Biogas aus der Blüte Die Silphie könnte die ökologische – und schöne – Alternative zum Energiemais werden ▶ Seite 9 AUSGABE BERLIN | NR. 10974 | 12. WOCHE | 38. JAHRGANG H EUTE I N DER TAZ MONTAG, 21. MÄRZ 2016 | WWW.TAZ.DE € 2,10 AUSLAND | € 1,60 DEUTSCHLAND Europa ist nicht ganz dicht STÄNKERN In Polen ist Miriam Shaded ein Medienstar. Wegen ihrer islamophoben Thesen wird sie gefeiert – nicht nur von rechts ▶ SEITE 5 SCHWIMMEN Im Team der Refugee Olympic Athletics für Rio: die syrische Sportlerin Yusra Mardini ▶ SEITE 19 PAKT Seit der Nacht zum Sonntag ist das Abkommen zwischen der Türkei und der EU in Kraft: Alle Flüchtenden, die ohne Erlaubnis von der Türkei nach Griechenland übersetzen, sollen zurückgebracht werden. Doch in Griechenland kommen unverändert Schutzsuchende an ▶ SEITE 3, 12 TWITTERN Das soziale Netzwerk wird zehn und kränkelt ▶ SEITE 17 Fotos oben: picture alliance VERBOTEN Salam aleikum, meine Damen und Herren! Der in Belgien gefasste Terrorverdächtige Salah Abdeslam plant rechtliche Schritte gegen die französische Staatsanwaltschaft, weil sie vertrauliche Informationen preisgegeben habe. Der Staatsanwalt sagte, Abdeslam habe erklärt, er habe seinen Plan, sich bei den Anschlägen in Paris in die Luft zu sprengen, in letzter Minute aufgegeben. Jetzt hat er echt ein Problem. Nicht nur die 72 Jungfrauen sind flöten. Er kann sich auch bei seinen IS-Kumpels nicht mehr blicken lassen, weil sich der Gotteskrieger als Deserteur entpuppt hat. Was bleibt ihm da noch? Stargast beim Ostermarsch. Geflüchtete bei der Ankunft auf der griechischen Insel Lesbos am Sonntag. Zwei Männer, die auf dem Boot waren, starben kurz danach im Krankenhaus Foto: Petros Giannakouris/ap Türkei: IS verübte Anschlag ISTANBUL Rückzieher gemacht Drei der vier Todesopfer des Selbstmordattentäters sind Israelis ISTANBUL rts | Die Türkei macht die Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) für den Selbstmordanschlag von Istanbul verantwortlich. Innenminister Efkan Âlâ erklärte am Sonntag, bei dem Attentäter handele es sich um einen 1992 geborenen Mann aus dem Süden des Landes, der Mitglied des IS gewesen sei. Die Regierung in Ankara hatte zuvor auch die verbotene Kurdische Arbeiterpartei PKK als möglichen Urheber genannt. Nach dem Anschlag, bei dem der Attentäter vier Menschen mit in den Tod riss, verbot die Regierung in mehreren Städten die geplanten Feiern zum kurdischen Neujahrsfest Newroz. Zudem wurden die Sicherheitsvorkehrungen im ganzen Land erhöht. Nach Angaben der israelischen Regierung in Jeru- salem kamen bei dem Anschlag in der Einkaufsstraße İstiklâl Caddesi drei Israelis ums Leben. Zwei von ihnen hatten demnach außerdem die US-amerikanische Staatsbürgerschaft. Den türkischen Behörden zufolge war das vierte Todesopfer ein Iraner. Unter den 36 Verletzten waren ebenfalls zahlreiche Ausländer. ▶ Der Tag SEITE 2 PARIS Abdeslam wollte noch mehr Menschen töten PARIS dpa | Der in Brüssel ge- fasste mutmaßliche Paris-Attentäter Salah Abdeslam wollte sich im November beim Länderspiel Deutschland – Frankreich im Stade de France eigentlich in die Luft sprengen. Das habe der 26-Jährige bei seiner Vernehmung am Wochenende den belgischen Ermittlern gestanden, sagte der französische Staatsanwalt François Molins in Pa- ris. Weshalb er seinen Plan nicht in die Tat umsetzte, ist noch unklar. Abdeslam war am Freitag in der als Islamistenhochburg