Reading, Thinking, Looking

DEUTSCHLANDFUNK
Redaktion Hintergrund Kultur / Hörspiel
Redaktion: Ulrike Bajohr
Feature
„Reading, Thinking, Looking“ –
Eine Begegnung mit der Schriftstellerin Siri Hustvedt
Von Janko Hanushevsky
Produktion: DLF/BR/NDR 2016
O- Ton
Siri Hustvedt
Sprecherin
Übersetzungen & Essays: Leslie Malton
Sprecher
Autorentext: Stefko Hanushevsky
Regie & Komposition: Merzouga
Urheberrechtlicher Hinweis
Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt
und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein
privaten Zwecken genutzt werden.
Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige
Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz
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©
- unkorrigiertes Exemplar -
Sendung: Freitag, 04. März 2016, 20.10 - 21.00 Uhr
1
MUSIK
- O-TON/MUSEUM: RICHTER
(Museumsgeräusche, Schritte, Stimmen).
AUTOR
Have you had a chance to see the Gerhard Richter-Dom-window?
HUSTVEDT Yes, I’ve seen it. In fact I spent almost an hour with the window. (lacht)
And it is really quite magical, I have to say. You know, the idea, which is
so simple, these panels of colored squares, but the effect is quite really
close to a kind of sacred effect. I don’t know how he did it, but it’s
wonderful.
(Schritte, Stimmen).
-> O-TON: INTRODUCTION
HUSTVEDT My name is Siri Hustvedt, I am an American writer who lives in New
York City, and I write essays, novels, and I am a person who is living an
adventure of ongoing curiosity about why things are the way they are,
and why we are the way we are.
ANSAGE
Reading, Thinking, Looking. – Eine Begegnung mit der
Schriftstellerin Siri Hustvedt
Von Janko Hanushevsky
-> O-TON: ON READING
HUSTVEDT You know, we all have this inner speech, we narrate our own lives, we
walk around in the world with little sentences in our heads that are
ongoing, but when you’re reading, someone else’s narration is
supplanting that inner speech, and I do think that these other narrators
do create a kind of expansion of consciousness.
So in some way reading is the most intimate place for me in my life.
2
ÜBERSETZUNG
Wissen Sie, wir alle haben eine innere Stimme und erzählen uns
unser Leben. Wenn wir uns in der Welt bewegen, laufen in unseren
Köpfen dauernd kleine Sätze ab. Aber sobald man etwas liest, wird
die innere Stimme durch die Erzählung eines anderen ersetzt. Ich
glaube, dass diese anderen Erzähler wirklich unser Bewusstsein
erweitern.
MUSIK
AUTOR
Als Teenager wohnte ich mit meiner Familie in einem umgebauten
Bauernhof auf dem Land. Im Morgengrauen standen wir auf, um
eine halbe Stunde mit dem Postbus zur Schule in der nächsten
Stadt zu fahren. Es gab kaum Gelegenheit auszugehen, deshalb
gehörten meine Abende dem Musikhören und dem Lesen.
Ich rauchte am offenen Fenster Gauloises und las die „New York
Trilogie“ und „Mond über Manhattan“ von Paul Auster. Er war der
erste Schriftsteller, den ich gelesen habe, dessen Bücher nicht im
Regal meiner Eltern standen.
Dabei hörte ich Tom Waits und träumte mich in eine Welt aus Glas
und Beton, in der es verrauchte Bars geben musste und zufällige,
schicksalhafte Begegnungen mit Fremden zum Klang eines
verstimmten Klaviers.
-> O-TON: FIRST ENCOUNTER WITH THE WORLD OF THOUGHT
HUSTVEDT Well, it’s funny to use the word “intellectual” because it’s hard to exactly
know what that means. But there is something that happens to children
and that happens neurobiologically I think somewhere between the age
of 11 and 14, probably depending on who you are and epigenetics, but
when I was 11 my mother gave me two books of poetry, Blake, “Poems
of Innocence and Experience” and a selected Emily Dickinson. And
those poems turned my world upside down. I remember that vividly. I
always loved to read, and one of my great earlier books was “Alice in
Wonderland”, which is a strange book. And that might have been the
book that introduced me to lands of thought. Lewis Carroll, of course,
was a mathematician in his other life, and “Alice in Wonderland” is full of
strange ideas that are nevertheless accessible as a child, so that might
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have been my first encounter with, I don’t know, the World of Thought, if
you will.
ÜBERSETZUNG
Das Wort „intellektuell“ zu verwenden, fühlt sich komisch an, weil
man nicht genau weiß, was es eigentlich bedeuten soll. Aber es
passiert neurobiologisch etwas bei Kindern zwischen dem elften
und dem vierzehnten Lebensjahr. Als ich elf war, schenkte meine
Mutter mir zwei Gedichtbände. William Blakes „Lieder der
Unschuld und Erfahrung“ und ausgewählte Gedichte von Emily
Dickinson. Und diese Gedichte stellten meine Welt auf den Kopf.
„Alice im Wunderland“ war vielleicht das Buch, das mir einen
Zugang zur „Welt der Gedanken“ eröffnet hat. Lewis Carroll war ja
Mathematiker in seinem anderen Leben, und „Alice im
Wunderland“ ist voller seltsamer Ideen, die für Kinder trotzdem
zugänglich sind.
AUTOR
Man muss sich das Selbst als ein Kontinuum vorstellen – als eine
in der Zeit ablaufende, zusammenhängende Geschichte.
ESSAY
We are constantly becoming ourselves.
(Hustvedt 2006: 161)
-> O-TON: I GREW UP IN A PROVINCIAL TOWN. IDEA OF AN “ELSEWHERE”
HUSTVEDT I grew up in a provincial town, 10.000 people, 8.000 when I was a child,
and I had a Norwegian mother, I think this made a huge difference,
because I grew up in a household where two languages were spoken,
and my mother was an import from Europe. My father, on the other
hand, grew up on an impoverished farm, not very far away from our
house, ended up getting a PhD after serving as a soldier in the
Philippines and New Guinea during the second world war. He was in
combat, and I think it shaped him in some way deeply, as did the
experience of depression-poverty in the 1930ies in his boyhood. So
those aspects of my life where common to many people, but I think the
two languages in my little town, that wasn’t very common, having a
mother who was a true immigrant, not just a grandparent or a greatgrandparent. So that did shape me, you know, it gave me the idea of an
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“elsewhere”, and you can’t be entirely provincial if you have in your
imagination always the idea of somewhere else.
ÜBERSETZUNG
Ich bin in einer Kleinstadt aufgewachsen. 8000 Einwohner in
meiner Kindheit. Ich habe eine norwegische Mutter, in unserer
Familie wurden zwei Sprachen gesprochen. Mein Vater ist auf
einer verarmten Farm in der Nähe unseres Hauses aufgewachsen
und machte seinen Doktor, nachdem er im 2. Weltkrieg in
Südostasien gekämpft hatte.
Die Erfahrung an der Front und die Armut seiner Kindheit haben
ihn tief geprägt. Krieg und Armut haben bei uns viele erlebt, aber
die Zweisprachigkeit und eine Mutter, die eine echte Immigrantin
ist, das war in unserem Städtchen ungewöhnlich. Das hat mich
geprägt, es hat mir die Idee eines „Anderswo“ eingepflanzt. Man
kann nie durch und durch provinziell sein, wenn man immer diese
Vorstellung von einem „Anderswo“ hat.
