1 Inhalt Was bisher geschah… 5 Wieder daheim 10 Ein ungebetener Gast 15 Salz21 Treibjagd28 Entführt! 37 Hexe51 Romantische Gedanken? 64 Gefahren aus der Vergangenheit 66 Regenzeit 75 Einkaufsbummel 83 Papier95 Franziskus 101 Soziale Kontakte 107 Neue Pläne 115 Rückkehr zu den grauen Bestien 119 Entscheidung 123 2 Bekannte Orte (1.Tag) 125 Formicula (2.Tag) 129 Der Nusswald (3.Tag) 134 Teufelshöhle (4.Tag) 138 Ein ganz normaler Tag (5.Tag) 143 Erdwürmer (6.Tag) 146 Heika (7.Tag) 152 Attadorn (8.Tag) 158 Mutanten (9.Tag) 168 Sommersonnenwende (10.Tag) 174 Abgang 179 Der Autor 181 3 4 Was bisher geschah… Eigentlich müssten wir längst tot sein. Eigentlich. Wir, das sind Sally Rutherford aus England, der Franzose Pierre Fournier und ich, Frank Rosbach aus Köln. Und warum müssten wir längst tot sein? Nun ja, wer wird schon über 500 Jahre alt! Doch immer der Reihe nach: Meine Freunde und ich arbeiteten als Biologen bei dem Firmen-Konsortium Galaxis in dem kleinen Örtchen Grissenbach im beschaulichen Siegerland. Nach dem Ausstieg der Amerikaner aus dem bemannten Raumflug 2011 stieg unsere Firma genau dort ein. An mehreren Standorten auf der ganzen Welt wurden die einzelnen Komponenten dafür entwickelt und produziert. Einige Jahre später wurden wir schließlich ausgewählt, um mit 21 anderen Astronauten den Flug zum Mars anzutreten. Fast alles lief programmgemäß, ein unbemanntes VersorgungsRaumschiff war schon planmäßig auf dem Mars gelandet. Da unser bemannter Transporter nicht auf Geschwindigkeit, sondern auf möglichst hohe Ladekapazität ausgelegt worden war, würde die Reise etwa 17 Monate dauern. Dabei sollte die Mannschaft den Flug im Tiefschlaf verbringen. Dazu wurden neuartige Schlafkammern mit einer extrem langlebigen Energieversorgung entwickelt. Zur Not sollten diese Schlafkammern auch auf dem Mars das Überleben sichern. Als letzter Test vor dem Start war eine 36-tägige Generalprobe geplant. Meine beiden Freunde und ich wurden als Testpersonen ausgewählt. Als wir erwachten, hatte sich unsere Welt komplett verändert. Es gab niemanden mehr in unserem Labor, niemanden mehr in unserer Firma. Ein handgeschriebener Zettel hing an der Nahrungsversorgung unserer Schlafkammern: „A-Krieg! Alle fliehen in Panik. Viel Glück! Ron.“ Ron war unser Labortechniker gewesen und hatte dafür gesorgt, dass wir dank seiner Voraussicht eine lange Zeit in unseren Schlafkammern überleben konnten. Doch es hatte sich nicht nur unsere Welt verändert, die ganze Welt war eine andere geworden! 5 Rund um unsere alte Firma waren Flora und Fauna mutiert, was wir auf die Radioaktivität nach einem Atomkrieg zurückführten. Doch wie und warum war es passiert? Und wie lange hatten wir eigentlich geschlafen? Wir wollten die Antworten in der Stadt Siegen mit ihren ehemals 100.000 Einwohnern suchen. Wenn es Überlebende gab, dann sicherlich dort. Wir machten uns also auf den Weg. Doch schon am gleichen Tag wurde ich von einer mutierten Pflanze (oder war es ein Tier?) angegriffen. Im letzten Moment rettete mich ein riesiger Kerl, der sich „Sams Sohn“ nannte. Wir beschlossen, den Weg zur Stadt Siegen gemeinsam fortzusetzen. Der Hüne berichtete uns von seinem Stamm aus dem Land Frankenfurt, der von Banditen niedergemetzelt worden war. Er hatte sich auf die Suche nach diesen Mördern seines Volkes gemacht. Es sollte sich später