SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Glauben DIE GÖTTER SIND NICHT VOM HIMMEL GEFALLEN ÜBER DIE ENTSTEHUNG DER RELIGIONEN VON MICHAEL HOLLENBACH SENDUNG 06.03.2016 / 12.05 UHR Redaktion Religion, Kirche und Gesellschaft Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR SWR2 Glauben können Sie auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter www.swr2.de oder als Podcast nachhören: http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/glauben.xml Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert. 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Allerdings nicht so, wie man sich das vielleicht vorstellt, dass es so etwas gibt wie ein Gottesgen, das einen quasi automatisch religiös macht oder eine Stelle im Gehirn, die einem dann religiöse Gedanken vorgaukelt an einer Stelle, wo eigentlich nichts ist. Religion ist insofern in unserer Biologie verankert, weil wir ganz bestimmte Dispositionen haben. Also Anlagen und kognitive Kompetenzen, die die Entwicklung religiöser Vorstellungen erst ermöglichen. Der Freiburger Neurobiologe Robert-Benjamin Illing ist überzeugt: Im Prinzip benötigte der Mensch in seiner Entwicklungsgeschichte die Religion, um Antworten auf die Sinnfragen zu finden: Woher komme ich? Wohin gehe ich? Warum bin ich auf der Welt? 2. 7:46 (Illing) Der braucht etwas, weil er mit dem Transzendenten konfrontiert ist, mit großen Fragen, die ganz real sind, die aber keine offensichtlichen Antworten finden, und da muss er jetzt aktiv werden und das ist Religion im weitesten Sinne. Die Hypothese des Neurobiologen: Die ersten Lebewesen, die ein Bewusstsein entwickelt haben, gehen davon aus, dass die Welt um sie herum beseelt ist; 2 3. 3:30: (Illing) und dass hinter allem, was geschieht, auch diesen großen Dingen wie ein Vulkanausbruch oder eine Sintflut, (..) das dahinter ein großer Wille steckt. Und da hinter allem, was man selber tut, ein Wille steckt, interpretiert man jetzt auch diese großen Ereignisse, die man selber nicht kontrollieren kann, als einen großen Willen. Also die Beseeltheit der Natur ist wahrscheinlich der erste Schritt zur Bildung einer Religion. Musik Pink Floyd Is there anybody out there? Religion dient als Methode, Angst zu bewältigen. Das sieht auch der Prähistoriker Hermann Parzinger so. 4. 21:20: (Parzinger)Ich habe sehr stark den Eindruck, dass es immer wieder war, sich Dinge begreiflich zu machen, und das, was man gar nicht verstehen konnte, in irgendeiner Form durch rituelle Handlungen, sich bestimmte Entwicklungen, auch des Klimas, der Umwelt, gewogen zu machen. Die ersten Menschen wurden vor rund 10.000 Jahren sesshaft. Doch religiöse Vorstellungen sind weit älter, sagt Hermann Parzinger, der auch Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz ist. 6. 20:00 (Parzinger) Es fängt schon sehr früh an, dass man beim Menschen (…) spürt, er kann sich nicht alles erklären. Wir haben beim Neandertaler die ersten Gräber, also der Neandertaler hat in gewisser Weise das Jenseits entdeckt. 7. 0:25: (Auffermann) Wir sind hier im Neandertal-Museum im Themenbereich Mythos und Religion, wo wir uns mit der Frage: wie alt sind Religionen, gab es schon immer Religionen, hatten die Neandertaler eine Religion, auseinandersetzen. 8. 9:45 Atmo Museum (Drunter legen) Die Archäologin Bärbel Auffermann ist stellvertretende Leiterin des Neandertal-Museum in der Nähe von Düsseldorf. 3 9. 0:40 (Auffermann)Hier im Museum gehen wir davon aus, dass alle Völker, die heute auf der Welt leben, eine Religion und auch einen Schöpfungsmythos haben, erklären sich die Welt auf irgendeine Art und Weise und haben auch einen Gott oder Götter, die sie anbeten. 10. 