* MONTAG, 14. MÄRZ 2016 KUNDENSERVICE 0 8 0 0 / 9 3 5 8 5 3 7 * D 2,50 EURO B Zippert zappt Nr. 62 KOMMENTAR Magischer Moment für den Triumphator: Winfried Kretschmann (Grüne) nach seinem Wahlsieg. Er ist der alte und wohl der neue Ministerpräsident von Baden-Württemberg Laut einer aktuellen Umfrage glauben 95 Prozent aller Bürger, dass man Umfragen nicht trauen kann. Tatsache ist, es gibt zu viele Umfragen. Jeder Deutsche nimmt täglich, oft ohne es zu merken, an drei Umfragen teil. Vor den Wahlen wird gefragt, was man wählen würde, und anschließend soll man sagen, ob man immer noch wählen würde, was man gewählt hat. Die Menschen sind in diesem Jahr so oft gefragt worden, was sie tun würden, wenn heute Sonntag wäre, dass manche glauben, es wäre immer Sonntag, während andere überzeugt sind, es wäre Dienstag und sie hätten längst ihre Stimme abgegeben. Die Hälfte aller AfD-Wähler hat die Partei nur angekreuzt, weil in Umfragen ständig davon die Rede war. Diese Wahlen waren daher eine Protestwahl gegen die dauernde Wählerei, die ja ständig neue Umfragen mit sich bringt. Nach Untersuchungen der „Apotheken-Umschau“ würden mehr als 70 Prozent nie an einer Umfrage teilnehmen, vor allem SPD-Wähler wollen nicht im Säulendiagramm dargestellt werden, adipöse AfDAnhänger möchten nicht in Tortengrafiken auftauchen. Trister Jubel, bittere Schläge ULF POSCHARDT DPA/DANIEL MAURER D Kretschmann und Dreyer siegen AfD zieht in drei Landtage ein GETTY IMAGES/AFP/B. HORVAT THEMEN KULTUR Die unterschätzte Opernszene Albaniens Seite 21 WISSEN Start der europäischen Marsmission Kommentar Seite 7, Seite 20 WIRTSCHAFT Online-Versandriese aus fränkischer Provinz Seite 12 FINANZEN Wie man am besten ein Auto finanziert Seite 13 Grüne liegen in Baden-Württemberg klar vor CDU und erringen historischen Wahlsieg. SPD triumphiert in Rheinland-Pfalz und stürzt in Sachsen-Anhalt ab. Komplizierte Regierungsbildungen erwartet Z um ersten Mal in der deutschen Geschichte sind die Grünen als stärkste Partei aus einer Landtagswahl hervorgegangen. Die Partei des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann verbannte die CDU in ihrem Stammland auf Platz zwei. „Ich sehe in dem Votum den klaren Auftrag, weiterhin die Regierung zu bilden und den Ministerpräsidenten zu stellen“, sagte der Wahlsieger am Abend. Er wolle mit „Leidenschaft und Beharrlichkeit“ daran arbeiten, dass Baden-Württemberg ein „starkes Land“ bleibe. Ein Erfolg gelang auch der rheinland-pfälzischen Regierungschefin Malu Dreyer (SPD). Ihre Partei bleibt stärkste Kraft. VON DANIEL FRIEDRICH STURM Bei den ersten Landtagswahlen seit Beginn des Flüchtlingszuzugs nach Deutschland fuhr die rechtspopulistische Alternative für Deutschland (AfD) teilweise beachtliche Erfolge ein. So gelang der AfD auf Anhieb der Einzug in die Landesparlamente von Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und SachsenAnhalt – im letztgenannten Land wird sie zweitstärkste Kraft hinter dem klaren Wahlsieger CDU. Die Volksparteien CDU und SPD verloren in Baden-Württemberg erheblich an Zuspruch, während die Grünen hier ein Rekordergebnis einfuhren. Zum ersten Mal in der Geschichte des Landes wurden die Grünen stärkste Partei im Südwesten, während die CDU