4531848 Samstag, 12. März 2016 . KARLSRUHE Ausgabe Nr. 60 – Seite 27 „...und dann trieben sie meine Esther ins Gas“ Horst Selbiger berichtet über den Holocaust Von unserem Redaktionsmitglied Tina Kampf mus. „...und dann trieben sie meine Esther ins Gas“ ist der Abend überschrieben. Esther war Horst Selbigers JugendHorst Selbiger hat 70 Jahre lang geliebe. Ein junges Mädchen, von den Naschwiegen. Er erzählte niemanden von zis ermordet. Horst Selbiger will berichden Demütigungen, die er in der Naziten, was war. Was er erlebte. Immer wiezeit als Jude erlebte. Berichtete nicht der stockt seine Stimme. Manches fällt von der Angst, von der Verzweiflung, ihm nicht leicht zu erzählen. Dennoch: von der Wut. „Es hat mich auch nieEr öffnet sich, er beantwortet Fragen – mand gefragt“, und zieht seine Zusagt der Mann, der hörer in den Bann. Vortrag ist Teil der heute nun 88 Jahre Als er am 9. Noalt ist – und über vember in BadenWochen gegen Rassismus seine Geschichte Baden referierte, spricht. war es mucks„Allein aus meiner Familie wurden 61 mäuschen still im Rathaus. „Ich hatte Menschen deportiert und ermordet. Sie zunächst eine wunderschöne Kindheit“, schreien danach, dass man über sie und sagt der 88-Jährige. Familie Selbiger das Geschehen berichtet“, ist Horst Sellebte in einem schönen Haus, in dem biger heute sicher. Der erste Besuch eiauch die Zahnarztpraxis des Vaters unnes Treffens des Vereins „Child Survitergebracht war. „Als ich eingeschult vors Deutschland – Überlebende Kinder wurde, merkte ich – etwas ist anders, etder Shoah“, dessen Ehrenvorsitzender was passiert in diesem Land. Ich wurde er inzwischen ist, ausgegrenzt, beführte zu dem Sinschimpft, bespuckt. neswandel. Danach Und es ist nichts konnte und wollte passiert. Kinder, er nicht mehr mit denen ich vorschweigen. Viele her Zeit verbracht ti. Die Synagoge in der Nordstadt, Termine absolviert hatte, schlugen Knielinger Allee 11, kann am morder Berliner. Am mich, wollten nicht gigen Sonntag ab 11 Uhr besichtigt kommenden Monmehr mit mir spiewerden. Der Vorsitzende der Jüditag, 14. März, len. Schon Sechsschen Gemeinde, David Seldner, kommt er nach jährige waren Antizeigt den Besuchern den GebetsKarlsruhe. Ein semiten“, erzählt raum und informiert über das GeSchulbesuch steht der Mann, den die meindeleben und Glaubensfragen. an, ein weiterer Nazis als „GelWas ist koscher? Warum fahren folgt am Dienstag tungsjuden“ eingläubige Juden am Shabbes kein in Pforzheim. Zustuften: Der Vater Auto und betätigen keinen Lichtdem hält er am war jüdisch, die schalter? Selbstverständlich können Montag in KarlsruMutter christlich, die Besucher Fragen stellen. he auf Einladung erzogen wurde der Der Eintritt ist frei, eine vorherige der Jüdischen GeSohn jedoch nach Anmeldung nicht erforderlich. meinde einen öfjüdischer Tradition. Männer werden gebeten, eine Kopffentlichen Vortrag 1938 wechselte bedeckung zu tragen. im Rahmen der WoHorst Selbiger auf chen gegen Rassiseine jüdische Schu- Führung durch Synagoge EINEN ÖFFENTLICHEN VORTRAG hält am kommenden Montag auf Einladung der Jüdischen Gemeinde der Holocaust-Überlebende Horst Selbiger. Seine Jugendliebe wurde von den Nazis ermordet. Foto: pr le, die 1942 geschlossen wurde. „Meine Eltern litten zu der Zeit sehr unter der Situation. Aber ich hatte in der Klasse eine fröhliche Zeit.