9:45 Atmo Museum (drunterlegen) Das Problem: Erst spät in der Menschheitsgeschichte können Historiker auf schriftliche Quellen zurückgreifen. So müssen Archäologen Ausgrabungen und Funde interpretieren. Auch beim Neandertaler, einem Verwandten des heutigen Menschen, der aus bislang ungeklärten Gründen vor rund 30.000 Jahren ausstarb: 11. 1:11: (Auffermann)Wir wissen, dass Neandertaler ihre Toten bestattet haben; das zum Teil in sehr komplexen Ritualen, und da kann man dann davon ausgehen: Wer seine Toten bestattet, der macht sich auch Gedanken darüber, wo der Körper oder der Geist nachher hingeht nach dem Tod und hat wahrscheinlich auch eine Jenseitsvorstellung. 50 Gräber wurden entdeckt, die man den Neandertalern zuordnen kann: Gräber zum Teil mit Beigaben wie Schmuck und kleinen Steinwerkzeugen. 12. 3:15 (Auffermann)Vor uns sehen wir eine Neandertalerin, die trauert um ihren toten Bruder, hat so eine leicht betende Haltung und sitzt vor einem kleinen Erdhügel, und wenn wir uns den dazu gehörigen Audiotext anhören, dann erfahren wir, dass ihr Bruder bei einem Jagdunfall gestorben ist. 13. Audiotext: Kein Leben mehr in deinem Körper, Bruder. Du liegst unter der Erde. (..) die anderen haben eine Grube gegraben, dein Fellkleid war zerrissen, behalte es an. Wir haben gesungen und getanzt, und das Wasser kam in meine Augen. Heute ziehen wir weiter. Du bleibst hier. 14. 4:20 (Auffermann) Es gibt sehr komplexe Totenrituale zum Teil. Wir haben bei den Neandertalern zum Beispiel Hinweise auf Sekundärbestattungen, (…) da wird der Tote zunächst in einem Baum deponiert, zersetzt sich zum Teil schon und wird dann von einem Priester wieder eingesammelt, die Überreste, und die werden von Fleisch und Geweberesten gereinigt und die gereinigten Knochen werden erst beigesetzt. Da müssen ja schon recht komplexe Vorstellungen dahinter stehen. 4 Weiter entwickelt wurden diese Sekundärbestattungen dann vor in der Jungsteinzeit vor ca. 12.000 Jahren, erläutert die Religionswissenschaftlerin Ina Wunn: 15. 10:15: (Wunn) Wenn man sich alte Gesellschaften anschaut, neolithische Gesellschaften, da stellt man fest, dass der Tod eher etwas ist, was zelebriert wird. Die Distanz, die zwischen erster und zweiter Bestattung ist, spiegelt gedanklich den Weg wieder, den der Tote in die Unterwelt zurückzulegen hat. (…) Es besteht die Vorstellung, dass der Mensch, der die irdische Welt verlassen hat, weiter existiert, nur eben nicht an diesem Platz, sondern an einer ganz neuen Stelle, nämlich in der Unterwelt. Am Anfang war der Tod. Auch der Trierer Philosoph und Religionskritiker Michael Schmidt-Salomon sowie der Neurobiologe Robert-Benjamin Illing gehen davon aus, dass das aufkommende Bewusstsein der eigenen Vergänglichkeit religiös inspirierend war: 16. 25:55: (Schmidt-Salomon) Natürlich ist der Tod auch ein wesentlicher Aspekt des religiösen Denkens. Man versucht mit diesen religiösen Heilsgeschichten die Dramatik dieses Geschehens zu verarbeiten, und es ist ja auch nicht leicht, Mensch zu sein in dem Bewusstsein, dass alles, was wir lieben, was wir hegen und pflegen, dem Untergang geweiht ist. Religionen schaffen hier die Möglichkeit, mit dieser dramatischen Erfahrung umzugehen. 17. 1:45: (Illing) Jetzt gibt es einen Moment in der Menschheitsgeschichte, wo den ersten Individuen deutlich wurde, dass sie sterblich sind, dass sie verletzbar sind, und dass der Tod der definitive Endpunkt in ihrer Entwicklung ist. Was haben diese Menschen in dieser Situation gefühlt und gedacht? Wie haben sie diesen Ängsten entkommen können? Und es war nicht mehr so, dass sie das gleiche Muster wie bisher mit ihrem Angstmanagement verfolgen konnten: nämlich weglaufen oder angreifen. Aber jetzt stecken die Ängste in uns drin, nämlich die Ängste vor der eigenen Vergänglichkeit. Und jetzt waren wir gefragt, mit neuen Hypothesen zu arbeiten, um uns lebensfähig zu halten. Und in diesem Bereich dürfen wir vermuten, dass erste Jenseitsideen, erste Gottesvorstellungen sich entwickelt haben. Musik Pink Floyd Is there anybody out there? 