DEUTSCHLANDFUNK Redaktion Hintergrund Kultur / Hörspiel Redaktion: Ulrike Bajohr Feature „Reading, Thinking, Looking“ – Eine Begegnung mit der Schriftstellerin Siri Hustvedt Von Janko Hanushevsky Produktion: DLF/BR/NDR 2016 O- Ton Siri Hustvedt Sprecherin Übersetzungen & Essays: Leslie Malton Sprecher Autorentext: Stefko Hanushevsky Regie & Komposition: Merzouga Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © - unkorrigiertes Exemplar - Sendung: Freitag, 04. März 2016, 20.10 - 21.00 Uhr 1 MUSIK - O-TON/MUSEUM: RICHTER (Museumsgeräusche, Schritte, Stimmen). AUTOR Have you had a chance to see the Gerhard Richter-Dom-window? HUSTVEDT Yes, I’ve seen it. In fact I spent almost an hour with the window. (lacht) And it is really quite magical, I have to say. You know, the idea, which is so simple, these panels of colored squares, but the effect is quite really close to a kind of sacred effect. I don’t know how he did it, but it’s wonderful. (Schritte, Stimmen). -> O-TON: INTRODUCTION HUSTVEDT My name is Siri Hustvedt, I am an American writer who lives in New York City, and I write essays, novels, and I am a person who is living an adventure of ongoing curiosity about why things are the way they are, and why we are the way we are. ANSAGE Reading, Thinking, Looking. – Eine Begegnung mit der Schriftstellerin Siri Hustvedt Von Janko Hanushevsky -> O-TON: ON READING HUSTVEDT You know, we all have this inner speech, we narrate our own lives, we walk around in the world with little sentences in our heads that are ongoing, but when you’re reading, someone else’s narration is supplanting that inner speech, and I do think that these other narrators do create a kind of expansion of consciousness. So in some way reading is the most intimate place for me in my life. 2 ÜBERSETZUNG Wissen Sie, wir alle haben eine innere Stimme und erzählen uns unser Leben. Wenn wir uns in der Welt bewegen, laufen in unseren Köpfen dauernd kleine Sätze ab. Aber sobald man etwas liest, wird die innere Stimme durch die Erzählung eines anderen ersetzt. Ich glaube, dass diese anderen Erzähler wirklich unser Bewusstsein erweitern. MUSIK AUTOR Als Teenager wohnte ich mit meiner Familie in einem umgebauten Bauernhof auf dem Land. Im Morgengrauen standen wir auf, um eine halbe Stunde mit dem Postbus zur Schule in der nächsten Stadt zu fahren. Es gab kaum Gelegenheit auszugehen, deshalb gehörten meine Abende dem Musikhören und dem Lesen. Ich rauchte am offenen Fenster Gauloises und las die „New York Trilogie“ und „Mond über Manhattan“ von Paul Auster. Er war der erste Schriftsteller, den ich gelesen habe, dessen Bücher nicht im Regal meiner Eltern standen. Dabei hörte ich Tom Waits und träumte mich in eine Welt aus Glas und Beton, in der es verrauchte Bars geben musste und zufällige, schicksalhafte Begegnungen mit Fremden zum Klang eines verstimmten Klaviers. -> O-TON: FIRST ENCOUNTER WITH THE WORLD OF THOUGHT HUSTVEDT Well, it’s funny to use the word “intellectual” because it’s hard to exactly know what that means. But there is something that happens to children and that happens neurobiologically I think somewhere between the age of 11 and 14, probably depending on who you are and epigenetics, but when I was 11 my mother gave me two books of poetry, Blake, “Poems of Innocence and Experience” and a selected Emily Dickinson. And those poems turned my world upside down. I remember that vividly. I always loved to read, and one of my great earlier books was “Alice in Wonderland”, which is a strange book. And that might have been the book that introduced me to lands of thought. Lewis Carroll, of course, was a mathematician in his other life, and “Alice in Wonderland” is full of strange ideas that are nevertheless accessible as a child, so that might 3 have been my first encounter with, I don’t know, the World of Thought, if you will. ÜBERSETZUNG Das Wort „intellektuell“ zu verwenden, fühlt sich komisch an, weil man nicht genau weiß, was es eigentlich bedeuten soll. Aber es passiert neurobiologisch etwas bei Kindern zwischen dem elften und dem vierzehnten Lebensjahr. Als ich elf war, schenkte meine Mutter mir zwei Gedichtbände. William Blakes „Lieder der Unschuld und Erfahrung“ und ausgewählte Gedichte von Emily Dickinson. Und diese Gedichte stellten meine Welt auf den Kopf. „Alice im Wunderland“ war vielleicht das Buch, das mir einen Zugang zur „Welt der Gedanken“ eröffnet hat. Lewis Carroll war ja Mathematiker in seinem anderen Leben, und „Alice im Wunderland“ ist voller seltsamer Ideen, die für Kinder trotzdem zugänglich sind. AUTOR Man muss sich das Selbst als ein Kontinuum vorstellen – als eine in der Zeit ablaufende, zusammenhängende Geschichte. ESSAY We are constantly becoming ourselves. (Hustvedt 2006: 161) -> O-TON: I GREW UP IN A PROVINCIAL TOWN. IDEA OF AN “ELSEWHERE” HUSTVEDT I grew up in a provincial town, 10.000 people, 8.000 when I was a child, and I had a Norwegian mother, I think this made a huge difference, because I grew up in a household where two languages were spoken, and my mother was an import from Europe. My father, on the other hand, grew up on an impoverished farm, not very far away from our house, ended up getting a PhD after serving as a soldier in the Philippines and New Guinea during the second world war. He was in combat, and I think it shaped him in some way deeply, as did the experience of depression-poverty in the 1930ies in his boyhood. So those aspects of my life where common to many people, but I think the two languages in my little town, that wasn’t very common, having a mother who was a true immigrant, not just a grandparent or a greatgrandparent. So that did shape me, you know, it gave me the idea of an 4 “elsewhere”, and you can’t be entirely provincial if you have in your imagination always the idea of somewhere else. ÜBERSETZUNG Ich bin in einer Kleinstadt aufgewachsen. 