geltenden Brüsseler Gemeinde Molenbeek festgenommen worden. Insgesamt nahmen die Ermittler nach eigenen Angaben fünf Verdächtige fest, darunter offenbar eine Familie, die Abdeslam Zuflucht gewährt hatte. ▶ Ausland SEITE 10, 12 TAZ MUSS SEI N Die tageszeitung wird ermöglicht durch 15.707 GenossInnen, die in die Pressevielfalt investieren. Infos unter [email protected] oder 030 | 25 90 22 13 Aboservice: 030 | 25 90 25 90 fax 030 | 25 90 26 80 [email protected] Anzeigen: 030 | 25 90 22 38 | 90 fax 030 | 251 06 94 [email protected] Kleinanzeigen: 030 | 25 90 22 22 tazShop: 030 | 25 90 21 38 Redaktion: 030 | 259 02-0 fax 030 | 251 51 30, [email protected] taz.die tageszeitung Postfach 610229, 10923 Berlin taz im Internet: www.taz.de twitter.com/tazgezwitscher facebook.com/taz.kommune 10612 4 190254 801600 KOMMENTAR VON JÜRGEN GOTTSCHLICH ZU DEN TERRORANSCHLÄGEN IN DER TÜRKEI V ier verheerende Selbstmordattentate allein in diesem Jahr, täglich Tote im Kampf zwischen Militär und PKK im Osten des Landes und dazu noch die Leichen der ertrunkenen Flüchtlinge an der Westküste der Türkei – die meisten Türkinnen und Türken wissen gar nicht mehr, wie viel Antidepressiva sie noch schlucken sollen, um den täglichen Horror in den Griff zu bekommen. Fast 50 Prozent wählten im vergangenen November Recep Tayyip Erdoğan wieder, weil er ihnen Stabilität und Sicherheit versprochen hatte. Tatsächlich geht es aber im Land in einem rasanten Tempo bergab. Politikveteranen sagen, es sei schlimmer als vor Erdoğan eskaliert die Gewalt und nach dem Militärputsch von 1980. Noch nie in der fast einhundertjährigen Geschichte der türkischen Republik war das Land in einer solchen Krise wie derzeit. Erdoğan und seine Regierung sind – allen ihren martialischen Sprüchen von der „eisernen Faust“ und der „gnadenlosen Jagd“ auf die „allgegenwärtigen Terroristen“ zum Trotz – weit entfernt davon, die Kontrolle über das Geschehen zu haben. Entsprechend panisch reagieren sie. Die leiseste Kritik wird drakonisch bestraft. Statt sich um die Ursachen des Niedergangs zu kümmern, werden die Überbringer schlechter Nachrichten in den Knast gesteckt. Die Letzte, die diese Er- fahrung machen musste, war ausgerechnet die deutsche Regierung, der Erdoğans Mannen noch einen Tag vor dem Terroranschlag am Samstag gezielte Panikmache vorwarfen, weil sie die Deutschen in der Türkei und damit auch die türkische Bevölkerung genau vor dem Anschlag gewarnt hatten, der dann am Samstag verübt wurde. Ob die türkischen Bürger ihrer Regierung noch vertrauen, wird lieber gar Die leiseste Kritik wird drakonisch bestraft nicht gemessen. Doch in Gesprächen hat es den Anschein, dass auch die „Fans von Tayyip“ langsam nervös werden. Denn alle Indikatoren sind negativ: Die Arbeitslosigkeit steigt, Investitionen gehen zurück, der Tourismus ist eingebrochen. Dabei ist der Terror hausgemacht. Zum einen fällt die Allianz mit islamistischen Dschihadisten in Syrien auf die Türkei zurück, zum anderen führt der „Krieg gegen die PKK“ mehr und mehr zu syrischen Verhältnissen. Demokraten hätten angesichts dieser Bilanz längst einen völligen Politikwechsel eingeleitet, doch Autokraten wie Erdoğan eskalieren dagegen die Gewalt immer weiter. Das macht die Lage so hoffnungslos. 