5 Doch ob die Angst vor dem eigenen Sterben wirklich der Beginn religiöser Vorstellungen war, das sei in der Forschung durchaus umstritten, meint der Stuttgarter Religionswissenschaftler Michael Blume: 18. 1:36:22: (Blume) Interessanterweise ist es so, dass wir in alter Religionen noch keine Jenseitsvorstellungen haben, da gibt es noch kein Paradiesversprechen, das würde man ja dann erwarten. Auf der anderen Seite sehen wir in Studien, dass es schon reicht, wenn wir Leute an ihren eigenen Tod erinnern, dann steigt ihre Religiosität, die Bereitschaft an religiösen Ritualen teilzunehmen. Statt paradiesischer Jenseitsvorstellungen treffen wir zu Beginn der Religionsgeschichte eher auf einen Ahnenkult, der durchaus angstbesetzt war: 19. 27:15: (Schmidt-Salomon) Wahrscheinlich war die Angst vor den Wiedergängern am Anfang der Religion. Man hat die Toten bestattet nicht, damit sie ins Paradies kommen, sondern um zu verhindern, dass sie wieder auferstehen und Leid über die Lebenden bringen. 20. 1:37:50(Blume) Ein Beispiel ist, dass über lange Zeit die Toten eher gefürchtet werden. Man hat Angst, dass sie wieder auferstehen, dass sie als Untote wiederkommen. Die moderne Vorstellung, dass wir sie wiedersehen werden, dass wir sie in die Arme schließen können, dass wir uns darauf freuen können, sie wieder zu sehen, die ist deutlich jünger. (…) Die Angst vor den Toten, die haben wir schon ganz früh: dass Tote gefesselt werden, das sehen wir da schon. Gefesselt, damit sie als Untote keinen Schaden anrichten können. Und auch in der Antike, bei den Juden oder Griechen, gab es eher düstere Bilder vom Totenreich, sagt die Saarbrücker Theologin Katharina Peetz: 22. 8:10: (Peetz) Wenn wir auf den alttestamentlichen Kontext schauen, sieht man zum Beispiel, dass die Jenseitsvorstellungen sich allmählich herausgebildet haben. Also die Sheol, die Hölle im jüdischen Verständnis, war zunächst ein Ort der Gottesferne. Das heißt, Gott hatte keinen Zugriff auf die Sheol, und die Toten haben in der Sheol dahinvegetiert. Ein Ort, an dem man von Gott getrennt ist, und man sieht in den alttestamentlichen Schriften, wie sich das dann zunehmend entwickelt, hin zu der Vorstellung, dass die Sheol dem Zugriff Gottes offen steht, bis hin zu der Vorstellung, dass es auch so etwas wie ein Leben nach dem Tod gibt und eine Auferstehung. 6 Wie sie dann das Christentum entwickelt hat. Das ist allerdings menschheitsgeschichtlich eine sehr junge Religion. Musik Pink Floyd Is there anybody out there? Religiöse Vorstellungen begleiten den Menschen von Beginn seiner Geschichte an: 23. 1:20:55 (Blume) 100.000, manche sagen 150.000 Jahre ist Religion wohl alt. Und seit ein paar Tausend Jahren ist sie ja wohl ein großer prägender Bestandteil jeder menschlichen Kultur. Doch nicht nur die Angst vor dem Tod war prägend für die Entstehung von Religionen. Der Religionswissenschaftler Michael Blume nennt als einen wesentlichen Grund die existenzielle Unsicherheit der Menschen: 24. 1:37:20: (Blume) Ich kann die bösen Dinge, die mir geschehen, deuten. Ich kann versuchen, sie zu bannen; ich kann versuchen, die höheren Wesen zu besänftigen mit Opfern, mit Gebeten und ich kann später sogar versuchen, Verbündete zu gewinnen. Verbündete im Transzendenten gegen Wetterkatastrophen, eine Art Rückversicherung für eine gelingende Jagd oder eine gute Ernte. Der Prähistoriker Hermann Parzinger: 25. 26:30: (Parzinger)Es ist ja auch so, dass, wenn es um Regen geht, die Regenmacher, die es ja auch noch in späteren Naturreligionen, bei Naturvölkern gibt, das ist etwas, was enorm wichtig ist, für das Überleben einer Siedelgemeinschaft und dass man versucht, die Götter, wie auch immer man sich die vorgestellt hat, sich die gewogen zu machen. Ich glaube, dass ist eine entscheidende Triebfeder in diesem ganzen Prozess. Und in diesem Prozess entstehen dann die ersten Kultstätten. 