondern auch „aus Mitleid mit irgendeinem Volk, das unter dem Druck der Tyrannei leidet“, so ist man bei politischen Ambitionen angelangt, die uns dystopisch in die Gegenwart führen. An jüngere Vergangenheit gemahnt die den Utopiern auferlegte Nötigung, Reisen nur mit vom Bürgermeister ausgestellten Genehmigungen antreten zu können, auf denen „der Tag der Rückkehr vorgeschrieben ist“.14 Wer sich „außerhalb seines Wohnbezirks eigenmächtig“ herumtreibt und „ohne amtlichen Urlaubsschein aufgegriffen“ wird, der wird „mit Schimpf und Schande in die Stadt“ zurückgebracht und streng gezüchtigt – auch dies ein deutlich dystopisches Element. 11 Ebd., S. 81 Ebd., S. 60. 13 Ebd., S. 94. 14 Ebd., S. 69. 12 11 Jede ausgemalte Ordnungswelt, die sich herrschender Unordnung als Alternative gegenüberstellt, ist ein Zugleich von Utopie und Dystopie, insofern sie jene Freiheiten einschränkt, von denen ihr Urheber feststellen mußte, daß sie uneingeschränkt ins Verderben führen. Das ist die Ambivalenz des Utopischen, die so viele Gesichter hat wie die Utopien selbst. Ins Wirkliche eintretend, wie dies die letzten beiden Jahrhunderte mit der Verabsolutierung sowohl der Freiheit wie der Unfreiheit erfahren haben, wird sie Dialektik der Geschichte. Wie, untermauert von der Utopie des Neoliberalismus, die verabsolutierte Freiheit des spekulativen Finanzkapitals allerorten in ökonomische, politische und gesellschaftliche Unfreiheit umschlägt, zeigt sich in unsern Tagen einmal mehr. Eine andere, technikgeborene und technikzeugende Utopie, die der privatisierten Totalkommunikation des „sozialen Netzwerks“, ging Hand in Hand mit ihr und offenbart nach der euphorischen Phase ihr Janusgesicht; ob es in ein Medusenhaupt mutiert, kann nur die Zukunft zeigen. Ernst Bloch, der in seinem „Abriß der Sozialutopien“ auch der „Utopia“ eine tiefdringende Untersuchung gewidmet hat, legt den Finger nicht auf die Widersprüche in Morus’ Inselgesellschaft; er hebt ihre Freiheitsmomente hervor und nennt ihre Darstellung „mit allen ihren Schlacken das erste neuere Gemälde demokratischkommunistischer Wunschträume“.15 „Zum Unterschied von den bisher erträumten Kollektivismen des besten Staats“ sei „bei Thomas Morus Freiheit dem Kollektiv eingeschrieben, und echte, materiell-humane Demokratie wird sein Inhalt. Dieser Inhalt macht die ‚Utopia’, wesentlichen Partien nach, zu einer Art liberalem Gedenkund Bedenkbuch des Sozialismus und Kommunismus.“ Morus „Utopia“ sei „weithin ins irdisch Ungewordene, in die menschheitliche Freiheitstendenz hinein entworfen – als Minimum an Arbeit und Staat, als Maximum an Freude“. Jürgen Teller, Blochs Schüler, der Herausgeber einer Leipziger Neuausgabe der „Utopia“ im Jahre 1974, nennt das Buch „ein Gedankenexperiment aus Not und Hoffnung“. Im Blick auf den Titel schreibt er: „U-topia, der Nichtort“, enthalte „durch diese Negation bereits sprachlich den Protest: das Nichtsein richtet das Sein, das so ausgemalte und vorweggenommene Land läßt die Menschen das Bestehende nicht mehr ohne weiteres hinnehmen, wenn 15 Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung, Bd. 1, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1959, S. 603. 12 die Tatsachen so sind, um so schlimmer für die Tatsachen.