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Samstag, 12. März 2016
.
KARLSRUHE
Ausgabe Nr. 60 – Seite 27
„...und dann trieben sie
meine Esther ins Gas“
Horst Selbiger berichtet über den Holocaust
Von unserem Redaktionsmitglied
Tina Kampf
mus. „...und dann trieben sie meine Esther ins Gas“ ist der Abend überschrieben. Esther war Horst Selbigers JugendHorst Selbiger hat 70 Jahre lang geliebe. Ein junges Mädchen, von den Naschwiegen. Er erzählte niemanden von
zis ermordet. Horst Selbiger will berichden Demütigungen, die er in der Naziten, was war. Was er erlebte. Immer wiezeit als Jude erlebte. Berichtete nicht
der stockt seine Stimme. Manches fällt
von der Angst, von der Verzweiflung,
ihm nicht leicht zu erzählen. Dennoch:
von der Wut. „Es hat mich auch nieEr öffnet sich, er beantwortet Fragen –
mand
gefragt“,
und zieht seine Zusagt der Mann, der
hörer in den Bann.
Vortrag ist Teil der
heute nun 88 Jahre
Als er am 9. Noalt ist – und über
vember in BadenWochen gegen Rassismus
seine
Geschichte
Baden referierte,
spricht.
war es mucks„Allein aus meiner Familie wurden 61
mäuschen still im Rathaus. „Ich hatte
Menschen deportiert und ermordet. Sie
zunächst eine wunderschöne Kindheit“,
schreien danach, dass man über sie und
sagt der 88-Jährige. Familie Selbiger
das Geschehen berichtet“, ist Horst Sellebte in einem schönen Haus, in dem
biger heute sicher. Der erste Besuch eiauch die Zahnarztpraxis des Vaters unnes Treffens des Vereins „Child Survitergebracht war. „Als ich eingeschult
vors Deutschland – Überlebende Kinder
wurde, merkte ich – etwas ist anders, etder Shoah“, dessen Ehrenvorsitzender
was passiert in diesem Land. Ich wurde
er inzwischen ist,
ausgegrenzt,
beführte zu dem Sinschimpft, bespuckt.
neswandel. Danach
Und es ist nichts
konnte und wollte
passiert.
Kinder,
er
nicht
mehr
mit denen ich vorschweigen.
Viele
her Zeit verbracht
ti. Die Synagoge in der Nordstadt,
Termine absolviert
hatte,
schlugen
Knielinger Allee 11, kann am morder Berliner. Am
mich, wollten nicht
gigen Sonntag ab 11 Uhr besichtigt
kommenden Monmehr mit mir spiewerden. Der Vorsitzende der Jüditag,
14.
März,
len. Schon Sechsschen Gemeinde, David Seldner,
kommt er nach
jährige waren Antizeigt den Besuchern den GebetsKarlsruhe.
Ein
semiten“,
erzählt
raum und informiert über das GeSchulbesuch steht
der Mann, den die
meindeleben und Glaubensfragen.
an, ein weiterer
Nazis als „GelWas ist koscher? Warum fahren
folgt am Dienstag
tungsjuden“
eingläubige Juden am Shabbes kein
in Pforzheim. Zustuften: Der Vater
Auto und betätigen keinen Lichtdem hält er am
war jüdisch, die
schalter? Selbstverständlich können
Montag in KarlsruMutter christlich,
die Besucher Fragen stellen.
he auf Einladung
erzogen wurde der
Der Eintritt ist frei, eine vorherige
der Jüdischen GeSohn jedoch nach
Anmeldung
nicht
erforderlich.
meinde einen öfjüdischer Tradition.
Männer werden gebeten, eine Kopffentlichen Vortrag
1938
wechselte
bedeckung zu tragen.
im Rahmen der WoHorst Selbiger auf
chen gegen Rassiseine jüdische Schu-
Führung
durch Synagoge
EINEN ÖFFENTLICHEN VORTRAG hält am kommenden Montag auf Einladung der Jüdischen Gemeinde der Holocaust-Überlebende
Horst Selbiger. Seine Jugendliebe wurde von den Nazis ermordet.