02 TAZ.DI E TAGESZEITU NG PORTRAIT NACH RICHTEN NACH WAH LSCH LAPPE WI N DSTROMPRODUKTION Linke liefert sich weiter Flügelkämpfe Nordsee liefert 10 Prozent Strom BERLIN | Der Flügelkampf bei der Rücktritt: britischer Arbeitsminister Iain Duncan Smith Foto: dpa Spätes soziales Gewissen D ass der britische Arbeitsund Rentenminister Iain Duncan Smith am Freitagabend zurückgetreten ist, war für viele politische Beobachter in London keine Überraschung. Denn der in den Medien oft kurz „IDS” genannte Politiker, hatte sich stets klar für den Brexit, den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union ausgesprochen. Damit lag der EU-Skeptiker schon seit Langem im Clinch mit seinem Parteifreund, dem Premierminister David Cameron. Was überraschte, war eher die Begründung des 61-Jährigen. Mit keinem Wort bezog er sich auf Europa. Stattdessen verurteilte der ehemalige Armeeleutnant den von Finanzminister George Osborne zwei Tage zuvor vorgelegten Haushaltsentwurf. Osborne hatte darin Kürzungen bei den Sozialausgaben für Menschen mit Behinderungen in Höhe von 1,3 Milliarden Pfund pro Jahr (1,67 Milliarden Euro) angekündigt – und gleichzeitig Steuervergünstigungen an höher Verdienende. In diesem Zusammenhang, betonte Duncan Smith in seinem Rücktrittsschreiben, seien die Kürzungen nicht zu rechtfertigen und unfair. Dabei galt „IDS“ bisher keineswegs als Verteidiger von Sozialausgaben. Im Gegenteil. Vielen Sozialhilfeempfängern galt er als die Person, die für die seit 2010 steten Kürzungen verantwortlich war. Erst seine Rücktrittsbegründung stellt ihn als einer der wenigen dar, die sich bei den Konservativen für ein soziales Netz einsetzen. Viele Beobachter sehen den Rücktritt als Zeichen einer wachsenden Krise innerhalb der konservativen Partei, deren Chef Duncan Smith von 2001 bis 2003 gewesen war, bis ihm die Abgeordneten der eigene Partei mehrheitlich das Misstrauen ausgesprochen hatten. Downing Street zeigte sich nach dem Rücktritt überrascht, und verwies auf Duncan Smiths Pro-Brexit-Posititon. Andere ihm nahe stehende Tories nutzten jedoch die Gelegenheit, sich über Finanzminister Osborne her zu machen, der auch als potentieller Nachfolger Camerons gehandelt wird. Baronin Philippa Stroud, die für Duncan Smith arbeitete, beschuldigte Osborne einen „zermürbenden Krieg gegen Sozialhilfereformen zu bestreiten“. DANIEL ZYLBERSZTAJN Schwerpunkt MONTAG, 21. MÄRZ 2016 Linken geht weiter. Die zur Parteilinken zählende Bundestagsabgeordnete Sevim Dağdelen warf dem früheren Fraktionschef Gregor Gysi und Parteichefin Katja Kipping am Wochenende vor, die jetzige Fraktionschefin Sahra Wagenknecht zu unrecht für Stimmenverluste bei den Landtagswahlen vor einer Woche verantwortlich zu machen. Das sei „armselig und durchschaubar“, sagte Dağdelen. Die Parteilinke Heike Hänsel bezichtigte Kipping sogar der Denunziation. Wagenknecht hatte am Tag vor den Landtagswahlen in einem Zeitungsinterview von „Kapazitätsgrenzen und Grenzen der Aufnahmebereitschaft der Bevölkerung“ gesprochen. „Es können nicht alle Flüchtlinge nach Deutschland kommen“, sagte sie. Parteichefin Kipping hatte sich am Tag nach der Wahl von Wagenknecht distanziert. Gysi machte sie für Stimmenverluste mitverantwortlich. „Unsachliche Kritik an Sahra Wagenknecht sollte man dem politischen Gegner überlassen“, sagte Dağdelen dazu. Hänsel nannte die Kritik Kippings an Wagenknecht unredlich. (dpa) BAYREUTH | Die Stromproduk- tion aus den Windkraftwerken vor der deutschen Küste ist im letzten Jahr stark gestiegen. Die Nordsee-Anlagen