taz.die tageszeitung

Biogas aus der Blüte
Die Silphie könnte die ökologische – und schöne – Alternative zum Energiemais werden ▶ Seite 9
AUSGABE BERLIN | NR. 10974 | 12. WOCHE | 38. JAHRGANG
H EUTE I N DER TAZ
MONTAG, 21. MÄRZ 2016 | WWW.TAZ.DE
€ 2,10 AUSLAND | € 1,60 DEUTSCHLAND
Europa ist nicht ganz dicht
STÄNKERN In Polen
ist Miriam Shaded ein
Medienstar. Wegen ihrer
islamophoben Thesen
wird sie gefeiert – nicht
nur von rechts ▶ SEITE 5
SCHWIMMEN Im Team
der Refugee Olympic
Athletics für Rio: die
syrische Sportlerin Yusra
Mardini ▶ SEITE 19
PAKT Seit der Nacht zum
Sonntag ist das Abkommen
zwischen der Türkei und der EU
in Kraft: Alle Flüchtenden, die
ohne Erlaubnis von der Türkei
nach Griechenland übersetzen,
sollen zurückgebracht werden.
Doch in Griechenland kommen
unverändert Schutzsuchende
an ▶ SEITE 3, 12
TWITTERN Das soziale
Netzwerk wird zehn und
kränkelt ▶ SEITE 17
Fotos oben: picture alliance
VERBOTEN
Salam aleikum,
meine Damen und Herren!
Der in Belgien gefasste Terrorverdächtige Salah Abdeslam
plant rechtliche Schritte gegen
die französische Staatsanwaltschaft, weil sie vertrauliche
Informationen preisgegeben
habe. Der Staatsanwalt sagte, Abdeslam habe erklärt, er
habe seinen Plan, sich bei den
Anschlägen in Paris in die Luft
zu sprengen, in letzter Minute
aufgegeben. Jetzt hat er echt
ein Problem. Nicht nur die 72
Jungfrauen sind flöten. Er kann
sich auch bei seinen IS-Kumpels nicht mehr blicken lassen,
weil sich der Gotteskrieger als
Deserteur entpuppt hat. Was
bleibt ihm da noch?
Stargast beim Ostermarsch.
Geflüchtete bei der Ankunft auf der griechischen Insel Lesbos am Sonntag. Zwei Männer, die auf dem Boot waren, starben kurz danach im Krankenhaus Foto: Petros Giannakouris/ap
Türkei: IS verübte Anschlag
ISTANBUL
Rückzieher gemacht
Drei der vier Todesopfer des Selbstmordattentäters sind Israelis
ISTANBUL rts | Die Türkei macht
die Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) für den Selbstmordanschlag von Istanbul verantwortlich. Innenminister Efkan Âlâ erklärte am Sonntag, bei
dem Attentäter handele es sich
um einen 1992 geborenen Mann
aus dem Süden des Landes, der
Mitglied des IS gewesen sei.
Die Regierung in Ankara
hatte zuvor auch die verbotene
Kurdische Arbeiterpartei PKK
als möglichen Urheber genannt.
Nach dem Anschlag, bei dem der
Attentäter vier Menschen mit in
den Tod riss, verbot die Regierung in mehreren Städten die
geplanten Feiern zum kurdischen Neujahrsfest Newroz.
Zudem wurden die Sicherheitsvorkehrungen im ganzen
Land erhöht. Nach Angaben der
israelischen Regierung in Jeru-
salem kamen bei dem Anschlag
in der Einkaufsstraße İstiklâl
Caddesi drei Israelis ums Leben.
Zwei von ihnen hatten demnach außerdem die US-amerikanische Staatsbürgerschaft.
Den türkischen Behörden zufolge war das vierte Todesopfer
ein Iraner. Unter den 36 Verletzten waren ebenfalls zahlreiche
Ausländer.
▶ Der Tag SEITE 2
PARIS
Abdeslam wollte noch mehr Menschen töten
PARIS dpa | Der in Brüssel ge-
fasste mutmaßliche Paris-Attentäter Salah Abdeslam wollte
sich im November beim Länderspiel Deutschland – Frankreich
im Stade de France eigentlich in
die Luft sprengen. Das habe der
26-Jährige bei seiner Vernehmung am Wochenende den belgischen Ermittlern gestanden,
sagte der französische Staatsanwalt François Molins in Pa-
ris. Weshalb er seinen Plan nicht
in die Tat umsetzte, ist noch unklar. Abdeslam war am Freitag
in der als Islamistenhochburg
geltenden Brüsseler Gemeinde
Molenbeek festgenommen worden. Insgesamt nahmen die Ermittler nach eigenen Angaben
fünf Verdächtige fest, darunter
offenbar eine Familie, die Abdeslam Zuflucht gewährt hatte.
