SWR2 Wissen

SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Wissen
Flussfahrt in der Hängematte
Von Porto Velho bis Manaus
Von Karl-Ludolf Hübener
Sendung: Montag, 14. März 2016, 8.30 Uhr
Redaktion: Detlef Clas
Regie: Günter Maurer
Produktion: SWR 2016
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MANUSKRIPT
Schiffsmotor, Musik, Stimmen
Erzähler:
Vor der Bar auf dem Oberdeck der „Almirante Moreira“ ist die Stimmung
ausgelassen. Angeregte Unterhaltungen, Gelächter.
O-Ton Josua:
Übersetzer:
Im Flugzeug dauert die Reise von Porto Velho nach Manaus nur eine Stunde. Auf
dem Wasser brauchen wir dafür dreieinhalb Tage.
Erzähler:
Josua ist Bankangestellter. Er ist wie fast alle anderen Passagiere auf dem Weg
nach Manaus, der Millionenmetropole mitten im Amazonas-Gebiet. Über 1.100
Kilometer auf dem Wasser. Oder drei Nächte in der Hängematte.
Für Menschen und Waren, die aus Porto Velho kommen, ist der Rio Madeira, Zufluss
des mächtigen Amazonas-Stroms, der wichtigste und einzige Transportweg. Der
Fluss windet sich durch teilweise undurchdringliches Urwalddickicht, weiß ein
anderer Mitreisender:
O-Ton Vanderlei:
Übersetzer:
Ich gebe immer folgenden Rat: Dringen Sie nie in den Urwald ein ohne minimale
Kenntnisse. Wenn man kein Überlebenstraining mitgemacht hat, sollte man es sein
lassen.
Urwald
Ansage:
Flussfahrt in der Hängematte – Von Porto Velho bis Manaus
Von Karl-Ludolf Hübener
Erzähler:
Meine Reise hatte im Hafen von Porto Velho begonnen. Die Hauptstadt des
brasilianischen Bundesstaates Rondonia ist mit rund einer halben Million Einwohner
die zweitgrößte Stadt im oberen Amazonasbecken, nach Manaus.
Lastwagen, Stimmen
Erzähler:
An einem Ponton vertäut liegt die „Almirante Moreira“, etwa fünfzig Meter lang,
strahlend weiß gestrichen. Lastwagen auf Lastwagen rollt über eine stählerne Brücke
zum Ponton. Junge kräftige Hafenarbeiter greifen sich Säcke mit Mais. Sack auf
Sack verschwindet durch eine Luke im Bauch des Schiffes. Dann stoppt längsseits
ein weiterer Laster, überladen mit grünen Kochbananen. Langsam füllt sich das
unterste Deck mit Bananenstauden.
2
Am Ufer ankern kleinere ein- bis zweistöckige Passagierschiffe, sogenannte Gaiolas,
Vogelkäfige. Sie sind nur über schmale Holzplanken zu erreichen. Boote mit
Außenbordern überqueren den „Madeira“-Strom. Flusstaxis. Mit über 3.000
Kilometern ist der „Rio Madeira“ der weltweit längste Nebenfluss, außerdem Zufluss
des mächtigen Amazonas-Stroms. Er entspringt in Bolivien und Peru, Brasiliens
Nachbarländern.
Musik, Stimmen
Erzähler:
Die ersten Passagiere klettern an Bord. Vom Oberdeck beobachten sie wie ich das
Treiben im Hafen und auf dem Fluss. Flussaufwärts versperrt eine mächtige Mauer
die Sicht. Ein Staudamm.
O-Ton Fearnside:
Übersetzer:
Staudämme werden im Allgemeinen an Stellen hochgezogen, wo es Kaskaden gibt.
Das heißt auch, dass es dort viele Felsen gibt. In diesem Habitat leben einige
Fischarten. Aber Staudämme zerstören ihre Lebenswelt.
Erzähler:
Philip Fearnside vom Amazonas-Institut INPA. Bedroht ist vor allem der PiraíbaWels, bis zu drei Meter lang und über 100 Kilo schwer. Das Fleisch des gigantischen
Süßwasserfisches ist begehrt. Er bevorzugt starke Strömungen und Stromschnellen,
die nun in Stauseen verschwinden.
O-Ton Fearnside:
Übersetzer:
Die Welse schwimmen vom Amazonas-Fluss bis nach Bolivien und Peru, um sich
dort zu reproduzieren. Aber nun ist ihr Weg von zwei Wasserkraftwerken versperrt.
