SuSe Hamburg 16 Gewalt und Psychose

Gewalt und Psychose - sind
Personen mit SchizophrenieDiagnose gefährlich?
Georg Schomerus
Klinik für Psychiatrie, Universitätsmedizin Greifswald
Gliederung
‣ DasStereotypderGefährlichkeit
‣ WiehochistdasGewaltrisiko?
‣ WiegehenwirmitdemRisikoum?
Anteil der Befragten, die Personen mit einer
psychischen Krankheit für gefährlich halten
Repräsentativerhebung in Großbritannien 2003, n=1725
%
100
75
50
25
0
Schizophrenie
Alkoholismus
Panikstörung
Demenz
(Crisp et al., World Psychiatry 2005)
Schwere Depression
Essstörung
Beurteilung einer Fallvignette in der
Allgemeinbevölkerung:
„Ist die geschilderte Person gefährlich?“
Zustimmung
Neutral
Ablehnung
70
60
50
40
30
20
10
0
Schizophrenie
Alkoholabhängigkeit
Depression
Repräsentative Bevölkerungsbefragung in Deutschland 2011, n=3600
Angst und Vorwürfe als Reaktion auf
psychisch kranke Menschen
Bevölkerungsbefragungen in Deutschland 1990 und 2011
Schizophrenie
%
Depression
Alkoholabhängigkeit
50
50
40
40
30
30
20
20
10
10
0
1990
2011
Ich fürchte mich 😱
0
1990
2011
Ich ärgere mich 😤
Angermeyer, Matschinger & Schomerus, British Journal of Psychiatry 2013
Verantwortung für
den Beginn
Von welchen
Stereotypen
hängt die
Ablehnung
eines
Menschen mit
Schizophrenie
ab?
Verantwortung
für die Dauer
Andersartigkeit
0.06
-0.09
0.26
Ablehnung
0.16
Gefährlichkeit
-0.13
Behandelbarkeit
Standardisierte Regressionskoeffizienten
Schomerus G, Matschinger H, Angermeyer MC. Causal beliefs of the public and social acceptance of persons with mental
illness: a comparative analysis of schizophrenia, depression and alcohol dependence. Psychol Med. 2014;44:303-14.
Was hat das Stereotyp mit der Wirklichkeit
zu tun?
Sind Personen mit
Schizophreniediagnose gefährlich?
•
Wie groß ist der Anteil an allen Gewaltdelikten, der von
Menschen mit Psychose begangen wird?
•
Wie hoch ist das relative Risiko (im Vergleich zu
Gesunden), dass ein Mensch mit Psychose ein
Gewaltdelikt begeht?
•
Wie groß ist das individuelle Risiko für Gewalt bei einem
Menschen mit Psychose?
Methodische Schwierigkeiten
• Tödliche Gewalt: kleine Fallzahl macht
Risikoabschätzung schwer
• In Deutschland keine nationale Statistik über
Gewaltdelikte von Menschen mit psychischen
Krankheiten
• Unterschiede zwischen Polizei-, Anklage- und
Urteilsstatistiken
• Unsicherheit bei der diagnostischen Zuordnung
• Unsicherheit bei der Vergleichsgröße der „Gesunden“
(nach Finzen 2016)
Wie groß ist der Anteil an allen
Gewaltdelikten, der von Menschen mit
Psychose begangen wird?
• 5-6% aller wegen Mord- und
Totschlagsdelikten in England verurteilten
Menschen hatten eine Psychose (Shaw 2006,
Swinson 2013)
Schwierigkeit:
Verfolgungs-Bias
Relativer Anteil ist von der allgemeinen
Kriminalitätsrate abhängig
Wie hoch ist das relative Risiko im Vergleich zu Gesunden,
dass ein Mensch mit Psychose ein Gewaltdelikt begeht?
Psychological Medicine (2015), 45, 2447–2457. © Cambridge University Press 2015
doi:10.1017/S0033291715000458
OR I G I N A L A R T I C L E
Post-illness-onset risk of offending across the full
spectrum of psychiatric disorders
Dänische Registerstudie
Zufallsstichprobe: 25% der dänischen
Bevölkerung >15 Jahre ab Geburtsjahrgang
1965 (520 000 Personen)
Background. The link between psychotic disorders and violent offending is well established;
knowledge aboutVerurteilung
risk of
Endpunkt:
wegen einer Straftat
post-illness-onset offending across the full spectrum of psychiatric disorders is lacking. We aimed to compare rates of
any offending and violent offending committed after the onset of illness, according to diagnostic
group,
with population
(oder
Tod,
Emigration…)
controls.
H. Stevens1, T. M. Laursen1,2, P. B. Mortensen1,2,3, E. Agerbo1,3 and K. Dean4*
1
National Centre for Register-based Research, Aarhus University, Aarhus, Denmark
The Lundbeck Foundation Initiative for Integrative Psychiatric Research, iPSYCH, Denmark
3
CIRRAU–Centre for Integrated Register-based Research at Aarhus University, Aarhus, Denmark
4
School of Psychiatry, University of New South Wales, and Justice Health & Forensic Mental Health Network, NSW, Australia
2
Method. A 25% random sample of the Danish population (n = 521 340) was followed from their 15th birthday until offending occurred. Mental health status was considered as a time-varying exposure in a Poisson regression model used to
examine the duration from service contact to the offence.
Results. Males with any psychiatric contact had an incidence rate ratio (IRR) of 2.91 [95% confidence interval (CI) 2.80–
3.02] for any offending; 4.18 (95% CI 3.99–4.38) for violent offending. Associations were stronger for women (IRR 4.17,
95% CI 3.95–4.40 for any offending; 8.02, 95% CI 7.20–8.94 for violent offending). Risk was similar across diagnostic
groups for any offending in males, while variation between diagnostic groups was seen for male violent and female offending, both any and violent.