▶ Ausland SEITE 10, 12
TAZ MUSS SEI N
Die tageszeitung wird ermöglicht
durch 15.707 GenossInnen, die
in die Pressevielfalt investieren.
Infos unter [email protected]
oder 030 | 25 90 22 13
Aboservice: 030 | 25 90 25 90
fax 030 | 25 90 26 80
[email protected]
Anzeigen: 030 | 25 90 22 38 | 90
fax 030 | 251 06 94
[email protected]
Kleinanzeigen: 030 | 25 90 22 22
tazShop: 030 | 25 90 21 38
Redaktion: 030 | 259 02-0
fax 030 | 251 51 30, [email protected]
taz.die tageszeitung
Postfach 610229, 10923 Berlin
taz im Internet: www.taz.de
twitter.com/tazgezwitscher
facebook.com/taz.kommune
10612
4 190254 801600
KOMMENTAR VON JÜRGEN GOTTSCHLICH ZU DEN TERRORANSCHLÄGEN IN DER TÜRKEI
V
ier verheerende Selbstmordattentate allein in diesem Jahr, täglich Tote im Kampf zwischen Militär und PKK im Osten des Landes und
dazu noch die Leichen der ertrunkenen
Flüchtlinge an der Westküste der Türkei
– die meisten Türkinnen und Türken wissen gar nicht mehr, wie viel Antidepressiva sie noch schlucken sollen, um den
täglichen Horror in den Griff zu bekommen. Fast 50 Prozent wählten im vergangenen November Recep Tayyip Erdoğan
wieder, weil er ihnen Stabilität und Sicherheit versprochen hatte.
Tatsächlich geht es aber im Land in einem rasanten Tempo bergab. Politikveteranen sagen, es sei schlimmer als vor
Erdoğan eskaliert die Gewalt
und nach dem Militärputsch von 1980.
Noch nie in der fast einhundertjährigen
Geschichte der türkischen Republik war
das Land in einer solchen Krise wie derzeit. Erdoğan und seine Regierung sind –
allen ihren martialischen Sprüchen von
der „eisernen Faust“ und der „gnadenlosen Jagd“ auf die „allgegenwärtigen Terroristen“ zum Trotz – weit entfernt davon, die Kontrolle über das Geschehen
zu haben. Entsprechend panisch reagieren sie.
Die leiseste Kritik wird drakonisch bestraft. Statt sich um die Ursachen des Niedergangs zu kümmern, werden die Überbringer schlechter Nachrichten in den
Knast gesteckt. Die Letzte, die diese Er-
fahrung machen musste, war ausgerechnet die deutsche Regierung, der Erdoğans
Mannen noch einen Tag vor dem Terroranschlag am Samstag gezielte Panikmache vorwarfen, weil sie die Deutschen in
der Türkei und damit auch die türkische
Bevölkerung genau vor dem Anschlag gewarnt hatten, der dann am Samstag verübt wurde.
Ob die türkischen Bürger ihrer Regierung noch vertrauen, wird lieber gar
Die leiseste Kritik wird
drakonisch bestraft
nicht gemessen. Doch in Gesprächen hat
es den Anschein, dass auch die „Fans von
Tayyip“ langsam nervös werden. Denn
alle Indikatoren sind negativ: Die Arbeitslosigkeit steigt, Investitionen gehen
zurück, der Tourismus ist eingebrochen.
Dabei ist der Terror hausgemacht. Zum
einen fällt die Allianz mit islamistischen
Dschihadisten in Syrien auf die Türkei zurück, zum anderen führt der „Krieg gegen
die PKK“ mehr und mehr zu syrischen
Verhältnissen. Demokraten hätten angesichts dieser Bilanz längst einen völligen
Politikwechsel eingeleitet, doch Autokraten wie Erdoğan eskalieren dagegen die
Gewalt immer weiter. Das macht die Lage
so hoffnungslos.