herausstellen, dass es sich um eine Art Piraten handelte, die von einem alten Schaufelraddampfer aus agierten. Unterwegs erkannten wir die gewaltige Kraft unseres Begleiters, als wir von einem Rudel Wolfshunde angegriffen wurden. In Siegen trafen wir auf den Stamm der Schlossmenschen, die unsere Fragen aber nicht beantworten konnten. Zum ersten Mal sahen wir, dass die Mutationen auch die Menschen betroffen hatten. Dennoch lebten mutierte und nicht mutierte Menschen hier friedlich miteinander. In einem Bunker aus dem zweiten Weltkrieg stießen wir auf eine Nachricht aus der Vergangenheit. Ein Mitarbeiter des Technischen Hilfswerks schilderte das Sterben der Siegener Bevölkerung. Die Vermutung lag nahe, dass atomare, biologische und chemische Waffen zum Einsatz gekommen waren. Mit einer kleinen Gruppe Überlebender hatte er sich auf den Weg nach Ahrweiler am Rhein gemacht, um im dortigen ehemaligen Regierungsbunker nach Antworten und Hilfe zu suchen. Wir beschlossen, seinem Weg zu folgen. Unterwegs hatten wir gegen verschiedene mutierte Bestien zu bestehen, was uns Dank Sams Sohn auch gelang. Wir wurden unterwegs zu echten Freunden und gründeten nach einem Ritual seines alten 6 Stammes einen neuen Stamm. Wir nannten ihn den Stamm der Biologen und gaben Sams Sohn den Namen Samson. Auf dem weiteren Weg entdeckten wir das gut geschützte Dorf Neu-Siegen, das von dem ehemaligen THW Mitarbeiter gegründet worden war. Der jetzige Stammesführer Franziskus, ein mutierter Großkopf mit emphatischen Talenten, zeigte uns sein paradiesisches Dorf und gab neue Hinweise auf die Piraten. Nachdem wir den Ort wieder verlassen hatten, entdeckten wir zufällig das Lager der Verbrecher. Ohne etwas auszurichten, zogen wir weiter, um zuerst nach Ahrweiler zu gelangen und anschließend Verbündete für den Kampf gegen die Piraten zu finden. Der ehemalige Regierungsbunker wurde erreicht. Hier erfuhren wir, das wir rund 500 Jahre verschlafen hatten und der Krieg wirklich mit ABC Waffen geführt wurde, wobei neu entwickelte EMP- (Elektro-Magnetischer-Puls) Waffen die Hauptrolle spielten. Der Krieg sollte über das Internet in den USA ausgelöst worden sein. Doch niemand wusste, wer dort auf den „Roten Knopf“ gedrückt hatte. Schließlich verließen wir den Bunker wieder und wurden von einem Stamm gefangen genommen, dessen Häuptling der vierarmige Nerius war- und ist. Nach einem „Kampf der Wahrheit“ zwischen Nerius und Samson – den letzterer gewann – fanden wir hier und bei einem Nachbarstamm Verbündete. Zusammen mit einigen Jägern und Jägerinnen beider Stämme eroberten wir das nur von Wachtposten besetzte Lager und zerstörten dort die Schusswaffen aus längst vergangener Zeit. Von den Gefangenen erfuhren wir von „schwarz gekleideten Fremden“, die angeblich die Piraten durch ein Fluggerät mit Schusswaffen versorgten und von Attil, dem Anführer der Verbrecher. Zu viert machten wir uns weiter auf die Suche nach diesem „Kapitän“. Auf einer kleinen Rheininsel konnten wir ihn schließlich aufspüren. Er hatte zuvor mit seinen Männern ein grausames Blutbad an den Menschen eines Dorfes angerichtet und feierte seinen Sieg ausgelassen auf der Insel. 