lieferten 7,4 Terawattstunden Strom und damit fast das Sechsfache des Vorjahreswertes von 1,25 Terawattstunden, wie der Netzbetreiber Tennet in Bayreuth mitteilte. Das sind 9,6 Prozent des gesamten deutschen Windstroms (77 Terawattstunden). Dazu kommen 0,8 Terawattstunden aus den Windkraftwerken auf der Ostsee, wo das Netz von 50Hertz betrieben wird. (dpa) TAZ.DE / TZI I RAN Unser Ziel: unabhängiger Onlinejournalismus ohne Bezahlschranke. Schon 7.360 Menschen zahlen freiwillig für taz.de. Alles rund um unsere Pay-Wahl unter taz.de/zahlich Anknüpfen im Netz www.taz.de Rohani will Wende in Innenpolitik TEHERAN | Nach der Annähe- rung im Atomstreit strebt Irans Präsident Rohani auch innenpolitisch eine Wende an. „Was wir außenpolitisch letztes Jahr mit dem Atomabkommen geschafft haben, wollen wir dieses Jahr nun auch innenpolitisch erreichen“, sagte Rohani gestern bei einer Rede anlässlich des persischen Neujahrs Norus. Das Abkommen sorgte demnach dafür, dass das Land von der internationalen Gemeinschaft nicht mehr als Bedrohung, sondern als zuverlässiger Partner angesehen wird. (dpa) Istanbul in Angst TÜRKEI I Selbstmordanschlag auf israelische Touristengruppe in beliebter Flaniermeile am Wochenende. Fünf Menschen – einschließlich des Attentäters – sterben. Innenminister: Der Täter war ein türkischer IS-Anhänger AUS ISTANBUL JÜRGEN GOTTSCHLICH Istanbul am Tag danach ist eine Stadt im Ausnahmezustand. Wo sonst das Leben pulsiert, herrscht gespenstische Leere. Das gilt nicht nur für das Zentrum rund um den Attentatsort an der beliebten Einkaufstraße İstiklâl Caddesi, sondern für die ganze Stadt. Wer nicht unbedingt hinaus muss, bleibt in diesen Tagen zu Hause. Nach dem zweiten schweren Attentat innerhalb einer Woche, bei dem fünf Menschen starben und 37 teils schwer verletzt wurden, legt sich eine schwere Depression über das Land. Trotzdem haben sich einige Bürger am Sonntagmittag am Anschlagsort versammelt, um dort rote Nelken niederzulegen. „Wir sind hier, wir haben keine Angst“ steht auf einigen selbst gemalten Plakaten. „Ich bin erschüttert“, sagt ein älterer Mann, „die verantwortungslose Außenpolitik unserer Regierung hat uns in diese dunkle Zeit gebracht.“ Mittlerweile zeichnet sich ein Bild dessen ab, was Tags zuvor auf der bekanntesten Istanbuler Flaniermeile geschah. Laut der regierungsnahen Zeitung Karar, die sich auf Sicherheitskreise beruft, soll der Attentäter auf der İstiklâl Caddesi eine israelische Touristengruppe verfolgt haben. Am Attentatsort Der Attentäter verfolgte die Touristengruppe und stellte sich dann dazu habe er sich zwischen die Besucher gestellt. Von den 14 Mitgliedern der Gruppe sind drei gestorben, die anderen elf wurden teils schwer verletzt. Zwei der drei Getöteten hatten auch die US-Staatsbürgerschaft. Die beiden anderen Toten sind ein Iraner und der Selbstmordattentäter. Noch am Samstagabend kam der Generaldirektor des israelischen Außenamtes, Dore Gold, mit Ermittlungsspezialisten und Medizinern nach Istanbul. Sonntagfrüh flog eine Sondermaschine die drei Leichen zusammen mit einigen der verletzten israelischen Staatsbürger nach Israel aus. Israels Premierminister Benjamin Netanjahu warnte anschließend seine Landsleute vor Reisen in die Türkei. Sie seien dort gegen islamistischen Terror nicht geschützt. Türkische Medien berichteten – Innenminister Efkan Âlâ bestätigte dies am Sonntagmittag – dass es sich bei dem Attentäter um einen 24-jährigen türkischen Anhänger des „Islamischen Staates“ handelte. Sein Name: Mehmet Öztürk. Er stammt aus der südtürkischen Stadt Gaziantep. Bereits vor einigen Jahren war er spurlos verschwunden. Seine Eltern vermuteten, dass er sich dem IS in Syrien angeschlossen hatte und meldeten dies der Polizei. Seitdem steht er auf einer Liste gesuchter Personen. Seine Identität soll mittlerweile durch einen DNA-Abgleich mit seinem Vater bestätigt worden sein. Vergangenen Donnerstag hatte die Bundesregierung von der Gefahr eines Terrorangriffs auf deutsche Einrichtungen in Istanbul gesprochen. Man habe Istanbul: Nach dem Attentat auf der İstiklâl Caddesi riegeln türkische Polizisten die Umgebung ab Foto: Deniz Toprak/dpa Spirale der Gewalt TÜRKEI II sehr konkrete Hinweise erklärte Außenminister Frank-Walter Steinmeier. Er ließ die deutsche Schule und diplomatische Vertretungen in Istanbul und Ankara schließen. Obwohl diese Hinweise auf Informationen des türkischen Geheimdienstes MIT und die CIA zurückgingen, verzichteten die türkischen Behörden darauf ihre Bürger zu warnen. Stattdessen warfen sie der deutschen Regierung vor, Panik zu schüren. Zwar griffen regierungsnahe Zeitungen diese Anwürfe gegen Deutschland auf. Aber viele Istanbuler bedankten sich bei der deutschen Regierung, dass sie gewarnt worden waren und deshalb das Zentrum um die İstiklâl Caddesi gemieden hatten. Bis Sonntagnachmittag verhielten sich die türkischen Offiziellen denn auch auffällig still. Von Präsident Recep Tayyip Erdoğan war gar nichts zu hören. Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu verurteilte den Terror in einer kurzen schriftlichen Stellungnahme. Es blieb Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu überlassen, am Rande eines Treffens mit seinem iranischen Kollegen Mohammed Sarif in Istanbul die Opfer dieses neuerlichen Anschlags zu beklagen. Nach jetzigem Kenntnisstand hat das Attentat auf die israelische Reisegruppe große Ähnlichkeit mit dem Terroranschlag auf deutsche Touristen im Januar in Istanbul. Damals hatte sich – wie jetzt auf der İstiklâl Caddesi – ein ebenfalls dem IS verbundener junger Türkei unter die deutsche Reisegruppe auf dem Platz vor der berühmten Blauen Moschee gemischt und seine Bombe dann gezündet. Damals starben 11 deutsche Touristen. Meinung + Diskussion SEITE 12 THEMA DES TAGES Dramatisch für die Wirtschaft: Der Tourismus bricht ein, potenzielle Investoren halten sich zurück ISTANBUL taz | Dies war der vierte Selbstmordanschlag in der Türkei seit Jahresbeginn. Für den Tourismus in der Türkei, einen wichtigen Wirtschaftsfaktor, ist das eine Katastrophe. Jetzt dürften auch noch die Israelis fernbleiben, die angesichts der vorsichtigen Annäherung zwischen den beiden Ländern nach langer Abstinenz gerade wieder einen Türkei-Aufenthalt ins Auge ge- fasst hatten. In den vergangenen Monaten hatte der Konflikt zwischen Präsident Tayyip Recep Erdoğan und dem russischen Autokraten Wladimir Putin zusätzlich dafür gesorgt, dass viele russische Reisende, die zuletzt zu den wichtigsten Touristengruppen zählten, lieber einen weiten Bogen um Istanbul und die türkische Mittelmeerküste machen. Doch nicht nur die Reisebranche liegt am Boden. Die ständige Gewalt, die Nähe und die Verstrickung in den Krieg in Syrien führen dazu, dass ausländische Investoren schon seit Wochen ihr Geld