26. 27:50: (Parzinger) Ich glaube, dass Ritualplätze schon in der Altsteinzeit Orte waren, an denen man versuchen wollte, auf bestimmte überirdische Wesen Einfluss zu nehmen. Als die Menschen vor ca. 10.-15.000 Jahren sesshaft wurden, waren sie noch abhängiger von den Launen der Natur. Schlechtes Wetter konnte die Ernte, die Lebensgrundlage, vernichten. Und sie mussten ihr Territorium verteidigen gegen Angreifer. Das versuchten sie u.a. mit magischen Waffen, sagt die 7 Religionswissenschaftlerin Ina Wunn. Es entstehen erste Tonfiguren und so etwas wie Hausaltäre: oft Darstellungen von korpulenten, nackten Frauen, so genannte Venusfigurinen. 27. 4:00 (Wunn)Wenn es so gewesen ist, dass diese Zeichen, diese Gesten Eindringlinge abgehalten haben, (…) dann ist der Schritt zur Annahme, dass diese Dinge gegen Bedrohliches an sich wirken, naheliegend. Diese kleinen Tonfiguren werden als Fruchtbarkeitssymbole, aber auch als Darstellung erster Göttinnen interpretiert. Und diese Frauenstatuetten – die ersten werden vor rund 30.000 Jahren geformt - tauchen später auch bei den Toten auf: 28. 5:50 (Wunn)Eine erste Kombination von mächtigen Frauenfiguren und Bestattungen haben wir im Neolithikum, das setzt ein um 7000 vor Christus in Anatolien. Aber schon in der späten Eiszeit entstehen Höhlenmalereien – zum Beispiel im Flusstal der Ardeche in der Chauvet-Höhle vor rund 30.000 Jahren: 29. 20:20 (Parzinger) Wunderbare Ausmalungen, in den hinteren Höhlenbereichen nur vorzufinden, nicht vorne, wo das Tageslicht sie sichtbar macht, die man also nur mit künstlichem Licht, mit einer Fackel etwa, betreten kann, wodurch die noch mal ganz anders belebt werden. Auch das kann man sich nicht nur als Kunst vorstellen, das waren Ritualplätze, ganz klar. Besonders imponierend ist der Göbekli Tepe in Südostanatolien, der vor rund 12.000 Jahren entstanden ist: wahrscheinlich ein steinzeitliches Bergheiligtum. 1994 erkannte der Heidelberger Archäologe Klaus Schmidt die Bedeutung der steinzeitlichen Fundstelle. Heute gilt Göbekli Tepe als die früheste Hochkultur der Menschheit – offenbar mit Darstellungen von Gottheiten. Im Prozess der Jahrtausende bilden sich differenzierte religiöse Vorstellungen und Rituale heraus. 30. 24:05 (Parzinger) Es gibt dann gewisse Regeln, wie diese Rituale ablaufen. Mit der Sesshaftwerdung nimmt dieses Religiös-Rituelle zu. Es gibt Orte, die klar für den Archäologen auch nach Jahrtausenden wiederzufinden sind, ob es Kultplätze sind, ob es Hausaltäre sind, und das geht kontinuierlich weiter. Musik Pink Floyd Is there anybody out there? 8 Die Angst mag bei der Entstehung von Religion eine große Rolle gespielt haben; aber noch ein Punkt ist wesentlich: Religion war nie individuell zu denken: 31. 1:25.25 (Blume) Tatsächlich wirkt bei Religiosität zusammen, dass wir einerseits auf existentielle Unsicherheit reagieren, also auf Angst, Furcht vor dem Tod, dem Gefühl, Dinge nicht kontrollieren zu können. Dann suchen wir instinktiv nach Verbündeten, und das können andere Menschen sein, aber auch höhere Wesen, an die wir uns wenden können, die wir anflehen können. Und das wirkt zusammen: das heißt: Religionen erzeugen Netzwerke und Gemeinschaften von Menschen, die an die gleichen höheren Wesen glauben und deswegen intensiv zusammenarbeiten. 32. 24:35: (Schmidt-Salomon) Religion war ein Instrument, um Gruppen fester aneinander zu binden und abzugrenzen gegenüber den Mitgliedern anderer Gruppen. Mit dieser bewussten Interaktion mit anderen Menschen bildeten sich vor Ort religiöse Konzepte heraus – zunächst meist polytheistische. 34. 