Zwei weitere sind geplant!
Erzähler:
Was für die Welse im Rio Madeira bis vor Kurzem beliebte Tummelplätze waren,
behinderte vor über hundert Jahren ein boomendes Geschäft.
Regenwald
Erzähler:
Es war die Zeit des Kautschukbooms, der 1870 begann. Dampfmaschinen und
Eisenbahnen brauchten immer mehr Gummidichtungen und Transmissionsriemen.
Die Reifenindustrie heizte die Nachfrage nach Latex zusätzlich an.
Die Kautschukbäume wuchsen tief im Amazonas-Urwald, nur über den Oberlauf des
„Rio Madeira“ erreichbar. Doch der Transport von Latex war voller Risiken.
Wasserrauschen
3
Erzähler:
Fast zwei Dutzend Stromschnellen und Wasserfälle ließen Schiffe und Kähne häufig
kentern. Zwei Drittel der Kautschukladungen gingen so verloren. Eine Eisenbahn
sollte dem abhelfen. Schienen wurden von Porto Velho, damals ein Urwaldflecken, in
den Regenwald verlegt. Holzschwellen wurden aus Australien importiert, die
Schienen aus England. 20.000 Arbeiter schufteten zeitweise unter sklavenähnlichen
Bedingungen. Die Bahn sollte bald als Teufels- oder Todeseisenbahn verrufen sein.
Es gab ebenso viele Tote wie Schwellen unter den Schienen, also viele Tausend.
Hingerafft von Malaria, Giftschlangen oder Unglücken auf den Baustellen.
Aber ehe die Urwaldeisenbahn fertig war, brach 1912 das Reich der Gummibarone
zusammen. Schon 1876 hatte ein Brite Samen des Kautschukbaums nach London
geschmuggelt, als Orchideen-Samen getarnt. Von dort aus wurde der Samen später
nach Südostasien exportiert. Bis dahin hatte Brasilien das Monopol auf Latex. In
Malaysia gediehen die geschmuggelten Samen prächtig. Felipe Sirilo erklärt mir:
O-Ton Felipe:
Übersetzer:
1913 wurden im Amazonas 42.000 Tonnen Latex produziert, in Malaysia dagegen
350.000 Tonnen. Der Preis für Latex fiel auf Bananen-Niveau.
Lastwagen, Stimmen
Erzähler:
Die Abreise war für 14 Uhr geplant. Aber noch immer fahren Lkw vor, lassen ihre
Fracht auf der „Almirante Moreira“ verstauen. Eine Wagenladung Wassermelonen,
außerdem Umzugsgut und Kartons voller Eier müssen noch untergebracht werden.
Und noch mehr Bananen.
Schiffsmotor, Musik
Erzähler:
Es ist bereits dunkel, als die „Almirante Moreira“ schließlich ablegt. Mit 90
Passagieren an Bord. Im Zwischendeck baumelt inzwischen ein Kunterbunt von
Hängematten, [blau, lila, hellblau, rot, regenbogenfarben, gestreift und gemustert.
Einige sind übereinander verknotet.] Darunter liegen verstreut Koffer, Taschen,
Pakete, Plastiksäcke. Iván, ein sportlich-drahtiger Rentner, hat seine Hängematte
neben meiner festgezurrt. Er ist mit dem Motorrad unterwegs, die Maschine ist
zwischen Bananen verstaut. Iván ahnt:
O-Ton: Iván
Übersetzer:
Wir haben ja noch mehr Orte vor uns und damit noch mehr Passagiere. Die
Hängematten werden noch enger zusammenrücken müssen. Wie die Sardinen in der
Büchse!
Erzähler:
Ein Stockwerk höher geht es dafür munter zu. Die Bar, hinter der Kapitänsbrücke
eingerichtet, hat geöffnet. Neben der Bar ein TV-Flachbildschirm. Eine Telenovela
4
läuft, aber stumm. [Gegen die lauten Schmalz-Töne aus den Boxen hätten die
Schauspieler keine Chance.] Die ersten Passagiere stellen sich vor, beginnen
Unterhaltungen. So auch der Bankangestellte Josuá aus Manaus, der seinen Anzug
mit Bermuda-Shorts vertauscht hat.
