Kostenloses Unterrichtsmaterial für die Sekundarstufe II www.zeit.de/schulangebote Diese Arbeitsblätter sind ein kostenloser Service für die Oberstufe und erscheinen jeden ersten Donnerstag im Monat. Sie beleuchten ein aktuelles Thema aus der ZEIT, ergänzt durch passende Arbeitsanregungen zur praktischen Umsetzung im Unterricht. In Zusammenarbeit mit: www.ustinov-stiftung.de Thema im Monat März 2016: Scheitern – und wieder aufstehen Gefrustet, gelangweilt, versetzungsgefährdet: Fast alle Schüler erleben irgendwann eine Phase, in der sie absolut demotiviert sind oder aufgrund persönlicher Probleme in ihren Leistungen gefährlich zurückfallen. Zwei Fallbeispiele zeigen auf, wie man trotz Rückschlägen die Kraft finden kann, den Hebel umzulegen, um noch einmal durchzustarten: Der Topmanager und Schulverweigerer aus der Oberschicht und ein Roma-Junge, für den Bildung der einzige Weg ist, den Teufelskreis der Armut zu durchbrechen. In dieser Unterrichtseinheit erörtern Ihre Schüler selbstreflexiv die Faktoren für ihre schulische Motivation und verfassen ein Interview zum Thema »Scheitern – und wieder aufstehen«. Sie erörtern anhand der Fallbeispiele den Zusammenhang von Schulerfolg und sozialer Herkunft und recherchieren Hintergrundwissen zur Resilienzforschung. Inhalt: 2 Einleitung: Thema und Lernziele 3 Arbeitsblatt 1: Was soll nur aus euch werden? 6 Arbeitsblatt 2: Stärker, als du glaubst 10 Internetseiten zum Thema »ZEIT für die Schule«-Arbeitsblätter | Scheitern – und wieder aufstehen 2 Einleitung: Thema und Lernziele Albert Einstein soll ein schlechter Schüler gewesen sein. Zwar stimmt das nicht – Einstein war ein herausragender Schüler –, dennoch ist dieser Mythos seit Generationen ein Trost für viele, die mit ihren Schulnoten zu kämpfen haben. Denn daraus wird deutlich: Lebenswege müssen nicht immer kohärent sein. Aus miserablen Schülern können Vorstandsmitglieder werden, aus Kindern mit extrem schlechten Startbedingungen BWL - Studenten. Zwei Fallbeispiele, die die Texte in diesen Arbeitsblättern vorstellen, zeigen auf, wie man nach dem Scheitern wieder auf die Beine kommt. Karl-Ludwig Kley bezeichnet sich selbst als Schulversager. Grund hierfür seien seine Auflehnung gegen Autoritäten, aber auch, wie er zugibt, »eine gnadenlose pubertäre Faulheit«. Nachdem er sich durch Schule und Uni gemogelt hatte, war sein Entschluss, eine Familie zu gründen, der Auslöser, diszipliniert für sein Examen zu lernen. Heute ist Kley Chef des Pharmakonzerns Merck. Ist der Topmanager ein Beweis für den Spruch »Man kann alles schaffen, wenn man nur hart genug daran arbeitet«, den man Jugendlichen oft vorhält? Eher nicht. Kleys Vater war Vorstandsvorsitzender der Siemens AG, seine Mutter gehört dem thüringischen Hochadel an. Seit Jahrzehnten kommen 80 Prozent der Spitzenmanager aus den oberen 3,5 Prozent der Bevölkerung, wie Michael Hartmann, Elitenforscher und Professor für Soziologie an der TU Darmstadt, ausführt. Kleys Erfolg als Spitzenmanager war ihm gewissermaßen in die Wiege gelegt, einen schulischen Hänger konnte er sich also leisten. Das gilt nicht für Petri, den Roma-Jungen aus Rumänien. Bei gleicher Leistung hat er so gut wie keine Chance, es jemals so weit zu bringen. Schlechtere Bedingungen für einen Bildungserfolg kann man sich kaum ausmalen: Aufgewachsen ist Petri in einem ärmlichen Dorf in Rumänien, der Vater ist Müllfahrer, die Mutter Putzfrau, kaum einer im Dorf ist über das Grundschulniveau hinausgekommen. Doch Petri ist