diese Position erstmals verlor. Die SPD von Spitzenkandidat und Finanzminister Nils Schmid wurde von den Wählern abgestraft. Der FDP gelang es, erneut in den Stuttgarter Landtag einzuziehen. Die Linke verpasste wie schon 2011 den Sprung über die Fünf-Prozent-Hürde. In welcher Konstellation das Land künftig regiert wird, war am Sonntagabend noch unklar. Für die bisherige Koalition reicht es nicht. Seit 2011 regiert in Stuttgart ein Bündnis aus Grünen und SPD. In den Jahrzehnten zuvor hatte die CDU das Land oftmals mit einer absoluten Mehrheit regiert. In Rheinland-Pfalz zeigte sich die SPD von Regierungschefin Dreyer im Vergleich mit der Landtagswahl 2011 stabil. Ihr kleiner grüner Koalitionspartner verlor dagegen deutlich an Stimmen. „Ich strebe heute gar nichts an, sondern heute werde ich feiern“, antwortete Dreyer auf die Frage, welche Koalition sie anstrebe. So kommt die bisherige rot-grüne Landesregierung auch in Mainz nicht mehr auf eine parlamentarische Mehrheit. Der CDU und ihrer Spitzenkandidatin Julia Klöckner misslang es, die Sozialdemokraten als stärkste politische Kraft im Landtag abzulösen. „Ein Ziel nicht erreicht: stärkste Partei zu werden. Ein Ziel erreicht: 30,0 24,3 16,1 10,5 5,0 CDU AfD Linke SPD Grüne Rot-Grün abzulösen“, schrieb Klöckner im Kurznachrichtendienst Twitter. In Rheinland-Pfalz wird mit einer komplizierten Regierungsbildung gerechnet, da weder SPD/Grüne noch CDU/FDP oder CDU/Grüne eine Mehrheit der Sitze im Landtag auf sich vereinen. Auch Klöckner will regieren: „Wir sind wach, wir sind dabei und wir werden sehen, was am Ende dabei rauskommt.“ Der größte Erfolg gelang der AfD in Sachsen-Anhalt, wo die CDU von Ministerpräsident Reiner Haseloff ihr Wahlergebnis von 2011 in etwa halten konnte. „Das ist ein großer Erfolg für die Alternative für Deutschland“, sagte die stellvertretende Vorsitzende Beatrix von Storch. „Wir sind gekommen, um zu bleiben, und jetzt in Deutschland im Parteiensystem angekommen.“ Die mitregierenden Sozialdemokraten unter Führung der SPD-Landesvorsitzenden Katrin Budde verloren dagegen erheblich an Zuspruch und landeten deutlich hinter dem Wahlergebnis der AfD. Verluste erlitten auch die Grünen. Die FDP gewann hingegen klar an Stimmen hinzu. In Sachsen-Anhalt haben bislang CDU und SPD eine Regierung gebildet. Haseloff sagte nach seinem Sieg: „Wir werden in Sachsen-Anhalt eine starke Regierung der Mitte bilden.“ In allen drei Bundesländern gingen dieses Mal deutlich mehr Menschen zu den Wahlen als noch im Jahr 2011. Quelle: ARD, 20.34 Uhr Siehe Kommentar, Seiten 2 bis 5 Baden-Württemberg Stimmenanteile in Prozent 30,4 27,1 15,0 12,7 8,3 Grüne CDU AfD SPD FDP Quelle: ARD, 20.29 Uhr Rheinland-Pfalz Stimmenanteile in Prozent 36,3 31,7 12,3 5,2 6,1 SPD CDU AfD Grüne FDP Quelle: ARD, 19.58 Uhr Sachsen-Anhalt Stimmenanteile in Prozent ie Flüchtlingskrise, jenes Monothema der vergangenen Wochen und Monate, hat die Parteienlandschaft umgepflügt. Mit der AfD triumphiert eine Partei, die als laute, oft auch primitive Opposition zur Regierungspolitik über Gebühr wahrgenommen werden konnte. Substanzlos und dürr aufgestellt, wird sie nun in weitere drei Parlamente ziehen, und es wird sich weisen, wie sie das entweder professionalisiert