abziehen. Neue sind nicht in Sicht. Außer dem Königreich Katar, das mittlerweile zu den engsten Verbündeten von Präsident Erdoğan zählt, will niemand mehr Geld in industrielle Projekte in der Türkei investieren. Denn es gibt kein Licht am Ende des Tunnels. Mal bomben IS-Anhänger gegen Ausländer oder gegen Kurden. Mal bomben die kurdische PKK oder mit ihr verbündete Gruppen aus Rache gegen das verheerende Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte in den kurdischen Städten im Südosten. Schon jetzt ist absehbar, dass die Gewalt schon bald weitere Opfer fordern wird. Heute begehen die Kurden im ganzen Nahen Osten ihr traditionelles Newrozfest. In der Türkei hat die Regierung alle Aktivitäten verboten, was sicher zu heftigen Kämpfen in der sowieso seit Monaten von Gewalt erschütterten kurdischen Region des Landes führen wird. J ÜRGEN GOTTSCHLICH Schwerpunkt Flucht MONTAG, 21. MÄRZ 2016 TAZ.DI E TAGESZEITU NG 03 Der Flüchtlingspakt zwischen EU und Türkei ist in Kraft. Aus Griechenland kommt Kritik, die Schutzsuchenden sind verzweifelt Einer für dich, einer für mich PAKT Seit Sonntag setzung seien noch offen. So ist bisher nicht geklärt, wie sich die jeweiligen EU-Staaten an der Aufnahme der syrischen Flüchtlinge beteiligen. ist das EU-TürkeiAbkommen in Kraft. Jeder neu einreisende Syrer soll zurück in die Türkei. Doch mit der Umsetzung hapert es noch. Es fehlen Geld, Personal und ein echter Plan Die Inseln werden geräumt AUS ATHEN THEODORA MAVROPOULOS „Das Abkommen zwischen EU und Türkei zeigt, dass Schutzsuchende in der EU nicht willkommen sind.“ So deutlich äußerte sich Giorgos Kyritsis, Sprecher der Koordinationszentrale für Einwanderungspolitik der griechischen Regierung, am Sonntag gegenüber der taz. Das am Freitag in Brüssel beschlossene Flüchtlingsabkommen zwischen EU und Türkei lasse am Bestehen des europäischen Grundgedanken zweifeln. Abschrecken, abschieben Auch Menschenrechtsorganisationen kritisierten die Beschlüsse zur Abschiebung: Die Türkei sei für Flüchtlinge kein sicheres Land, die Abschiebung dorthin illegal und unmoralisch. So betont Kyritsis denn auch: „Die Beschlüsse sind ein Abkommen zwischen EU und der Türkei – nicht zwischen Griechenland und der Türkei.“ Seit Sonntag ist der Plan in Kraft. Das heißt: Alle Flüchtlinge, die ab diesem Zeitpunkt Ein neues Idomeni entsteht: Tausende Flüchtlingsfamilien kampieren unter offenem Himmel in Piräus bei Athen Foto: Yorgos Karahalis/ap Griechen sollen weitersparen ■■Vertreter der internationalen Geldgeber haben die Prüfung der Fortschritte der griechischen Reformbemühungen ohne konkretes Ergebnis beendet und sind vorerst abgereist. Es habe erhebliche Unstimmigkeiten gegeben, berichtete die griechische Presse am Sonntag. ■■Die EU-Kommission in Brüssel gab eine ganz andere Einschätzung ab. „Es gab deutliche Fortschritte bei der Einkommensteuerreform“, sagte eine Sprecherin der Behörde. (dpa) auf den griechischen Inseln ankommen, werden zurück in die Türkei gebracht. Die EU nimmt der Türkei im Gegenzug vorerst bis zu 72.000 syrische Flüchtlinge ab. Syrer machen etwa die Hälfte der Schutzsuchenden in der EU aus. Die Flüchtlinge sollen so abgeschreckt werden, mithilfe von Schleppern über die Ägäis illegal in die EU einzureisen. Diejenigen, die dennoch in die EU flüchten und zurück in die Türkei gebracht werden, müssen sich dann nach ihrer Abschiebung in der Wartereihe