MUSIK
AUTOR
Mein Vater wurde in den USA geboren und wuchs in einer
ukrainischen Immigranten-Community an der Ostküste auf. Die
Sehnsucht nach einem „Anderswo“ führte ihn als jungen Mann
nach Europa, bis an die Grenze des Eisernen Vorhangs. Ein
Semester sollte er in Österreich studieren. Er lernte meine Mutter
kennen und blieb.
Die amerikanische Staatsbürgerschaft gab er mir und meinen
Brüdern weiter, genauso wie die Sehnsucht nach dem
„Anderswo“.
Jazz und amerikanische Literatur waren Projektionsflächen meiner
jugendlichen Sehnsucht nach einem Weg aus der von
Obstbäumen gesäumten Idylle hinaus in die Welt. Ich spielte
Basketball, während alle anderen Fußball spielten, sah die
Hollywood-Actionfilme, die alle anderen sahen, im Original und
sprach in der Schule Englisch mit amerikanischem Akzent.
Im Sommer nach dem Abitur arbeitete ich drei Monate lang jeden
Tag, sparte mein ganzes Geld, und im Oktober hatte ich genug
beisammen, um nach Amerika zu fliegen.
Ich wollte Verwandte besuchen in Rhode Island, in Boston und in
Florida. Am meisten freute ich mich auf den Besuch bei einem
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Cousin meines Vaters in New York. Er war ein erfolgreicher
Geschäftsmann und lebte mit seiner Frau in einem echten Brown
Stone in Brooklyn, Park Slope.
Nun hatte mein „Anderswo“ eine konkrete Adresse.
-> O-TON: LIVING IN NORWAY
HUSTVEDT I lived in Norway three times. For a period of months when I was only
four, for an entire year when I was twelve, turned thirteen, and then I
went back alone and took the last year of Gymnasium in Norway, so I
was seventeen, turned eighteen, and I lived with my aunt and uncle.
ÜBERSETZUNG
Dreimal habe ich in Norwegen gelebt. Ein paar Monate lang als ich
erst vier war, mit zwölf ein ganzes Jahr.
ESSAY
Im Laufe jener Monate in Norwegen, als ich vier und meine
Schwester Liv erst zweieinhalb Jahre alt war, vergaßen wir das
Englische. Zurück in Minnesota, fiel es uns wieder ein, und prompt
vergaßen wir das Norwegische. (...)
1972 kehrte ich nach Norwegen zurück und besuchte in Bergen ein
Jahr lang das Gymnasium. (...) Ich lebte bei meiner Tante und
meinem Onkel außerhalb der Stadt und fuhr mit dem Bus zur
Schule. Irgendwann in den ersten Wochen meines Aufenthalts
hatte ich einen Traum. An seinen Inhalt kann ich mich nicht
erinnern, aber der Traum verlief norwegisch mit englischen
Untertiteln. Ich werde an diesen Traum immer als an einen
Schwebezustand denken. Sein filmischer Code drückte genau
meine Stellung zwischen zwei Kulturen und zwei Sprachen aus.
(Hustvedt 2000: 13)
6
AUTOR
Ich fuhr mit dem Greyhound nach Manhattan. Meine Tante wartete
an der Penn Station schon auf mich. Beim letzten Mal, als wir uns
gesehen hatten, war ich zehn. Wir kannten einander kaum.
In dem gelben Taxi, das uns über die Brooklyn Bridge brachte,
hielten wir nach bester amerikanischer Manier Small Talk.
- Es wird dir bestimmt gefallen in Brooklyn, sagte meine Tante.
Dort leben viele Künstler, Musiker und Regisseure.
- Ich weiß, entgegnete ich, mein Lieblingsschriftsteller kommt von
dort.
- Wirklich? Wer ist das?, fragte sie.
- Paul Auster. Kennst du ihn?
- Ich habe ehrlich gesagt noch kein Buch von ihm gelesen, sagte
sie, aber mein Hund hasst seinen Hund. Paul Auster und seine
Frau Siri sind unsere Nachbarn. Sie wohnen zwei Türen weiter.
MUSIK
- O-TON/MUSEUM: ATMO (Gespräche über einzelne Bilder, Schritte, Lachen)
über Musik
ESSAY
Ich habe lebhafte Erinnerungen an einige Bücher. Romane nehmen
in meiner Erinnerung oft eine bildhafte Form an; ich sehe Emma
Bovary auf dem Weg zur Apotheke mit geröteten Wangen und vom
Wind aufgelöstem Haar einen grasbewachsenen Hügel
hinunterlaufen. Das Gras, die Wangen, der Wind stehen nicht im
Buch. Ich habe sie selbst geliefert. Philosophie präge ich mir
normalerweise nicht in Bildern, sondern in Wörtern ein, obwohl ich
für Kierkegaard zum Beispiel Bilder geformt habe, weil er ein
Philosoph und Romancier, Denker und Geschichtenerzähler ist.
Ich sehe Victor Eremita, den pseudonymen Herausgeber von
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Entweder-Oder, mit seinem Beil, wie er das Möbelstück
zertrümmert, in dem zwei Manuskripte versteckt waren.
(Hustvedt 2012: 182)
-> O-TON: KIERKEGAARD ACROSS THE CREEK
HUSTVEDT Way before I read Kierkegaard, I knew about Kierkegaard. We lived
outside of that little town Northfield, Minnesota, and behind the house
my parents built, was a creek, a creek I loved. Just on the other side of
the creek and up a steep embankment another family lived, and it was
Howard and Edna Hong. Those two people are still regarded as the
translators into English of Kierkegaard. So my entire childhood when I
was playing with the Hong-children and going in and out of that house,
especially when I was very young, I would see the huge pile of papers
on Edna’s desk. It’s interesting, you know, the man is usually given
credit, but I think a great deal of the hard work on that translation was
done by Edna. Her husband Howard Hong was the professor of
Philosophy, and I am sure he did significant editing and really
understood what Kierkegaard was talking about to the degree that
anyone can understand what Kierkegaard is talking about. But yes,
Kierkegaard was actually part of my childhood, and no doubt it
influenced my beginning to read him when I was still quite young, and I
have been reading him ever since.
ÜBERSETZUNG
Lange bevor ich Kierkegaard las, wusste ich von ihm. Wir wohnten
am Rande dieser Kleinstadt, Northfield, Minnesota, und hinter
meinem Elternhaus gab es einen Bach, den ich sehr liebte. Am
anderen Ufer lebte die Familie Hong. Howard und Edna Hong
gelten auch heute noch als die Übersetzer von Kierkegaard ins
Englische. Immer wenn ich mit den Hong-Kindern spielte, sah ich
diesen riesigen Papierstapel auf Ednas Schreibtisch.
Interessanterweise wird das Werk immer eher dem Mann
zugesprochen. Howard Hong war Professor für Philosophie. Er hat
die Ausgabe maßgeblich ediert und hat wirklich verstanden,
worüber Kierkegaard spricht, falls überhaupt jemand verstehen
kann, worüber Kierkegaard spricht. Aber den Großteil der harten
Übersetzungsarbeit hat Edna geleistet. Ja, Kierkegaard war ein Teil
meiner Kindheit, mit fünfzehn zog ich „Furcht und Zittern“ aus
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dem Bücherregal meiner Eltern, eine verstörende Lektüre, und ich
habe seither nie aufgehört, ihn zu lesen.