oder demontiert. Gauland und Meuthen bleiben vorerst die Einzigen, die mehr können als maulen. Der zweite Sieger ist Winfried Kretschmann, der in Zeiten von Fraktionszwang und Parteidisziplin die magische Kraft des Individualismus beschwor. Losgelöst von den Fesselkünsten der Parteibasis, hat sich Kretschmann seine eigene Volkspartei zurechtgebastelt, am Ende konservativer, weil werteorientierter als die postmoderne Union, pragmatisch bis zur Schmerzgrenze auch bei Herzthemen wie dem Asylrecht und unerschütterlich in der Selbsttreue. Kretschmann demobilisierte Unionswähler mit kühnen Bonmots (CSU ist okay, ich bete für Merkel etc.) und bot grünen Urwählern in Bildungs- und Umweltpolitik vertraute ideologische Nahrung. Die Grünen werden leise jubeln, schließlich blickten sie in Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt tief in den Abgrund, und Kretschmanns Grüne haben mit der Hofreiter-Peter-Truppe im Bund nix zu tun. Auch Malu Dreyer siegt beeindruckend. Sie hat in den vergangenen Wochen das Unmögliche wahrgemacht und einen schon sicher geglaubten Sieg der so charismatischen wie emsigen Julia Klöckner auf der Zielgeraden abgefangen. Obwohl ihre Regierungsarbeit mehr als durchwachsen war und sich ihre Koalition jede Menge Fehler geleistet hatte. Auch sie sammelte Stimmen eher als Landesmutter denn als Sozialdemokratin ein. Wie mies es um die SPD steht, zeigen die katastrophalen Ergebnisse in Stuttgart und Magdeburg. Egal, wie ungeeignet Guido Wolf als Kandidat der CDU in Baden-Württemberg war, egal, wie wenig hilfreich die außenpolitischen Pläne der Julia Klöckner gegen eine solide aufspielende Amtsinhaberin waren: Angela Merkel wird es mit der Union künftig noch schwerer haben. Die Partei zahlt einen hohen Preis für die Flüchtlingspolitik, in der die Kanzlerin unerschrocken (wie die einen sagen) und starrköpfig (die anderen) ihren Kurs verteidigt. Das Wohl des Kontinents im Blick, auch das des Landes, aber am wenigsten das der Partei. Nicht jeder wird ihr das verzeihen. Merkel braucht dringend Erfolge. Erfreulich: die Wahlbeteiligung und eine Stärkung der Mitte durch das Comeback der wackeren FDP. [email protected] SPORT Guardiolas schwierige Entscheidungen für das Turin-Spiel Seite 16 LOTTO: 20 – 26 – 30 – 39 – 47 – 49 Superzahl: 4 Spiel77: 0 8 7 4 8 4 9 Super6: 7 6 6 8 2 9 ohne Gewähr ANZEIGE „Börse am Mittag“ und „Börse am Abend“ mit Dietmar Deffner Um 12.45 und 18.15 Uhr Wir twittern Diskutieren live aus dem Sie mit uns Newsroom: auf Facebook: twitter.com/welt facebook.com/welt „Die Welt“ digital Lesen Sie „Die Welt“ digital auf allen Kanälen – mit der „Welt“-App auf dem Smartphone oder Tablet. Attraktive Angebote finden Sie auf welt.de/digital oder auch mit den neuesten Tablets auf welt.de/bundle Vom Nichtwähler zum Protestwähler: Wo die AfD-Stimmen herkommen D ie Alternative für Deutschland (AfD) hat bei den Landtagswahlen die Mehrheitsverhältnisse in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und vor allem in Sachsen-Anhalt durcheinander gewirbelt. Dort wurde sie nach Hochrechnungen des Umfrageinstituts Infratest dimap zweitstärkste Kraft. In Baden-Württemberg und RheinlandPfalz schaffte die AfD aus dem Stand zweistellige Prozentwerte. VON