begabt, und seine Eltern unterstützen ihn. Der einzige Weg nach oben ist Bildung. Petri will als Erster im Dorf das Abi schaffen und dann BWL studieren. Doch ein Todesfall in der Familie wirft ihn zurück, er fällt durch die Abiturprüfung. Dennoch lernt Petri systematisch für einen zweiten Anlauf. Woher schöpft er die Kraft, sich nicht unterkriegen zu lassen? Möglicherweise haben seine Eltern ihm die notwendigen Ressourcen hierfür vermittelt. Als resiliente Persönlichkeit hat Petri die psychische Widerstandskraft, Krisen zu bewältigen. Sein Fallbeispiel führt zur Frage, inwiefern die Resilienzforschung einen Beitrag zur Bildungsgerechtigkeit leisten kann, um Kinder und Jugendliche mit schlechten Startbedingungen zu unterstützen, ihren Lebensweg erfolgreich zu meistern. Arbeitsblatt 1 stellt den Bildungsweg des Merck-Chefs Karl-Ludwig Kley vor. Die Schüler erörtern positive und negative Faktoren für die schulische Leistungsbereitschaft, verfassen einen Text zur eigenen Schullaufbahn und reflektieren ihre persönliche Definition von Erfolg im Leben. Sie verfassen ein geformtes Interview zum Thema und diskutieren den Aspekt der sozialen Herkunft für die spätere berufliche Laufbahn. In Arbeitsblatt 2 beschäftigen sich die Schüler anhand der Geschichte eines Roma-Jungen mit der Chancengleichheit in der Bildung und den Möglichkeiten, trotz problematischer Startbedingungen die selbst gesteckten Ziele zu verfolgen. In Gruppenarbeit stellen sie Hintergrundwissen zur Resilienzforschung zusammen und erörtern im Anschluss, wie sie diese Erkenntnisse für eigene Krisensituationen nutzen können. »ZEIT für die Schule«-Arbeitsblätter | Scheitern – und wieder aufstehen 3 Arbeitsblatt 1 Was soll nur aus euch werden? »Abgetaucht in die Fantasiewelt der Bücher«: Karl-Ludwig Kley ist Chef des Pharmakonzerns Merck – obwohl er erst spät ins Berufsleben startete. Ein Schulversager erzählt, wieso er beim Lernen scheiterte und warum er im Leben doch Erfolg hatte. 5 10 Eigentlich rede ich in der Öffentlichkeit nicht über private Dinge. Doch mein »Familienrat« sagte in diesem Fall: Mach das, vielleicht machen sich Eltern dann nicht mehr verrückt. Denn viele Eltern fordern von ihren Kindern sehr früh große Leistungen und geben ihnen das Gefühl, dass sie mit 18 oder 19 schon Lebensentscheidungen treffen müssten. Das ist falsch. Ich war ein miserabler Schüler und habe mein richtiges Berufsleben erst mit 31 Jahren begonnen – es ist ein sehr erfolgreiches Berufsleben geworden. Wenn ich heute Personalentscheidungen treffe, beeindruckt mich jemand, der Irrwege gegangen ist, mehr als jemand, der mit 17 schon Berater und mit 18 Investmentbanker war. In der Volksschule war ich ein sehr guter Schüler. Doch am Gymnasium ging es nach unten, und ich erreichte in der Mittelstufe einen Tiefpunkt, den ich nie mehr verlassen habe. Beim Elternsprechtag sagte mein Klassenlehrer: »Eigentlich müssten wir Ihren Sohn durchfallen lassen, doch er ist so nett.« Meine Eltern haben nicht widersprochen, waren aber fassungslos. Ich wechselte in München vom Theresien-Gymnasium auf das Wittelsbacher-Gymnasium, aber es wurde nicht besser. Das Abitur habe ich mit einem Schnitt von 3,6 bestanden. 