Conclusions. Risk of offending, particularly violent offending, was elevated across a range of mental disorders following first contact with mental health services. The extent of variation in strength of effect across diagnoses differed by
gender.
Received 8 December 2013; Revised 25 November 2014; Accepted 17 February 2015; First published online 8 April 2015
Key words: Forensic mental health, offending, population-based studies, psychosis, violence.
Introduction
not criminality precedes or follows onset of severe
Wie hoch ist das Risiko, dass ein Mensch mit
Schizophreniediagnose ein Gewaltdelikt begeht?
• Relatives Risiko für ein Gewaltdelikt bei
Menschen mit einer Schizophreniediagnose im
Vergleich zu Menschen ohne psychiatrische
Diagnose
Männer: 4,9
Frauen: 13,7
Unter „Kontrolle“ für Substanzmissbrauch
Männer: 3,0
Frauen: 7,5
Einschränkungen
• Substanzmissbrauch: Erhöht das Risiko von
Gewalt bei Menschen mit und ohne psychische
Störungen erheblich, kann dabei sowohl eine
Ursache als auch eine Folge von psychischen
Störungen sein.
• Oft gemeinsame Ursachen von psychischer
Krankheit und Gewalt, z.B. soziale
Benachteiligung, eigene Gewalterfahrung
Zahlen im Kontext
• Das Suizidrisiko ist wesentlich höher als das
Risiko von Gewalt gegenüber anderen
Menschen (Risiko um das 18-31 fache
gegenüber Gesunden erhöht; Fabel et al. 2014).
• Menschen mit Psychose werden wesentlich
häufiger Opfer von Gewalt als Täter (Prucell et
al., 2015).
Purcell R, Harrigan S, Glozier N et al. (2015): Self reported rate of criminal offending and victimization in young
people at-risk for psychosis. Schizophrenia Research 166:55-59
Fazel S, Wolf A, Palm C et al. (2014) Violent crime, suicide, and premature mortality in patients with
schizophrenia and related disorders: a 38-year total population study in Sweden. Lancet Psychiatry 1: 44-54.
Trotzdem….
• Dem Stereotyp der Gewalttätigkeit würde
man am liebsten mit einem: „Stimmt gar
nicht“ entgegentreten.
• Stattdessen sagen die meisten Studien:
„Stimmt unter bestimmten Umständen
manchmal doch.“
🤔
Nebenwirkungen einer „Schizophrenie hat
nichts mit Gewalt zu tun“ Argumentation
Das Problem wird auf benachteiligte Untergruppen verschoben, die erst
recht ausgegrenzt werden:
Menschen, die Substanzen missbrauchen
…Behandlung ablehnen
…traumatisiert sind
…aus schwierigen Verhältnissen kommen
Beispiel aus einer wissenschaftlichen Arbeit zum Stereotyp der
Gewalttätigkeit
„Die Daten legen nahe, dass die meisten Menschen mit psychischen
Problemen nicht gewalttätig sind, sondern tatsächlich viel häufiger Opfer von
Gewalt sind als Täter …
Wenn Assoziationen zwischen Gewalt und Schizophrenie … gefunden
werden, dann beruht diese Verbindung zu einem großen Teil auf gleichzeitig
vorliegendem Substanzmissbrauch oder auf fehlender Behandlung.“
„Sind Personen mit Schizophreniediagnose
gefährlich?“
…fragt nach einem Stereotyp.
Vielleicht ist nicht die Antwort das Problem,
sondern die Frage?
„Sind Personen mit Schizophreniediagnose
gefährlich?“
„Das kann man so pauschal nicht sagen.“
Um Gewalt zu verhindern, muss man stattdessen auf
den Einzelfall schauen.
Im Einzelfall sind relative Risiken, die für eine ganze
Gruppe berechnet werden, nur ein sehr vager
Anhaltspunkt.
Ist eine Person mit Schizophrenie gefährlich?
Eskalationsspirale
feindselige Stimmung
nonverbale Grenzverletzung
verbale Gewalt
Gewalt gegen Dinge
Gewalt gegen Personen
IndividuelleRisikofaktorenfürGewaltbei
Schizophrenie
• SystemischerWahnmithoherWahndynamik
• Vergiftungs-bzw.Beeinträchtigungserlebenmitzunehmender
Todesangst
• KonkretisierteswahnhaftesBedrohungserlebendurcheine
oderwenigePersonen
• Halluzinationeni.F.imperativerStimmen
• Threatandcontroloverride(TCO)Symptomatik
• KomorbiditätmitSubstanzmissbrauchund/oderantisozialer
PA/PS
• ADHSinderKindheitundJugend
• UnmittelbareBerauschung
• eigeneGewalterfahrung
• KognitivesDefizit
• NiedrigersozioökonomischerStatus
HALLER(2005),VENZLAFF&FÖRSTER(2009),KRÖBER(2011)
Gewalt ist ein multifaktorielles Geschehen
STOMPE(2011)
Fazit
• Wir müssen Verallgemeinerungen und
Stereotypen entgegentreten, ohne die
Wirklichkeit schönzureden.
• Wir dürfen Menschen mit einem Gewaltrisiko
nicht ausgrenzen, sondern müssen uns um sie
kümmern.
• Dafür brauchen wir Aufmerksamkeit,
Kompetenz, Augenmaß … und genügend
Ressourcen in der Versorgung.
[email protected]