MUSIK
- O-TON/MUSEUM: SPATIAL AGENCY BIAS
HUSTVEDT (Museumsatmo, Schritte) You know, there is this weird thing called “The
Spatial Agency Bias”, do you know about this? I’ve known about it only
for maybe a year. I was working on a paper about memory and art, and
it turns out that in western painting the most important figure is almost
always to the left, and the lesser figure is to the right. Now initially they
thought maybe this was about brain-hemispheres, you know, we have
left and right, and so on. They realized for example Adam and Evepaintings, Adam is always in the left, you know, the important guy, and
Eve is usually on the right. Then they discovered that it’s about reading.
We read from left to right. And that pre-literate children do not have this
bias, and Arabic speakers have it in reverse, because they’re reading in
the other direction. This shows you, you know, what we were talking
about earlier about habit, that the habit of literacy is actually orienting us
in pictorial space.
ÜBERSETZUNG
Wissen Sie, es gibt da so eine komische Sache, die man „Spatial
Agency Bias“ nennt. Wissenschaftler haben herausgefunden, dass
sich in westlicher Malerei die wichtigste Figur fast immer links auf
dem Bild befindet. Adam steht zum Beispiel immer links von Eva.
Zuerst dachte man, es hat etwas mit den Gehirnhälften zu tun, aber
dann stellte man fest, dass es mit dem Lesen zusammenhängt.
Analphabeten und Kinder zeigen diese unbewusste
Voreingenommenheit nicht, und in arabischen Ländern, wo man
von rechts nach links liest, ist die Anordnung der Figuren genau
umgekehrt. Die Tatsache, dass wir lesen gelernt haben, orientiert
uns also auch im Bildraum.
-> O-TON: THE NATURE OF PERCEPTION
HUSTVEDT My last book is really about perception, “The Blazing World” is about
perception, and about the ordinary biases that we all have. It’s not that
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there are biased people and unbiased people. There are degrees of
bias only, and almost all of us typecast the world. And this goes way
back to the wonderful German biophysicist Hermann von Helmholtz,
who wrote a beautiful thesis on objects, and he talks about unconscious
perceptual inference. So he was using the idea of the unconscious as
where many philosophers and scientists before Freud - Freud drew on
Helmholtz - to talk about exactly this:
That we see the world in patterns. And those patterns create
expectations. And those expectations are essential to how perception
works. Now this idea was there in the literature, but it didn’t become a
roaringly significant idea until rather recently. There are a lot of
neurobiologists now working on exactly this. How do we see things?
Well, the brain seems to be a predictive organ, and the way it predicts
things is through the past. Helmholtz, all over again.
ÜBERSETZUNG
Mein aktuelles Buch, „Die gleißende Welt“, ist ein Buch über
Wahrnehmung. Wir haben alle unsere Vorurteile. Es gibt nicht
Menschen mit Vorurteilen und Menschen ohne. Es gibt nur
Abstufungen von Voreingenommenheit, wir alle typisieren die
Welt. Der wunderbare deutsche Biophysiker Hermann von
Helmholtz hat noch vor Freud das Unterbewusste herangezogen,
um genau das zu beschreiben:
Wir sehen die Welt in Mustern. Diese Muster erzeugen
Erwartungen. Und diese Erwartungen spielen eine zentrale Rolle in
unserer Wahrnehmung. Heute beschäftigen sich zahlreiche
Neurobiologen genau mit diesem Phänomen. Wie sehen wir die
Welt? Das Gehirn scheint ein prognostizierendes Organ zu sein,
und es erstellt seine Voraussagen auf Grundlage der früheren
Erfahrungen. Helmholtz!
MUSIK
AUTOR
Herbst 1996, Indian Summer in New York. Die Türme des World
Trade Center glitzern in der Sonne, und Paul Auster ist noch kein
weltberühmter Autor. Siri Hustvedt hat gerade ihren zweiten
Roman veröffentlicht und steht am Anfang ihrer künstlerischen
Laufbahn.
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Eines Abends bringt meine Tante einen Flyer mit, auf dem steht,
dass Hustvedt aus ihrem neuen Roman lesen wird, in einer kleinen
Buchhandlung um die Ecke.
- Wer ist Siri Hustvedt? Ich habe den Namen noch nie gehört.
- Paul Austers Frau. Ich plaudere öfter mit ihr und habe ihren
ersten Roman gelesen. Sie ist toll!
Mit klopfendem Herzen gehe ich hin. Wie oft habe ich mir dieses
Brooklyn, das Brooklyn der Schriftsteller, der Intellektuellen und
Musiker ausgemalt, während ich in meinem Schaukelstuhl saß,
und der Mond über den Marillenbäumen stand?
Und nun begegnet meine Vorstellung der Wirklichkeit: Ich sitze in
einem echten Buchladen, neben mir gluckert der Heizkörper, der
Klappstuhl ist unbequem, ich weiß nicht, wohin mit meiner Jacke.
Die großen Fenster sind beschlagen und lassen die Lichter der
Großstadt nur verschwommen herein. Brooklyn zeigt sich von
seiner gemütlichen Seite. Zwanzig, dreißig Menschen sind
gekommen, viele scheinen einander zu kennen.
Und an einem schmalen Tisch sitzt eine gut gelaunte, schlanke
Frau Anfang vierzig und liest aus ihrem Buch „Die Verzauberung
der Lily Dahl“. Vor der ersten Stuhlreihe auf dem Fussboden: Paul
Auster, die gemeinsame Tochter Sophie auf den Knien. Beide
hören sie aufmerksam zu.
Nach der Veranstaltung kaufe ich das Buch und gehe zu Siri
Hustvedt, um es mir von ihr signieren zu lassen. „For Janko“
schreibt sie mit schwungvollem Strich. „From Siri Hustvedt“.
Da weiß ich noch nicht, wie sehr das Werk dieser Schriftstellerin,
mich begleiten und beschäftigen wird.
MUSIK
ESSAY
Ich war Anfang zwanzig, als ich „det/das“ von Inger Christensen
zum ersten Mal las, und ich hatte das Gefühl, eine Offenbarung zu
erleben.
AUTOR
Dass dieses Werk mich Jahre später dazu ermuntern wird, mich
lesender Weise weit aus meiner intellektuellen Komfort-Zone
hinauszuwagen. Dass es mich an abenteuerliche, manchmal
beunruhigende Orte führen wird auf meiner Reise durchs
„Gedankenland“.
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ESSAY
Dieses Werk war anders, als alle, die ich je gelesen hatte - seine
Rhythmen und Wiederholungen waren die meines Körpers, meines
Herzschlags, meines Atems und des Schwingens meiner Arme
beim Gehen.
AUTOR
Dass es meinen Blick auf die Welt verändern wird.
ESSAY
Beim Lesen bewegte ich mich nach seiner Musik. (...)
AUTOR
Während seine Frau Bücher signiert, steht Paul Auster an einem
der Bücherregale und schmökert. Ich nehme meinen ganzen Mut
zusammen und gehe auf ihn zu.
ESSAY
Ich habe sie zweimal getroffen, das erste Mal bei einem Festival in
New York. Ich eilte auf sie zu, schüttelte ihr die Hand und
stammelte im Bemühen, meine starke Bewunderung
auszudrücken, ein paar Worte. Sie war freundlich.