8000 Einwohner in meiner Kindheit. Ich habe eine norwegische Mutter, in unserer Familie wurden zwei Sprachen gesprochen. Mein Vater ist auf einer verarmten Farm in der Nähe unseres Hauses aufgewachsen und machte seinen Doktor, nachdem er im 2. Weltkrieg in Südostasien gekämpft hatte. Die Erfahrung an der Front und die Armut seiner Kindheit haben ihn tief geprägt. Krieg und Armut haben bei uns viele erlebt, aber die Zweisprachigkeit und eine Mutter, die eine echte Immigrantin ist, das war in unserem Städtchen ungewöhnlich. Das hat mich geprägt, es hat mir die Idee eines „Anderswo“ eingepflanzt. Man kann nie durch und durch provinziell sein, wenn man immer diese Vorstellung von einem „Anderswo“ hat. MUSIK AUTOR Mein Vater wurde in den USA geboren und wuchs in einer ukrainischen Immigranten-Community an der Ostküste auf. Die Sehnsucht nach einem „Anderswo“ führte ihn als jungen Mann nach Europa, bis an die Grenze des Eisernen Vorhangs. Ein Semester sollte er in Österreich studieren. Er lernte meine Mutter kennen und blieb. Die amerikanische Staatsbürgerschaft gab er mir und meinen Brüdern weiter, genauso wie die Sehnsucht nach dem „Anderswo“. Jazz und amerikanische Literatur waren Projektionsflächen meiner jugendlichen Sehnsucht nach einem Weg aus der von Obstbäumen gesäumten Idylle hinaus in die Welt. Ich spielte Basketball, während alle anderen Fußball spielten, sah die Hollywood-Actionfilme, die alle anderen sahen, im Original und sprach in der Schule Englisch mit amerikanischem Akzent. Im Sommer nach dem Abitur arbeitete ich drei Monate lang jeden Tag, sparte mein ganzes Geld, und im Oktober hatte ich genug beisammen, um nach Amerika zu fliegen. Ich wollte Verwandte besuchen in Rhode Island, in Boston und in Florida. Am meisten freute ich mich auf den Besuch bei einem 5 Cousin meines Vaters in New York. Er war ein erfolgreicher Geschäftsmann und lebte mit seiner Frau in einem echten Brown Stone in Brooklyn, Park Slope. Nun hatte mein „Anderswo“ eine konkrete Adresse. -> O-TON: LIVING IN NORWAY HUSTVEDT I lived in Norway three times. For a period of months when I was only four, for an entire year when I was twelve, turned thirteen, and then I went back alone and took the last year of Gymnasium in Norway, so I was seventeen, turned eighteen, and I lived with my aunt and uncle. ÜBERSETZUNG Dreimal habe ich in Norwegen gelebt. Ein paar Monate lang als ich erst vier war, mit zwölf ein ganzes Jahr. ESSAY Im Laufe jener Monate in Norwegen, als ich vier und meine Schwester Liv erst zweieinhalb Jahre alt war, vergaßen wir das Englische. Zurück in Minnesota, fiel es uns wieder ein, und prompt vergaßen wir das Norwegische. (...) 1972 kehrte ich nach Norwegen zurück und besuchte in Bergen ein Jahr lang das Gymnasium. (...) Ich lebte bei meiner Tante und meinem Onkel außerhalb der Stadt und fuhr mit dem Bus zur Schule. Irgendwann in den ersten Wochen meines Aufenthalts hatte ich einen Traum. An seinen Inhalt kann ich mich nicht erinnern, aber der Traum verlief norwegisch mit englischen Untertiteln. Ich werde an diesen Traum immer als an einen Schwebezustand denken. Sein filmischer Code drückte genau meine Stellung zwischen zwei Kulturen und zwei Sprachen aus. (Hustvedt 2000: 13) 6 AUTOR Ich fuhr mit dem Greyhound nach Manhattan. Meine Tante wartete an der Penn Station schon auf mich. Beim letzten Mal, als wir uns gesehen hatten, war ich zehn. Wir kannten einander kaum. In dem gelben Taxi, das uns über die Brooklyn Bridge brachte, hielten wir nach bester amerikanischer Manier Small Talk. - Es wird dir bestimmt gefallen in Brooklyn, sagte meine Tante. Dort leben viele Künstler, Musiker und Regisseure. - Ich weiß, entgegnete ich, mein Lieblingsschriftsteller kommt von dort. - Wirklich? Wer ist das?, fragte sie. - Paul Auster. Kennst du ihn? - Ich habe ehrlich gesagt noch kein Buch von ihm gelesen, sagte sie, aber mein Hund hasst seinen Hund. Paul Auster und seine Frau Siri sind unsere Nachbarn. Sie wohnen zwei Türen weiter. MUSIK - O-TON/MUSEUM: ATMO (Gespräche über einzelne Bilder, Schritte, Lachen) über Musik ESSAY Ich habe lebhafte Erinnerungen an einige Bücher. Romane nehmen in meiner Erinnerung oft eine bildhafte Form an; ich sehe Emma Bovary auf dem Weg zur Apotheke mit geröteten Wangen und vom Wind aufgelöstem Haar einen grasbewachsenen Hügel hinunterlaufen. Das Gras, die Wangen, der Wind stehen nicht im Buch. Ich habe sie selbst geliefert. Philosophie präge ich mir normalerweise nicht in Bildern, sondern in Wörtern ein, obwohl ich für Kierkegaard zum Beispiel Bilder geformt habe, weil er ein Philosoph und Romancier, Denker und Geschichtenerzähler ist. Ich sehe Victor Eremita, den pseudonymen Herausgeber von 7 Entweder-Oder, mit seinem Beil, wie er das Möbelstück zertrümmert, in dem zwei Manuskripte versteckt waren. (Hustvedt 2012: 182) -> O-TON: KIERKEGAARD ACROSS THE CREEK HUSTVEDT Way before I read Kierkegaard, I knew about Kierkegaard. We lived outside of that little town Northfield, Minnesota, and behind the house my parents built, was a creek, a creek I loved. Just on the other side of the creek and up a steep embankment another family lived, and it was Howard and Edna Hong. Those two people are still regarded as the translators into English of Kierkegaard. So my entire childhood when I was playing with the Hong-children and going in and out of that house, especially when I was very young, I would see the huge pile of papers on Edna’s desk. It’s interesting, you know, the man is usually given credit, but I think a great deal of the hard work on that translation was done by Edna. Her husband Howard Hong was the professor of Philosophy, and I am sure he did significant editing and really understood what Kierkegaard was talking about to the degree that anyone can understand what Kierkegaard is talking about. But yes, Kierkegaard was actually part of my childhood, and no doubt it influenced my beginning to read him when I was still quite young, and I have been reading him ever since. ÜBERSETZUNG Lange bevor ich Kierkegaard las, wusste ich von ihm. Wir wohnten am Rande dieser Kleinstadt, Northfield, Minnesota, und hinter meinem Elternhaus gab es einen Bach, den ich sehr liebte. Am anderen Ufer lebte die Familie Hong. Howard und Edna Hong gelten auch heute noch als die Übersetzer von Kierkegaard ins Englische. Immer wenn ich mit den Hong-Kindern spielte, sah ich diesen riesigen Papierstapel auf Ednas Schreibtisch. Interessanterweise wird das Werk immer eher dem Mann zugesprochen. Howard Hong war Professor für Philosophie. Er hat die Ausgabe maßgeblich ediert und hat wirklich verstanden, worüber Kierkegaard spricht, falls überhaupt jemand verstehen kann, worüber Kierkegaard spricht. Aber den Großteil der harten Übersetzungsarbeit hat Edna geleistet. Ja, Kierkegaard war ein Teil meiner Kindheit, mit fünfzehn zog ich „Furcht und Zittern“ aus 8 dem Bücherregal meiner Eltern, eine verstörende Lektüre, und ich habe seither nie aufgehört, ihn zu lesen. MUSIK - O-TON/MUSEUM: SPATIAL AGENCY BIAS HUSTVEDT (Museumsatmo, Schritte) You know, there is this weird thing called “The Spatial Agency