8:30: (Wunn) Zunächst hatte jedes Dorf, jede Siedlung ihre eigenen übermächtigen Gestalten, die teilweise in der Unterwelt wohnten, teilweise aber auch auf Bergen. Monotheistische Religionen wie der Islam, das Christentum und auch das Judentum hatte sich noch nicht herausgebildet. Michael Schmidt-Salomon: 35. 28:14 (Schmidt-Salomon) Auch das Judentum ging nicht ursprünglich von dem einen Gott aus. Jahwe war ursprünglich ein provinzieller Berggott, der aus politischen Gründen dann zu dem Alleinherrscher gemacht wurde. Er hatte eine richtige Karriere gemacht. Ursprünglich ein Provinzgott, dann war er der Stadtgott Jerusalems und später wurde er dann zum alles beherrschenden einzigartigen Gott. Das war ein langer Prozess. Und die ersten Gottheiten – so der Stuttgarter Michael Blume – waren keineswegs gnädige Götter. Den „lieben Gott“ gab es erst sehr spät: 36. 1:28:20 (Blume) Tatsächlich deutet sehr vieles darauf hin: am Anfang, die höheren Wesen, die haben Tabus bewacht, sie waren nicht unbedingt gut, sie waren furchterregend, man hat sich besser ferngehalten, man hat versucht, sie zu besänftigen. 9 Strafende und allsehende Gottheiten dienten auch – so Religionssoziologen – der hierarchischen Etablierung von festen Gemeinschaften. Und sie trugen bei zur Integration nach innen, zur Abgrenzung nach außen. Religion war schon immer wichtig für die Identitätsbildung: 37. 1:29:45 (Blume) Die klassischen Mythen sind die religiösen. Ich bin Teil des Pilgerweges, der zur göttlichen Wahrheit hinführt. Das ist ein religiöser Grundmythos, den wir in den Religionen haben. (…) Das stiftet Sinn. Michael Blume räumt ein, dass es auch immer wieder nicht-religiöse Versuche der Sinnstiftung und Identitätsbildung gegeben habe: z. B. den Nationalismus oder den Kommunismus. Doch keiner sei langfristig so erfolgreich gewesen wie die religiöse Sinnstiftung. Das sieht auch Michael Schmidt-Salomon so. Er ist Sprecher der religionskritischen Giordano-Bruno-Stiftung. 38. 29:35 (Schmidt-Salomon) Religionen haben offenkundig evolutionsgeschichtliche Vorteile, denn sonst würden sie heute ja nicht mehr existieren. Religionen dienen der Stabilisierung von Gruppen. Es ist nicht entscheidend, ob die Aussagen von Religionen wahr sind, sondern es ist entscheidend, das sich die Religion gegen andere Religionen oder gegen andere Weltanschauungssysteme durchsetzen kann. Michael Schmidt-Salomon geht ebenso wie die Religionswissenschaftlerin Ina Wunn davon aus, dass es auch so etwas wie eine Evolutionsgeschichte der Religionen gibt. Eine Art Selektionsprozess, in dem nur die religiösen Konzepte sich durchsetzen, die den Gesellschaften und den jeweiligen Machthabern Vorteile bringen. 39. 13:05: (Wunn)Judentum, Christentum und Islam waren deshalb so erfolgreich, da darf man sich keinen Illusionen hingeben, weil sie politisch große Vorteile hatten. Das Christentum wurde bald die Religion des römischen Reiches. Doch Religionen müssten noch mehr bieten: 40. 14:05 (Wunn) Religionen müssen das Lebensgefühl einer Zeit wiederspiegeln, und das tun zur Zeit diese beiden monotheistischen Religionen Christentum und Islam in ausgezeichneter Weise. Wobei die Konzepte der Religionsgemeinschaften evolutonsgeschichtlich immer humaner wurden: vom strafenden zum gütigen Gott, vom 10 allmächtigen zum mitleidenden. Der Teufel hat fast ausgedient, die Hölle ist nur noch lauwarm. Vor allem die christliche Religion hat an Schärfe verloren. Musik: Herr, Deine Liebe ist wie Gras und Ufer 41. 