O-Ton Josuá:
Übersetzer:
Auf dieser Flussroute sind alle möglichen Leute unterwegs: Beispielsweise Kranke,
die in der Hauptstadt behandelt werden müssen, da der Gesundheitsdienst in ihrer
Gemeinde unzureichend ist. Ich selber hatte in Porto Velho geschäftlich zu tun und
kehre nun nach Hause zurück. Andere beginnen ihren Urlaub.
O-Ton Milton:
Erzähler:
[Der ein wenig dickliche Milton hat einen Packen Hängematten aus Paraíba und
Decken aus China im Laderaum verstauen lassen. Die will er in Manaus verkaufen.]
Einige Frauen gesellen sich zu den Gesprächsrunden, bestellen an der Bar ihr Bier.
Die Stimmung lockert sich zusehends. Zwei jüngere Afrobrasilianerinnen, in knappen
Shorts, beginnen zu tanzen. Sinnliche Hüftschwünge. Andere schauen zu, wippen im
Rhythmus, weichen aber nicht von der Seite ihrer Männer. Mein Mikrofon lässt sie
verstummen. Unterhaltung ja, Interview nein.
Die Mehrzahl der Frauen lässt sich nur zur Essenszeit auf dem Oberdeck blicken.
Danach verkriechen sie sich wieder im Zwischendeck. Von Hängematte zu
Hängematte entspinnen sich angeregte Gespräche.
Schiffsmotor Musik
Erzähler:
Um 23 Uhr wird der Rollladen der Bar runtergezogen. Die letzten Zecher kriechen in
ihre Hängematten. Einige ziehen sich dicke Pullover über oder wickeln sich in
Decken ein, bevor sie in die Hängematte klettern. Es wird kühl auf dem breiten
Strom, am frühen Morgen sogar empfindlich kalt. Unter 20 Grad!
Sechs Uhr morgens. Verschlafen wälzen sich einige Passagiere aus ihren
Hängematten. Frühstück: ein überreichlich gesüßter Milchkaffee, dazu ein
Pappbrötchen.
Schubverbände, Barkassen und kleinere und größere Passagierdampfer ziehen
vorbei. Der Rio Madeira ist eine vielbefahrene Flussautobahn.
Humaitá kommt in Sicht. Das heißt eine von Steinhäusern und Kirche gesäumte
Uferpromenade, an die sich eine Reihe von armseligen griesgrauen Pfahlbauten
anschließt. Doch die „Almirante Moreira“ legt nicht an, drosselt nur ein wenig die
Geschwindigkeit. Ein Boot mit Außenborder schnellt auf das Schiff zu. Koffer und
anderes Gepäck werden an Bord gehievt. Passagiere klettern hinterher. Andere
steigen ein, verschwinden mit dem Boot nach Humaitá.
Iván hat die Strecke Porto Velho-Humaitá bereits mit dem Motorrad zurückgelegt.
O-Ton Iván:
5
Übersetzer:
Die Straße von Porto Velho nach Humaitá ist perfekt, gut erhalten. Ich habe dafür
zwei Stunden gebraucht.
Erzähler:
Aber die Weiterfahrt über die Bundesstraße 319 nach Manaus scheiterte. Für sie
wurde in den 70er-Jahren eine Schneise durch den Urwald geschlagen. Doch heute
sind viele Brücken weggeschwemmt. In der Regenzeit verschwindet die Straße über
Kilometer hinweg in den Wassermassen. Schwemm- und Sumpfgebiete sind
entstanden.
O-Ton Iván:
Übersetzer:
Heute ist sie nicht mehr befahrbar, nicht mal für Lastwagen, die ja viel robuster sind.
Erzähler:
Der Vorteil: Der Urwald ist dort fast noch intakt. Doch es gibt Pläne, die
Bundesstraße wieder herzurichten.
In Humaitá kreuzen sich die BR 319 und die legendäre „Transamazonica“. Die
„Straße des Jahrhunderts“, wie das gigantische Projekt einst gepriesen wurde, war
während der Militärdiktatur gebaut worden, um den Regenwald zu erschließen. Eine
über 3.000 Kilometer lange Trasse, die von Osten nach Westen quer durch den
Amazonas-Regenwald führt. Der erste Spatenstich wurde 1970 getan.
„Land ohne Menschen für Menschen ohne Land“ nannten die Militärdiktatoren
Amazonien. Indianer waren keine Menschen. Menschenrechte spielten ohnehin
keine Rolle. Die Gewaltherrscher förderten Industrie-Ansiedlungen, Stauseen,
Rinderzucht und Straßen wie die „Transamazonica“ in Amazonien.