Bias”, do you know about this? I’ve known about it only for maybe a year. I was working on a paper about memory and art, and it turns out that in western painting the most important figure is almost always to the left, and the lesser figure is to the right. Now initially they thought maybe this was about brain-hemispheres, you know, we have left and right, and so on. They realized for example Adam and Evepaintings, Adam is always in the left, you know, the important guy, and Eve is usually on the right. Then they discovered that it’s about reading. We read from left to right. And that pre-literate children do not have this bias, and Arabic speakers have it in reverse, because they’re reading in the other direction. This shows you, you know, what we were talking about earlier about habit, that the habit of literacy is actually orienting us in pictorial space. ÜBERSETZUNG Wissen Sie, es gibt da so eine komische Sache, die man „Spatial Agency Bias“ nennt. Wissenschaftler haben herausgefunden, dass sich in westlicher Malerei die wichtigste Figur fast immer links auf dem Bild befindet. Adam steht zum Beispiel immer links von Eva. Zuerst dachte man, es hat etwas mit den Gehirnhälften zu tun, aber dann stellte man fest, dass es mit dem Lesen zusammenhängt. Analphabeten und Kinder zeigen diese unbewusste Voreingenommenheit nicht, und in arabischen Ländern, wo man von rechts nach links liest, ist die Anordnung der Figuren genau umgekehrt. Die Tatsache, dass wir lesen gelernt haben, orientiert uns also auch im Bildraum. -> O-TON: THE NATURE OF PERCEPTION HUSTVEDT My last book is really about perception, “The Blazing World” is about perception, and about the ordinary biases that we all have. It’s not that 9 there are biased people and unbiased people. There are degrees of bias only, and almost all of us typecast the world. And this goes way back to the wonderful German biophysicist Hermann von Helmholtz, who wrote a beautiful thesis on objects, and he talks about unconscious perceptual inference. So he was using the idea of the unconscious as where many philosophers and scientists before Freud - Freud drew on Helmholtz - to talk about exactly this: That we see the world in patterns. And those patterns create expectations. And those expectations are essential to how perception works. Now this idea was there in the literature, but it didn’t become a roaringly significant idea until rather recently. There are a lot of neurobiologists now working on exactly this. How do we see things? Well, the brain seems to be a predictive organ, and the way it predicts things is through the past. Helmholtz, all over again. ÜBERSETZUNG Mein aktuelles Buch, „Die gleißende Welt“, ist ein Buch über Wahrnehmung. Wir haben alle unsere Vorurteile. Es gibt nicht Menschen mit Vorurteilen und Menschen ohne. Es gibt nur Abstufungen von Voreingenommenheit, wir alle typisieren die Welt. Der wunderbare deutsche Biophysiker Hermann von Helmholtz hat noch vor Freud das Unterbewusste herangezogen, um genau das zu beschreiben: Wir sehen die Welt in Mustern. Diese Muster erzeugen Erwartungen. Und diese Erwartungen spielen eine zentrale Rolle in unserer Wahrnehmung. Heute beschäftigen sich zahlreiche Neurobiologen genau mit diesem Phänomen. Wie sehen wir die Welt? Das Gehirn scheint ein prognostizierendes Organ zu sein, und es erstellt seine Voraussagen auf Grundlage der früheren Erfahrungen. Helmholtz! MUSIK AUTOR Herbst 1996, Indian Summer in New York. Die Türme des World Trade Center glitzern in der Sonne, und Paul Auster ist noch kein weltberühmter Autor. Siri Hustvedt hat gerade ihren zweiten Roman veröffentlicht und steht am Anfang ihrer künstlerischen Laufbahn. 10 Eines Abends bringt meine Tante einen Flyer mit, auf dem steht, dass Hustvedt aus ihrem neuen Roman lesen wird, in einer kleinen Buchhandlung um die Ecke. - Wer ist Siri Hustvedt? Ich habe den Namen noch nie gehört. - Paul Austers Frau. Ich plaudere öfter mit ihr und habe ihren ersten Roman gelesen. Sie ist toll! Mit klopfendem Herzen gehe ich hin. Wie oft habe ich mir dieses Brooklyn, das Brooklyn der Schriftsteller, der Intellektuellen und Musiker ausgemalt, während ich in meinem Schaukelstuhl saß, und der Mond über den Marillenbäumen stand? Und nun begegnet meine Vorstellung der Wirklichkeit: Ich sitze in einem echten Buchladen, neben mir gluckert der Heizkörper, der Klappstuhl ist unbequem, ich weiß nicht, wohin mit meiner Jacke. Die großen Fenster sind beschlagen und lassen die Lichter der Großstadt nur verschwommen herein. Brooklyn zeigt sich von seiner gemütlichen Seite. Zwanzig, dreißig Menschen sind gekommen, viele scheinen einander zu kennen. Und an einem schmalen Tisch sitzt eine gut gelaunte, schlanke Frau Anfang vierzig und liest aus ihrem Buch „Die Verzauberung der Lily Dahl“. Vor der ersten Stuhlreihe auf dem Fussboden: Paul Auster, die gemeinsame Tochter Sophie auf den Knien. Beide hören sie aufmerksam zu. Nach der Veranstaltung kaufe ich das Buch und gehe zu Siri Hustvedt, um es mir von ihr signieren zu lassen. „For Janko“ schreibt sie mit schwungvollem Strich. „From Siri Hustvedt“. Da weiß ich noch nicht, wie sehr das Werk dieser Schriftstellerin, mich begleiten und beschäftigen wird. MUSIK ESSAY Ich war Anfang zwanzig, als ich „det/das“ von Inger Christensen zum ersten Mal las, und ich hatte das Gefühl, eine Offenbarung zu erleben. AUTOR Dass dieses Werk mich Jahre später dazu ermuntern wird, mich lesender Weise weit aus meiner intellektuellen Komfort-Zone hinauszuwagen. Dass es mich an abenteuerliche, manchmal beunruhigende Orte führen wird auf meiner Reise durchs „Gedankenland“. 