02
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
PORTRAIT
NACH RICHTEN
NACH WAH LSCH LAPPE
WI N DSTROMPRODUKTION
Linke liefert sich weiter Flügelkämpfe
Nordsee liefert
10 Prozent Strom
BERLIN | Der Flügelkampf bei der
Rücktritt: britischer Arbeitsminister
Iain Duncan Smith Foto: dpa
Spätes soziales
Gewissen
D
ass der britische Arbeitsund Rentenminister Iain
Duncan Smith am Freitagabend zurückgetreten ist,
war für viele politische Beobachter in London keine Überraschung. Denn der in den Medien oft kurz „IDS” genannte Politiker, hatte sich stets klar für
den Brexit, den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen
Union ausgesprochen. Damit
lag der EU-Skeptiker schon seit
Langem im Clinch mit seinem
Parteifreund, dem Premierminister David Cameron.
Was überraschte, war eher
die Begründung des 61-Jährigen. Mit keinem Wort bezog
er sich auf Europa. Stattdessen
verurteilte der ehemalige Armeeleutnant den von Finanzminister George Osborne zwei
Tage zuvor vorgelegten Haushaltsentwurf. Osborne hatte
darin Kürzungen bei den Sozialausgaben für Menschen mit
Behinderungen in Höhe von 1,3
Milliarden Pfund pro Jahr (1,67
Milliarden Euro) angekündigt –
und gleichzeitig Steuervergünstigungen an höher Verdienende.
In diesem Zusammenhang, betonte Duncan Smith in seinem
Rücktrittsschreiben, seien die
Kürzungen nicht zu rechtfertigen und unfair.
Dabei galt „IDS“ bisher keineswegs als Verteidiger von Sozialausgaben. Im Gegenteil. Vielen Sozialhilfeempfängern galt
er als die Person, die für die seit
2010 steten Kürzungen verantwortlich war. Erst seine Rücktrittsbegründung stellt ihn als
einer der wenigen dar, die sich
bei den Konservativen für ein
soziales Netz einsetzen.
Viele Beobachter sehen den
Rücktritt als Zeichen einer
wachsenden Krise innerhalb
der konservativen Partei, deren
Chef Duncan Smith von 2001 bis
2003 gewesen war, bis ihm die
Abgeordneten der eigene Partei mehrheitlich das Misstrauen
ausgesprochen hatten.
Downing Street zeigte sich
nach dem Rücktritt überrascht,
und verwies auf Duncan Smiths
Pro-Brexit-Posititon. Andere
ihm nahe stehende Tories nutzten jedoch die Gelegenheit, sich
über Finanzminister Osborne
her zu machen, der auch als
potentieller Nachfolger Camerons gehandelt wird. Baronin
Philippa Stroud, die für Duncan Smith arbeitete, beschuldigte Osborne einen „zermürbenden Krieg gegen Sozialhilfereformen zu bestreiten“. DANIEL ZYLBERSZTAJN
Schwerpunkt
MONTAG, 21. MÄRZ 2016
Linken geht weiter. Die zur Parteilinken zählende Bundestagsabgeordnete Sevim Dağdelen
warf dem früheren Fraktionschef Gregor Gysi und Parteichefin Katja Kipping am Wochenende vor, die jetzige Fraktionschefin Sahra Wagenknecht
zu unrecht für Stimmenverluste
bei den Landtagswahlen vor einer Woche verantwortlich zu
machen. Das sei „armselig und
durchschaubar“, sagte Dağdelen.
Die Parteilinke Heike Hänsel bezichtigte Kipping sogar der Denunziation. Wagenknecht hatte
am Tag vor den Landtagswahlen
in einem Zeitungsinterview von
„Kapazitätsgrenzen und Grenzen der Aufnahmebereitschaft
der Bevölkerung“ gesprochen.
„Es können nicht alle Flüchtlinge nach Deutschland kommen“, sagte sie.
Parteichefin Kipping hatte
sich am Tag nach der Wahl von
Wagenknecht distanziert. Gysi
machte sie für Stimmenverluste mitverantwortlich. „Unsachliche Kritik an Sahra Wagenknecht sollte man dem politischen Gegner überlassen“,
sagte Dağdelen dazu. Hänsel
nannte die Kritik Kippings an
Wagenknecht unredlich. (dpa)
BAYREUTH | Die Stromproduk-
tion aus den Windkraftwerken
vor der deutschen Küste ist im
letzten Jahr stark gestiegen. Die
Nordsee-Anlagen lieferten 7,4
Terawattstunden Strom und damit fast das Sechsfache des Vorjahreswertes von 1,25 Terawattstunden, wie der Netzbetreiber
Tennet in Bayreuth mitteilte.