Foto: pr
le, die 1942 geschlossen wurde. „Meine
Eltern litten zu der Zeit sehr unter der
Situation. Aber ich hatte in der Klasse
eine fröhliche Zeit.“ Horst Selbiger sagt
auch: „Ich wurde ein renitenter Schüler.
Ich wollte nicht einsehen, dass ich Hebräisch und jüdische Geschichte lernen
soll, während draußen Juden umgebracht werden.“ Eltern und Sohn überlebten. Horst Selbiger überlegte, nach
Amerika auszuwandern. Doch er wollte
Journalist werden – und hatte Sorge,
dass dies in den USA an den Sprachkenntnissen scheitern könnte. „Adenauer erklärte 1949, dass die Entnazifizierung viel Leid über das Land gebracht habe. Er bedauerte nicht etwa,
dass sechs Millionen Juden ermordet
wurden und Deutschland Europa in den
„Wie erklärt man Kindern Rassismus?“
Vizepräsident des Zentralrats der Sinti und Roma sprach über Antiziganismus
Von unserem Redaktionsmitglied
Tina Kampf
Einige Zuhörer hält es nicht auf ihren
Plätzen. Stehend applaudieren sie
Jacques Delfeld, dem stellvertretenden
Vorsitzenden des Zentralrats der Sinti
und Roma, der zum Auftakt der Wochen
gegen Rassismus über Antiziganismus
gesprochen hat. Der Mann aus Bellheim
erzählt den Zuhörern im Bürgersaal des
Rathauses von seiner Enkelin. Auf dem
Heimweg vom Gymnasium radelte sie
an einem NPD-Wahlplakat vorbei.
„Geld für die Oma statt für Sinti und
Roma“ hatte die rechtsextreme Partei
getitelt. „Was soll das bedeuten“, fragte
das Mädchen, dessen Oma und Opa Sinti sind. „Wie erklärt man einem Kind
Rassismus? Und wie kann man selbstbewusst eine Identität als Sinti und Deutscher entwickeln“, fragt Delfeld.
Er erinnert an die Verfolgung der Sinti
und Roma durch die Nazis. An die Deportationen, an die Ermordungen. „Als
die Eltern meiner Frau nach fünf Jahren
Haft in Polen in ihre Heimat in der Südpfalz zurückkehrten, war ihr Haus in
der Dorfmitte abgerissen“, sagt Delfeld.
Eine Baugenehmigung an gleicher Stelle
wurde nicht erteilt worden. Es wurde ih-
nen ein Platz am Waldrand zugewiesen.
Eine Entschädigung verweigerte man
der Familie – wie auch den anderen betroffenen Angehörigen der Minderheit.
Für eine Zahlung wäre nämlich eine
Verfolgung aus „rassischen Gründen“
notwendig gewesen. Doch der Bundesgerichtshof urteilte noch im Jahr 1956,
dass alle staatlichen Verfolgungsmaßnahmen vor 1943
legitim
gewesen
seien, weil sie von
„Zigeunern“ durch
„eigene Asozialität,
Kriminalität
und Wandertrieb“
selbst veranlasst gewesen seien. „Sie
neigen, wie die Erfahrung zeigt, zur Kriminalität, besonders zu Diebstählen und
Betrügereien, es fehlen ihnen vielfach
die sittlichen Antriebe der Achtung vor
fremdem Eigentum, weil ihnen wie primitiven Urmenschen ein ungehemmter
Okkupationstrieb eigen ist“, hieß es im
Urteil. Erst 2015 erfolgte die Entschuldigung. Delfeld zitiert aktuelle Umfragen, denen zufolge immer noch viele Befragte Sinti und Roma als Nachbarn ablehnen. Und von Angehörigen der Minderheit, die immer wieder Ausgrenzung
erfahren. Im Bürgersaal schweigen die
Zuhörer.