11 ESSAY Dieses Werk war anders, als alle, die ich je gelesen hatte - seine Rhythmen und Wiederholungen waren die meines Körpers, meines Herzschlags, meines Atems und des Schwingens meiner Arme beim Gehen. AUTOR Dass es meinen Blick auf die Welt verändern wird. ESSAY Beim Lesen bewegte ich mich nach seiner Musik. (...) AUTOR Während seine Frau Bücher signiert, steht Paul Auster an einem der Bücherregale und schmökert. Ich nehme meinen ganzen Mut zusammen und gehe auf ihn zu. ESSAY Ich habe sie zweimal getroffen, das erste Mal bei einem Festival in New York. Ich eilte auf sie zu, schüttelte ihr die Hand und stammelte im Bemühen, meine starke Bewunderung auszudrücken, ein paar Worte. Sie war freundlich. (Hustvedt 2012: 94) AUTOR Ich bräuchte einen Ozean von Worten, um meine Bewunderung auszudrücken. Ich bin achtzehn. Es ist eher so, dass ein Ozean zwischen mir und dem ersten Wort liegt. Auch Paul Auster ist freundlich. Er fragt mich, ob ich seine Bücher auf Deutsch gelesen und wie mir die Übersetzung gefallen habe. Ich kenne sie nur im englischen Original. Nach wenigen Sätzen hat sich unser Gespräch erschöpft. Als ich eine halbe Stunde später auf den Treppen vor der Haustüre meiner Tante noch eine letzte Gauloises rauche, sehe ich die Familie Auster-Hustvedt nach Hause gehen. Die kleine Sophie hüpft an den Händen ihrer großen Eltern den Hügel hinauf. -> O-TON: LIFE HAS TAKEN UNPREDICTABLE TURNS & WHY PAUL IS A VALUABLE FIRST READER HUSTVEDT My life has taken turns, to be perfectly honest, that I could never have predicted. Paul has been particularly valuable to me as a reader because in some of the non-fiction in particular he can tell me when he simply does not know what I am talking about. And I don’t want my work to become opaque to a person who isn’t steeped in the lingo, or the vocabulary of these particular disciplines. So he’s really important to me because he is highly intelligent and read a lot of philosophy when he 12 was young, but doesn’t know much about science and certainly really nothing about neuroscience. And else for the fiction, we have sped up each other’s books, because by having such a sharp reader in your own house that reader inevitably points out what you suspected was a weakness, and needed reworking. I think that it’s really not hard to accept criticism that rests on a bed of respect. I think that that’s the secret. And it can even be, Oh, my goodness, you’ve totally went off the deep end there, that’s happened, in both cases, but because the other person is hell-bent on whatever project you’re working on being the very best that it can possibly be, it’s not hard. It’s not painful. I think what’s most painful for writers, or maybe I should just speak for myself, what’s most painful for me is when I feel that my work has been profoundly misunderstood. ÜBERSETZUNG Mein Leben hat völlig unvorhersehbare Wendungen genommen. Paul ist für mich als erster Leser meiner Essays besonders kostbar. Er hat als junger Mann viel Philosophie gelesen, aber mit Wissenschaft hat er nichts am Hut und von Neurowissenschaft hat er wirklich keine Ahnung. Er kann mir sagen, wenn er nicht versteht, worüber ich rede, und das ist mir wichtig, weil ich nicht möchte, dass meine Arbeit unverständlich wird für Leser, die nicht vertraut sind mit dem Vokabular der jeweiligen Disziplinen. Was die Romane betrifft, haben wir unsere Arbeit gegenseitig beflügelt. Wenn man einen so intelligenten Leser im Haus hat, kann man sicher sein, dass man auf jede kleine Schwäche im Text hingewiesen wird. Es ist nicht schwer, mit Kritik umzugehen, die begleitet ist von großem Respekt. Das ist, glaube ich, das Geheimnis. Es ist auch schon passiert, dass einer dem anderen sagt, ich glaube, du hast dich hier total verrannt. Aber weil der andere so tief von deiner Arbeit überzeugt ist, ist auch das nicht schmerzhaft. Ich glaube, am schmerzhaftesten für einen Schriftsteller ist es, oder vielleicht sollte ich nur von mir sprechen, wenn ich merke, dass meine Arbeit grundlegend missverstanden wurde. AUTOR Im Laufe der Zeit lese ich all ihre Bücher. Manche ihrer sechs Romane berühren mich sehr, andere lassen mich ein wenig ratlos zurück. Aber mein Interesse an ihrer Arbeit erlischt nie. 13 Im Sommer 2012 kaufe ich Siri Hustvedts neuen Essayband, „Living, Thinking, Looking“. Hustvedt hat sich inzwischen zu einer prominenten interdisziplinären Denkerin entwickelt. ESSAY Ich glaube nicht, dass die Frage, was es bedeutet ein Mensch zu sein, je aus einer Disziplin heraus vollständig beantwortet werden kann. -> O-TON: HOW I GOT INTERESTED IN INTERDISCIPLINARY THINKING HUSTVEDT I remember when I was in college, and it’s strange, because this memory is emotionally very strong, but I cannot remember who I was reading, now, I might have been reading someone like Walter Benjamin, or one of the Frankfurt School – thinkers, but I’m not sure. I left the library to go and have lunch, and walking out of the library I felt a kind of despair. I remember I thought: You’ll never be able to put things together like that, you’ll never be able to integrate various kinds of knowledge into one coherent thought. You’re so far away from it. And it was truly depressing to me, I have to say. And I think that that idea of a synthetic mind has lead me along for a long time. And it was sometime in my forties when I had this intense feeling that I actually was capable of synthesizing different kinds of knowledge, and thinking about the same problem from a number of points of view, and it made me very happy. And I have just continued to do that. There is a certain absurdity at times, because knowledge is infinite, it goes on and on and on. Once you start tracking an idea, you also get very lost very quickly. I’ve been reading recently books for lay-people, for nonphysicists about time. You know, this is enough to make your hair stand on end (lacht), but nevertheless, I pursue it, because even though I am not able to understand mathematically how physicists approach a certain problem, there are ways that an outsider can penetrate at least to some degree what the problems are. ÜBERSETZUNG Ich erinnere mich an einen Nachmittag auf dem College. Es ist eigenartig. Die Erinnerung ist emotional sehr stark, aber ich weiß nicht mehr, wen ich gelesen habe. Es könnte Walter Benjamin 14 gewesen sein, oder ein Denker der Frankfurter Schule. Jedenfalls verließ ich in der Mittagspause die Bibliothek und war ganz deprimiert. Ich dachte: Du wirst nie in der Lage sein, verschiedene Wissensbereiche zu einem kohärenten Gedankengang zu verbinden. Du bist so weit davon entfernt. Diese Idee hat mich seither angetrieben. Irgendwann in meinen Vierzigern hatte ich das Gefühl, dass es mir gelingt, unterschiedliche Arten von Wissen zusammenzufügen, und das hat mich sehr glücklich gemacht. Es ist aber manchmal auch absurd. Wissen ist unendlich, und beginnt man einmal, der Spur eines Gedanken zu folgen, kann man sich leicht verlieren. Kürzlich habe ich Bücher für Laien über die Zeit gelesen. Und schon die sind kaum zu begreifen! Aber ich gehe dem trotzdem nach, auch wenn ich nicht mathematisch verstehen kann, wie Physiker sich einem bestimmten Problem nähern. Man kann auch als Außenseiter in ein Thema immer bis zu einem gewissen Grad eindringen, und zumindest die Fragestellungen verstehen. MUSIK - O-TON/MUSEUM: WHEN A REMBRANDT IS NOT A REMBRANDT HUSTVEDT (Gehen, Museumsgeräusche). I often use that example, when a museum discovers that the Rembrandt they have is not a Rembrandt? What happens to that picture? It goes straight to the basement. Now, the picture has not changed. What has changed is the perception of the picture. And that is actually a real, physical phenomenon, right? ÜBERSETZUNG Was passiert, wenn ein Museum bemerkt, dass der Rembrandt, den sie haben, kein echter Rembrandt ist? Das Bild geht direkt ins Depot, obwohl es sich nicht verändert hat. Was sich verändert hat, ist unsere Wahrnehmung des Bildes. HUSTVEDT (Gehen, Museumsgeräusche). Do you know the wine-story? AUTOR The wine-story? 