Das sind 9,6 Prozent des gesamten deutschen Windstroms
(77 Terawattstunden). Dazu kommen 0,8 Terawattstunden aus
den Windkraftwerken auf der
Ostsee, wo das Netz von 50Hertz
betrieben wird. (dpa)
TAZ.DE / TZI
I RAN
Unser Ziel: unabhängiger Onlinejournalismus ohne Bezahlschranke. Schon 7.360 Menschen zahlen
freiwillig für taz.de.
Alles rund um unsere Pay-Wahl
unter taz.de/zahlich
Anknüpfen
im Netz
www.taz.de
Rohani will Wende
in Innenpolitik
TEHERAN | Nach der Annähe-
rung im Atomstreit strebt Irans
Präsident Rohani auch innenpolitisch eine Wende an. „Was wir
außenpolitisch letztes Jahr mit
dem Atomabkommen geschafft
haben, wollen wir dieses Jahr
nun auch innenpolitisch erreichen“, sagte Rohani gestern bei
einer Rede anlässlich des persischen Neujahrs Norus. Das Abkommen sorgte demnach dafür,
dass das Land von der internationalen Gemeinschaft nicht
mehr als Bedrohung, sondern
als zuverlässiger Partner angesehen wird. (dpa)
Istanbul in Angst
TÜRKEI I Selbstmordanschlag auf israelische Touristengruppe in beliebter Flaniermeile am Wochenende. Fünf
Menschen – einschließlich des Attentäters – sterben. Innenminister: Der Täter war ein türkischer IS-Anhänger
AUS ISTANBUL JÜRGEN GOTTSCHLICH
Istanbul am Tag danach ist eine
Stadt im Ausnahmezustand.
Wo sonst das Leben pulsiert,
herrscht gespenstische Leere.
Das gilt nicht nur für das Zentrum rund um den Attentatsort
an der beliebten Einkaufstraße
İstiklâl Caddesi, sondern für die
ganze Stadt.
Wer nicht unbedingt hinaus muss, bleibt in diesen Tagen zu Hause. Nach dem zweiten schweren Attentat innerhalb einer Woche, bei dem fünf
Menschen starben und 37 teils
schwer verletzt wurden, legt sich
eine schwere Depression über
das Land.
Trotzdem haben sich einige
Bürger am Sonntagmittag am
Anschlagsort versammelt, um
dort rote Nelken niederzulegen. „Wir sind hier, wir haben
keine Angst“ steht auf einigen
selbst gemalten Plakaten. „Ich
bin erschüttert“, sagt ein älterer
Mann, „die verantwortungslose
Außenpolitik unserer Regierung
hat uns in diese dunkle Zeit gebracht.“
Mittlerweile zeichnet sich ein
Bild dessen ab, was Tags zuvor
auf der bekanntesten Istanbuler Flaniermeile geschah. Laut
der regierungsnahen Zeitung
Karar, die sich auf Sicherheitskreise beruft, soll der Attentäter
auf der İstiklâl Caddesi eine israelische Touristengruppe verfolgt haben. Am Attentatsort
Der Attentäter verfolgte die Touristengruppe und stellte
sich dann dazu
habe er sich zwischen die Besucher gestellt. Von den 14 Mitgliedern der Gruppe sind drei
gestorben, die anderen elf wurden teils schwer verletzt. Zwei
der drei Getöteten hatten auch
die US-Staatsbürgerschaft. Die
beiden anderen Toten sind ein
Iraner und der Selbstmordattentäter.
Noch am Samstagabend kam
der Generaldirektor des israelischen Außenamtes, Dore Gold,
mit
Ermittlungsspezialisten
und Medizinern nach Istanbul.
Sonntagfrüh flog eine Sondermaschine die drei Leichen
zusammen mit einigen der verletzten israelischen Staatsbürger nach Israel aus. Israels Premierminister Benjamin Netanjahu warnte anschließend seine
Landsleute vor Reisen in die Türkei. Sie seien dort gegen islamistischen Terror nicht geschützt.