(Hustvedt 2012: 94)
AUTOR
Ich bräuchte einen Ozean von Worten, um meine Bewunderung
auszudrücken. Ich bin achtzehn. Es ist eher so, dass ein Ozean
zwischen mir und dem ersten Wort liegt.
Auch Paul Auster ist freundlich. Er fragt mich, ob ich seine Bücher
auf Deutsch gelesen und wie mir die Übersetzung gefallen habe.
Ich kenne sie nur im englischen Original. Nach wenigen Sätzen hat
sich unser Gespräch erschöpft.
Als ich eine halbe Stunde später auf den Treppen vor der Haustüre
meiner Tante noch eine letzte Gauloises rauche, sehe ich die
Familie Auster-Hustvedt nach Hause gehen. Die kleine Sophie
hüpft an den Händen ihrer großen Eltern den Hügel hinauf.
-> O-TON: LIFE HAS TAKEN UNPREDICTABLE TURNS &
WHY PAUL IS A VALUABLE FIRST READER
HUSTVEDT My life has taken turns, to be perfectly honest, that I could never have
predicted. Paul has been particularly valuable to me as a reader
because in some of the non-fiction in particular he can tell me when he
simply does not know what I am talking about. And I don’t want my work
to become opaque to a person who isn’t steeped in the lingo, or the
vocabulary of these particular disciplines. So he’s really important to
me because he is highly intelligent and read a lot of philosophy when he
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was young, but doesn’t know much about science and certainly really
nothing about neuroscience. And else for the fiction, we have sped up
each other’s books, because by having such a sharp reader in your own
house that reader inevitably points out what you suspected was a
weakness, and needed reworking.
I think that it’s really not hard to accept criticism that rests on a bed of
respect. I think that that’s the secret. And it can even be, Oh, my
goodness, you’ve totally went off the deep end there, that’s happened,
in both cases, but because the other person is hell-bent on whatever
project you’re working on being the very best that it can possibly be, it’s
not hard. It’s not painful. I think what’s most painful for writers, or maybe
I should just speak for myself, what’s most painful for me is when I feel
that my work has been profoundly misunderstood.
ÜBERSETZUNG
Mein Leben hat völlig unvorhersehbare Wendungen genommen.
Paul ist für mich als erster Leser meiner Essays besonders
kostbar. Er hat als junger Mann viel Philosophie gelesen, aber mit
Wissenschaft hat er nichts am Hut und von Neurowissenschaft hat
er wirklich keine Ahnung. Er kann mir sagen, wenn er nicht
versteht, worüber ich rede, und das ist mir wichtig, weil ich nicht
möchte, dass meine Arbeit unverständlich wird für Leser, die nicht
vertraut sind mit dem Vokabular der jeweiligen Disziplinen.
Was die Romane betrifft, haben wir unsere Arbeit gegenseitig
beflügelt. Wenn man einen so intelligenten Leser im Haus hat,
kann man sicher sein, dass man auf jede kleine Schwäche im Text
hingewiesen wird.
Es ist nicht schwer, mit Kritik umzugehen, die begleitet ist von
großem Respekt. Das ist, glaube ich, das Geheimnis. Es ist auch
schon passiert, dass einer dem anderen sagt, ich glaube, du hast
dich hier total verrannt. Aber weil der andere so tief von deiner
Arbeit überzeugt ist, ist auch das nicht schmerzhaft.
Ich glaube, am schmerzhaftesten für einen Schriftsteller ist es,
oder vielleicht sollte ich nur von mir sprechen, wenn ich merke,
dass meine Arbeit grundlegend missverstanden wurde.
AUTOR
Im Laufe der Zeit lese ich all ihre Bücher. Manche ihrer sechs
Romane berühren mich sehr, andere lassen mich ein wenig ratlos
zurück. Aber mein Interesse an ihrer Arbeit erlischt nie.
13
Im Sommer 2012 kaufe ich Siri Hustvedts neuen Essayband,
„Living, Thinking, Looking“.
Hustvedt hat sich inzwischen zu einer prominenten
interdisziplinären Denkerin entwickelt.
ESSAY
Ich glaube nicht, dass die Frage, was es bedeutet ein Mensch zu
sein, je aus einer Disziplin heraus vollständig beantwortet werden
kann.
-> O-TON: HOW I GOT INTERESTED IN INTERDISCIPLINARY THINKING
HUSTVEDT I remember when I was in college, and it’s strange, because this
memory is emotionally very strong, but I cannot remember who I was
reading, now, I might have been reading someone like Walter Benjamin,
or one of the Frankfurt School – thinkers, but I’m not sure.
I left the library to go and have lunch, and walking out of the library I felt
a kind of despair. I remember I thought: You’ll never be able to put
things together like that, you’ll never be able to integrate various kinds
of knowledge into one coherent thought. You’re so far away from it. And
it was truly depressing to me, I have to say. And I think that that idea of
a synthetic mind has lead me along for a long time.
And it was sometime in my forties when I had this intense feeling that I
actually was capable of synthesizing different kinds of knowledge, and
thinking about the same problem from a number of points of view, and it
made me very happy. And I have just continued to do that. There is a
certain absurdity at times, because knowledge is infinite, it goes on and
on and on. Once you start tracking an idea, you also get very lost very
quickly. I’ve been reading recently books for lay-people, for nonphysicists about time. You know, this is enough to make your hair stand
on end (lacht), but nevertheless, I pursue it, because even though I am
not able to understand mathematically how physicists approach a
certain problem, there are ways that an outsider can penetrate at least
to some degree what the problems are.
ÜBERSETZUNG
Ich erinnere mich an einen Nachmittag auf dem College. Es ist
eigenartig. Die Erinnerung ist emotional sehr stark, aber ich weiß
nicht mehr, wen ich gelesen habe. Es könnte Walter Benjamin
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gewesen sein, oder ein Denker der Frankfurter Schule. Jedenfalls
verließ ich in der Mittagspause die Bibliothek und war ganz
deprimiert. Ich dachte: Du wirst nie in der Lage sein, verschiedene
Wissensbereiche zu einem kohärenten Gedankengang zu
verbinden. Du bist so weit davon entfernt. Diese Idee hat mich
seither angetrieben.
Irgendwann in meinen Vierzigern hatte ich das Gefühl, dass es mir
gelingt, unterschiedliche Arten von Wissen zusammenzufügen,
und das hat mich sehr glücklich gemacht. Es ist aber manchmal
auch absurd. Wissen ist unendlich, und beginnt man einmal, der
Spur eines Gedanken zu folgen, kann man sich leicht verlieren.
Kürzlich habe ich Bücher für Laien über die Zeit gelesen. Und
schon die sind kaum zu begreifen! Aber ich gehe dem trotzdem
nach, auch wenn ich nicht mathematisch verstehen kann, wie
Physiker sich einem bestimmten Problem nähern. Man kann auch
als Außenseiter in ein Thema immer bis zu einem gewissen Grad
eindringen, und zumindest die Fragestellungen verstehen.
MUSIK
- O-TON/MUSEUM: WHEN A REMBRANDT IS NOT A REMBRANDT
HUSTVEDT (Gehen, Museumsgeräusche). I often use that example, when a
museum discovers that the Rembrandt they have is not a Rembrandt?
What happens to that picture? It goes straight to the basement. Now,
the picture has not changed. What has changed is the perception of the
picture. And that is actually a real, physical phenomenon, right?