“16 Dies letztere war ein Bloch-Zitat. Worauf Bloch nur ganz am Rande und Teller überhaupt nicht sein Augenmerk richtete, war das Schicksal des Autors. Morus’ Roman erschien ein Jahr vor den Lutherschen Thesen, die von der Tür der Wittenberger Schloßkirche wie ein Funkenflug in ein Europa fuhren, das den Herrschenden wie eine Zone des Friedens, einer sich als Synthese aus Christentum und Antike hoffnungsvoll entfaltenden neuen Kultur erschien und in Wahrheit ein soziales Pulverfaß war; auch Morus begab sich in den folgenden Jahren in Kontroversen mit dem sächsischen Theologen. Wenn sein Name heute noch lebendig ist, dann auf dreierlei Weise: durch seine Autorschaft an der „Utopia“, durch das wunderbare Porträt, das der jüngere Holbein als Hofmaler des britischen Königs von ihm wie von seinem Freund Erasmus malte, und durch seine Heiligsprechung im Jahre 1935 als Märtyrer der katholischen Kirche. Wie das – der Übersetzer Lukians, des antiken Materialisten, und Verfasser der „Utopia“ mit ihrer differenzierten Religionstoleranz ein Märtyrer der Papstkirche gegen seinen König und Förderer, Heinrich VIII., der ihn zu immer höheren Staatsämtern und 1529 zum Großkanzler, faktisch zum Ministerpräsidenten Englands berufen hatte – wie reimt sich das zusammen? Als sich der König, um seine vom Papst verweigerte Scheidung durchzusetzen, an dessen Stelle selbst zum Oberhaupt der englischen Kirche ernannte, trat Morus 1532 zurück und verweigerte Heinrich seine Gefolgschaft und schließlich auch den allen Würdenträgern abgeforderten Suprematseid, wohl wissend, daß er damit sein Leben verwirkte (er wurde 1538 hingerichtet) und seine Familie an den Bettelstab brachte. War das derselbe Mann, der in der „Utopia“ eine Religionsverfassung brüderlicher Toleranz auch gegenüber den schlichtesten Naturreligionen entworfen hatte? Hatte er ein Erweckungserlebnis gehabt oder stammte der Inselroman in diesen Passagen gar nicht von ihm, sondern von Erasmus? Ein Rätsel liegt über dem tragischen Ende eines Mannes, der sich mit seiner Staatsphantasie in die Weltliteratur und mit deren Titel in den allgemeinen Sprachgebrauch eingeschrieben hat. 16 Thomas Morus: Utopia, a. a. O., S. 163. 13 III Utopie ist in ein positives Gegenbild geronnene Gesellschaftskritik. Morus’ Buch macht deutlich: Die echte Utopie zeichnet sich dadurch aus, daß sie antizipatorisch ist, Fingerzeige auf eine erreichbare Zukunft enthaltend; in diesem futurischen Sinn ist sie „konkrete Utopie“ (Bloch). Für die negative Utopie, die man als Dystopie bezeichnet, gilt das Entsprechende. Sie ist Gesellschaftskritik, die den negativen Tendenzen ihrer Zeit kein positives Gegenbild gegenüberstellt, sondern die Indizien des Unheils in ein Bild extrapolierter Deformation überführt, wie dies in den Romanen von George Orwell und Aldous Huxley geschah und manchmal in den Science-fiction-Romanen des Stanislaw Lem. Auch die Dystopie enthält, wenn sie qualifiziert ist, Fingerzeige auf Zukünftiges; die Geschichte wickelt manchmal aus, was der konkret antizipierende Beobachter warnend wahrgenommen hatte. Doch haben Utopie und Dystopie außer dieser literarischen Dimension auch eine emotionale: bei den Zeugen und Teilnehmern historischer Umbrüche. Was den einen in der Euphorie einer unerwarteten Schicksalswende als schier utopische Öffnung ins Wünschbar-Unerwartete erscheint, gilt den andern als dystopisches Schrecknis, von einer Dysphorie begleitet, die oft nur allzu begründet ist. Denken wir nur an jene Öffnung ins Schreckensvolle, die sich im Januar 1933 in Deutschland mit der Ernennung eines kenntlichen Staatsfeinds durch einen verräterischen Reichspräsidenten begab. Ernst Bloch nannte den „riesigen Betrug“, der hier waltete, das „furchtbarste Stück in der Geschichte der großen Verschwendung von Gläubigkeit“ und fügte hinzu: „Es war die scheußlichste Karikatur von Adventistischem überhaupt, vom falschen Messias, vom Erwarten der Ankunft Christi übermorgen.