7 Es gelang uns, Attil aus dem Lager der betrunkenen Piraten zu entführen. Bei einem Verhör erfuhren wir von ihm, das die schwarz gekleideten Fremden nur Hilfskräfte einer kleinen Gruppe „Gesichtsloser“ waren. Der Kapitän war überzeugt, dass diese „gesichtslosen Weißen“ (weil weißgekleidet) die eigentlichen Anführer sein mussten. Sie sollten Befehle gegeben haben, vor allem Frauen und Kinder zu töten. Niemand wusste, ob sie Mutanten oder vielleicht sogar Außerirdische waren. Bevor der Verbrecher noch weitere Hinweise geben konnte, stürzte er bei einem Befreiungsversuch und brach sich dabei das Genick. Nachdem wir die Verfolger mit einer vorbereiteten List ausgeschaltet hatten, zog es uns zurück zu Franziskus und dem Dorf Neu -Siegen. Dort gewöhnten wir uns an den Alltag in der neuen Zeit. Das Leben im Dorf war bei weitem nicht so aufregend wie die Wanderungen, die wir hinter uns hatten, doch es gefiel uns. Franziskus – der Dorfoberste – gliederte uns geschickt ins alltägliche Leben ein. Doch auch hier verfolgten uns die Taten der schwarzen Fremden. Beim Handel mit einem anderen Dorf erfuhren unsere Mitbewohner von der Stadt „Kölle“, in der Unerklärliches vorgehen sollte. Nicht nur, das dort immer wieder Menschen verschwanden, sondern es wurde auch eines der merkwürdigen Fluggeräte gesehen. Wir wussten sofort, das unser Aufenthalt in Neu-Siegen damit vorerst beendet war und machten uns auf nach Köln, meiner alten Heimatstadt, jetzt „Kölle“ genannt. Schon nach kurzer Zeit wurde uns klar, nicht auf direktem Weg dorthin reisen zu können. Die Hauptwege wurden überwacht und wir nahmen daher weite Umwege in Kauf. Nach einigen aufregenden Abenteuern mit anderen Menschen und einer gefährlichen Tierwelt gelangten wir schließlich in meine alte Heimat aus unserer Vergangenheit. Im Kölner Dom fanden wir weitere Hinweise auf den Anführer der schwarzen Fremden. Als wir ihn stellten, ergab sich ein überraschendes Szenario. Verantwortlich für das Ende der alten Welt war eine Gruppe 8 Gen-manipulierter Menschen aus der Zeit des Kalten Krieges im zwanzigsten Jahrhundert gewesen. Ihre überragende Intelligenz, gepaart mit hypnotischen Fähigkeiten, enormer körperlicher Stärke und extrem hoher Lebenserwartung nutzten diese mutierten Menschen für ihre Ziele aus: Rache für die erlittenen Qualen und Ausrottung der gewöhnlichen Menschheit. Nach hartem Kampf und mit sehr viel Glück konnte Samson den Anführer in der Region Köln töten und wir kehrten nach NeuSiegen zurück. Doch leider war dieser Gen-Mensch nicht der letzte seiner Art … 9 Wieder daheim Köln und die Vernichtung des weißen Mutanten lagen nun schon einige Monate zurück. Wir hatten meine Geburtsstadt fluchtartig verlassen. So schnell würden uns keine zehn Pferde mehr dorthin bekommen. Nach unserer Rückkehr in Neu-Siegen übergaben wir die erbeuteten Unterlagen Franziskus, unserem Bürgermeister. Weder Sally, noch Pierre, Samson oder ich wollten auch nur eine Zeile davon lesen. Wir hatten einfach die Nase gestrichen voll von Ungeheuern und verrückten GenMutanten. Sollte Franziskus sich damit beschäftigen! Zu unserer Begrüßung gab es ein großes Fest. Natürlich wollten die Dorfbewohner jede Einzelheit unseres Abenteuers erfahren, und Pierre machte sich wieder einmal als großer Erzähler einen Namen. Wir anderen waren froh darüber, dass er uns diese Pflicht abnahm, auch wenn er dabei hier und da seine eigene Rolle – sagen wir mal – etwas ausschmückte. Wir fanden das okay, schließlich musste er auch in den nächsten Tagen immer und immer wieder bei Nachfragen