hinten anstellen. Sie wurden zuvor als „illegal eingereist“ registriert. Auch das soll abschreckend wirken. Eine erste Abschiebung aus Griechenland in die Türkei ist für den 4. April geplant. Zuvor haben die Menschen das Recht auf eine Einzelfallprüfung in Griechenland. Die Theorie steht. Doch praktisch herrscht Ratlosigkeit. Die Beschlüsse innerhalb von 24 Stunden in die Tat umzusetzen sei nicht möglich, so Kyritsis gegenüber der taz. Zwar habe Ministerpräsidien Alexis Tsipras auf eine zügige Umset- zung des Abkommens gedrängt. „Doch weder die beantragten EU-Flüchtlingshilfsgelder noch das dringend benötigte Personal sind bisher eingetroffen“, so Kyritsis. Man warte auf das von der EU zugesicherte Personal, um die Asylgesuche zügig bearbeiten zu können – Übersetzer, Experten für Asylfragen, Anwälte und Polizisten. Nach Einschätzung der EUKommission braucht man Unterstützung von etwa 4.000 MitarbeiterInnen. Allein schaffe Griechenland das nicht. Doch zahlreiche Fragen in der Um- Nach aktuellen Angaben der Koordinationszentrale sitzen mittlerweile 48.141 Flüchtlinge in Griechenland fest. Momentan werden die Inseln geräumt. Tausende Flüchtlinge sollen aufs Festland gebracht werden, um sie besser von den Neuankömmlingen unterscheiden zu können. Zwar sind weitere Auffanglager in Planung, so ein Regierungssprecher. Doch die aktuellen Kapazitäten reichen schon lange nicht aus. So harren mittlerweile etwa 5.000 Flüchtlinge am Hafen von Piräus in Lagerhallen und einfachen Zelten aus – darunter zahlreiche Familien mit Kleinkindern. Die Menschen werden mit Nahrungsmitteln und Decken von unterschiedlichen NGOs und von Privatpersonen versorgt. Doch die hygienischen Bedingungen sind schlecht – zu wenige Duschen und Toiletten sind für die Menschenmassen verfügbar. „Hier entsteht ein zweites Idomeni“, fasst am Sonntagmorgen eine Reporterin des griechischen TV-Senders Skai aus Piräus die Situation zusammen. Auch nach den Beschlüssen reißt die Zahl der Flüchtlinge auf die griechischen Inseln in der Ostägäis nicht ab. „Bisher zahlt Griechenland die Unterstützungsmaßnamen für die Flüchtlinge aus eigener Tasche“, so Kyritsis. Das sei eine enorme Belastung für das eh schon krisengeschädigte Griechenland. Eine schnelle Hilfe Europas sei mehr als notwendig. Meinung + Diskussion SEITE 12 Ungewissheit, Zorn und Verzweiflung FLÜCHTLINGSSLUM Die Nerven liegen blank im nordgriechischen Idomeni: Bewohner geraten aneinander. Noch immer weiß keiner, wie es weitergeht IDOMENI taz | Schon wieder gibt es Kabbeleien in der Schlange für die Morgensandwiches. Die Stimmung im Lager Idomeni ist trotz der wärmenden Sonne und dem nachlassenden Wind nicht gut. Die Menschen sind verunsichert. „Was bedeutet das Abkommen der EU mit der Türkei für uns?“ Sie verstehen die komplizierten Entscheidungsmechanismen in der EU nicht. Bei manchen liegen die Nerven blank. Es kommt zu Schlägereien um Nichtigkeiten. Die Ungewissheit über das eigene Schicksal ist durch die Verhandlungen zwischen der Türkei und der EU noch verstärkt worden. „Wir werden in dem Abkommen nicht einmal erwähnt“, sagt der 22-jährige Journalist Taher* aus Syrien, „Was sollen wir denn tun? Sollen wir hierbleiben und hoffen, dass das Tor nach Mazedonien doch noch geöffnet wird? Oder in ein anderes Lager gehen und abwarten?