Türkische Medien berichteten
– Innenminister Efkan Âlâ bestätigte dies am Sonntagmittag – dass es sich bei dem Attentäter um einen 24-jährigen
türkischen Anhänger des „Islamischen Staates“ handelte.
Sein Name: Mehmet Öztürk. Er
stammt aus der südtürkischen
Stadt Gaziantep. Bereits vor einigen Jahren war er spurlos verschwunden. Seine Eltern vermuteten, dass er sich dem IS in Syrien angeschlossen hatte und
meldeten dies der Polizei. Seitdem steht er auf einer Liste gesuchter Personen. Seine Identität soll mittlerweile durch einen
DNA-Abgleich mit seinem Vater
bestätigt worden sein.
Vergangenen
Donnerstag
hatte die Bundesregierung von
der Gefahr eines Terrorangriffs
auf deutsche Einrichtungen in
Istanbul gesprochen. Man habe
Istanbul: Nach dem Attentat auf der İstiklâl Caddesi riegeln türkische Polizisten die Umgebung ab Foto: Deniz Toprak/dpa
Spirale der Gewalt
TÜRKEI II
sehr konkrete Hinweise erklärte
Außenminister Frank-Walter
Steinmeier. Er ließ die deutsche
Schule und diplomatische Vertretungen in Istanbul und Ankara schließen.
Obwohl diese Hinweise auf
Informationen des türkischen
Geheimdienstes MIT und die
CIA zurückgingen, verzichteten
die türkischen Behörden darauf
ihre Bürger zu warnen. Stattdessen warfen sie der deutschen
Regierung vor, Panik zu schüren. Zwar griffen regierungsnahe Zeitungen diese Anwürfe
gegen Deutschland auf. Aber
viele Istanbuler bedankten
sich bei der deutschen Regierung, dass sie gewarnt worden
waren und deshalb das Zentrum
um die İstiklâl Caddesi gemieden hatten.
Bis Sonntagnachmittag verhielten sich die türkischen Offiziellen denn auch auffällig still. Von Präsident Recep
Tayyip Erdoğan war gar nichts
zu hören. Ministerpräsident
Ahmet Davutoğlu verurteilte
den Terror in einer kurzen
schriftlichen Stellungnahme.
Es blieb Außenminister Mevlüt
Çavuşoğlu überlassen, am
Rande eines Treffens mit seinem iranischen Kollegen Mohammed Sarif in Istanbul die
Opfer dieses neuerlichen Anschlags zu beklagen.
Nach jetzigem Kenntnisstand hat das Attentat auf die
israelische Reisegruppe große
Ähnlichkeit mit dem Terroranschlag auf deutsche Touristen im Januar in Istanbul.
Damals hatte sich – wie jetzt
auf der İstiklâl Caddesi – ein
ebenfalls dem IS verbundener
junger Türkei unter die deutsche Reisegruppe auf dem Platz
vor der berühmten Blauen Moschee gemischt und seine Bombe
dann gezündet. Damals starben
11 deutsche Touristen.
Meinung + Diskussion
SEITE 12
THEMA
DES
TAGES
Dramatisch für die Wirtschaft: Der Tourismus bricht ein, potenzielle Investoren halten sich zurück
ISTANBUL taz | Dies war der vierte
Selbstmordanschlag in der Türkei seit Jahresbeginn. Für den
Tourismus in der Türkei, einen
wichtigen Wirtschaftsfaktor, ist
das eine Katastrophe. Jetzt dürften auch noch die Israelis fernbleiben, die angesichts der vorsichtigen Annäherung zwischen
den beiden Ländern nach langer
Abstinenz gerade wieder einen
Türkei-Aufenthalt ins Auge ge-
fasst hatten. In den vergangenen Monaten hatte der Konflikt zwischen Präsident Tayyip
Recep Erdoğan und dem russischen Autokraten Wladimir
Putin zusätzlich dafür gesorgt,
dass viele russische Reisende,
die zuletzt zu den wichtigsten
Touristengruppen zählten, lieber einen weiten Bogen um Istanbul und die türkische Mittelmeerküste machen.
Doch nicht nur die Reisebranche liegt am Boden. Die ständige
Gewalt, die Nähe und die Verstrickung in den Krieg in Syrien
führen dazu, dass ausländische
Investoren schon seit Wochen
ihr Geld abziehen. Neue sind
nicht in Sicht.