ÜBERSETZUNG
Was passiert, wenn ein Museum bemerkt, dass der Rembrandt,
den sie haben, kein echter Rembrandt ist? Das Bild geht direkt ins
Depot, obwohl es sich nicht verändert hat. Was sich verändert hat,
ist unsere Wahrnehmung des Bildes.
HUSTVEDT (Gehen, Museumsgeräusche). Do you know the wine-story?
AUTOR
The wine-story?
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HUSTVEDT These neurobiologists in California did a study of wine. About the same
bottle of wine they told the subject that it was 10 dollars or 100 dollars.
What’s interesting about the story is not that everybody preferred the
100-dollar-bottle of wine, what’s interesting is that different parts of the
brain, we’ll not go into it there, were activated by the 100-dollar-bottle of
wine that were not activated by the 10-dollar-bottle. So you’re really
having a physiologically different experience with the 100-dollar-bottle of
wine and the Rembrandt. Now this, of course, opens up a philosophical
can of worms. It means that your expectations are part of the biological
reality of your experience.
ÜBERSETZUNG
Kalifornische Neurobiologen haben das untersucht. Den
Testpersonen wurde derselbe Wein in zwei Flaschen serviert und
erzählt, dass die eine 10-Dollar, die andere 100-Dollar kostet.
Natürlich hat allen der Wein aus der teuren Flasche besser
geschmeckt. Die Wissenschaftler fanden aber auch heraus, dass
bei der 100-Dollar-Flasche andere Areale im Gehirn aktiviert
wurden, als bei der 10-Dollar-Flasche. Man hat also mit dem 100Dollar-Wein und mit dem echten Rembrandt ein physiologisch
anderes Erlebnis!
Unsere Erwartungen beeinflussen die biologische Wirklichkeit
unseres Erlebnisses. Aus philosophischer Sicht führt uns das aufs
Glatteis.
AUTOR
In der Philosophie haben es ihr besonders die Phänomenologen
angetan. Edmund Husserl wird oft zitiert, Maurice Merleau-Ponty
nennt Siri Hustvedt ihren „Lieblingsphilosophen“.
Als sie, die ein Leben lang an Kopfweh und Migräne leidet,
während einer Rede zum Gedenken an ihren verstorbenen Vater
vom Hals abwärts am ganzen Körper zu zittern beginnt, wissen die
Ärzte keinen Rat. Hustvedt, die sich früh für die
Neurowissenschaften interessiert hat, vertieft fortan ihre
Auseinandersetzung mit den Nerven und dem Gehirn.
In den Neurowissenschaften findet sie vieles bestätigt, was sie bei
den Philosophen und Denkern früherer Epochen interessiert. Sie
besucht Vorlesungen und Fachkongresse und lernt Menschen wie
den Hirnforscher Vittorio Gallese kennen. Gallese war an der
bahnbrechenden Entdeckung der Spiegelneuronen beteiligt und
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setzt sich intensiv für den Austausch zwischen den Natur- und
den Geisteswissenschaften ein. Die Philosophen müssen die
Fragestellungen formulieren, denen die Neurowissenschaften
nachgehen sollen, fordert er.
Auch die Psychoanalyse liefert Hustvedt tiefere Erkenntnis und
neue Fragen.
Längst hat Siri Hustvedt mit ihrem interdisziplinären Ansatz die
Aufmerksamkeit der Fachwelt erregt. Sie hielt Vorträge über Kunst
und Kunsttheorie im Museum of Modern Art, im Prado und in der
Münchner Akademie der Künste. Sie sprach vor der
Neuropsychoanalysis Foundation in New York über Kierkegaard
zu dessen 200. Geburtstag in Kopenhagen. Sie veröffentlichte ein
neurowissenschaftliches Paper und wurde eingeladen, die
renommierte Freud-Lecture in Wien zu halten.
-> O-TON: ÜBER MIRROR NEURONS + THE SHARED MANIFOLD
HUSTVEDT It was discovered by accident. And it’s a very simple thing to
understand, actually, mirror neurons. There are many complexities
surrounding mirror neurons, but the basic reality is simple, and it’s
simply this: They discovered that the same neuron fires when a monkey
grabs a banana, and it also fires in the monkey looking at the other
monkey grabbing the banana. So there is a mirroring going on
neurobiologically inside both monkeys, even in the monkey that’s not
doing anything. Now, it seems clear that these mirror systems also exist
in human beings, in fact, I don’t think there is much dispute. There is
lots of controversy, but now, I think, it’s pretty much settled down to:
these systems exist, and the controversies are over what they mean,
how do we think about them, what are the philosophical and greater
consequences of this, are mirror neurons present at birth, or do they
develop over time, all of this is still up for grabs.
ÜBERSETZUNG
Die Spiegelneuronen wurden durch Zufall entdeckt. Es gibt viele
komplexe Fragestellungen in diesem Zusammenhang, aber die
Sache an sich ist einfach zu verstehen: Man hat herausgefunden,
dass bei zwei Affen, von denen einer nach einer Banane greift und
der andere ebendies beobachtet, das gleiche Neuron feuert. Es
gibt also in beiden Affen eine neurobiologische Spiegelung, auch
bei dem, der gar nichts tut. Heute weiß man, dass es diese
Spiegelungssysteme auch beim Menschen gibt. Die Kontroversen
drehen sich darum, was sie bedeuten, welche philosophischen
17
Konsequenzen diese Erkenntnisse haben, um die Frage, ob
Spiegelneuronen bereits von Geburt an da sind oder ob sie sich
erst entwickeln.
MUSIK
ESSAY
Wir finden uns selbst zuerst in den Augen unserer Mutter, und wir
reagieren auch als Erwachsene weiterhin stark auf den
Gesichtsausdruck anderer Menschen, lange nachdem wir
aufgehört haben, ihre Mimikry nachzuahmen. (...)
HUSTVEDT Vittorio has a very nice idea which he calls a “shared manifold”. And
that is that there is a space created between two individuals that is
shared. It actually has a spatial component. You’re pretty close, you’re
in a kind of „peripersonal space”, he calls it.
ÜBERSETZUNG
Vittorio (Gallese) hat den schönen Begriff „Geteilte
Mannigfaltigkeit“ gefunden. Er glaubt, dass durch Spiegelung
zwischen zwei Individuen ein gemeinsamer Raum entsteht. Das
hat tatsächlich eine räumliche Komponente, man ist sich ziemlich
nahe, er nennt es einen „wir-zentrischen Raum“.
ESSAY
Die Entdeckung menschlicher Spiegelungssysteme in der
Neurowissenschaft unterstreicht, was viele Psychologen und
Philosophen schon lange über die dialektische Beziehung
zwischen dem Selbst und dem anderen postulieren, und dieses
unbewusste neuronale Feuern vollzieht sich bei Menschen, egal
ob wir eine reale Person betrachten, eine Fotografie oder das
gemalte Bild einer Person. (...)
18
HUSTVEDT These ideas that have been around for a very long time in Martin Buber,
but also, you know , Hegel’s famous Master/Slave-chapter in the
Phenomenology, which posits self-consciousness through the other.
ESSAY
Die Wechselwirkung zwischen Personen ist unbestritten real und
kann nicht in der Isolation erfolgen. Was ein Ich wird, ist im Du
eingebettet. Wir sind grundsätzlich soziale Wesen, und unser
Gehirn und unser Körper entwickeln sich durch andere.