1:33:00 (Blume) Man kann sagen: Dort, wo Religion kombiniert wird mit existenzieller Sicherheit, also wo die Leute nicht mehr glauben müssen, weil sie verängstigt sind und strikte Gemeinschaft und Wegweisung brauchen, sondern weil sie es freiwillig tun und als zweites, wenn sie auch gebildet sind, wenn Menschen gelernt haben zu reflektieren, zu hinterfragen, dann wird Religion humanisiert. Als Beispiel führt Michael Blume den so genannten Euro-Islam an, wie er sich an deutschen Universitäten entwickelt. Dennoch gibt es natürlich auch gegenläufige Tendenzen: das krude religiöse Verständnis des Islamischen Staates zum Beispiel. Möglicherweise sind das Rückzugsgefechte, die Anhänger fundamentalistischer Strömungen unternehmen den verzweifelten Versuch, scheinbare Fundamente zu sichern. Musik Pink Floyd Is there anybody out there? Religionswissenschaftler, Biologen, Philosophen sprechen von einer Evolution der Religionen. 46. 9:40 (Illing)Die Theologen sehen da einen Widerspruch, weil sie diese naturalistische Sichtweise nicht teilen, weil sie an Dinge wie Offenbarung glauben, an originale Dokumente von Gottes Wort. Sprecher: Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich. Johannesevangelium Kapitel 14, Vers 6 47. 10:00 (Illing) Solche Dinge kommen nicht vor in diesem evolutionären Ansatz. Der geht andersherum: wir bilden den Gottesgedanken, so wie wir den Freiheitsgedanken bilden oder die Vorstellung einer Seele. (…) Wir bilden diesen Gedanken, und dann prüfen wir das Universum, ob für diesen Gedanken Platz ist. Wenn dieser Platz gefunden wird wie so eine Art ökologischer Nische, dann können wir sagen, dass Universum hat die Möglichkeit vorgesehen, dass wir einen Gottesgedanken pflegen und damit besser leben als ohne. Und dass ist für mich der Kulminationspunkt zu sagen: 11 es ist sinnvoll, von einem Gott zu reden. Nicht durch Offenbarung, sondern weil der Gottesgedanke uns hilft im Leben. Für den Neurobiologen ist Religion vor allem ein Konzept, eine Lebensbrücke. 48. 13:25: (Illing)Ich würde mich nicht als Atheisten bezeichnen, aber gleichzeitig sagen: Gott ist eine Konstruktion, aber eine, die sich großartig bewährt hat. Aber wenn Gott nur eine Konstruktion ist - braucht der Mensch dann heute noch Religion? 49. 15:50: (Wunn) Ich bin der Überzeugung, dass er sie – biologisch gesehen – nicht braucht. Meint die Religionswissenschaftlerin Ina Wunn. 50. 16:05 Solche Staaten wie die Sowjetunion oder der gesamte Ostblock haben ja gezeigt, dass man Religion fast zum Verschwinden bringen lassen kann. Die Frage ist nur: was steht an deren Stelle? Menschen brauchen sicherlich einen Halt, einen Trost, Menschen brauchen Ideologien, möglicherweise kann ein Fußballverein einen gewissen Ersatz leisten, aber es ist wahrscheinlicher, dass andere gefährliche Ideologien aufkommen wie eben auch die Ideologie des Nationalstaats. Dann doch lieber die Religionen? Zumal Ina Wunn davon überzeugt ist, dass sie nicht aussterben, sich aber dramatisch verändern werden: 51. 17:00 (Wunn)wir werden nicht mehr die festgefügten Religionen haben, wie wir sie aus der Vergangenheit gewohnt sind, sondern heute kann sich jeder unter den verschiedenen Sinnanbietern bedienen und wir werden sicherlich irgendwann ein Konglomerat von verschiedenen Glaubensvorstellungen haben, so dass jemand, der sich als Christ bezeichnet, möglicherweise auch an die Wiedergeburt glaubt. Die Religionen verlieren tendenziell ihre strenge Dogmatik; sie müssen sich – zumindest in den westlichen Gesellschaften – öffnen. Und sie werden heute – was Jahrtausende nicht vorstellbar war – individuell gelebt. Wird die Religion damit irgendwann überflüssig? 52. 20:20 (Peetz) Ich als Theologin würde sagen: Nein. 12 Meint die Saarbrückerin Katarina Peetz. 53. 0:25: Weil Religion auf wichtige Fragen von Menschen antwortet. Also auf ihre Fragen: warum sind wir hier? Wohin gehen wir? Was können wir hoffen? Wie können wir uns in unserem Zusammenleben gut verhalten? Das sind für mich ganz wichtige und wesentliche Punkte, wo eine religiöse Haltung einen weiterbringt. Musik Pink Floyd Is there anybody out there? 13
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