“17 Anders trügerisch war die Begeisterung, die in Deutschland die im Sommer 1914 ins Feld ziehenden Vaterlandsverteidiger begleitete; daß es ein Verteidigungskrieg war, war die allgemeine und keineswegs abwegige, obwohl unzureichende Vorstellung. Die nationale Euphorie, aus welchen Bedrängnissen sie auch hervorbricht, ist von der qualifizierten Utopie immer am weitesten entfernt. Dies galt nicht von der deutschen Staatsvereinigung des Jahres 1990, die sich auf einer soliden Grundlage vollzog, einem liberalen Grundgesetz, und von einer echten Utopie begleitet war, der des europäischen Hauses. 17 Ernst Bloch: Kann Hoffnung enttäuscht werden?, in: E. B., Verfremdungen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1963, S. 213. 14 Wir sind im 20. Jahrhundert angelangt und könnten einen Blick auf Brechts Gesellschaftsvorstellungen werfen, die der Krise des Weltkapitalismus um das Jahr 1930 entsprangen.18 Auch Brecht griff damals zu einem Buch, das die Utopie im Titel trug, um sich im Namen von Wissenschaft von ihr zu emanzipieren: Friedrich Engels’ 1880 erschienenen Großessay „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft“, die „neben dem Kommunistischen Manifest am weitesten verbreitete Schrift des wissenschaftlichen Sozialismus“.19 Engels übergeht Thomas Morus, den Urvater der neuzeitlichen Utopie, und beschränkt sich auf die sozialen Systementwürfe der Owen, Fourier und Saint-Simon, die er „als von vornherein zur Utopie verdammt“ erklärt: „Je weiter sie in ihren Einzelheiten ausgearbeitet wurden, desto mehr mußten sie in reine Phantasterei verlaufen“.20 Zugleich verweist er auf die „genialen Gedankenkeime und Gedanken, die unter der phantastischen Hülle überall hervorbrechen“. Engels hat, wie vor und mit ihm Karl Marx, eine tiefgreifende Angst, daß die von einer Arbeiterrevolution heraufzuführende Gesellschaftsordnung, für die er die Bezeichnungen Sozialismus bzw. Kommunismus bereithält, als Utopie und „utopisch“ erkannt werden könnte, was insofern zwangsläufig ist, als es sich um eine Vorstellung von der Zukunft, einen Entwurf auf diese hin handelt. Von der Zukunft aber, und das müßte dieser Analytiker eigentlich wissen, kann es keine Wissenschaft geben, sondern lediglich Mutmaßungen, Prognosen, Extrapolationen, Wunschvorstellungen. Um diese Einsicht drückt sich der Autor, indem er sich einer bestimmten Beschreibung der von der Revolution heraufzuführenden Neuordnung soweit wie möglich enthält. Das war ihm im Revolutionsjahr 1848 noch nicht möglich gewesen; in den von ihnen verfaßten „Forderungen der Kommunistischen Partei in Deutschland“ hatten Marx und Engels an die zu errichtende „einige, unteilbare Republik“ konkrete ökonomische Forderungen gestellt. Sie bestanden in der Verstaatlichung der Bergwerke, Banken, Verkehrsmittel und des feudalen Landbesitzes und in der „Errichtung von Nationalwerkstätten“, in denen der Staat „allen Arbeitern ihre Existenz“ garantiert.21 In dem gleichzeitigen „Manifest der Kommunistischen Partei“ 18 Vgl. Friedrich Dieckmann: Brechts Utopia, in: F. D., Wer war Brecht?, Berlin: Aufbau-Verlag 2003. Karl Marx/Friedrich Engels: Werke in sechs Bänden, Bd. 5, Berlin: Dietz 1988, S. 545. 