(Hustvedt 2012: 441f)
-> O-TON/MUSEUM: ATMO
(Schritte, Stehenbleiben, Bildbetrachtung, kein konkreter Text)
AUTOR
Diese unterbewussten Spiegelungen spielen auch in der Rezeption
von Kunst eine Rolle. Was genau passiert eigentlich, wenn wir ein
Kunstwerk betrachten? Wenn wir ein Musikstück hören oder ein
Buch lesen?
In zahlreichen Aufsätzen und Essays widmet sich Siri Hustvedt
diesen Fragen und kommt, ganz von der phänomenologischen
Perspektive geprägt, dabei immer wieder auf ihre eigene Erfahrung
in der Auseinandersetzung mit Kunst zurück.
ESSAY
Die Betrachtung von Kunst kann nicht von unserer gelebten
Erfahrung mit der Welt getrennt werden, das Bild existiert in
meiner Wahrnehmung von ihm. (…) Jede Begegnung mit einem
Kunstwerk ist (...) subjektiv. Unsere sinnliche Wahrnehmung von
Duchamp, Kosuth, Richter oder Darger ist nicht objektiv, keine
Erfahrung in der dritten Person. (...) Was geschieht, geschieht
zwischen mir und dem Bild.
(Hustvedt 2012: 450)
19
-> O-TON: WHAT HAPPENS WHEN WE LOOK AT A WORK OF ART?
HUSTVEDT I think it’s really important to locate looking at art or reading a book or
listening to music in an intersubjective context. And what I mean by that
is that it’s a relationship between a spectator, a listener and a reader
with the object. Now that object, unlike a chair or a fork, is imbued with
the remnants or the traces of a living consciousness. And I think we
treat art like that, we all treat it like that that it’s not completely a thing,
it’s not completely an object. It’s also imbued with the sense that there
was someone in it. So it’s not a purely “I and You-relation”, but it carries
aspects of an “I and You-relation”. And the viewer or the reader or the
listener is the person who animates the work of art. And those same
properties that we were talking about, mirroring, are at work in reading,
looking at a work of visual art and listening to music. And they are
motor-sensory, you know, motions literally, that are activated inside us.
So, I think it’s important to think about this relationship to art not as one
between a living person and just a dead thing, but as something that
activates this “between area”.
ÜBERSETZUNG
Wir erleben ein Kunstwerk nicht wie ein reines Objekt. Anders als
ein Stuhl oder eine Gabel ist es von einem fremden Geist gefärbt.
Es ist keine reine „Ich-Du-Beziehung“, aber es hat Aspekte davon.
Der Betrachter, der Hörer, der Leser erfüllt das Kunstwerk mit
Leben. Kunst aktiviert diese „Zwischenzone“.
MUSIK
ESSAY
Wenn wir ein Kunstwerk bewundern, vollzieht sich immer eine Art
Erkennen. Das Objekt spiegelt (…) die Wahrnehmung des
Anderen, des Künstlers, die wir uns zu Eigen gemacht haben, weil
sie etwas in uns anklingen lässt, das wir für wahr halten. Diese
Wahrheit mag bloß ein Gefühl sein, nichts als ein summender
Nachklang, den wir nicht in Worte fassen können, oder sie mag
sich zu einer gewaltigen diskursiven Auseinandersetzung
entwickeln. Sie muss aber da sein, damit die Verzauberung eintritt
– dieser Ausflug ins Du, das auch ein Ich ist.
20
MUSIK
AUTOR
Herbst 2012. Pünktlich um fünf Uhr dreißig will mein Sohn seinen
Tag beginnen. Ich mache mir eine Tasse Kaffee und setze mich mit
dem zwei Monate alten Säugling aufs Sofa. Wir schauen den
Vögeln zu, wie sie über den Dächern ihre ersten Runden drehen.
Eine Viertelstunde später ist er wieder eingeschlafen. Seine letzte
Schlafphase möchte er gerne auf mir verbringen.
Morgen für Morgen lese ich in den Stunden zwischen Nacht und
Tag Siri Hustvedts Essayband „Living, Thinking, Looking“,
während mein Sohn friedlich auf mir schläft.
Wie nie zuvor habe ich das Gefühl, dass Hustvedt Beobachtungen
formuliert und in einen größeren Kontext setzt, die mir vertraut
sind. Dass sie Erfahrungen, die ich nur als intuitive
Gestimmtheiten kenne, ausspricht.
Und dass sie Worte findet für die Sprachlosigkeit, mit der wir dem
Unterbewussten gegenüber stehen. Den Empfindungen in uns, die
sich der Kartographie unseres bewussten Geistes entziehen.
ESSAY
Dieses Werk war anders, als alle, die ich je gelesen hatte - seine
Rhythmen und Wiederholungen waren die meines Körpers, meines
Herzschlags, meines Atems und des Schwingens meiner Arme
beim Gehen. Beim Lesen bewegte ich mich nach seiner Musik.
AUTOR
Was ihn beim Lesen am meisten inspiriere, hat der Schriftsteller
Michael Köhlmeier einmal gesagt, sei, dass man sich selbst in
kleinsten Details wiedererkennt. Dass man seine eigenen
Gedanken, Beobachtungen und Gewohnheiten in dem Fremden
wieder findet.
-> O-TON: THE DANGERS OF SERIOUS READING
HUSTVEDT The serious reader, if you will, a person who takes reading seriously,
and is on a mission of curiosity, will experience moments of… well,… I
think: fear. And disorientation. A kind of dizziness, if you will.
I’ve been reading very recently Alfred North Whitehead, the English
philosopher, who I never read. And this is an extremely disorienting
experience. I happen to love Whitehead, but I cannot make
21
pronouncements about rightness and wrongness. In fact I have just
finished a book, I haven’t finished the footnotes, called “The Delusions
of Certainty”, and in some way it’s a book about the mind. How do we
understand the mind? What does it mean to talk about mind? Is it the
same as the brain? And the book does not arrive at a final conclusion,
because, in fact, there is no final conclusion, as far as I can see.
ÜBERSETZUNG
Jeder ernsthafte Leser, der sich auf einer „Mission der Neugier“
befindet, wird Momente der Angst erleben, der Verwirrung. Ich
habe kürzlich den englischen Philosophen Alfred North Whitehead
gelesen. Eine sehr verwirrende Erfahrung. Ich liebe Whitehead,
aber ich kann keine Aussagen über richtig oder falsch treffen. Ich
habe gerade ein Buch von ihm zu Ende gelesen, worin er fragt, wie
wir den Geist verstehen. Was bedeutet es über den Geist zu
sprechen? Ist Geist gleichbedeutend mit Gehirn? Das Buch findet
keine abschließende Antwort, und so, wie ich es sehe, gibt es auch
keine.
MUSIK
ESSAY/AUTOR
Offenheit für ein Buch ist unerlässlich; und Offenheit ist einfach
die Bereitschaft, sich von dem, was wir lesen, verändern zu lassen.
(Hustvedt 2012: 186)
AUTOR
Ich beginne, mich in den immensen Referenzraum der
Hustvedtschen Essays vorzuwagen und lese nun gezielt Werke
von Wissenschaftlern und Philosophen, auf die Hustvedt Bezug
nimmt.
Bei dem Neurobiologen Antonio Damasio lese ich über die
biologischen Grundlagen der Entstehung von Bewusstsein und
meines Ich-Gefühls.
ESSAY
Man muss sich das Selbst als ein Kontinuum vorstellen – als eine
in der Zeit ablaufende, zusammenhängende Geschichte.