15 20 25 30 Von den Schulfächern mochte ich nur Erdkunde. Heute interessiere ich mich sehr für Geschichte – doch das Fach ging mir damals auf die Nerven. Heute lese ich sehr viel Literatur – doch mit Deutsch konnte man mich jagen. Latein und Griechisch fand ich grauenvoll. Der Höhepunkt des Grauens war jedoch Mathe. Im Abitur habe ich eine Fünf minus geschrieben und bin nur durch eine peinliche mündliche Prüfung noch auf eine Vier gekommen. Später bin ich trotzdem Finanzvorstand geworden, da braucht man ein Gefühl für Zahlen, keine Vektorrechnung. Warum war ich ein so schlechter Schüler? Ich bin ein sehr freiheitsliebender Mensch. Wenn mir jemand eine Anweisung gibt, stelle ich die Stacheln auf. Ich habe die Schule, den Zwang zu lernen gehasst. Ich war sehr verträumt und bin abgetaucht in die Fantasiewelt der Bücher: Enid Blyton, Karl May, deutsche und griechische Sagen. Dann kam eine gnadenlose pubertäre Faulheit. Ich hörte lieber Radio, als Schulaufgaben zu machen. In der Oberstufe war alles andere wichtiger als Leistung: schlaff mit Freunden rumhängen oder beim Musical »Hair« Kulissen schieben und die Schauspieler bewundern. Beim Militär merkte ich zum ersten Mal: Du kannst etwas, wenn du willst, und wurde Jahrgangsbester beim Reserveoffizierslehrgang in Munster. Strategie, Taktik und innere Führung interessierten mich. Plötzlich schrieben die Leute bei mir ab und ich nicht bei ihnen – ein erstaunliches Erlebnis. »ZEIT für die Schule«-Arbeitsblätter | Scheitern – und wieder aufstehen 35 40 45 4 Ich hatte gar nicht vor zu studieren, da ich aufgrund meiner Schulleistungen dachte, dass ich das nicht schaffe. Daher machte ich eine Kaufmannslehre. Doch nach der Lehre dachte ich: Arbeiten ist auch nicht so schön, und verlängerte meine Pubertät durch ein Studium. Ich habe Jura studiert, eher zufällig. Irgendwann redete jeder vom Examen. Unvorbereitet ins Abitur zu gehen – das ging noch. Unvorbereitet ins Examen zu gehen, das ging nicht. Plötzlich packte mich der Ehrgeiz. Ich stellte mir einen Zweijahresplan auf, den ich in Monats- und Tagessegmente aufteilte. Ich hörte erst auf zu arbeiten, wenn das Lernpensum für einen Tag erledigt war, manchmal erst um Mitternacht. Am Ende habe ich mein erstes Examen mit »gut«, mein zweites mit »vollbefriedigend« gemacht. Nach meiner endlosen Ausbildung gab es zwei große, sehr bewusste Entscheidungen. Meine Frau und ich wollten eine Familie gründen. Und ich wollte nicht vor einem langweiligen Berufsleben stehen. Für beide Entscheidungen galt: aufhören zu daddeln, stattdessen Verantwortung übernehmen, diszipliniert sein, mich anstrengen. Und ich habe gemerkt, wie viel Freude Arbeiten macht, Pläne zu schmieden und auch die Freiheit zu haben, sie umzusetzen. 50 Mein Weg zeigt, dass Jugendliche Zeit brauchen. Manche sind früh reif, andere spät. Ich war ein Spätstarter. Eltern sollten ihren Kindern Zeit zum Erwachsenwerden geben und sich nicht wegen schlechter Schulnoten verrückt machen. Protokoll: Manuel J. Hartung, DIE ZEIT Nr. 4/2016, http://www.zeit.de/2016/04/beruf-erfolg-schule-sitzenbleibengeschichten/seite-4 Aufgaben 1. Positive und negative Faktoren für die schulische Motivation zusammentragen und erörtern a. Geben Sie wieder, was den Manager Karl-Ludwig Kley während seiner schulischen Laufbahn besonders demotivierte und welche Ereignisse oder Einstellungen seine Leistungsbereitschaft förderten. b. Notieren Sie drei Faktoren, die Sie selbst in der Schule demotivierend finden, und dann drei Aspekte, die Ihre Leistungsbereitschaft besonders steigern. Sammeln Sie die Notizen, und werten Sie diese im Plenum statistisch aus: Welche Punkte werden besonders häufig erwähnt? Welche Schlussfolgerungen können Sie aus Ihrer Umfrage ziehen • für schulische Strukturen oder Unterrichtsformen • für