Auskünfte geben. Pierre machte das nichts aus und er wurde nicht müde, jede noch so kleine Frage ausführlich zu beantworten. Samson hatte sich in den Tagen nach der Rückkehr ein wenig zurückgezogen. Ich glaube, er hatte mit der Tatsache zu kämpfen, dass er bei dem Kampf gegen den weißen Gen-Mutanten nicht nur ihn, sondern auch alle seine manipulierten Gehilfen getötet hatte. Sally und ich hatten mehrmals vergeblich versucht, ihm klar zu machen, dass nicht er, sondern die Chips in ihren Gehirnen dafür verantwortlich gewesen waren. Sie und ich waren noch immer – oder vielleicht auch wieder – ein Paar. Unser Verhältnis war allerdings kompliziert. Wir hatten zusammen ein winziges Zimmer im Gemeinschaftshaus bezogen. Es gab gerade mal genug Platz für ein Bett und einen grob gezimmerten Schrank. Ich fand das schön, ich war einfach nur froh, mit ihr zusammen zu sein. Ich war mir nicht so sicher, was Sally davon hielt. 10 Vielleicht fand sie das Zimmer einfach nur zu winzig. Hier und da sah ich sie jedenfalls mit anderen Männern flirten. Auch tuschelte sie gerne mit manchen Frauen, und ich wusste dann genau, dass ich der Gegenstand des Getuschels war. Manchmal kam es mir so vor, als mache sie das alles nur, um mich zu ärgern. Vielleicht wollte sie mir damit auch etwas sagen. Doch auf meine Nachfragen zuckte sie nur mit den Schultern und grinste undurchschaubar. Wie gesagt, es war kompliziert! Meine drei Freunde und ich hatten nun mehrmals alle Stationen des Dorflebens durchlaufen und Franziskus fand, es wäre an der Zeit, sich für eine vorrangige Beschäftigung zu entscheiden. Aus irgendeinem Grund wollte er nicht, dass wir uns absprechen konnten und fragte uns daher einzeln. Ich arbeitete gerade in den Stallungen und versorgte unsere drei gefangenen Esel. Der Hengst war störrisch wie eh und je und schnappte nach allem, was sich ihm näherte. Nur bei Samson verzog er sich nach wie vor in die hinterste Ecke des Stalles. Die beiden Eselstuten waren von friedlicher Natur und erwarteten demnächst Nachwuchs. Sie würden den Grundstock für eine kleine Lasttier-Herde bilden. In den letzten fünfhundert Jahren wurden die meisten Straßen überwuchert und ein Durchkommen mit Ochsenkarren oder Fuhrwerken war unmöglich. Alle Waren, die man mit den anderen Stämmen tauschen wollte, mussten mühsam auf dem Rücken der Menschen heran geschafft werden. Die Esel würden eine enorme Erleichterung für den dörflichen Handel bringen. Sicherlich würden wir zur Zucht irgendwann weitere Exemplare einfangen müssen, aber das war Zukunftsmusik. Ich goss gerade einen Eimer Wasser in die Tränke, als Franziskus mich ansprach: „Hallo Frank! Alles in Ordnung?“ Ich nickte. „Du weißt ja, dass sich hier jeder für eine Arbeit entscheiden soll, die er vorzugsweise verrichten will. Natürlich soll jeder nicht immer nur diese eine Arbeit machen, wir wollen ja schließlich unser Leben so abwechslungsreich wie möglich gestalten. Aber hier im Dorf leben über vierhundert Menschen 11 und ich muss natürlich darauf achten, dass alle Arbeiten erledigt werden. Bedenke bitte, das du und deine Freunde schon mehr Jagdzeit als die anderen gehabt haben und die Jagd für unser Dorf nicht lebenswichtig ist, die Jagd als Aufgabe ist also ausgeschlossen von der Wahl.