22
(Hustvedt 2006: 161)
AUTOR
Ich lerne, dass Erinnerung etwas Gegenwärtiges ist und auf
Grundlage der momentanen Verfassung beständig neu erzählt
wird.
ESSAY
We are constantly becoming ourselves.
AUTOR
Dass auch unser Ich-Gefühl prozesshaft ist, fragil und in
beständigem Wandel, und dass es einen narrativen Charakter
besitzt.
ESSAY
Es ist plausibel, dass Erzählen, eine (…) Form menschlichen
Denkens, die an sich das Erinnern nachahmt, sich auf das
Bedeutsame konzentriert und Bedeutungsloses weglässt. Was mir
gleichgültig ist, vergesse ich meistens. Die Geschichten in der
Erinnerung und in der Fiktion sind auch aus Fehlendem gemacht –
dem ganzen Material, das ausgelassen wird.
(Hustvedt 2012: 239f)
AUTOR
Ich begegne bei meiner Lektüre Vittorio Gallese und den
Spiegelneuronen und lese darüber, dass es vermutlich einen
Zusammenhang zwischen dem Entstehen von Sprache und den
motorsensorischen Systemen im Gehirn gibt.
Mir gefällt der Gedanke, dass Sprache vielleicht aus der Bewegung
kommt, im Körper zutiefst verwurzelt ist.
Meine Neugier ist entfacht. Ich fange an, auf eigene Faust weiter zu
forschen, lese den Philosophen Thomas Metzinger, der eine erste
philosophische Einordnung der aktuellen Erkenntnisse aus dem
Bereich der Neurowissenschaften versucht, und den Siri Hustvedt,
wie sie mir später erzählt, brillant findet, auch wenn sie in „fast
keinem einzigen Punkt“ mit ihm übereinstimmt. Ich lese Wolf
Singer, Mathieu Ricard, Oliver Sacks, Joachim Bauer und Gerald
Hüther. Ich hole Freuds Traumdeutung aus dem Regal, ich kaufe
Bücher von Maurice Merleau-Ponty. Ich studiere historische
naturphilosophische Texte von Lukrez bis Margaret Cavendish.
Und schließlich wage ich mich an Søren Kierkegaard heran.
23
-> O-TON: READING AGAINST MY INTENTIONS
HUSTVEDT But I intentionally read against myself. In other words, I read books that
I know are in some way in violation of my natural sympathies, because
it expands your thinking, it really does. But it does create ambiguity, and
sometimes terror.
You can’t really extract your personality or your character from your
reading experiences. But you can open yourself up to ideas that violate
some of that deeply held believes that you may have had before, so that
you have to alter them in some way.
And I think that the story of my own intellectual journey has been
precisely that. That books that I read either tweak or alter how I look at
the world. And that’s very exciting, but it does not happen without
periods of fear and disorientation.
ÜBERSETZUNG
Ich lese bewusst gegen meine Neigungen. Das erweitert das
eigene Denken, aber es erzeugt auch Zweifel und manchmal
Schrecken.
Du kannst deine Leseerfahrungen nicht von deiner Persönlichkeit,
deinem Charakter trennen. Aber du kannst dich öffnen für Ideen,
die im Widerspruch stehen zu deinen tiefen Überzeugungen.
Ich glaube, dass meine eigene intellektuelle Reise genauso ihren
Lauf genommen hat: Dass Bücher, die ich gelesen habe, meinen
Blick auf die Welt verschoben oder verändert haben. Das ist
aufregend, aber es geschieht nicht ohne Zeiten der Angst und der
Orientierungslosigkeit.
MUSIK
AUTOR
Auch auf meiner Reise durchs „Gedankenland“ von Hustvedts
Essays erlebe ich Momente des Widerspruchs. Ich reibe mich auf
an ihren brillanten Beobachtungen, an ihren präzise geführten
Schlussfolgerungen, die tief in mir verwurzelte
Lebensanschauungen in Frage stellen und dies mit zahlreichen
Fußnoten untermauern.
Aber längst geht es nicht mehr darum, mich mit dem, was ich lese,
uneingeschränkt zu identifizieren. Mein Lesen ist mehr geworden.
24
Konsequent einem fremden Gedanken zu folgen macht mir Spaß,
es fordert mich heraus, erhöht mein Bewusstsein für die Vielfalt an
Möglichkeiten, ein Problem zu betrachten. Besonders dort, wo ich
in Widerspruch zu dem Gelesenen gerate, wird mir bewusst, wie
wichtig es ist, mich ohne Angst einer Fragestellung zu öffnen.
Und ich mache die Beobachtung, dass in dem Maße, in dem ich
beim Lesen Unsicherheit zulassen kann, etwas in mir sicherer
wird.
ESSAY
We are constantly becoming ourselves.
AUTOR
Als ich Kierkegaards „Entweder-Oder“ fertig gelesen habe (mein
Sohn ist inzwischen zwei), fallen mir Siri Hustvedts Essays wieder
ein. Hustved war irgendwo im Hintergrund präsent, aber die
Leseerfahrung ist meine eigene geworden, sie würde sagen „my
embodied experience“.
Die Essays waren mein Kompass - „my true north“ - in einer
Gedankenlandschaft, durch die ich mir „phänomenologisch“
meinen eigenen Weg erwandert habe.
Ich war achtzehn, als ich Siri Hustvedt aus ihrem Buch „Die
Verzauberung der Lily Dahl“ vorlesen hörte, in der kleinen
Buchhandlung in Brooklyn. Neunzehn Jahre sind seitdem
vergangen.
Als Siri Hustvedt nach Köln kommt, um ihren aktuellen Roman
vorzustellen – im Rahmen eines Philosophiefestivals – fühle ich
mich bereit, ihr ein zweites Mal zu begegnen.
MUSIK
ESSAY
Ich habe Inger Christensen zweimal getroffen, das erste Mal bei
einem Festival in New York. Ich eilte auf sie zu, schüttelte ihr die
Hand und stammelte im Bemühen, meine starke Bewunderung
auszudrücken, ein paar Worte. Sie war freundlich. Die zweite
Gelegenheit bot sich in Kopenhagen bei einem Dinner, bei dem ich
neben meinem Idol saß.
25
AUTOR
An einem Sonntag Anfang Mai bin ich mit Siri Hustvedt im
Museum Ludwig verabredet.
ESSAY
Sie war reizend, witzig und sagte mir, sie komme nicht mehr nach
New York, weil man dort nicht mehr rauchen dürfe.
AUTOR
Wir wollen miteinander sprechen und uns gemeinsam ein paar
Bilder anschauen.
ESSAY
Die lustige, unprätentiöse Frau am Tisch und die große Dichterin
waren eins, und doch gab es eine Kluft zwischen der Person im
Raum und der Person im Buch. Ich kannte die Frau nicht, die
Dichterin aber hat meine innere Welt verändert. (Hustvedt 2014: 94)
AUTOR
Zwei Minuten vor der verabredeten Zeit betritt eine große blonde
Frau in elegantem Hosenanzug und mit Sonnenbrille das Foyer.
Sie wird von der Pressechefin des Rowohlt-Verlags begleitet. Siri
Hustvedt ist längst keine unbekannte Schriftstellerin mehr. Ihre
Bücher sind Bestseller und werden in 29 Sprachen übersetzt. Im
Februar ist sie sechzig geworden.