Ihre persönliche Motivation oder • für familiäre Umstände? »ZEIT für die Schule«-Arbeitsblätter | Scheitern – und wieder aufstehen 5 2. Selbstreflexion: einen Bericht über die eigene Bildungs- bzw. Karrierelaufbahn verfassen a. Zeichnen Sie eine »Fieberkurve« Ihrer gesamten bisherigen Schullaufbahn, in der Sie Höhepunkte und Tiefpunkte visuell erfassen und beschriften. b. Formulieren Sie nach dem Vorbild des Artikels und mithilfe Ihrer »Fieberkurve« eine Darstellung Ihrer eigenen schulischen Laufbahn bis zum heutigen Punkt. c. Vervollständigen Sie Ihre Geschichte nun um einen fiktiven Teil, indem Sie sich vorstellen, Sie würden Ihre Lebensgeschichte kurz vor dem Eintritt der Rente schreiben unter dem Motto: »Warum ich im Leben doch noch Erfolg hatte«. d. Erörtern Sie anschließend im Plenum Ihre halb fiktiven, halb realen Lebensläufe, und tauschen Sie sich über Ihre individuelle Definition von »Erfolg im Leben« aus. 3. Ein geformtes Interview als journalistische Darstellungsform verfassen In dem vorliegenden Artikel handelt es sich um ein sogenanntes »geformtes« oder »gestaltetes« Interview bzw. Protokoll. Hierbei hat der Journalist die Aussagen seines Gesprächspartners sprachlich und inhaltlich überarbeitet, indem er wesentliche Zusammenhänge herausarbeitete, ohne dabei die Aussage des Interviewten zu verfälschen. Die Verschriftlichung der Befragung erfolgt dabei meist in Frage-und-Antwort-Form, kann aber auch als Bericht des Befragten in Ich-Form dargestellt werden. a. Interviewen Sie eine beliebige Person zum Thema: »Scheitern – und wieder aufstehen«. Verschriftlichen Sie das Gespräch in ca. 2.000 Zeichen bzw. einer handschriftlichen DIN-A4-Seite. b. Gehen Sie anschließend mit Ihrem Gesprächspartner Ihr Interview durch, und lassen Sie es von ihm oder ihr autorisieren. Besprechen Sie hierbei, ob Sie die Gedankengänge Ihres Gegenübers erfasst und richtig wiedergegeben haben. c. Stellen Sie ausgewählte Interviews im Plenum vor, und tauschen Sie sich über Ihre Befragungstechnik, Aufzeichnungsformen (digital oder handschriftlich?) und Auswahl der Inhalte aus. 4. Die Bedeutung des Schulerfolgs und der sozialen Herkunft für den beruflichen Erfolg hinterfragen a. Diskutieren Sie das Fazit des Merck-Geschäftsführers Karl-Ludwig Kley am Ende des Artikels: »Eltern sollten ihren Kindern Zeit zum Erwachsenwerden geben und sich nicht wegen schlechter Schulnoten verrückt machen.« b. Erörtern Sie die Selbsteinschätzung Karl-Ludwig Kleys anhand des nachfolgenden Zitats. Sie können hierzu auch die Geschichte von Petri in Arbeitsblatt 2 als Kontrast hinzuziehen. »Als Arbeiterkind kann man es bei Talent und Fleiß manchmal in das gehobene Bürgertum bringen und Rechtsanwalt oder Arzt werden. Was aber nach wie vor selten passiert, ist der Aufstieg in höchste Kreise der Wirtschaft, wenn man nicht in diese Kreise hineingeboren ist. Seit Jahrzehnten kommen vier von fünf Spitzenmanagern aus den oberen 3,5 Prozent der Bevölkerung.« Zitat: Michael Hartmann, Elitenforscher, Professor für Soziologie an der TU Darmstadt Hintergrundinformation: Karl-Ludwig Kleys Vater war Vorstand im Siemens-Konzern und zeitweilig CSU-Bundestagsmitglied, seine Mutter stammte aus dem alten thüringischen Adelsgeschlecht Witzleben. »ZEIT für die Schule«-Arbeitsblätter | Scheitern – und wieder aufstehen 6 Arbeitsblatt 2 Stärker, als du glaubst Ein junger Rumäne will als Erster in seiner Familie das Abitur schaffen. Besteht er die Prüfung, die das Leben ihnen auferlegt? Am Morgen der ersten Prüfung kniet Petri sich vor sein Bett und betet: »Gott, gib mir Weisheit. Hilf mir, die richtigen Antworten zu finden.