15 HUSTVEDT These neurobiologists in California did a study of wine. About the same bottle of wine they told the subject that it was 10 dollars or 100 dollars. What’s interesting about the story is not that everybody preferred the 100-dollar-bottle of wine, what’s interesting is that different parts of the brain, we’ll not go into it there, were activated by the 100-dollar-bottle of wine that were not activated by the 10-dollar-bottle. So you’re really having a physiologically different experience with the 100-dollar-bottle of wine and the Rembrandt. Now this, of course, opens up a philosophical can of worms. It means that your expectations are part of the biological reality of your experience. ÜBERSETZUNG Kalifornische Neurobiologen haben das untersucht. Den Testpersonen wurde derselbe Wein in zwei Flaschen serviert und erzählt, dass die eine 10-Dollar, die andere 100-Dollar kostet. Natürlich hat allen der Wein aus der teuren Flasche besser geschmeckt. Die Wissenschaftler fanden aber auch heraus, dass bei der 100-Dollar-Flasche andere Areale im Gehirn aktiviert wurden, als bei der 10-Dollar-Flasche. Man hat also mit dem 100Dollar-Wein und mit dem echten Rembrandt ein physiologisch anderes Erlebnis! Unsere Erwartungen beeinflussen die biologische Wirklichkeit unseres Erlebnisses. Aus philosophischer Sicht führt uns das aufs Glatteis. AUTOR In der Philosophie haben es ihr besonders die Phänomenologen angetan. Edmund Husserl wird oft zitiert, Maurice Merleau-Ponty nennt Siri Hustvedt ihren „Lieblingsphilosophen“. Als sie, die ein Leben lang an Kopfweh und Migräne leidet, während einer Rede zum Gedenken an ihren verstorbenen Vater vom Hals abwärts am ganzen Körper zu zittern beginnt, wissen die Ärzte keinen Rat. Hustvedt, die sich früh für die Neurowissenschaften interessiert hat, vertieft fortan ihre Auseinandersetzung mit den Nerven und dem Gehirn. In den Neurowissenschaften findet sie vieles bestätigt, was sie bei den Philosophen und Denkern früherer Epochen interessiert. Sie besucht Vorlesungen und Fachkongresse und lernt Menschen wie den Hirnforscher Vittorio Gallese kennen. Gallese war an der bahnbrechenden Entdeckung der Spiegelneuronen beteiligt und 16 setzt sich intensiv für den Austausch zwischen den Natur- und den Geisteswissenschaften ein. Die Philosophen müssen die Fragestellungen formulieren, denen die Neurowissenschaften nachgehen sollen, fordert er. Auch die Psychoanalyse liefert Hustvedt tiefere Erkenntnis und neue Fragen. Längst hat Siri Hustvedt mit ihrem interdisziplinären Ansatz die Aufmerksamkeit der Fachwelt erregt. Sie hielt Vorträge über Kunst und Kunsttheorie im Museum of Modern Art, im Prado und in der Münchner Akademie der Künste. Sie sprach vor der Neuropsychoanalysis Foundation in New York über Kierkegaard zu dessen 200. Geburtstag in Kopenhagen. Sie veröffentlichte ein neurowissenschaftliches Paper und wurde eingeladen, die renommierte Freud-Lecture in Wien zu halten. -> O-TON: ÜBER MIRROR NEURONS + THE SHARED MANIFOLD HUSTVEDT It was discovered by accident. And it’s a very simple thing to understand, actually, mirror neurons. There are many complexities surrounding mirror neurons, but the basic reality is simple, and it’s simply this: They discovered that the same neuron fires when a monkey grabs a banana, and it also fires in the monkey looking at the other monkey grabbing the banana. So there is a mirroring going on neurobiologically inside both monkeys, even in the monkey that’s not doing anything. Now, it seems clear that these mirror systems also exist in human beings, in fact, I don’t think there is much dispute. There is lots of controversy, but now, I think, it’s pretty much settled down to: these systems exist, and the controversies are over what they mean, how do we think about them, what are the philosophical and greater consequences of this, are mirror neurons present at birth, or do they develop over time, all of this is still up for grabs. ÜBERSETZUNG Die Spiegelneuronen wurden durch Zufall entdeckt. Es gibt viele komplexe Fragestellungen in diesem Zusammenhang, aber die Sache an sich ist einfach zu verstehen: Man hat herausgefunden, dass bei zwei Affen, von denen einer nach einer Banane greift und der andere ebendies beobachtet, das gleiche Neuron feuert. Es gibt also in beiden Affen eine neurobiologische Spiegelung, auch bei dem, der gar nichts tut. Heute weiß man, dass es diese Spiegelungssysteme auch beim Menschen gibt. Die Kontroversen drehen sich darum, was sie bedeuten, welche philosophischen 17 Konsequenzen diese Erkenntnisse haben, um die Frage, ob Spiegelneuronen bereits von Geburt an da sind oder ob sie sich erst entwickeln. MUSIK ESSAY Wir finden uns selbst zuerst in den Augen unserer Mutter, und wir reagieren auch als Erwachsene weiterhin stark auf den Gesichtsausdruck anderer Menschen, lange nachdem wir aufgehört haben, ihre Mimikry nachzuahmen. (...) HUSTVEDT Vittorio has a very nice idea which he calls a “shared manifold”. And that is that there is a space created between two individuals that is shared. It actually has a spatial component. You’re pretty close, you’re in a kind of „peripersonal space”, he calls it. ÜBERSETZUNG Vittorio (Gallese) hat den schönen Begriff „Geteilte Mannigfaltigkeit“ gefunden. Er glaubt, dass durch Spiegelung zwischen zwei Individuen ein gemeinsamer Raum entsteht. Das hat tatsächlich eine räumliche Komponente, man ist sich ziemlich nahe, er nennt es einen „wir-zentrischen Raum“. ESSAY Die Entdeckung menschlicher Spiegelungssysteme in der Neurowissenschaft unterstreicht, was viele Psychologen und Philosophen schon lange über die dialektische Beziehung zwischen dem Selbst und dem anderen postulieren, und dieses unbewusste neuronale Feuern vollzieht sich bei Menschen, egal ob wir eine reale Person betrachten, eine Fotografie oder das gemalte Bild einer Person. (...) 