Diese Straße zog Tausende armer Migranten an, die in der Hoffnung auf ein eigenes
Stück Land gekommen waren. Es blieb zumeist bei armseligen Hütten, ebenso
armseligen Böden und Ernten inmitten tropischer Vegetation.
Es ist ein leidlich bekanntes Lied: Eine Straße zieht Siedler, Farmer und Holzfirmen
an. Und das Werk der Zerstörung beginnt.
Tropischer Regen
Erzähler:
Doch die „Transamazonica“ wurde in vielen Abschnitten sich selbst überlassen.
Tropische Regenfälle schwemmten große Teile des Asphalts oder dünnen
Bodenbelags weg. In einigen Abschnitten überwucherte der Urwald die Straße.
Auf der Transamazonica ist Edinho stecken geblieben, ein Lastwagenfahrer. Er ist in
Humaitá an Bord geklettert.
O-Ton Edinho:
Übersetzer:
Ich bin schon über alle möglichen Straßen gefahren, zum Beispiel über sandige
endlos erscheinende Straßen, die so verlassen sind, dass man nicht einmal weiß, wo
man etwas zu essen bekommt. Das ist mir auch auf der „Transamazonica“ passiert.
6
Für hundert Kilometer habe ich vierzehn Tage benötigt. Es war eine Fahrt von
Wasserloch zu Wasserloch.
Schiffsmotor
Erzähler:
Das Wasser des „Rio Madeira“ ist spiegelglatt. Der Fluss führt Hochwasser, an
einigen Stellen ist er breit wie ein See. Das Ufer säumen mehrere Bretterhütten, mit
Dächern aus Palmstroh, auf Pfählen gebaut. Zwei Einbäume sind auf die
Uferböschung gezogen.
Plötzlich bietet sich ein inzwischen selten gewordener Anblick: In der Mitte des
Flusses dümpeln zwei größere fest verankerte Flöße mit Sonnendach. Ein nur mit
einer Badehose bekleideter Mann kurbelt an einem Laufband. Gold wird gewaschen.
Die Glücksritter, Garimpeiros genannt, tauchen auf den Grund des Flusses, holen
Körbe mit Flusssand hoch. Er wird dann durchgesiebt. Früher wimmelte es auf dem
Rio Madeira von Goldsuchern. Doch die Ausbeute ist inzwischen mager geworden.
Kilometer um Kilometer gleitet eine dichte geschlossene Waldkulisse vorbei. Aus der
Ferne wirkt sie auf mich fast monoton. Aus der Nähe betrachtet bietet sich eine
Palette von vielfältigem Grün dar, in dem sich eine ebenso vielfältige Flora und
Fauna verbergen, die aber nicht ohne Tücken sind. Schnell kann man die
Orientierung im Dickicht verlieren. In diesem Fall sollte man nicht aufs Geratewohl
weiterlaufen, rät mir der 37-jährige Vanderlei.
O-Ton Vanderlei:
Übersetzer:
Die meisten glauben, dass die Hitze, die tagsüber herrscht, auch in der Nacht anhält.
Aber dem ist nicht so. In der Nacht ist es im Dschungel kalt. Deshalb raten wir:
Suche dir einen Platz, sammele Äste und mache ein Feuer. Das wärmt. Und bete,
dass dich jemand finden möge. Ich war schon bei einigen Rettungsaktionen dabei.
Wenn man die armen Menschen dann findet, dann sind sie oft so unterernährt und
so entkräftet, dass sie nicht aufstehen können.
Erzähler:
Vanderlei stammt aus dem Süden Brasiliens. Seit vielen Jahren ist er Heeressoldat.
Erfahrung mit dem Regenwald kann man ihm kaum absprechen, denn er ist ein
sogenannter Dschungel-Krieger. Sie werden speziell für Kampf und Überleben im
Regenwald ausgebildet. Brasilien hat immer Angst gehabt, dass ihm das reiche
Amazonas-Gebiet streitig gemacht werden könnte.
[O-Ton Vanderlei:
Übersetzer:
Ich bin viel im Regenwald herumgekommen. 12 Jahre habe ich im wichtigsten
Dschungel-Bataillon in Manaus gedient. Das ist eine überwältigende Erfahrung.
Erzähler:
Die Übungen dauern in der Regel zwei, drei Wochen, aber er war auch schon drei
Monate in der Wildnis.