“ Franziskus machte eine kurze Pause und zeigte auf seinen vierarmigen Begleiter, der mit Stift und Papier bewaffnet war. „Du kennst ja Solom, meinen Schreiber und Verwalter. Hast du dich für eine Arbeit entschieden?“ Ich überlegte nur kurz und antwortete spontan: „Ich würde gerne in der Küche arbeiten. Gemüse schnippeln und kochen. Das könnte mir Spaß machen.“ Franziskus riesiger Kopf wackelte ein wenig hin und her. Er schien überrascht. Ich hatte oft den Eindruck, Franziskus könne mit seinem großen mutierten Kopf Gedanken lesen, doch diesmal hatte ich ihn wirklich überrascht und ich konnte daher ein breites Grinsen nicht unterdrücken. „Bist du dir da sicher?“ Ich nickte. „Das trifft sich gut. Bei drei Mahlzeiten am Tag gibt es hier immer etwas zu tun. Schließlich sind nicht alle verheiratet oder leben zusammen in einem der Einzelhäuser und kochen dort für sich. Und viele der Paare essen auch lieber mit gemeinsam mit den anderen – vor allem am Abend.“ Der Dorfälteste nickte kurz zu Solom hinüber, der einen Eintrag auf seinem Papier machte, und dann verließen beide den Stall. Nachdem sie gegangen waren, überlegte ich kurz, was meine Freunde wohl für eine Wahl treffen würden. Bei Samson und Pierre war ich mir da nicht sicher. Ich hoffte aber, Sally hätte sich auch für die Küche entschieden. Zum Mittagessen würde ich es erfahren. Ich konnte es kaum erwarten. Daher saß als ich einer der Ersten am Mittagstisch. Es gab Rinderbraten, Kartoffeln und Rotkohl, fast so wie in den Zeiten vor der Apokalypse. Ich stocherte lustlos in meinem Essen herum und hielt immer wieder Ausschau nach Sally und meinen 12 Freunden. Endlich. Samson und Pierre standen an der Essensausgabe und bedienten sich. Samson schaufelte sich ein riesiges Stück Braten auf den Teller, dazu ein paar Kartoffeln und ein wenig Rotkohl. Er war der typische Jäger und Fleischesser. Pierre nahm heute kein Fleisch, nur Rotkohl und Kartoffeln. Für ihn war der Braten viel zu sehr durch gegart. Er hatte es am liebsten, wenn aus einem Stück Fleisch noch das Blut heraustropfte. Die Freunde setzten sich zu mir. Von Sally war nichts zu sehen. Ich stocherte in meinem Essen herum und fragte: „Na, für was habt ihr euch entschieden?“, und wie beiläufig fügte ich hinzu: „Und wisst ihr, was Sally machen wird?“ Pierre und Samson schauten sich an und grinsten. „Nun“, begann Samson, „Pierre hat sich für die Gemüsezucht entschieden und ich werde mich um den Hausbau kümmern. Schließlich gibt es immer wieder Paare, die zusammen wohnen wollen, und nicht wie wir im Gemeinschaftshaus. Und was ist mit dir?“ „Ich werde in die Küche gehen, damit Pierre auch mal ein Stück blutiges Fleisch bekommt!“ Samson sah mich an: „Das meinte ich nicht mit meiner Frage. Ich meinte, ob du und Sally nicht auch zusammen eines der Häuser beziehen wollt?“ Für einen Moment stutzte ich. Darüber hatte ich noch nie nachgedacht! Bevor ich mir jedoch Gedanken darüber machen konnte, kam unsere Freundin an den Tisch. „Hallo, war denn Franziskus auch schon bei euch?“, und fuhr fort, ohne die Antwort abzuwarten. „Für welche Arbeit habt ihr euch entschieden?“ Wir sagten es ihr. Sie säbelte an ihrem Stück Fleisch herum, während ich es vor Neugierde kaum aushielt. „Für was hast du dich denn entschieden, Sally?“, fragte ich so beiläufig wie möglich. Sie blickte mich an. „Eigentlich wollte ich ja beim Hausbau mitmachen, aber wenn ich dich so ansehe, frage ich mich, wozu?