« […] Sein Vater ist schon aus dem Haus, sein Dienst als Müllfahrer hat mitten in der Nacht begonnen. Seine Mutter umarmt ihn zum Abschied. »Du bist ein kluger Junge, du kannst es schaffen!«, sagt sie. […] Wenn alles gut geht, wird er am Ende der Woche sein Abitur bestanden haben. 5 10 15 20 25 30 35 Petri ist 17 Jahre alt, er gehört zu den Roma und lebt in Budila, einem Dorf in Rumänien, am Rand der Karpaten. Die meisten der kleinen Häuser hier sind mehr als hundert Jahre alt, über die Hauptstraße fahren Pferdewagen, der kleine Bach ist verstopft mit Plastikmüll. Jeder dritte Einwohner ist unter 18. Nur wenige schließen die Schule ab, noch weniger besuchen das Gymnasium in der nahen Stadt Braşov. In diesem Sommer ist Petri der Einzige aus Budila, der die Abiturprüfungen machen wird. In den letzten Jahren hat nur eine Jugendliche aus dem Dorf das Abitur bestanden. Sie ist da, wo Petri hinwill: an der Universität. Als Petri aufs Gymnasium kommt, ist er dort der einzige Rom. Wenn seine Mutter die Treppen von Mietshäusern putzt, in Restaurants Geschirr spült oder dort 16 Stunden am Herd steht, sagt sie sich immer wieder: Meine Kinder sollen es einmal besser haben als ich. Auch Petris Geschwister, zwei Jungen und ein Mädchen, eifern ihm nach. Es ist ein Aufstieg, der gerade Roma selten gelingt. Keine andere Minderheit in Europa wird so systematisch diskriminiert. In Rumänien leben 90 Prozent der Roma in Armut, ein Viertel sind Analphabeten, von den Kindern besucht ein Viertel keine Schule. Oft werden sie in separaten Klassen unterrichtet, was zu schlechteren Ergebnissen führt. Nur zehn Prozent haben wie Petri eine weiterführende Schule besucht, und nur ein Prozent schafft es an die Universität. Petris Eltern wollen, dass ihre Kinder diesen Armutskreislauf durchbrechen, in dem auch ihre Familie gefangen ist. Petri will Betriebswirtschaft studieren und später Manager werden. Seine Schule hat eine wirtschaftliche Ausrichtung, bei einem Planspiel musste seine Klasse eine imaginäre Firma aufbauen. Petri war eine Zeit lang Geschäftsführer, danach bekam er ein Lob von seinem Lehrer. Um BWL zu studieren, braucht Petri das Abitur, und um das zu schaffen, geht er zweimal in der Woche nachmittags zu einer Hausaufgabenhilfe in Budila. Zu Hause, wo er sich Zimmer und Schreibtisch teilt, hat er nicht genug Ruhe zum Lernen. Sein Problem ist Mathematik. Vor allem bei der Integralrechnung weiß er oft nach den ersten Schritten schon nicht mehr weiter. Juliana, eine Sozialarbeiterin, hilft ihm. Sie arbeitet für FFR, eine amerikanische Hilfsorganisation, Firm Foundations Romania, die sich um die Kinder aus dem Dorf kümmert. FFR bezahlt Petri auch die Monatskarte für den Zug von Budila nach Braşov, damit er dort die Schule besuchen kann. […] »ZEIT für die Schule«-Arbeitsblätter | Scheitern – und wieder aufstehen 40 45 50 7 Petri will es schaffen Petris Eltern sind im Roma-Viertel des Dorfs aufgewachsen. Die Häuser dort sind aus Holz, auf dem Dach liegt oft nur Wellblech. Nicht selten sind es zehn Personen, die in einem Raum kochen, essen, schlafen. Die Toilette ist ein Verschlag auf der Wiese. Petris Vater musste nach Abschluss der Grundschule zu Hause bleiben, um auf das Pferd und die zwei Ziegen, den Schatz seiner Familie, aufzupassen. Seine Mutter ging nur zwei Jahre zur Schule, dann zog sie ihre jüngere Schwester