7
O-Ton Vanderlei:
Übersetzer:
In der Nacht wird nicht marschiert. Das ist unmöglich. Man kommt nicht recht
vorwärts. Normalerweise kommen wir tagsüber in einer Stunde einen Kilometer
voran. Wer es in der Nacht versucht, schafft höchstens 100 Meter pro Stunde. Es
lohnt sich also nicht.
Erzähler:
Der erste Tag neigt sich dem Ende zu. In Minutenschnelle bricht die Nacht herein.
Der Mond färbt die Wasseroberfläche silbrig-grau. Ab und zu ein schwaches Licht am
Ufer, wohl ein Pfahlbau.
Schiffsmotor]
Erzähler:
Am nächsten Tag spannt sich ein wolkenloser blauer Himmel über den Fluss. Die
feuchtwarme Schwüle macht allerdings einigen Passagieren zu schaffen.
Langsam überholt die „Almirante Moreira“ einen über 100 Meter langen
Schubverband. Aufschrift „AMaggi“. Die „AMaggi Group“, ist einer der größten
Sojaproduzenten der Welt. Über den „Rio Madeira“ werden Sojabohnen und
Sojaschrot mit Schubschiffen von Porto Velho bis zum eigenen Tiefseehafen
Itacoatiara am Amazonasstrom transportiert. Dort wird die Fracht umgeladen und
nach Übersee verschifft. Nach Europa und immer mehr nach China. Der Rio Madeira
ist ein wichtiger Verkehrsweg für den Export von Soja aus dem Bundesstaat Mato
Grosso.
Der Besitzer von „AMaggi“, Blairo Maggi, ist Senator in Brasilia. Von 2003 bis 2010
war er Gouverneur im Bundesstaat Mato Grosso. In den ersten drei Jahren seiner
Regierung wurde dort mehr als in anderen Gegenden Brasiliens Regenwald
abgeholzt. „Greenpeace“ verlieh ihm dafür die „Goldene Kettensäge“.
Kettensäge, verblenden
Musik
Übersetzer:
"... Mato Grosso war einst wunderschön,
vor vielen Jahren,
in jenen geliebten Zeiten,
die nie wiederkehren werden,
mit seinen Wäldern,
in denen ich jagte …"
Erzähler:
Mato Grosso heißt "Großer Wald". Der Name hat kaum noch seine Berechtigung.
Heute ist der Bundesstaat Mato Grosso der größte Produzent von Soja in Brasilien,
das wiederum zweitgrößter Soja-Produzent der Welt nach den USA ist. [Die grüngelbe Monotonie der Sojaplantagen hat eine riesige Schneise in die ursprüngliche
Landschaft geschlagen. Bis in den Amazonas-Regenwald.]
O-Ton Fearnside:
8
Übersetzer:
In Mato Grosso gibt es viele Soja-Plantagen und das heißt auch viele Pestizide. Die
Agrogifte dringen bis in den Xingu-Park, ein indianisches Reservat, vor. Die Quellen
der Flüsse liegen im Soja-Gebiet und fließen dann in das indianische Schutzgebiet.
Erzähler:
… erklärt mir später Philip Fearnside, international angesehener Professor am INPAAmazonasforschungsinstitut in Manaus. Vierzig Prozent der in Brasilien versprühten
Pestizide werden für den Anbau von Soja verwendet.
In Mato Grosso sind die „ruralistas“, wie Agroindustrielle und Großgrundbesitzer
genannt werden, die einflussreichste politische Lobby.
O-Ton Fearnside:
Übersetzer:
Sie stecken auch hinter den großen Bauvorhaben, wie beispielsweise die
Bundesstraße 163 nach Santarem. Dann ist da noch die geplante Eisenbahnlinie von
Cuiabá nach Santarem. Und eine weitere bis nach Peru.
Erzähler:
Brasilien plant weitere Großinvestitionen in die Infrastruktur, das heißt in
Eisenbahnen, Wasserwege, Straßen und Staudämme – auch im empfindlichen
Amazonas-Gebiet.
Luiz Inacio Lula da Silva, Präsident von 2003 bis 2011, und seine Nachfolgerin Dilma
Rousseff haben sich nicht als Umweltschützer hervorgetan. Sie gelten als
Modernisierer. Das heißt Umweltschutz ja, sofern es das Wirtschaftswachstum nicht
beeinträchtigt. Und das schließt Soja und Amazonasbecken ein.