“ Sallys Augen funkelten. Sie sprang spontan auf und ihre schwarze Mähne wirbelte dabei durch die Luft. Sie schnappte sich ihren Teller 13 und setzte sich an einen anderen Tisch, wo sie sofort zum Gesprächspartner einiger Junggesellen wurde. Verdutzt wandte ich mich zu Pierre und Samson: „Was sollte das denn heißen? Versteht ihr das? Was habe ich jetzt schon wieder falsch gemacht?“ Samson und Pierre wechselten einen erstaunten Blick und letzterer antwortete mit ernster Stimme: „Mon ami, wenn du das nicht langsam weißt, dann kann dir niemand mehr helfen!“ Die nächsten drei Tage ging Sally mir aus dem Weg. 14 Ein ungebetener Gast Das Dorfleben innerhalb unserer schützenden Hecken war meist ziemlich beschaulich. Nur selten passierte etwas Aufregendes oder gar Gefährliches. Ich hatte mittlerweile meinen Küchendienst angetreten. Die Aufgaben waren vielfältig und bestanden nicht etwa nur aus dem Gemüse schnippeln, wie ich gedacht hatte. Es mussten unter anderem auch Eier aus den Ställen der Hühner geholt und auf den Feldern frisches Gemüse geerntet werden. Ebenso gehörte das Schlachten und Rupfen von Hühnern, Enten und Gänsen zu meinen Aufgaben. Natürlich gab es nicht jeden Tag Fleisch, aber wenigstens zweimal pro Woche schon. Viele der Dorfbewohner lebten separat als Familien und kochten für sich selbst. Aber zum Mittagessen kamen immerhin noch rund hundert Personen zusammen. Wenn also Geflügel geschlachtet wurde, dann immer eine ganze Menge. Für so viele Esser mussten fünfundzwanzig Hühner ihr Leben lassen. Eine gestandene Frau so um die Vierzig und ich hatten diese Aufgabe zu bewältigen. Sie hieß Rosa und besaß einen ziemlich schrägen Humor. Unsere Schlachtungen liefen gewöhnlich folgendermaßen ab: Nachdem wir die Hühner gefangen und in bereitgestellte Käfige gesperrt hatten, überließ sie es mir, ihnen mit einer Axt den Kopf abzuhacken. Dazu benötigten wir natürlich noch einen Hauklotz. Rosa presste das jeweilige Hühnchen fest auf diesen Klotz, während ich das Beil schwang. Dann warf meine Kollegin das enthauptete Huhn in die Luft, wo es noch etliche Meter kopflos weiter flog – getrieben von irgendwelchen Reflexen. Sie bedachte jeden kopflosen Flug mit einem Jubelschrei, der umso länger anhielt, je weiter das kopflose Huhn flog. Wie gesagt, Rosa war ein wenig seltsam. Auch dieses Mal begleitete sie mich am frühen Morgen zu den Stallungen. Ich war schon gespannt, ob sie auch heute wieder ihre „Flugstunden“ abhalten würde. Als wir allerdings dann beim Hühnerstall ankamen, empfing uns eine merkwürdige Stille. 15 Normalerweise war um diese Zeit schon lautstarkes Gackern angesagt. Als wir dann verwundert die Tür öffneten, stoben einige Hühner in wilder Panik zwischen unseren Füßen hindurch ins Freie. Dann traf uns fast der Schlag! Im ganzen Stall waren blutige Federn verstreut. Dazwischen lagen überall tote Hühner mit durchgebissenen Kehlen herum. Wir waren zunächst einmal geschockt. Langsam inspizierten wir den Stall und sahen uns die Bescherung an. Hier hatten einmal über zweihundertfünfzig Tiere ihre Eier gelegt – wie viele waren davon wohl noch übrig? Ich schickte Rosa zu Franziskus um ihn zu informieren. Außerdem sollte sie Samson mitbringen, weil er der beste Spurenleser war. Wir mussten schließlich unbedingt wissen, was für ein Raubtier hier eingedrungen war, um eine Wiederholung zu verhindern. Vorsichtig darauf