18 HUSTVEDT These ideas that have been around for a very long time in Martin Buber, but also, you know , Hegel’s famous Master/Slave-chapter in the Phenomenology, which posits self-consciousness through the other. ESSAY Die Wechselwirkung zwischen Personen ist unbestritten real und kann nicht in der Isolation erfolgen. Was ein Ich wird, ist im Du eingebettet. Wir sind grundsätzlich soziale Wesen, und unser Gehirn und unser Körper entwickeln sich durch andere. (Hustvedt 2012: 441f) -> O-TON/MUSEUM: ATMO (Schritte, Stehenbleiben, Bildbetrachtung, kein konkreter Text) AUTOR Diese unterbewussten Spiegelungen spielen auch in der Rezeption von Kunst eine Rolle. Was genau passiert eigentlich, wenn wir ein Kunstwerk betrachten? Wenn wir ein Musikstück hören oder ein Buch lesen? In zahlreichen Aufsätzen und Essays widmet sich Siri Hustvedt diesen Fragen und kommt, ganz von der phänomenologischen Perspektive geprägt, dabei immer wieder auf ihre eigene Erfahrung in der Auseinandersetzung mit Kunst zurück. ESSAY Die Betrachtung von Kunst kann nicht von unserer gelebten Erfahrung mit der Welt getrennt werden, das Bild existiert in meiner Wahrnehmung von ihm. (…) Jede Begegnung mit einem Kunstwerk ist (...) subjektiv. Unsere sinnliche Wahrnehmung von Duchamp, Kosuth, Richter oder Darger ist nicht objektiv, keine Erfahrung in der dritten Person. (...) Was geschieht, geschieht zwischen mir und dem Bild. (Hustvedt 2012: 450) 19 -> O-TON: WHAT HAPPENS WHEN WE LOOK AT A WORK OF ART? HUSTVEDT I think it’s really important to locate looking at art or reading a book or listening to music in an intersubjective context. And what I mean by that is that it’s a relationship between a spectator, a listener and a reader with the object. Now that object, unlike a chair or a fork, is imbued with the remnants or the traces of a living consciousness. And I think we treat art like that, we all treat it like that that it’s not completely a thing, it’s not completely an object. It’s also imbued with the sense that there was someone in it. So it’s not a purely “I and You-relation”, but it carries aspects of an “I and You-relation”. And the viewer or the reader or the listener is the person who animates the work of art. And those same properties that we were talking about, mirroring, are at work in reading, looking at a work of visual art and listening to music. And they are motor-sensory, you know, motions literally, that are activated inside us. So, I think it’s important to think about this relationship to art not as one between a living person and just a dead thing, but as something that activates this “between area”. ÜBERSETZUNG Wir erleben ein Kunstwerk nicht wie ein reines Objekt. Anders als ein Stuhl oder eine Gabel ist es von einem fremden Geist gefärbt. Es ist keine reine „Ich-Du-Beziehung“, aber es hat Aspekte davon. Der Betrachter, der Hörer, der Leser erfüllt das Kunstwerk mit Leben. Kunst aktiviert diese „Zwischenzone“. MUSIK ESSAY Wenn wir ein Kunstwerk bewundern, vollzieht sich immer eine Art Erkennen. Das Objekt spiegelt (…) die Wahrnehmung des Anderen, des Künstlers, die wir uns zu Eigen gemacht haben, weil sie etwas in uns anklingen lässt, das wir für wahr halten. Diese Wahrheit mag bloß ein Gefühl sein, nichts als ein summender Nachklang, den wir nicht in Worte fassen können, oder sie mag sich zu einer gewaltigen diskursiven Auseinandersetzung entwickeln. Sie muss aber da sein, damit die Verzauberung eintritt – dieser Ausflug ins Du, das auch ein Ich ist. 20 MUSIK AUTOR Herbst 2012. Pünktlich um fünf Uhr dreißig will mein Sohn seinen Tag beginnen. Ich mache mir eine Tasse Kaffee und setze mich mit dem zwei Monate alten Säugling aufs Sofa. Wir schauen den Vögeln zu, wie sie über den Dächern ihre ersten Runden drehen. Eine Viertelstunde später ist er wieder eingeschlafen. Seine letzte Schlafphase möchte er gerne auf mir verbringen. Morgen für Morgen lese ich in den Stunden zwischen Nacht und Tag Siri Hustvedts Essayband „Living, Thinking, Looking“, während mein Sohn friedlich auf mir schläft. Wie nie zuvor habe ich das Gefühl, dass Hustvedt Beobachtungen formuliert und in einen größeren Kontext setzt, die mir vertraut sind. Dass sie Erfahrungen, die ich nur als intuitive Gestimmtheiten kenne, ausspricht. Und dass sie Worte findet für die Sprachlosigkeit, mit der wir dem Unterbewussten gegenüber stehen. Den Empfindungen in uns, die sich der Kartographie unseres bewussten Geistes entziehen. ESSAY Dieses Werk war anders, als alle, die ich je gelesen hatte - seine Rhythmen und Wiederholungen waren die meines Körpers, meines Herzschlags, meines Atems und des Schwingens meiner Arme beim Gehen. Beim Lesen bewegte ich mich nach seiner Musik. AUTOR Was ihn beim Lesen am meisten inspiriere, hat der Schriftsteller Michael Köhlmeier einmal gesagt, sei, dass man sich selbst in kleinsten Details wiedererkennt. Dass man seine eigenen Gedanken, Beobachtungen und Gewohnheiten in dem Fremden wieder findet. -> O-TON: THE DANGERS OF SERIOUS READING HUSTVEDT The serious reader, if you will, a person who takes reading seriously, and is on a mission of curiosity, will experience moments of… well,… I think: fear. And disorientation. A kind of dizziness, if you will. I’ve been reading very recently Alfred North Whitehead, the English philosopher, who I never read. And this is an extremely disorienting experience. I happen to love Whitehead, but I cannot make 21 pronouncements about rightness and wrongness. In fact I have just finished a book, I haven’t finished the footnotes, called “The Delusions of Certainty”, and in some way it’s a book about the mind. How do we understand the mind? What does it mean to talk about mind? Is it the same as the brain? And the book does not arrive at a final conclusion, because, in fact, there is no final conclusion, as far as I can see. ÜBERSETZUNG Jeder ernsthafte Leser, der sich auf einer „Mission der Neugier“ befindet, wird Momente der Angst erleben, der Verwirrung. Ich habe kürzlich den englischen Philosophen Alfred North Whitehead gelesen. Eine sehr verwirrende Erfahrung. Ich liebe Whitehead, aber ich kann keine Aussagen über richtig oder falsch treffen. Ich habe gerade ein Buch von ihm zu Ende gelesen, worin er fragt, wie wir den Geist verstehen. Was bedeutet es über den Geist zu sprechen? Ist Geist gleichbedeutend mit Gehirn? Das Buch findet keine abschließende Antwort, und so, wie ich es sehe, gibt es auch keine. MUSIK ESSAY/AUTOR Offenheit für ein Buch ist unerlässlich; und Offenheit ist einfach die Bereitschaft, sich von dem, was wir lesen, verändern zu lassen. (Hustvedt 2012: 186) AUTOR Ich beginne, mich in den immensen Referenzraum der Hustvedtschen Essays vorzuwagen und lese nun gezielt Werke von Wissenschaftlern und Philosophen, auf die Hustvedt Bezug nimmt. Bei dem Neurobiologen Antonio Damasio lese ich über die biologischen Grundlagen der Entstehung von Bewusstsein und meines Ich-Gefühls. ESSAY Man muss sich das Selbst als ein Kontinuum vorstellen – als eine in der Zeit ablaufende, zusammenhängende Geschichte. 