Außenborder
Erzähler:
Zurück auf dem Rio Madeira. Pfeilschnell durchpflügt das Beiboot der „Almirante
Moreira“ die Flusswellen, verschwindet in Richtung Ufer. Nach einigen Minuten
prescht das Boot wieder heran, der Boden bedeckt mit Fischen, darunter auch
Piranhas. Sie kommen später auf den Grill. Das Fleisch schmeckt mir, auch wenn es
ein wenig trocken ist. Einige Passagiere bestaunen die rasiermesserscharfen Zähne
des Raubfisches, der in den Gewässern Amazoniens heimisch ist. Vanderlei
beruhigt:
O-Ton Vanderlei:
Übersetzer:
Man muss ja nur einmal in den Ufergemeinden zusehen, wie die Kinder in Ufernähe
baden und spielen. Im Wasser wimmelt es von Piranhas, aber die Kinder werden
nicht angegriffen, weil sie nicht verletzt sind. Anders ist es, wenn jemand blutet, dann
greifen sie blitzschnell an.
Kinder plantschen
9
Erzähler:
Im Wasser lauere eine viel größere Gefahr, fügt Vanderlei hinzu. Sie drohe von
einem nur einige Zentimeter langen, fast durchsichtigen „Candiru“, auch
„brasilianischer Vampirfisch“ genannt.
O-Ton Vanderlei:
Übersetzer:
Viele Kinder, aber auch Heranwachsende, gehen nackt ins Wasser. Und der Candirú
dringt in die Harnröhre ein. Das endet häufig mit dem Tod der Kinder.
Erzähler:
Der „Candiru“ windet sich bis zur Harnblase vor. Dort beißt er sich fest. Da bleibt im
schlimmsten Fall nichts anderes übrig als eine Penisoperation. Mit ungewissem
Ausgang. [Indianer nennen den Fisch auch „Fluch des Flusses“. Sie empfehlen, auf
keinen Fall im Wasser zu urinieren. Das locke die Biester an.]
Urwaldgeräusche
Schiffsmotoren, Donner
Erzähler:
Dunkle, fast tintenschwarze Wolken verfinstern den Himmel. In der Ferne donnert es.
Bald zucken über den Baumkronen Blitze. Plötzliche Windböen treiben eine
Regenwand vor sich her. Bald ist die Sicht gleich Null. Es gießt wie aus Kübeln.
Immer wieder hellt ein wahres Feuerwerk von Blitzen die Landschaft sekundenlang
auf.
O-Ton Vanderlei:
Übersetzer:
Größte Gefahren drohen von Unwettern im Regenwald. Denn man weiß nicht,
welcher Baum fest verwurzelt ist und welcher schon morsch ist. Wenn dann der
Sturm losbricht, reißt er alles mit sich. Der Regen wird von starken Windböen
begleitet. Die reißen alles um. Wir haben das schon erlebt. Es gab zwar keine Toten,
aber viele wurden erheblich verletzt, als ganze Baumkronen über uns niederstürzten.
Schiffsmotoren, leise Vogelstimmen
Erzähler:
Es ist fünf Uhr dreißig in der Frühe. Das Schiff steuert hart am Ufer entlang, das
Urwalddickicht ist zum Greifen nahe. Nebelschwaden hüllen die Baumkronen ein.
Die „Almirante Moreira“ hat den Rio Madeira verlassen und schwimmt seit etwa einer
Stunde auf dem gewaltigen Amazonas-Strom, dem wasserreichsten Fluss der Erde,
mit seinen rund 1.100 Nebenflüssen. Und einer Vielzahl von oft bewohnten Inseln.
Der Strom ist mehrere Kilometer breit. Träge fließt er in Richtung Atlantik.
Wenig später tauchen auf einem Eiland einige Pfahlbauten mit silbrig glänzenden
Wellblechdächern auf. Die Siedlung ist fast von den Wassermassen verschluckt. Das
Flusswasser reicht bis zur Türschwelle der Pfahlbauten. [In gehöriger Entfernung
einige Toiletten, wasserumspült. Bettwäsche wird auf einem Geländer ausgebreitet.]
10
Davor ankern an Stegen schmale Kanus und Aluminium-Boote, die Flussautos der
„ribeirinhos“.