groß. Mit 13 verliebte sie sich in Petris Vater. Mit 17 bekam sie ihr erstes Kind, Petri. Mit zwanzig war sie vierfache Mutter. Lesen hat sie erst mit ihren Kindern gelernt. Ihr Mann und sie haben beide Arbeit, das ist selten in Budila. Als Petri fünf war, zog die Familie in den besseren Teil des Dorfs. Petris Vater baute ein winziges Haus, anfangs lebten sie alle in einem Raum, später kam noch die Küche dazu, in der die Eltern bis heute auf einer Couch schlafen. Ein Unfall bei Braşov Ende Mai steht Petri auf dem Hof seiner Schule und hört die Ansprache seines Schuldirektors. Petri trägt einen Diplomhut und eine gelbe Schärpe. Es ist der letzte Schultag. [...] Sein Endspurt hat sich gelohnt, sein Notendurchschnitt am Ende des Schuljahrs liegt bei 7,86. In Rumänien ist Zehn die beste Note. Er hat das Schuljahr bestanden, damit ist er zum Zentralabitur zugelassen. 55 Doch noch hat er es nicht geschafft: In vier Wochen beginnen die Abiturprüfungen. Seine schriftlichen Fächer sind Rumänisch, Mathematik und Geografie. Vor allem Mathe macht ihm Angst. Drei Stunden will er jetzt jeden Tag nur Mathe lernen. Es muss irgendwie klappen. 60 Eine Woche vor der Prüfung wacht Petri morgens früher auf als sonst. Seine Tante Maria, die jüngere Schwester seiner Mutter, hat ihm einen Sommerjob in einem Döner-Restaurant in der neuen Mall in Braşov besorgt. […] Seine Tante hat ihm angeboten, ihn mit dem Auto mitzunehmen, jemand aus dem Dorf will sie fahren. Aber als Petri so früh wach ist, beschließt er, den Zug zu nehmen. 65 Als er um Viertel nach acht im Imbiss ankommt, ist seine Tante noch nicht da. Um zwanzig nach acht ruft er sie an und erreicht nur die Mailbox. Um halb zehn, als Petri gerade das Fleisch auf den Spieß steckt, klingelt sein Handy. Sein Vater ist dran und fragt ihn: »Geht es dir gut?« [...] Dann erzählt sein Vater, dass es einen Unfall auf der Straße von Budila nach Braşov gegeben hat. Das Auto, mit dem seine Tante unterwegs war. Zwei Personen sind tot. Aber sie wissen nicht, wer. […] Petri fährt ins Krankenhaus. Seine Eltern sind schon da. Seine Tante ist tot. 70 75 Was wäre gewesen, wenn, fragt Petri sich immer wieder in den Stunden, in den Tagen danach. Was wäre gewesen, wenn ich mitgefahren wäre? Das Begräbnis drei Tage später ist das größte, das es seit Langem in Budila gegeben hat. Seine Tante war sehr beliebt. […] Petri und seine Familie wachen, so ist es Tradition, zwei ganze Nächte am Grab. An die Prüfungen denkt er überhaupt nicht mehr. Erst am Sonntag darauf, einen Tag vor der Rumänischprüfung, schafft er es wieder, sich mit seinen Büchern zu beschäftigen. »ZEIT für die Schule«-Arbeitsblätter | Scheitern – und wieder aufstehen 80 85 90 8 Das Matheabitur Am Dienstag, einen Tag nach der Rumänischprüfung, sitzt Petri mit der Sozialarbeiterin Juliana im Unterrichtsraum von FFR. […] Sie macht sich Sorgen. »Der Unfall hat ihn mitgenommen«, sagt sie später, »das merke ich. Er kann sich nicht konzentrieren. [...] Das war vorher viel besser.« Bei der Rumänischprüfung am Tag zuvor hat Petri einen Flüchtigkeitsfehler gemacht. […] Die erste Aufgabe bestand aus Grammatik- und Wortschatzfragen. Für die dritte Aufgabe musste er über die Charaktere in einem Roman eines rumänischen Autors schreiben. Aber als er die Treppe zum Schulhof runterlief, durchfuhr ihn plötzlich ein Schock. [...] Er hatte über das Buch eines anderen Schriftstellers geschrieben, dessen Titel ganz ähnlich klingt. In Mathe und Geografie darf er sich jetzt keinen Ausrutscher mehr leisten. Eine Fünf braucht er, um zu bestehen. Er sitzt in Raum fünf an Tisch fünf, und er hofft, dass ihm das Glück bringt. Von den achtzehn Aufgaben der Matheprüfung schafft Petri elf. Vielleicht hat es gerade so gereicht. Vielleicht ist er durchgerasselt. Am Freitag ist Petri niedergeschlagen. Auch die Geografieprüfung war schwerer als erwartet. […] Es ist vorbei. Jetzt kann man nichts mehr ändern. Jetzt beginnt das Warten, Mittwoch kommen die Ergebnisse. 