22 (Hustvedt 2006: 161) AUTOR Ich lerne, dass Erinnerung etwas Gegenwärtiges ist und auf Grundlage der momentanen Verfassung beständig neu erzählt wird. ESSAY We are constantly becoming ourselves. AUTOR Dass auch unser Ich-Gefühl prozesshaft ist, fragil und in beständigem Wandel, und dass es einen narrativen Charakter besitzt. ESSAY Es ist plausibel, dass Erzählen, eine (…) Form menschlichen Denkens, die an sich das Erinnern nachahmt, sich auf das Bedeutsame konzentriert und Bedeutungsloses weglässt. Was mir gleichgültig ist, vergesse ich meistens. Die Geschichten in der Erinnerung und in der Fiktion sind auch aus Fehlendem gemacht – dem ganzen Material, das ausgelassen wird. (Hustvedt 2012: 239f) AUTOR Ich begegne bei meiner Lektüre Vittorio Gallese und den Spiegelneuronen und lese darüber, dass es vermutlich einen Zusammenhang zwischen dem Entstehen von Sprache und den motorsensorischen Systemen im Gehirn gibt. Mir gefällt der Gedanke, dass Sprache vielleicht aus der Bewegung kommt, im Körper zutiefst verwurzelt ist. Meine Neugier ist entfacht. Ich fange an, auf eigene Faust weiter zu forschen, lese den Philosophen Thomas Metzinger, der eine erste philosophische Einordnung der aktuellen Erkenntnisse aus dem Bereich der Neurowissenschaften versucht, und den Siri Hustvedt, wie sie mir später erzählt, brillant findet, auch wenn sie in „fast keinem einzigen Punkt“ mit ihm übereinstimmt. Ich lese Wolf Singer, Mathieu Ricard, Oliver Sacks, Joachim Bauer und Gerald Hüther. Ich hole Freuds Traumdeutung aus dem Regal, ich kaufe Bücher von Maurice Merleau-Ponty. Ich studiere historische naturphilosophische Texte von Lukrez bis Margaret Cavendish. Und schließlich wage ich mich an Søren Kierkegaard heran. 23 -> O-TON: READING AGAINST MY INTENTIONS HUSTVEDT But I intentionally read against myself. In other words, I read books that I know are in some way in violation of my natural sympathies, because it expands your thinking, it really does. But it does create ambiguity, and sometimes terror. You can’t really extract your personality or your character from your reading experiences. But you can open yourself up to ideas that violate some of that deeply held believes that you may have had before, so that you have to alter them in some way. And I think that the story of my own intellectual journey has been precisely that. That books that I read either tweak or alter how I look at the world. And that’s very exciting, but it does not happen without periods of fear and disorientation. ÜBERSETZUNG Ich lese bewusst gegen meine Neigungen. Das erweitert das eigene Denken, aber es erzeugt auch Zweifel und manchmal Schrecken. Du kannst deine Leseerfahrungen nicht von deiner Persönlichkeit, deinem Charakter trennen. Aber du kannst dich öffnen für Ideen, die im Widerspruch stehen zu deinen tiefen Überzeugungen. Ich glaube, dass meine eigene intellektuelle Reise genauso ihren Lauf genommen hat: Dass Bücher, die ich gelesen habe, meinen Blick auf die Welt verschoben oder verändert haben. Das ist aufregend, aber es geschieht nicht ohne Zeiten der Angst und der Orientierungslosigkeit. MUSIK AUTOR Auch auf meiner Reise durchs „Gedankenland“ von Hustvedts Essays erlebe ich Momente des Widerspruchs. Ich reibe mich auf an ihren brillanten Beobachtungen, an ihren präzise geführten Schlussfolgerungen, die tief in mir verwurzelte Lebensanschauungen in Frage stellen und dies mit zahlreichen Fußnoten untermauern. Aber längst geht es nicht mehr darum, mich mit dem, was ich lese, uneingeschränkt zu identifizieren. Mein Lesen ist mehr geworden. 24 Konsequent einem fremden Gedanken zu folgen macht mir Spaß, es fordert mich heraus, erhöht mein Bewusstsein für die Vielfalt an Möglichkeiten, ein Problem zu betrachten. Besonders dort, wo ich in Widerspruch zu dem Gelesenen gerate, wird mir bewusst, wie wichtig es ist, mich ohne Angst einer Fragestellung zu öffnen. Und ich mache die Beobachtung, dass in dem Maße, in dem ich beim Lesen Unsicherheit zulassen kann, etwas in mir sicherer wird. ESSAY We are constantly becoming ourselves. AUTOR Als ich Kierkegaards „Entweder-Oder“ fertig gelesen habe (mein Sohn ist inzwischen zwei), fallen mir Siri Hustvedts Essays wieder ein. Hustved war irgendwo im Hintergrund präsent, aber die Leseerfahrung ist meine eigene geworden, sie würde sagen „my embodied experience“. Die Essays waren mein Kompass - „my true north“ - in einer Gedankenlandschaft, durch die ich mir „phänomenologisch“ meinen eigenen Weg erwandert habe. Ich war achtzehn, als ich Siri Hustvedt aus ihrem Buch „Die Verzauberung der Lily Dahl“ vorlesen hörte, in der kleinen Buchhandlung in Brooklyn. Neunzehn Jahre sind seitdem vergangen. Als Siri Hustvedt nach Köln kommt, um ihren aktuellen Roman vorzustellen – im Rahmen eines Philosophiefestivals – fühle ich mich bereit, ihr ein zweites Mal zu begegnen. MUSIK ESSAY Ich habe Inger Christensen zweimal getroffen, das erste Mal bei einem Festival in New York. Ich eilte auf sie zu, schüttelte ihr die Hand und stammelte im Bemühen, meine starke Bewunderung auszudrücken, ein paar Worte. Sie war freundlich. Die zweite Gelegenheit bot sich in Kopenhagen bei einem Dinner, bei dem ich neben meinem Idol saß. 25 AUTOR An einem Sonntag Anfang Mai bin ich mit Siri Hustvedt im Museum Ludwig verabredet. ESSAY Sie war reizend, witzig und sagte mir, sie komme nicht mehr nach New York, weil man dort nicht mehr rauchen dürfe. AUTOR Wir wollen miteinander sprechen und uns gemeinsam ein paar Bilder anschauen. ESSAY Die lustige, unprätentiöse Frau am Tisch und die große Dichterin waren eins, und doch gab es eine Kluft zwischen der Person im Raum und der Person im Buch. Ich kannte die Frau nicht, die Dichterin aber hat meine innere Welt verändert. (Hustvedt 2014: 94) AUTOR Zwei Minuten vor der verabredeten Zeit betritt eine große blonde Frau in elegantem Hosenanzug und mit Sonnenbrille