20 Ebd., S. 438. 21 Marx/Engels: Werke in sechs Bänden, Bd. 1, Berlin: Dietz 1988, S. 464-468. 19 15 war die politische Voraussetzung für diese umfassende Verstaatlichung formuliert: „Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat“22. Was danach geschehen würde, wie und durch wen die umfassend besitzergreifende Arbeiterschaft mit der ihr zugefallenen politisch-ökonomischen Macht umgehen werde, war im „Manifest“ mit hoffnungsvoll-vagen Wendungen umschrieben worden, fernab der analytischen Prägnanz, die Marx nachmals an die Beschaffenheit des Kapitalismus wandte. Der sich als wissenschaftlich gerierende Sozialismus hatte einen blinden Fleck, das war die Zukunft; auch in Engels’ Essay macht er sich mit aller Deutlichkeit geltend. Im Namen der Wissenschaft konstatiert der Autor, daß „die neuen Produktivkräfte“ – die der industriellen Serienfertigung – „der bürgerlichen Form ihrer Ausnutzung bereits über den Kopf gewachsen“ seien: in Gestalt regelmäßig eintretender Wirtschaftskrisen. „Je mehr die neue Produktionsweise ... zur Herrschaft kam und damit die Einzelproduktion bis auf unbedeutende Reste verdrängte, desto greller mußte auch an den Tag treten die Unverträglichkeit von gesellschaftlicher Produktion und kapitalistischer Aneignung.“23 Es herrsche „Anarchie der gesellschaftlichen Produktion“, und ihre treibende Kraft sei „die unendliche Vervollkommungsfähigkeit der Maschinen“; sie zwinge den „einzelnen industriellen Kapitalisten, seine Maschinerie mehr und mehr zu vervollkommnen bei Strafe des Untergangs“. So entstehe „ein qualitiatives und quantitatives Ausdehnungsbedürfnis, das jedes Gegendrucks spottet“. Mit katastrophalen Folgen für die Bevölkerung käme es zu der „crise pléthorique“, der „Krise aus Überfluß“; seit 1825 habe sie „die ganze industrielle und kommerzielle Welt ... so ziemlich alle zehn Jahre einmal aus den Fugen“ gehen lassen.24 Engels beschreibt die Tendenz zu neuen, konzentrierten Organisationsformen der industriellen Produzenten, einerseits zu Aktiengesellschaften und Trusts, andererseits zu der „Leitung der Produktion“ durch den Staat selbst, wie sie sich bei Post, Telegraphen, Eisenbahnen hergestellt habe. „Das Staatseigentum an den Produktivkräften“ sei „nicht Lösung des Konflikts“, aber es berge in sich „das formelle Mittel, die Handhabe der Lösung“; diese bestehe darin, „daß die Gesellschaft offen und ohne Umwege Besitz ergreift von den ... Produktionsmitteln“. „In den Händen der 22 Ebd., S. 430. Marx/Engels: Werke, Bd. 5, a. a. O., S. 459. 24 Ebd., S. 465. 23 16 assoziierten Produzenten“ würden sich die ungebändigten Maschinenkräfte „aus dämonischen Herrschern in willige Diener“ verwandeln.25 Aber wer ist „die Gesellschaft“, wer spricht in ihrem Namen, auf welche Weise übt sie Herrschaft über sich aus? Wie produzieren die „assoziierten Produzenten“ und wie bringen sie ihre Erzeugnisse zu denen, die ihrer bedürfen? An die Schwelle der Konkretion gelangend, ergeht sich der Autor im Nebulosen. Die Furcht davor, als Utopiker erkannt zu werden, läßt ihn im Vagen verharren: „an die Stelle der gesellschaftlichen Produktionsanarchie“ trete „eine gesellschaftlich-planmäßige Regelung der Produktion nach den Bedürfnissen der Gesamtheit wie jedes einzelnen.