95 Als endlich Mittwoch ist, trifft er sich mit Klassenkameraden in Braşov. Sie gehen zur Schule, dort hängen die Ergebnisse aus. Auf der langen Liste sucht Petri seinen Namen. Er findet ihn und sieht die Zahlen dahinter. Rumänisch 5,2. Geografie 5,0. Mathe 1,4. Petri ist wie betäubt. Er ist nicht nur durchgefallen, die Ergebnisse sind auch noch schlechter, als er es in den pessimistischsten Momenten befürchtet hat. Er ist enttäuscht von sich selber. Und er weiß, dass er seine Eltern enttäuscht hat. 100 Ein paar Tage später wird Petri 18 Jahre alt. Er feiert nicht. Er hat zu nichts Lust. Jetzt ist er offiziell erwachsen. Erwachsensein bedeutet eigentlich die Freiheit, seine Träume zu verwirklichen. Manchmal wünscht er sich, er könnte Kind bleiben. Seine Träume vom Studium scheinen jetzt weiter weg denn je. 105 110 Petris zweite Chance Anfang August, drei Wochen nach Bekanntgabe der Ergebnisse, hat Petri keine freie Minute. […] Er hat sich dazu entschieden, die Rumänisch- und die Mathematikprüfung zu wiederholen. Er lernt jetzt fünf bis sechs Stunden am Tag, und dreimal die Woche unterrichtet ihn ein Mathe-Nachhilfelehrer. Petri bezahlt ihn selbst, von dem Geld, das er im Imbiss verdient. […] Petri spürt, dass er mit dem Nachhilfelehrer Fortschritte macht. Er kann sich wieder besser konzentrieren. Und er ist stolz, dass er selbst für sich sorgen kann, Verantwortung übernimmt. Es ist, als habe er Ja zum Erwachsensein gesagt, und das fühlt sich trotz allem gut an. Ende August sind die Prüfungen. Aber für Juliana hat er die wichtigste Prüfung schon bestanden: Er hat nicht aufgegeben. »Seine Niederlage hat ihn nicht kleingekriegt«, glaubt sie, »sondern einen wichtigen Schritt vorangebracht.« Wenn er das Abitur in diesem Jahr nicht schafft, will er weiter im Restaurant arbeiten und lernen. Und es im nächsten Jahr noch mal versuchen. Heike Faller, Anna Kemper und Nicola Meier, ZEITmagazin Nr. 33 /2015, http://www.zeit.de/zeit-magazin/2015/33/ teenager-europa-zukunft-pruefung (gekürzt) »ZEIT für die Schule«-Arbeitsblätter | Scheitern – und wieder aufstehen 9 Aufgaben 1. Scheitern: persönliche und soziale Problemlagen für den Bildungserfolg erörtern a. Stellen Sie im Einzelnen dar, welche sozialen und persönlichen Schwierigkeiten Petri überwinden muss, um seinen Traum vom BWL-Studium wahr zu machen. b. Erstellen Sie eine Übersicht von individuellen, familiären, ethnischen oder sozialen Umständen, die die Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen beeinträchtigen. Definieren Sie, worin die einzelnen Barrieren gegenüber Schülern mit positiver Schulerfolgsprognose bestehen. c. Diskutieren Sie anhand dieser Liste, welche Maßnahmen Ihre eigene Schule ergreift, um die Integration und Chancengleichheit von Schülern zu fördern. Beurteilen Sie auch, wie erfolgreich diese umgesetzt werden. Informieren Sie sich im Vorfeld über unterschiedliche Beratungs- und Unterstützungsangebote für diese Schülerkreise. 