Außer dem Königreich Katar,
das mittlerweile zu den engsten Verbündeten von Präsident
Erdoğan zählt, will niemand
mehr Geld in industrielle Projekte in der Türkei investieren.
Denn es gibt kein Licht am Ende
des Tunnels. Mal bomben IS-Anhänger gegen Ausländer oder
gegen Kurden. Mal bomben die
kurdische PKK oder mit ihr verbündete Gruppen aus Rache gegen das verheerende Vorgehen
der türkischen Sicherheitskräfte
in den kurdischen Städten im
Südosten.
Schon jetzt ist absehbar, dass
die Gewalt schon bald weitere
Opfer fordern wird. Heute begehen die Kurden im ganzen
Nahen Osten ihr traditionelles
Newrozfest. In der Türkei hat die
Regierung alle Aktivitäten verboten, was sicher zu heftigen
Kämpfen in der sowieso seit Monaten von Gewalt erschütterten
kurdischen Region des Landes
führen wird. J ÜRGEN GOTTSCHLICH
Schwerpunkt
Flucht
MONTAG, 21. MÄRZ 2016
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
03
Der Flüchtlingspakt zwischen EU und Türkei ist in Kraft. Aus
­Griechenland kommt Kritik, die Schutzsuchenden sind verzweifelt
Einer für dich, einer für mich
PAKT Seit Sonntag
setzung seien noch offen. So ist
bisher nicht geklärt, wie sich die
jeweiligen EU-Staaten an der
Aufnahme der syrischen Flüchtlinge beteiligen.
ist das EU-TürkeiAbkommen in Kraft.
Jeder neu
einreisende Syrer
soll zurück in die
Türkei. Doch mit der
Umsetzung hapert
es noch. Es fehlen
Geld, Personal und
ein echter Plan
Die Inseln werden geräumt
AUS ATHEN
THEODORA MAVROPOULOS
„Das Abkommen zwischen EU
und Türkei zeigt, dass Schutzsuchende in der EU nicht willkommen sind.“ So deutlich äußerte sich Giorgos Kyritsis, Sprecher der Koordinationszentrale
für Einwanderungspolitik der
griechischen Regierung, am
Sonntag gegenüber der taz. Das
am Freitag in Brüssel beschlossene
Flüchtlingsabkommen
zwischen EU und Türkei lasse
am Bestehen des europäischen
Grundgedanken zweifeln.
Abschrecken, abschieben
Auch Menschenrechtsorganisationen kritisierten die Beschlüsse zur Abschiebung: Die
Türkei sei für Flüchtlinge kein
sicheres Land, die Abschiebung
dorthin illegal und unmoralisch. So betont Kyritsis denn
auch: „Die Beschlüsse sind ein
Abkommen zwischen EU und
der Türkei – nicht zwischen
Griechenland und der Türkei.“
Seit Sonntag ist der Plan in
Kraft. Das heißt: Alle Flüchtlinge, die ab diesem Zeitpunkt
Ein neues Idomeni entsteht: Tausende Flüchtlingsfamilien kampieren unter offenem Himmel in Piräus bei Athen Foto: Yorgos Karahalis/ap
Griechen sollen weitersparen
■■Vertreter der internationalen
Geldgeber haben die Prüfung
der Fortschritte der griechischen
Reformbemühungen ohne konkretes Ergebnis beendet und sind
vorerst abgereist. Es habe erhebliche Unstimmigkeiten gegeben,
berichtete die griechische Presse
am Sonntag.
■■Die EU-Kommission in Brüssel
gab eine ganz andere Einschätzung ab. „Es gab deutliche Fortschritte bei der Einkommensteuerreform“, sagte eine Sprecherin
der Behörde. (dpa)
auf den griechischen Inseln ankommen, werden zurück in die
Türkei gebracht. Die EU nimmt
der Türkei im Gegenzug vorerst
bis zu 72.000 syrische Flüchtlinge ab. Syrer machen etwa die
Hälfte der Schutzsuchenden in
der EU aus. Die Flüchtlinge sollen so abgeschreckt werden,
mithilfe von Schleppern über
die Ägäis illegal in die EU einzureisen. Diejenigen, die dennoch in die EU flüchten und zurück in die Türkei gebracht werden, müssen sich dann nach
ihrer Abschiebung in der Wartereihe hinten anstellen. Sie
wurden zuvor als „illegal eingereist“ registriert. Auch das
soll abschreckend wirken. Eine
erste Abschiebung aus Griechenland in die Türkei ist für
den 4. April geplant. Zuvor haben die Menschen das Recht auf
eine Einzelfallprüfung in Griechenland.