“ Sein zwei Jahre jüngerer Bruder Amschad betrachtet kritischen Auges, dass das Lager sich jetzt sogar nach nationalen Gruppen zu organisieren beginnt. Über einem Zelt hängt die kurdische Fahne, darum herum halten sich nur Kurden auf. „Die Schlägereien zwischen Syrern und Afghanen sind ein Problem für uns alle, das sind „Was soll nun mit uns geschehen? Lässt Europa uns in diesen unwürdigen Umständen versauern?“ EIN FLÜCHTLING AUS FALLUDSCHA IM IRAK Zeichen von Verzweiflung“, sagt Taher. Deshalb sei eine Demonstration auch nicht sinnvoll. Mit der Parole „Wir wollen wissen, was mit uns passiert“ wollten sie durch das Lager ziehen. Aber das heize die Lage nur noch an. Und außerdem hätten sie „seltsame Reporter“ beobachtet, die sagten, „euch Mus- lime wollen wir nicht in Europa“. Für Amschad ist klar, „das sind Leute, die ein schlechtes Bild über uns in Europa zeigen wollen“. Besser ruhig bleiben, beschließen beide. Es sind wohlerzogene, freundliche, gut Englisch sprechende junge Männer aus der Großstadt Aleppo, wie viele hier im Lager. Was steht in den Sternen? Flüchtlingsmädchen in Idomeni mit Häuptlingsfedern Foto: Boris Grdanoski/ap So auch Mohannad, 21 Jahre alt, aus Faludscha im Irak. Er hat zusammen mit seinem Bruder eine abenteuerliche Geschichte hinter sich. Doch bevor er weiterspricht, hilft er einem Mann im Rollstuhl, der im Krieg beide Beine verloren hat, bringt ihn über die Gleise, besorgt ihm Wasser. Erst dann lädt er den Reporter in sein Zelt ein. Sein drei Jahre älterer Bruder Ahmed und er haben eine kleine Sitzecke aus einem Bettgestell und Metallrohren aufgebaut. In der Mitte glimmt noch die Asche eines Feuers. Die beiden Sunniten berichten, wie die Stadt von schiitischen Milizen bombardiert wurde, wie die Schiiten drohten, Giftgasbomben einzusetzen. Sie erzählen, wie dann ISMilizen die Stadt übernommen hatten. „Wir befanden uns zwischen zwei Extremen. Die IS-Milizen haben mehr Sunniten umgebracht als die Schiiten.“ Ihnen blieb nur die Flucht zu Verwandten nach Syrien. Endlich im Assad-Gebiet angekommen, wurden sie nun von Polizisten bedroht. Ihr Freund Hasan – ein Zelt weiter – sei von den AssadLeuten gefoltert worden, sieben Monate musste er in Hockstellung verharren, bei jeder Bewegung sei er geschlagen worden. Vor vier Monaten seien sie über den Libanon in die Türkei gekommen und dann hierher, nach Idomeni. „Was soll jetzt mit uns geschehen? Wird Europa uns hier in diesen unwürdigen Umständen versauern lassen?“ In jedem Zelt hier steckt eine Geschichte. Zum Beispiel in dem von Adnan Fanash aus Ayash in Syrien. Er hatte es schon im Mai 2015 nach Deutschland geschafft und seine 17 Jahre junge Frau Mayada und ihr im Januar 2014 geborenes Kind in der Türkei zurückgelassen. Er bekam einen Aufenthaltsstatus, verfügt seit Ende August 2015 über den speziellen Reisepass für Flüchtlinge. Seine Frau kam nach, strandete aber in Idomeni: Sie war ein paar Tage zu spät dran. Adnan fuhr sofort hin, jetzt lebt er mit seiner Familie in einem Zelt neben den Bahngleisen. Er weiß nicht, wie er sie nach Deutschland bringen kann, obwohl er alle Papiere hat, auch die übersetzte und beglaubigte Heiratsurkunde. Das Flüchtlingshilfswerk UNHCR erklärte ihm, Mayada müsse in Griechenland einen Asylantrag stellen und dann Familienzusammenführung beantragen. Doch er ist misstrauisch. ERICH RATHFELDER *Auf die Nachnamen einiger Protagonisten wurde aus Schutz ihrer Familien verzichtet
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