“ Horst Selbiger sagt auch: „Ich wurde ein renitenter Schüler. Ich wollte nicht einsehen, dass ich Hebräisch und jüdische Geschichte lernen soll, während draußen Juden umgebracht werden.“ Eltern und Sohn überlebten. Horst Selbiger überlegte, nach Amerika auszuwandern. Doch er wollte Journalist werden – und hatte Sorge, dass dies in den USA an den Sprachkenntnissen scheitern könnte. „Adenauer erklärte 1949, dass die Entnazifizierung viel Leid über das Land gebracht habe. Er bedauerte nicht etwa, dass sechs Millionen Juden ermordet wurden und Deutschland Europa in den „Wie erklärt man Kindern Rassismus?“ Vizepräsident des Zentralrats der Sinti und Roma sprach über Antiziganismus Von unserem Redaktionsmitglied Tina Kampf Einige Zuhörer hält es nicht auf ihren Plätzen. Stehend applaudieren sie Jacques Delfeld, dem stellvertretenden Vorsitzenden des Zentralrats der Sinti und Roma, der zum Auftakt der Wochen gegen Rassismus über Antiziganismus gesprochen hat. Der Mann aus Bellheim erzählt den Zuhörern im Bürgersaal des Rathauses von seiner Enkelin. Auf dem Heimweg vom Gymnasium radelte sie an einem NPD-Wahlplakat vorbei. „Geld für die Oma statt für Sinti und Roma“ hatte die rechtsextreme Partei getitelt. „Was soll das bedeuten“, fragte das Mädchen, dessen Oma und Opa Sinti sind. „Wie erklärt man einem Kind Rassismus? Und wie kann man selbstbewusst eine Identität als Sinti und Deutscher entwickeln“, fragt Delfeld. Er erinnert an die Verfolgung der Sinti und Roma durch die Nazis. An die Deportationen, an die Ermordungen. „Als die Eltern meiner Frau nach fünf Jahren Haft in Polen in ihre Heimat in der Südpfalz zurückkehrten, war ihr Haus in der Dorfmitte abgerissen“, sagt Delfeld. Eine Baugenehmigung an gleicher Stelle wurde nicht erteilt worden. Es wurde ih- nen ein Platz am Waldrand zugewiesen. Eine Entschädigung verweigerte man der Familie – wie auch den anderen betroffenen Angehörigen der Minderheit. Für eine Zahlung wäre nämlich eine Verfolgung aus „rassischen Gründen“ notwendig gewesen. Doch der Bundesgerichtshof urteilte noch im Jahr 1956, dass alle staatlichen Verfolgungsmaßnahmen vor 1943 legitim gewesen seien, weil sie von „Zigeunern“ durch „eigene Asozialität, Kriminalität und Wandertrieb“ selbst veranlasst gewesen seien. „Sie neigen, wie die Erfahrung zeigt, zur Kriminalität, besonders zu Diebstählen und Betrügereien, es fehlen ihnen vielfach die sittlichen Antriebe der Achtung vor fremdem Eigentum, weil ihnen wie primitiven Urmenschen ein ungehemmter Okkupationstrieb eigen ist“, hieß es im Urteil. Erst 2015 erfolgte die Entschuldigung. Delfeld zitiert aktuelle Umfragen, denen zufolge immer noch viele Befragte Sinti und Roma als Nachbarn ablehnen. Und von Angehörigen der Minderheit, die immer wieder Ausgrenzung erfahren. Im Bürgersaal schweigen die Zuhörer. Oberbürgermeister Frank Mentrup spricht später von „wahren Patrioten“, wenn die Sinti und Roma trotz allem an ihrer deutschen Heimat festhalten. Delfeld lenkt den Fokus auch auf Sinti und Roma in Osteuropa. Er erzählt von Ghettos, von Armut, von hoher Kindersterblichkeit, von Menschen, denen der Zugang zu Bildung, zu Arbeit und zum Gesundheitssystem verwehrt wird. „Und wenn es dann heißt, es sei die Mentalität der Roma, so zu leben, dann wird die Schuld denen zugeordnet, die Opfer sind“, so der Redner. Die Situation sei vielmehr ein Skandal für die jeweiligen Länder und Europa. „Das ist Ausdruck und Ergebnis von Rassismus.