MARCEL PAULY Ohne die Flüchtlingskrise wäre dieser Erfolg nach Ansicht der Wahlforschung kaum denkbar – die AfD ist die Partei des Protests: Die große Mehrheit ihrer Wähler habe mit der Wahlentscheidung ihre Unzufriedenheit mit den anderen etablierten Parteien ausdrücken wollen. So gaben nach Zahlen des Umfrageinstituts Infratest dimap in Baden-Württemberg rund 156.000 Menschen der AfD ihre Stimme, die bei den Wahlen 2011 noch für die CDU votiert hatten. Vor allem aber hat es die AfD geschafft, bisherige Nichtwähler an die Urnen zu bringen. Arbeitslose und Arbeiter, die im Vergleich zu anderen Berufsgruppen als eher wahlmüde gelten, haben AfD gewählt. In SachsenAnhalt gaben mehr als 100.000 ehemalige Nichtwähler der AfD ihre Stimme, in Baden-Württemberg waren es rund 178.000 Wähler, die 2011 noch keine Stimme abgegeben hatten. Nach der Einschätzung der Forschungsgruppe Wahlen hat die AfD da- Wählerwanderung Sachsen-Anhalt von: Nichtwähler zur: 103.000 AfD 53.000 Andere CDU Linke 36.000 26.000 Quelle: ARD von profitiert, „dass sie als vermeintlich Erfolg versprechende Kraft die stark emotionalisierten Gegner von Angela Merkels Flüchtlingspolitik kanalisieren kann“. So habe die Partei viel Zuspruch gefunden. Hinzu komme noch eine weitaus größere Ablehnungshaltung. Dies habe zu einer starken Polarisierung im Wahlkampf geführt. Gut die Hälfte der AfD-Wähler gab als Motiv ihrer Wahlentscheidung an, die politischen Forderungen der AfD unterstützen zu wollen, 47 Prozent wollten den anderen Parteien einen „Denkzettel“ verpassen. In SachsenAnhalt finden nach Erkenntnissen der Wahlforscher nur 43 Prozent eine Fortführung der CDU/SPD-Koalition gut, 36 Prozent finden sie schlecht. In dieses Vakuum konnte die AfD hineinstoßen. DIE WELT, Axel-Springer-Straße 65, 10888 Berlin, Redaktion: Brieffach 2410 Täglich weltweit in über 130 Ländern verbreitet. Pflichtblatt an allen deutschen Wertpapierbörsen. Telefon 030/25910, Fax 030 / 259 17 16 06 E-Mail: [email protected] Anzeigen: 030 / 58 58 90 Fax 030 / 58 58 91 E-Mail [email protected] Kundenservice: DIE WELT, Brieffach 2440, 10867 Berlin Telefon 0800 / 9 35 85 37 Fax 0800 / 9 35 87 37 E-Mail [email protected] A 3,20 & / B 3,20 & / CH 5,00 CHF / CZ 95 CZK / CY 3,40 & / DK 25 DKR / E 3,20 & / I.C. 3,20 & / F 3,20 & / GB 3,00 GBP / GR 3,40 & / I 3,20 & / IRL 3,20 & / L 3,20 & / MLT 3,20 & / NL 3,20 & / P 3,20 & (Cont.) / PL 15 PLN / SK 3,20 € + In Rheinland-Pfalz hat die SPD ihren Wahlsieg nach Ansicht der Wahlforscher vor allem Ministerpräsidentin Malu Dreyer zu verdanken. Zudem hätten die Wähler die Regierungsarbeit der SPD deutlich höher bewertet als die des grünen Koalitionspartners. Dreyer habe drei Jahre nach ihrem Amtsantritt parteiübergreifend Sympathiewerte erreicht wie ihr Amtsvorgänger Kurt Beck zu dessen besten Zeiten. Die SPD habe wie ihre Spitzenkandidatin vor allem bei Frauen gepunktet. Dreyers Gegnerin Julia Klöckner (CDU) habe ihr flüchtlingspolitischer Kurs „eher geschadet“. 61 Prozent sähen das Abrücken von Kanzlerin Angela Merkel kritisch. Für 58 Prozent der Befragten war das Land und für 37 Prozent die Bundespolitik wichtiger. ISSN 0173-8437 62-11 ZKZ 7109
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