“ Das ergebe „einerseits direkt gesellschaftliche Aneignung als Mittel zur Erhaltung und Erweiterung der Produktion, andererseits direkt individuelle Aneignung als Lebensund Genußmittel“. Der Weg dazu wird typographisch hervorgehoben: „Das Proletariat ergreift die Staatsgewalt und verwandelt die Produktionsmittel zunächst in Staatseigentum. Aber damit hebt es sich selbst als Proletariat, damit hebt es alle Klassenunterschiede und Klassengegensätze auf und damit auch den Staat als Staat. ... Der erste Akt, worin der Staat wirklich als Repräsentant der ganzen Gesellschaft auftritt – die Besitzergreifung der Produktionsmittel im Namen der Gesellschaft – ist zugleich sein letzter selbständiger Akt als Staat. Das Eingreifen einer Staatsgewalt in gesellschaftliche Verhältnisse wird auf einem Gebiete nach dem andern überflüssig und schläft dann von selbst ein.“26 Die Naivität solcher Vorstellungen bei einem so tiefdringenden Denker hat pathologische Züge. Der Utopie ausweichend, wird er zum Utopiker hinter seinem Rücken und dem seiner Leser. Man könnte einwenden, daß eine Massenbewegung, die auszieht, grassierender sozialer Unterdrückung zu entgegnen und einer vom Staat geschützten Privatwirtschaft angemessene Lebensbedingungen für die lohnabhängig Arbeitenden abzutrotzen, eines utopischen Überschusses, eines menschheitlichen Auftrags bedurft habe, um in den Kampf gegen brutale Widerstände einzutreten, der Vorstellung, „die Gesellschaft“ schlechthin zu vertreten, um aus dieser Identifikation einen Herrschaftsanspruch über das anarchisch irregeleitete Ganze abzuleiten. Was Engels, an der Fiktion der Wissenschaftlichkeit festhaltend, übersah, war, daß eine dergestalt 25 26 Ebd., S. 469 f. Ebd., S. 471. 17 missionarisch aufgeladene Bewegung die utopische Phrase gläubig verinnerlichen und darangehen könne, mit der totalen Monopolisierung aller wirtschaftlichen Prozesse als einem Heilsprogramm ernst zu machen. Ob der von den Autoren des Kommunistischen Manifests intendierte Sozialismus sich im 20. Jahrhundert im Gefolge der russischen Revolution und ihrer massenmörderischen Führer zur Kenntlichkeit oder zur Unkenntlichkeit verändert habe, ist eine Frage, die seit Chruschtschows Stalin-Entthronung im Jahre 1956 immer wieder und auch heute noch gelegentlich gestellt wird, mit der den ursprünglichen Glauben schützenden Neigung, einen Prozeß der Entartung und des Verrats zu konstatieren, der fernab von den Intentionen der Klassiker geführt habe. Aber es handelte sich von Anfang an um falsche Ärzte, die gegen himmelschreiende Übel eine Therapie verordneten, deren Folgen auch nur in Betracht zu ziehen sie sich standhaft weigerten. Hätten sie besser getan, einen utopischen Roman zu schreiben? Darin hätte das, worauf ihre Gesellschaftskritik zulief: die Machtergreifung durch eine das Proletariat vertretende Kommunistische Partei, in der Exposition stehen müssen, danach wäre konkrete Phantasie gefragt gewesen. Aber dies Buch wurde nicht geschrieben. Die Geschichte selbst ist in die Lücke gesprungen, auf deutschem Boden unter exzentrischen Umständen ein soziales Gebilde hervorbringend, das Züge des Utopischen und des Dystopischen in bunter Mischung hervorbrachte, einen Staat, der selbst Züge des Staatsromans trug, den die beiden Klassiker zu schreiben versäumt hatten.
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