“ Die Wochen gegen Rassismus – bei deren Eröffnung neue Videos der Künstler Isis Chi Gambatté sowie Ana und Anda und ein Theaterstück von Kindern der Hans-Thoma-Schule präsentiert wurden – dauern in Karlsruhe bis zum 24. März. Mehr als 100 Veranstaltungen stehen im Programm, was Mentrup als tollen Beleg der Vielfalt und des Engagements der Gesellschaft bezeichnete. Gleisdreieck wird freigelegt DIE OSTKURVE, rechts vom Dreieckspfeiler, ist schon erkennbar. Dort biegen die vom Marktplatz kommenden Bahnen einmal an der Pyramide nach Osten ab. Foto: jodo ruh. Unter der Kaiserstraße wächst schon der Hohlraum für das U-StrabGleisdreieck. Die Arbeiter dringen dort, wo der Südabzweig an den Hauptstrang ansetzt, von der Höhle unterm Marktplatz bereits in Nähe der Pyramide auch nach Osten Richtung „Schöpf“ vor. Dagegen kommen die Bergleute 50 Tage nach dem Anschlagfest für den „Sabine-Tunnel“ unter der Karl-Friedrich-Straße noch immer nicht mit dem versprochenen Tempo voran. Laut Kasig ist der Stollen bislang erst 13 Meter weit vom Nordkopf der Haltestellenschachtel „Ettlinger Tor“ bergmännisch mit Baggern Richtung Marktplatz vorgetrieben. Insgesamt wird dieser Südtunnel 250 Meter lang. Die Arbeit in einer Druckkammer und mit einem Schirm aus Spießen zur Stabilisierung des Untergrunds gilt als Herausforderung, die eigentlich bis zum Spätsommer gemeistert werden soll. Die Kasig und die Firma BeMO Tunnelling wollen eigentlich an jedem Tag rund fünf Meter Tunnel bauen. Dabei entsteht zunächst nur die obere Hälfte des Stollens. Krieg gezogen hatte.“ Für Horst Selbiger war dies unerträglich. „Es war ja eh so, dass 1945 mit Kriegsende das Wunder geschah, dass es in Deutschland über Nacht keine Nazis mehr gab und keiner etwas gewusst hatte.“ Nach Adenauers Einlassung ging er dann in die DDR. „Die Parole, eine antifaschistische-demokratische Ordnung aufzubauen, das hatte was.“ Horst Selbiger wurde Journalist – und spürte bald, dass kritische Berichterstattung nicht gewünscht war. Er sah, wie der Staat mit Kritikern umging. Und dann waren da noch seine Eltern in Berlin, die er nach dem Mauerbau nicht mehr besuchen konnte. 1964 schickte das „Neue Deutschland“ Horst Selbiger nach Frankfurt am Main, er sollte über den Anzeige Auschwitzprozess berichten. Er kehrte nicht mehr in den Osten zurück. Zwei Reisebüros baute er in Berlin auf, wo er heute noch lebt. Längst ist er im Ruhestand. Und immer noch aktiv: Als Zeitzeuge, der bereit ist zu erzählen. i Termin Der Vortrag des Holocaust-Überlebenden Horst Selbiger mit dem Titel „...und dann trieben sie meine Esther ins Gas“ beginnt am Montag, 14. März, um 19 Uhr in der Synagoge in der Nordstadt, Knielinger Allee 11. Der Eintritt ist frei, eine vorherige Anmeldung nicht erforderlich. Es handelt sich um eine Veranstaltung der Jüdischen Gemeinde im Rahmen der Wochen gegen Rassismus.
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