2. Wieder aufstehen: Faktoren identifizieren, um Kraft zum Durchhalten zu finden a. Legen Sie dar, welche Unterstützung von außen und welche innere Einstellung Petri dabei helfen, trotz Niederlagen und schlechter Startbedingungen an seinem Ziel festzuhalten. b. Notieren Sie drei Situationen in Ihrem Leben (schulisch oder privat), in denen Sie gescheitert sind. Rekapitulieren Sie, wie sich dieses Scheitern im weiteren Verlauf auf Sie ausgewirkt hat: • Sind Sie am Ende gestärkt oder geschwächt aus der Situation hervorgegangen? • Wenn Sie aufgegeben haben: Was hat Ihnen gefehlt, damit Sie weitermachen konnten? • Falls Sie Ihr Vorhaben weiterverfolgt haben: Was hat Ihnen die Kraft dazu verliehen, durchzuhalten? • Falls Sie sich nochmals in einer ähnlichen Situation befinden würden: Was würden Sie gegebenenfalls anders machen? Erörtern Sie im Plenum Ihre Erfahrungen, und überlegen Sie, welche Voraussetzungen am wichtigsten sind, um Krisen möglichst gut zu überstehen. 2. Hintergrundwissen zur Resilienzforschung zusammentragen und erörtern »Resilienz« bezeichnet die seelische Widerstandskraft gegen Krisen oder die Fähigkeit, diese zu meistern. Manche Menschen entwickeln nach Schicksalsschlägen Depressionen oder eine posttraumatische Belastungsstörung. Andere, wie Nelson Mandela oder Malala Yousafzai, können aus existenziellen Notlagen relativ unbeschadet herausgehen oder sogar zusätzliche Stärke gewinnen. Bilden Sie Arbeitsgruppen, und erarbeiten Sie eine Präsentation zu unterschiedlichen Themenbereichen der Resilienzforschung: Gruppe a) Vorstellung von fünf Menschen, die eine Krisensituation gut gemeistert haben: Was hat ihnen nach eigener Aussage die Kraft zum Weitermachen gegeben? Gruppe b) Voraussetzungen für die Entwicklung einer seelischen Widerstandskraft Gruppe c) Ansatzpunkte für Resilienztrainingskonzepte Gruppe d) Kritik an der populärwissenschaftlichen Resilienzbegeisterung und dem Resilienz Berufscoaching »ZEIT für die Schule«-Arbeitsblätter | Scheitern – und wieder aufstehen 10 Internetseiten zum Thema: Scheitern – und wieder aufstehen ZEIT ONLINE: Die Kraft aus der Krise http://www.zeit.de/2015/45/resilienz-forschung-krisenbewaeltigung ZEIT ONLINE: »Eine Krise ist ein produktiver Zustand« http://www.zeit.de/karriere/beruf/2015-02/resilienz-mitarbeiter-unternehmen ZEIT ONLINE: Die Straße der Ungerechtigkeit – Die geteilte Straße http://www.zeit.de/2013/28/bildungsungerechtigkeit-bildungspolitik Friedrich-Schiller-Universität Jena: Chancenspiegel http://www.chancen-spiegel.de/chancenspiegel.html planet wissen: Resilienz http://www.planet-wissen.de/gesellschaft/psychologie/glueck/pwieresilienzwasunsstarkmacht100.html Deutschlandradio Kultur: Resilienz – die Widerstandskraft der Psyche http://www.deutschlandradiokultur.de/sich-biegen-statt-brechen-resilienz-die-widerstandskraft.976. de.html?dram:article_id=334156 medico international: Dossier Resilienz https://www.medico.de/resilienz Das kostenlose ZEIT-Angebot für Schulen Die Unterrichtsmaterialien für das Schuljahr 2015 /2016 »Medienkunde« und »Abitur, und was dann?« können Sie kostenfrei bestellen. Lesen Sie auch drei Wochen lang kostenlos die ZEIT im Klassensatz! Alle Informationen unter www.zeit.de/schulangebote IMPRESSUM Projektleitung: Katja Grafmüller, Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG Projektassistenz: Anna Hubmann, Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG Didaktisches Konzept und Arbeitsaufträge: Susanne Patzelt, Wissen beflügelt
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