Motorboot
Erzähler:
Zuerst ist es für mich nur ein kleiner Punkt am Horizont. Er wird immer größer: Ein
Einbaum mit Außenborder nähert sich. Eine Frau steuert das Boot. Der Sohn wirft ein
Tau über die Reling am Heck der „Almirante Moreira“. Das Boot ist beladen mit
Körben voller Apfelsinen, Bananen, Maniokwurzeln, Süßkartoffeln und
Plastikgefäßen, gefüllt mit Reis- und Maiskörnern. Alles aus eigener Ernte. Ein
weiteres Boot schießt heran. Mit einem ähnlichen Angebot. Bald verschwinden die
„ribeirinhos“ wieder am Horizont.
Musik
Erzähler:
Die Morgensonne taucht die Landschaft in ein warmes Licht. In den fast
überschwemmten Uferdörfern erste Lebenszeichen. Ein lang gestreckter
Gemischtwarenladen hat bereits geöffnet. Auf der Anlegestelle stapeln sich
Gasbehälter. Eine Sattelitenschüssel ragt aus dem Wasser. Schweine, Rinder und
Pferde tummeln sich im schlammbraunen Fluss. [Weinstöcke sind fast vom Wasser
bedeckt. Der Eingang eines von Wasser eingeschlossenen Adventistentempels ist
verriegelt. Wie auch mehrere Kilometer weiter eine Grundschule. Das Nass reicht bis
an die dunkelblau gestrichene Tür. Daneben breiten sich prächtige Seerosen,
„Victoria regia“, aus.]
Zwischen Bäumen und Häusern kurven Boote mit Außenbordern, verschwinden in
einem fein verästelten Labyrinth aus Nebenflüssen. [In Ufernähe sind hin und wieder
Tankstellen verankert, mit Sprit für die zahllosen kleinen Boote, Lastkähne und
Passagierschiffe.]
Schiffsmotor Musik
Erzähler:
Es dämmert bereits, als die Lichter von großen Industrieanlagen näher kommen.
Davor ankern hochseetüchtige Frachter und Container-Schiffe. Der Industriebezirk
von Manaus, der Zwei-Millionenstadt am Amazonas, wie mir Felipe Sirilo bedeutet:
O-Ton Felipe:
Übersetzer:
Der Präsident der brasilianischen Militärdiktatur, Humberto Castelo Branco,
beschloss, eine Freihandelszone in Manaus einzurichten. In den 70er-Jahren reisten
Touristen aus ganz Brasilien an, um dort Video- oder Fernsehgeräte zu kaufen.
Erzähler:
Heute produzieren dort noch mehr in- und ausländische Unternehmen. [Ob
Computer, Handys, Küchengeräte oder Motorräder. Felipe Sirilo hofft, in Manaus
Arbeit zu finden.] Die Stadt sei nicht sonderlich anziehend, dafür aber die
historischen Reste der Urwaldmetropole:
11
O-Ton Felipe:
Übersetzer:
Manaus wurde als das Paris der Tropen betrachtet. Das ist die Zeit des Kautschuks.
Die goldene Epoche von Manaus dauerte aber weniger als 50 Jahre. Von1870 bis
1915. Manaus war die erste Stadt in Brasilien, die damals mit Elektrizität versorgt
wurde, noch vor Rio de Janeiro.
Erzähler:
In Manaus fuhr die erste Straßenbahn Brasiliens. 1910 zählte die Stadt bereits rund
100.000 Einwohner. Acht Tageszeitungen informierten die Bürger. Die Gummibarone
protzten mit ihrem märchenhaften Reichtum. Sie wollten unbedingt mit den
europäischen Metropolen mithalten. Gesellschaftlicher Mittelpunkt war das „Teatro
Amazonas“, von Architekten, Baumeistern, Malern und Künstlern aus Europa
gestaltet. [Zur prunkvollen Dekoration gehören Tulpenlüster aus Murano-Glas,
Marmor aus Carrara, Möbel aus Paris, glasierte, grünlich-gelbe Kuppelkacheln aus
dem Elsass und Treppen aus englischem Gusseisen.]
Schiffsmotor
Erzähler:
Kreuzfahrtschiffe ankern vor der Stadtkulisse. Mit Passagieren, die unbedingt einen
Hauch von Abenteuer im Regenwald erwarten.