Die Theorie steht. Doch praktisch herrscht Ratlosigkeit.
Die Beschlüsse innerhalb von
24 Stunden in die Tat umzusetzen sei nicht möglich, so Kyritsis gegenüber der taz. Zwar
habe Ministerpräsidien Alexis
Tsipras auf eine zügige Umset-
zung des Abkommens gedrängt.
„Doch weder die beantragten
EU-Flüchtlingshilfsgelder noch
das dringend benötigte Personal
sind bisher eingetroffen“, so Kyritsis. Man warte auf das von der
EU zugesicherte Personal, um
die Asylgesuche zügig bearbeiten zu können – Übersetzer, Experten für Asylfragen, Anwälte
und Polizisten.
Nach Einschätzung der EUKommission braucht man Unterstützung von etwa 4.000
MitarbeiterInnen. Allein schaffe
Griechenland das nicht. Doch
zahlreiche Fragen in der Um-
Nach aktuellen Angaben der
Koordinationszentrale sitzen
mittlerweile 48.141 Flüchtlinge
in Griechenland fest. Momentan werden die Inseln geräumt.
Tausende Flüchtlinge sollen
aufs Festland gebracht werden,
um sie besser von den Neuankömmlingen unterscheiden zu
können. Zwar sind weitere Auffanglager in Planung, so ein Regierungssprecher. Doch die aktuellen Kapazitäten reichen
schon lange nicht aus. So harren
mittlerweile etwa 5.000 Flüchtlinge am Hafen von Piräus in Lagerhallen und einfachen Zelten
aus – darunter zahlreiche Familien mit Kleinkindern.
Die Menschen werden mit
Nahrungsmitteln und Decken
von unterschiedlichen NGOs
und von Privatpersonen versorgt. Doch die hygienischen
Bedingungen sind schlecht –
zu wenige Duschen und Toiletten sind für die Menschenmassen verfügbar. „Hier entsteht ein
zweites Idomeni“, fasst am Sonntagmorgen eine Reporterin des
griechischen TV-Senders Skai
aus Piräus die Situation zusammen. Auch nach den Beschlüssen reißt die Zahl der Flüchtlinge auf die griechischen Inseln
in der Ostägäis nicht ab.
„Bisher zahlt Griechenland
die Unterstützungsmaßnamen
für die Flüchtlinge aus eigener
Tasche“, so Kyritsis. Das sei eine
enorme Belastung für das eh
schon krisengeschädigte Griechenland. Eine schnelle Hilfe
Europas sei mehr als notwendig.
Meinung + Diskussion SEITE 12
Ungewissheit, Zorn und Verzweiflung
FLÜCHTLINGSSLUM
Die Nerven liegen blank im nordgriechischen Idomeni: Bewohner geraten aneinander. Noch immer weiß keiner, wie es weitergeht
IDOMENI taz | Schon wieder gibt
es Kabbeleien in der Schlange
für die Morgensandwiches. Die
Stimmung im Lager Idomeni ist
trotz der wärmenden Sonne und
dem nachlassenden Wind nicht
gut. Die Menschen sind verunsichert. „Was bedeutet das Abkommen der EU mit der Türkei für uns?“ Sie verstehen die
komplizierten Entscheidungsmechanismen in der EU nicht.
Bei manchen liegen die Nerven
blank. Es kommt zu Schlägereien um Nichtigkeiten.