Oberbürgermeister
Frank
Mentrup spricht später von „wahren Patrioten“, wenn die Sinti und Roma trotz
allem an ihrer deutschen Heimat festhalten. Delfeld lenkt den Fokus auch auf
Sinti und Roma in Osteuropa. Er erzählt
von Ghettos, von Armut, von hoher Kindersterblichkeit, von Menschen, denen
der Zugang zu Bildung, zu Arbeit und
zum Gesundheitssystem
verwehrt
wird. „Und wenn
es dann heißt, es sei
die Mentalität der
Roma, so zu leben,
dann
wird
die
Schuld denen zugeordnet, die Opfer
sind“, so der Redner. Die Situation sei
vielmehr ein Skandal für die jeweiligen
Länder und Europa. „Das ist Ausdruck
und Ergebnis von Rassismus.“
Die Wochen gegen Rassismus – bei deren Eröffnung neue Videos der Künstler
Isis Chi Gambatté sowie Ana und Anda
und ein Theaterstück von Kindern der
Hans-Thoma-Schule präsentiert wurden – dauern in Karlsruhe bis zum 24.
März. Mehr als 100 Veranstaltungen stehen im Programm, was Mentrup als tollen Beleg der Vielfalt und des Engagements der Gesellschaft bezeichnete.
Gleisdreieck
wird freigelegt
DIE OSTKURVE, rechts vom Dreieckspfeiler, ist schon erkennbar. Dort biegen die vom
Marktplatz kommenden Bahnen einmal an der Pyramide nach Osten ab.
Foto: jodo
ruh. Unter der Kaiserstraße wächst
schon der Hohlraum für das U-StrabGleisdreieck. Die Arbeiter dringen dort,
wo der Südabzweig an den Hauptstrang
ansetzt, von der Höhle unterm Marktplatz bereits in Nähe der Pyramide auch
nach Osten Richtung „Schöpf“ vor.
Dagegen kommen die Bergleute 50
Tage nach dem Anschlagfest für den
„Sabine-Tunnel“ unter der Karl-Friedrich-Straße noch immer nicht mit dem
versprochenen Tempo voran. Laut Kasig
ist der Stollen bislang erst 13 Meter weit
vom Nordkopf der Haltestellenschachtel
„Ettlinger Tor“ bergmännisch mit Baggern Richtung Marktplatz vorgetrieben.
Insgesamt wird dieser Südtunnel 250
Meter lang.
Die Arbeit in einer Druckkammer und
mit einem Schirm aus Spießen zur Stabilisierung des Untergrunds gilt als Herausforderung, die eigentlich bis zum
Spätsommer gemeistert werden soll. Die
Kasig und die Firma BeMO Tunnelling
wollen eigentlich an jedem Tag rund
fünf Meter Tunnel bauen. Dabei entsteht
zunächst nur die obere Hälfte des Stollens.
Krieg gezogen hatte.“ Für Horst Selbiger war dies unerträglich. „Es war ja eh
so, dass 1945 mit Kriegsende das Wunder geschah, dass es in Deutschland
über Nacht keine Nazis mehr gab und
keiner etwas gewusst hatte.“ Nach
Adenauers Einlassung ging er dann in
die DDR. „Die Parole, eine antifaschistische-demokratische Ordnung aufzubauen, das hatte was.“ Horst Selbiger
wurde Journalist – und spürte bald, dass
kritische Berichterstattung nicht gewünscht war. Er sah, wie der Staat mit
Kritikern umging. Und dann waren da
noch seine Eltern in Berlin, die er nach
dem Mauerbau nicht mehr besuchen
konnte. 1964 schickte das „Neue
Deutschland“ Horst Selbiger nach
Frankfurt am Main, er sollte über den
Anzeige
Auschwitzprozess berichten. Er kehrte
nicht mehr in den Osten zurück. Zwei
Reisebüros baute er in Berlin auf, wo er
heute noch lebt. Längst ist er im Ruhestand. Und immer noch aktiv: Als Zeitzeuge, der bereit ist zu erzählen.
i
Termin
Der Vortrag des Holocaust-Überlebenden Horst Selbiger mit dem Titel „...und
dann trieben sie meine Esther ins Gas“
beginnt am Montag, 14. März, um 19
Uhr in der Synagoge in der Nordstadt,
Knielinger Allee 11.
Der Eintritt ist frei, eine vorherige Anmeldung nicht erforderlich. Es handelt
sich um eine Veranstaltung der Jüdischen Gemeinde im Rahmen der Wochen
gegen Rassismus.