- Sie trägt Sonnenbrille in geschlossenen Räumen, sage ich zu der
jungen Frau aus dem Pressebüro des Museums, die neben mir
steht.
Wünschen sie mir Glück.
Meine Sorge ist unbegründet. Siri Hustvedt ist gut gelaunt. Ihr
Händedruck ist kräftig, sie nimmt die Sonnenbrille ab und schaut
mich an. Sie ist einen Kopf größer als ich. Während wir einen
langen Flur entlang gehen, erzählt sie mir, dass ihre Europareise
und somit auch unsere Begegnung beinahe geplatzt wären. Erst
am Flughafen habe sie erfahren, dass Ihr Reisepass nicht mehr
lange genug gültig sei. Sie musste umkehren und ihn verlängern
lassen, erst dann durfte sie ausreisen.
Die Museumsleitung hat uns einen Konferenzraum zur Verfügung
gestellt, in dem wir uns ungestört unterhalten können. Sie hängt
ihre Jacke über die Stuhllehne. Noch bevor Siri Hustvedt sich
hingesetzt hat, sagt sie:
- Okay, let’s go!
-> O-TON: THE JOY OF BEING UNDERSTOOD & THE IMPULSE OF MAKING
ART
26
HUSTVEDT The joy of being understood is one of the great things. And I think the
impulse behind making art or making a book of any kind is the impulse
to make very clear not only the thoughts but the feelings that you are
trying to give to the other. So when that works, it’s wonderful. But, of
course, it doesn’t always work.
ÜBERSETZUNG
Das schönste für mich als Autorin ist es, verstanden zu werden.
Und ich glaube, der Impuls ein Kunstwerk zu schaffen oder ein
Buch zu schreiben, ist der Impuls, dem anderen nicht nur
Gedanken, sondern auch Stimmungen klar zu vermitteln. Es ist
wunderbar, wenn das funktioniert. Aber natürlich funktioniert es
nicht immer.
MUSIK
ESSAY
Für mich war künstlerisches Schaffen immer so etwas wie
bewusstes Träumen. Der Stoff für eine Geschichte stammt nicht
aus dem, was ich weiß, sondern aus dem, was ich nicht weiß, aus
Impulsen und Bildern, die oft ohne mein Zutun aufkommen, ein
ganz und gar seltsamer Prozess, der ins Spiel kommt, wenn ich in
meinem Werk eine andere Person werde. Dabei besteht der Akt
des Schreibens nur in einem: Wörter zu Papier bringen, die von
jemand anderem gelesen werden.
(Hustvedt 2006: 33f)
-> O-TON: LOOKING AT ART REQUIRES OPENNESS
HUSTVEDT I think of it as an actual bodily state. Art is like sex. If you don’t relax,
you won’t enjoy it. I am talking about a state, a physical state of
relaxation, and openness to what you’re reading. Now, no-one, as I’ve
said earlier, can purify herself or himself of all our biases, we can’t drain
ourselves of the past, we can’t become another person, but we can
relax. It’s like listening to strange music. The first time I heard Chinese
opera, I remember, I had to really relax to try to listen openly to these
27
unfamiliar sounds. And I think only that kind of openness leads to
pleasure. Otherwise you are defended. Psychoanalysis has very good
ways of talking about this that people are simply cut off from the
outside.
ÜBERSETZUNG
Das ist ganz körperlich. Kunst ist wie Sex. Wenn du dich nicht
entspannst, wirst du es nicht genießen. Ich meine einen Zustand
körperlicher Entspannung und Offenheit für das, was du siehst
oder liest. Wir können uns nicht von unserer Vergangenheit und
unserer Voreingenommenheit befreien, aber wir können uns
entspannen. Als ich das erste Mal chinesische Oper hörte, musste
ich mich entspannen, um mich den unvertrauten Klängen zu
öffnen. Ich glaube, dass nur Offenheit zu Freude und Genuss führt.
Sonst verliert man sich in Abwehrmechanismen.
MUSIK
AUTOR
Am Ende unseres Gesprächs signiert Siri Hustvedt meine
zerlesene Ausgabe von „Living, Thinking, Looking“.
- O-TON/ATMO: SIRI HUSTVEDT SIGNIERT DAS BUCH.
(Schreibgeräusche)
HUSTVEDT What are my choices?
AUTOR
Fountain-pen?
HUSTVEDT Fountain-pen is good.
- ENDE O-TON/ATMO
AUTOR
„For Janko“ schreibt sie mit schwungvollem Strich.
„With great happiness for that feeling of being read and
understood. Siri”
MUSIK
28
AUTOR
Herbst 2015. Ich werde vor den Kindern wach. Mit einer Tasse
Kaffee schleiche ich ins Arbeitszimmer und tippe die letzten Zeilen
meines Manuskripts in den Computer. Durch die zwölf Quadrate
des Fensters blicke ich auf den Sund, der ein paar Meter vor dem
Haus Richtung Norden - ich stelle mir vor: Richtung Norwegen –
führt.
In diesem Haus an der dänischen Ostsee hat sich Bertolt Brecht
mit seiner Familie sechs Jahre lang vor den Nazis versteckt. Walter
Benjamin hat in diesem Garten Äpfel gepflückt, Hanns Eisler hat
hier Lieder komponiert und auch Georges Grosz war einmal auf
Besuch.
Heute können hier Stipendiaten aus ganz Europa ein paar Wochen
in Ruhe arbeiten.
AUTOR
Unweit von hier wurde Inger Christensen geboren. Im Nordosten
liegt Kopenhagen, wo Kierkegaard gelebt, gedacht und
geschrieben hat.
Im Wohnzimmer steht ein uraltes Klavier, auf dem ich nachts,
wenn die Kinder schlafen, spiele.
Hier habe ich mich an meine Begegnung mit Siri Hustvedt erinnert.
MUSIK
- O-TON MUSEUM: LOOKING AT LOUISE BOURGEOIS
(Schritte, Museumsatmo).
AUTOR
Do you want to see the Bourgeois drawings first?
HUSTVEDT Oh, I’d love to.
AUTOR
It’s over there.
HUSTVEDT (lacht), oh that’s so familiar. Oh, that’s a great drawing…
oh, that’s fantastic…
Well, you know, she developed this vocabulary. The spider keeps
returning, and this sort of… these are very female… but this is a kind of
amorphous male-female-figure.
AUTOR
And here, I was wondering, the face, this is the only head in all of them.
29
HUSTVEDT No, no, there are heads.
AUTOR
Yes, but the only one with just the head.
HUSTVEDT Well, one thing we can say about Louise Bourgeois is that her work is
deeply “embodied” to use that popular term now. Oh, they are
wonderful… I love this one too… And this here this one is breasts and
phallus, so she’s playing with the double thing… (lacht)
MUSIK
ABSAGE
“Reading, Thinking, Looking“ – Eine Begegnung mit der
Schriftstellerin Siri Hustvedt
Von Janko Hanushevsky
Mit Ausschnitten aus den Essaybänden „Nicht hier, nicht dort“,
„Being a Man“ und „Leben, Denken, Schauen“ von Siri Hustvedt
Es sprachen Leslie Malton und Stefko Hanushevsky
Ton und Technik: Eva Pöpplein und Jens Müller
Regie und Komposition: Merzouga
Redaktion: Ulrike Bajohr
Eine Produktion des Deutschlandfunks mit dem Bayerischen
Rundfunk und dem Norddeutschen Rundfunk 2016.
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