O-Ton Felipe:
Übersetzer:
Touristen, die nach Manaus reisen, bleiben höchstens zwei bis drei Tage. Sie
glauben, dass sie währenddessen den Regenwald kennenlernen. Aber das ist nicht
der Fall. Sie bezahlen 100 Dollar für ein Indio-Spektakel. Doch es sind gar keine
Indios, sondern Einwohner von Manaus mit Kronen aus Hühnerfedern geschmückt.
Erzähler:
Felipe Sirilo hat viele Jahre in Manaus gelebt. Er hat zahlreiche Expeditionen geleitet
und Abenteuerlustige in den Regenwald geführt.
[O-Ton Felipe:
Übersetzer:
Man muss hier schon mindestens zwei Wochen bleiben, und dann mit jemandem,
der sich mit der Flora und Fauna tatsächlich auskennt.]
Schiffsmotor langsam ausblenden
Erzähler:
Die „Almirante Moreira“ legt im Hafen von Manaus an. Schnell verlassen die
Passagiere das Schiff, verlieren sich im Verkehrsgetümmel und Menschengewimmel
der Großstadt. [Vorbei an Straßenhändlern und Obstverkäufern. Es ist unerträglich
schwül und laut. Die Urwaldmetropole gleicht in manchen Stadtteilen eher einem
Zementdschungel.]
12
Verkehr Stimmen, vorher einblenden
Erzähler:
Doch mitten in der lärmigen Millionenmetropole wie eine Oase das staatliche INPAInstitut. [Umgeben von Urwaldbäumen sind Büros und Laboratorien in einstöckigen
Häusern und Holzbauten untergebracht, zwischen Urwaldgrün verstreut. Darüber
wölben sich die Wipfel zu einem grünen Dach.]
Vogelstimmen
Erzähler:
Als das Institut 1952 gegründet wurde, stand die Regenwaldforschung im
Vordergrund, verstanden als Ausbeutung der Ressourcen. Heute sind Nachhaltigkeit
und Ökologie Schwerpunkte der Forschung. Niro Hituchi arbeitet im INPA-Institut:
O-Ton Niro Hituchi:
Übersetzer:
Das gesamte Amazonas-Gebiet, die Soja-Plantagen eingeschlossen, trägt sieben
Prozent zum Bruttoinlandsprodukt bei... Wegen der Abholzung ist Amazonien für 60
Prozent der Emissionen von Treibhausgas in Brasilien verantwortlich. Wir steuern
also sieben Prozent zum Reichtum bei, während wir gleichzeitig mit 60 Prozent zur
Umweltzerstörung beitragen. Wo ist da die Logik?
Erzähler:
Eine noch weitgehend unerforschte Flora und Fauna sind bedroht, wenn
Holzunternehmer, Sojabarone, Straßenbau- und Staudammfirmen und
unverantwortliche Politiker so weitermachen.
O-Ton Niro Hituchi:
Übersetzer:
Mit der Entwaldung verbrennen und zerstören wir die Biodiversität des Amazonas.
Und das ist der wichtigste Reichtum des Amazonas!
Erzähler:
Millionen von Tierarten leben im Amazonas-Gebiet. Hituchi spricht sich dafür aus,
den Urwald noch mehr zu erforschen und die Natur nachzuahmen, das heißt als
Vorlage für synthetische Produkte, beispielweise Heilmittel, zu verwenden. [Da gebe
es einen Frosch, aus dessen Sekret sich ein Betäubungsmittel herstellen ließe.
O-Ton Niro Hituchi:
Übersetzer:
Man braucht für die Studien wahrscheinlich zunächst drei oder vier Frösche. Die
Untersuchungen würden etwa fünf, sechs Jahre dauern, ehe ein synthetischer Stoff
produktionsreif ist. Das dauert seine Zeit, aber der Frosch haut nicht ab.]
Erzähler:
Ein neues Waldgesetz weicht Rodungsverbote auf. Philip Fearnside warnt:
13
O-Ton Fearnside:
Übersetzer:
Wenn wir den Regenwald verbrennen und vernichten, setzen wir Kohlendioxid frei.
Kohlendioxid steckt im Boden. Es wird freigesetzt, wenn Regenwald in Weideland
umgewandelt wird. Das summiert sich zu großen Mengen von Kohlendioxid.
Erzähler:
Die Rodung von Regenwald habe sich zwar in letzter Zeit verlangsamt, aber das sei
kein Grund sich zurückzulehnen:
O-Ton Fearnside:
Übersetzer:
Holzeinschlag trägt nun mal zur Klimaerwärmung bei.
Musik
*****
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