das Foyer. Sie wird von der Pressechefin des Rowohlt-Verlags begleitet. Siri Hustvedt ist längst keine unbekannte Schriftstellerin mehr. Ihre Bücher sind Bestseller und werden in 29 Sprachen übersetzt. Im Februar ist sie sechzig geworden. - Sie trägt Sonnenbrille in geschlossenen Räumen, sage ich zu der jungen Frau aus dem Pressebüro des Museums, die neben mir steht. Wünschen sie mir Glück. Meine Sorge ist unbegründet. Siri Hustvedt ist gut gelaunt. Ihr Händedruck ist kräftig, sie nimmt die Sonnenbrille ab und schaut mich an. Sie ist einen Kopf größer als ich. Während wir einen langen Flur entlang gehen, erzählt sie mir, dass ihre Europareise und somit auch unsere Begegnung beinahe geplatzt wären. Erst am Flughafen habe sie erfahren, dass Ihr Reisepass nicht mehr lange genug gültig sei. Sie musste umkehren und ihn verlängern lassen, erst dann durfte sie ausreisen. Die Museumsleitung hat uns einen Konferenzraum zur Verfügung gestellt, in dem wir uns ungestört unterhalten können. Sie hängt ihre Jacke über die Stuhllehne. Noch bevor Siri Hustvedt sich hingesetzt hat, sagt sie: - Okay, let’s go! -> O-TON: THE JOY OF BEING UNDERSTOOD & THE IMPULSE OF MAKING ART 26 HUSTVEDT The joy of being understood is one of the great things. And I think the impulse behind making art or making a book of any kind is the impulse to make very clear not only the thoughts but the feelings that you are trying to give to the other. So when that works, it’s wonderful. But, of course, it doesn’t always work. ÜBERSETZUNG Das schönste für mich als Autorin ist es, verstanden zu werden. Und ich glaube, der Impuls ein Kunstwerk zu schaffen oder ein Buch zu schreiben, ist der Impuls, dem anderen nicht nur Gedanken, sondern auch Stimmungen klar zu vermitteln. Es ist wunderbar, wenn das funktioniert. Aber natürlich funktioniert es nicht immer. MUSIK ESSAY Für mich war künstlerisches Schaffen immer so etwas wie bewusstes Träumen. Der Stoff für eine Geschichte stammt nicht aus dem, was ich weiß, sondern aus dem, was ich nicht weiß, aus Impulsen und Bildern, die oft ohne mein Zutun aufkommen, ein ganz und gar seltsamer Prozess, der ins Spiel kommt, wenn ich in meinem Werk eine andere Person werde. Dabei besteht der Akt des Schreibens nur in einem: Wörter zu Papier bringen, die von jemand anderem gelesen werden. (Hustvedt 2006: 33f) -> O-TON: LOOKING AT ART REQUIRES OPENNESS HUSTVEDT I think of it as an actual bodily state. Art is like sex. If you don’t relax, you won’t enjoy it. I am talking about a state, a physical state of relaxation, and openness to what you’re reading. Now, no-one, as I’ve said earlier, can purify herself or himself of all our biases, we can’t drain ourselves of the past, we can’t become another person, but we can relax. It’s like listening to strange music. The first time I heard Chinese opera, I remember, I had to really relax to try to listen openly to these 27 unfamiliar sounds. And I think only that kind of openness leads to pleasure. Otherwise you are defended. Psychoanalysis has very good ways of talking about this that people are simply cut off from the outside. ÜBERSETZUNG Das ist ganz körperlich. Kunst ist wie Sex. Wenn du dich nicht entspannst, wirst du es nicht genießen. Ich meine einen Zustand körperlicher Entspannung und Offenheit für das, was du siehst oder liest. Wir können uns nicht von unserer Vergangenheit und unserer Voreingenommenheit befreien, aber wir können uns entspannen. Als ich das erste Mal chinesische Oper hörte, musste ich mich entspannen, um mich den unvertrauten Klängen zu öffnen. Ich glaube, dass nur Offenheit zu Freude und Genuss führt. Sonst verliert man sich in Abwehrmechanismen. MUSIK AUTOR Am Ende unseres Gesprächs signiert Siri Hustvedt meine zerlesene Ausgabe von „Living, Thinking, Looking“. - O-TON/ATMO: SIRI HUSTVEDT SIGNIERT DAS BUCH. (Schreibgeräusche) HUSTVEDT What are my choices? AUTOR Fountain-pen? HUSTVEDT Fountain-pen is good. - ENDE O-TON/ATMO AUTOR „For Janko“ schreibt sie mit schwungvollem Strich. „With great happiness for that feeling of being read and understood. Siri” MUSIK 28 AUTOR Herbst 2015. Ich werde vor den Kindern wach. Mit einer Tasse Kaffee schleiche ich ins Arbeitszimmer und tippe die letzten Zeilen meines Manuskripts in den Computer. Durch die zwölf Quadrate des Fensters blicke ich auf den Sund, der ein paar Meter vor dem Haus Richtung Norden - ich stelle mir vor: Richtung Norwegen – führt. In diesem Haus an der dänischen Ostsee hat sich Bertolt Brecht mit seiner Familie sechs Jahre lang vor den Nazis versteckt. Walter Benjamin hat in diesem Garten Äpfel gepflückt, Hanns Eisler hat hier Lieder komponiert und auch Georges Grosz war einmal auf Besuch. Heute können hier Stipendiaten aus ganz Europa ein paar Wochen in Ruhe arbeiten. AUTOR Unweit von hier wurde Inger Christensen geboren. Im Nordosten liegt Kopenhagen, wo Kierkegaard gelebt, gedacht und geschrieben hat. Im Wohnzimmer steht ein uraltes Klavier, auf dem ich nachts, wenn die Kinder schlafen, spiele. Hier habe ich mich an meine Begegnung mit Siri Hustvedt erinnert. MUSIK - O-TON MUSEUM: LOOKING AT LOUISE BOURGEOIS (Schritte, Museumsatmo). AUTOR Do you want to see the Bourgeois drawings first? HUSTVEDT Oh, I’d love to. AUTOR It’s over there. HUSTVEDT (lacht), oh that’s so familiar. Oh, that’s a great drawing… oh, that’s fantastic… Well, you know, she developed this vocabulary. The spider keeps returning, and this sort of… these are very female… but this is a kind of amorphous male-female-figure. AUTOR And here, I was wondering, the face, this is the only head in all of them. 29 HUSTVEDT No, no, there are heads. AUTOR Yes, but the only one with just the head. HUSTVEDT Well, one thing we can say about Louise Bourgeois is that her work is deeply “embodied” to use that popular term now. Oh, they are wonderful… I love this one too… And this here this one is breasts and phallus, so she’s playing with the double thing… (lacht) MUSIK ABSAGE “Reading, Thinking, Looking“ – Eine Begegnung mit der Schriftstellerin Siri Hustvedt Von Janko Hanushevsky Mit Ausschnitten aus den Essaybänden „Nicht hier, nicht dort“, „Being a Man“ und „Leben, Denken, Schauen“ von Siri Hustvedt Es sprachen Leslie Malton und Stefko Hanushevsky Ton und Technik: Eva Pöpplein und Jens Müller Regie und Komposition: Merzouga Redaktion: Ulrike Bajohr Eine Produktion des Deutschlandfunks mit dem Bayerischen Rundfunk und dem Norddeutschen Rundfunk 2016. 30
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