bedacht, keine Spuren zu verwischen, durchschritt ich den Ort des Massakers. Die überlebenden Hühner hielten sich größtenteils in abgelegenen Ecken auf und gackerten kläglich vor sich hin. Ich zählte über sechzig tote Tiere. Nur etwa zwanzig davon hatten Bisswunden. Der überwiegende Teil der getöteten Hühner hatten keine erkennbaren Verletzungen, sie waren vermutlich vor Aufregung verendet. Als erster möglicher Täter kam mir natürlich ein Fuchs in den Sinn. Aber konnte ein Fuchs so eine Verwüstung anrichten? Ja, er konnte. Aus Erzählungen meiner Großeltern wusste ich, dass so etwas möglich war. Der Fuchs geriet dabei in einen regelrechten Blutrausch und biss dann alles tot, was sich in seiner Reichweite bewegte. Ich hörte Schritte und drehte mich um. Franziskus und Samson standen in der Tür. Sie betrachteten zunächst erschüttert das blutige Chaos. Erst nach einer Weile ergriff der Bürgermeister das Wort: „Lasst uns die überlebenden Tiere behutsam aus dem Stall treiben, damit wir uns umsehen können.“ Nachdem wir die völlig verstörten Hühner auf die Wiese getrieben hatten, begannen wir mit zu dritt mit der Spurensuche. 16 Wir teilten uns auf und untersuchten getrennt die Außenwände nach einer Einbruchstelle. „Hier“, rief Franziskus, „hier ist er rein gekommen!“ Samson und ich traten hinzu. Das Tier hatte sich tatsächlich unter den Brettern der Wand hindurch gegraben. Der Riese kniete nieder und tastete vorsichtig die umgebenden Hölzer ab. Nach kurzer Zeit hielt er ein winziges Büschel Fell zwischen den Fingern. Er schaute es sich genau an und roch daran. „Das war ein Pinselohr! Ganz eindeutig! Normalerweise sind das besonders scheue Tiere, die menschliche Ansiedlungen meiden. Der hier muss entweder aus der Art geschlagen sein, oder er ist verletzt und kann nicht mehr in freier Wildbahn jagen.“ Samson hatte den Namen „Pinselohr“ genannt. So wurde auch schon früher in unserer ersten Lebensphase der Luchs wegen seiner charakteristischen Ohren genannt. Mein Freund betastete nochmals die Bretter. „Das Holz ist teilweise angefault und morsch. Er hat sich den einfachsten Weg ausgesucht. Wir müssen rundherum neue Balken in den Boden rammen. Früher oder später kommen sonst auch Füchse oder Wiesel hier herein. Das Pinselohr ist ein sehr guter Kletterer und hat eine enorme Sprungkraft. Es wird über einen Baum hierher gelangt sein. Füchse und Wiesel kann unsere Hecke sowieso nicht abhalten, die finden immer einen Weg in unser Dorf und damit auch in den Stall – wenn es Schlupflöcher gibt!“ Mittlerweile war Rosa mit einigen Helfern herbeigeeilt. Gemeinsam machten wir uns daran, den Stall wieder einigermaßen herzurichten. Die Kadaver wurden verbrannt, da niemand wissen konnte, ob der Luchs nicht auch Krankheiten eingeschleppt hatte. Die Bilanz: 76 tote- oder so schwer verletzte Tiere, dass sie getötet werden mussten. Das war rund ein Drittel der gesamten Hühneranzahl. In den nächsten Wochen und Monaten würde es nur selten Hühnerfleisch und Eier geben, bis sich der Tierbestand wieder einigermaßen erholt hatte. 