Die Ungewissheit über das
eigene Schicksal ist durch die
Verhandlungen zwischen der
Türkei und der EU noch verstärkt worden. „Wir werden in
dem Abkommen nicht einmal
erwähnt“, sagt der 22-jährige
Journalist Taher* aus Syrien,
„Was sollen wir denn tun? Sollen wir hierbleiben und hoffen,
dass das Tor nach Mazedonien
doch noch geöffnet wird? Oder
in ein anderes Lager gehen und
abwarten?“ Sein zwei Jahre jüngerer Bruder Amschad betrachtet kritischen Auges, dass das Lager sich jetzt sogar nach nationalen Gruppen zu organisieren
beginnt. Über einem Zelt hängt
die kurdische Fahne, darum
her­um halten sich nur Kurden
auf. „Die Schlägereien zwischen
Syrern und Afghanen sind ein
Problem für uns alle, das sind
„Was soll nun mit uns
geschehen? Lässt
Europa uns in diesen
unwürdigen Umständen versauern?“
EIN FLÜCHTLING AUS FALLUDSCHA IM IRAK
Zeichen von Verzweiflung“, sagt
Taher. Deshalb sei eine Demonstration auch nicht sinnvoll.
Mit der Parole „Wir wollen
wissen, was mit uns passiert“
wollten sie durch das Lager ziehen. Aber das heize die Lage nur
noch an. Und außerdem hätten
sie „seltsame Reporter“ beobachtet, die sagten, „euch Mus-
lime wollen wir nicht in Europa“.
Für Amschad ist klar, „das sind
Leute, die ein schlechtes Bild
über uns in Europa zeigen wollen“. Besser ruhig bleiben, beschließen beide. Es sind wohlerzogene, freundliche, gut Englisch sprechende junge Männer
aus der Großstadt Aleppo, wie
viele hier im Lager.
Was steht in den Sternen? Flüchtlingsmädchen in Idomeni mit Häuptlingsfedern Foto: Boris Grdanoski/ap
So auch Mohannad, 21 Jahre
alt, aus Faludscha im Irak. Er hat
zusammen mit seinem Bruder
eine abenteuerliche Geschichte
hinter sich. Doch bevor er weiterspricht, hilft er einem Mann
im Rollstuhl, der im Krieg beide
Beine verloren hat, bringt ihn
über die Gleise, besorgt ihm
Wasser. Erst dann lädt er den
Reporter in sein Zelt ein. Sein
drei Jahre älterer Bruder Ahmed
und er haben eine kleine Sitzecke aus einem Bettgestell und
Metallrohren aufgebaut. In der
Mitte glimmt noch die Asche eines Feuers.
Die beiden Sunniten berichten, wie die Stadt von schiitischen Milizen bombardiert
wurde, wie die Schiiten drohten, Giftgasbomben einzusetzen. Sie erzählen, wie dann ISMilizen die Stadt übernommen
hatten. „Wir befanden uns zwischen zwei Extremen. Die IS-Milizen haben mehr Sunniten umgebracht als die Schiiten.“ Ihnen
blieb nur die Flucht zu Verwandten nach Syrien. Endlich im Assad-Gebiet angekommen, wurden sie nun von Polizisten bedroht. Ihr Freund Hasan – ein
Zelt weiter – sei von den AssadLeuten gefoltert worden, sieben
Monate musste er in Hockstellung verharren, bei jeder Bewegung sei er geschlagen worden. Vor vier Monaten seien sie
über den Libanon in die Türkei
gekommen und dann hierher,
nach Idomeni. „Was soll jetzt mit
uns geschehen? Wird Europa
uns hier in diesen unwürdigen
Umständen versauern lassen?“
In jedem Zelt hier steckt eine
Geschichte. Zum Beispiel in dem
von Adnan Fanash aus Ayash
in Syrien. Er hatte es schon im
Mai 2015 nach Deutschland geschafft und seine 17 Jahre junge
Frau Mayada und ihr im Januar
2014 geborenes Kind in der Türkei zurückgelassen. Er bekam einen Aufenthaltsstatus, verfügt
seit Ende August 2015 über den
speziellen Reisepass für Flüchtlinge. Seine Frau kam nach,
strandete aber in Idomeni: Sie
war ein paar Tage zu spät dran.
Adnan fuhr sofort hin, jetzt lebt
er mit seiner Familie in einem
Zelt neben den Bahngleisen.
Er weiß nicht, wie er sie nach
Deutschland bringen kann, obwohl er alle Papiere hat, auch die
übersetzte und beglaubigte Heiratsurkunde. Das Flüchtlingshilfswerk UNHCR erklärte ihm,
Mayada müsse in Griechenland einen Asylantrag stellen
und dann Familienzusammenführung beantragen. Doch er ist
misstrauisch. ERICH RATHFELDER
*Auf die Nachnamen einiger Protagonisten wurde aus Schutz ihrer Familien verzichtet