17 Franziskus beauftragte einige Männer, rund um den Stall neue Balken in die Erde zu treiben, während Samson und ich uns auf die Luchsjagd vorbereiteten. Mit Speeren sowie Pfeil und Bogen bewaffnet, verfolgten wir vom Hühnerstall aus die Spuren des Pinselohrs. Diese Spuren waren allerdings nicht leicht zu finden. Die letzte Regenzeit lag schon eine Weile zurück. Es gab daher kaum weichen Boden, wo man klare Abdrücke der Luchspfoten entdecken konnte. Außerdem lagen rund um das eigentliche Dorfzentrum nur Wiesen, Weideland oder Äcker – nicht gerade ideal für die Spurensuche. Samson blickte forschend in die Runde. „Wir können das Weideland mit den Kühen und Schweinen größtenteils ausschließen. Die Tiere wären immer noch beunruhigt, wenn Pinselohr dort etwas versucht hätte.“ Dann bückte er sich und hob eine kleine Feder auf. „Er hat ein Beutetier mitgeschleppt, das erleichtert uns die Suche. Schau nach Federn, kleinen Blutstropfen oder Schleifspuren.“ Mein Freund überließ mir die Führung. Eine ganze Weile lang konnte ich auch der Spur des Luchses folgen, ohne das der geschickte Riese eingreifen musste. Hin und wieder schien sich das Tier in Luft aufgelöst zu haben. Ich zog dann größere Kreise um die vermutete Fluchtrichtung des Hühnerdiebs und fand immer wieder kleine Anhaltspunkte. Erst als wir hinter den Äckern etwa 250 Meter vor unserer Dornenhecke standen, verlor ich die Spur endgültig. Auch Samson hatte große Mühe. Seine Nase berührte auf der Suche beinahe den Boden, aber so fand er die Spur schließlich wieder. Wir folgten ihr bis an die Schutzhecke. Auch wenn sie hier an dieser Stelle nicht breiter als etwa acht Meter war, reichte es doch, um die Jagd erst einmal zu beenden. Ich schaute den Freund an: „Hier müssen wir wohl aufgeben. Durch die Hecke können wir Pinselohr nicht folgen.“ 18 „Du hast recht. Lass uns schauen, ob wir vielleicht eine Lücke finden, durch die er eingedrungen ist. Sie wird ganz in der Nähe sein.“ Wir suchten einige Zeit sehr gewissenhaft und entdeckten schließlich auch die Schwachstelle, die der Eindringling genutzt hatte. Das Tier hatte sich seinen Weg nicht durch den dichten Bewuchs gebahnt, sondern es war von oben über unsere Einfriedung gelangt. Auf der Außenseite der Hecke lag der abgeknickte Ast eines Baumes auf dem Buschwerk. Für Pinselohr musste es ein leichtes gewesen sein, draußen den Baum zu erklimmen, über den Ast zu balancieren und die noch verbliebenen zwei Meter bis zum Boden zu springen, auch wenn er vielleicht durch eine frühere Verletzung behindert war. „Verdammt!“, rief ich ärgerlich, „jetzt müssen wir mindestens drei Kilometer zurück bis zum nächsten Ausgang und noch einmal genauso weit draußen hinter der Hecke entlang laufen, um dort den verflixten Ast abzusägen.“ „Nicht so hastig, mein Freund. Ich denke, Pinselohr ist noch hier. Bevor wir den Ast absägen, sollten wir versuchen, ihn aus der Hecke heraus zu treiben und ihn über den Stamm zurück in den Wald zu jagen.“ Ich schaute Samson skeptisch an. „Und wie willst du das machen?“ „Wir werden jetzt das Gebiet verlassen und in einem großen Bogen zurückkehren. Wenn wir Glück haben, wird er in der Dämmerung seine Zuflucht verlassen und wieder auf die Jagd gehen wollen. Dann können wir ihn entweder abschießen oder versuchen, ihn über den abgeknickten Baum zu verjagen.“ „Okay, Samson. Ich bin für ‘s Verjagen. Versuchen wir es.“ Gesagt, getan. Wir zogen uns zurück. Samson überprüfte ständig die Windrichtung, damit wir bei unserer Rückkehr nicht so leicht gewittert werden konnten. Nach etwa einer Stunde waren wir wieder in der Nähe des Zufluchtsorts von Pinselohr und versteckten uns dort im nahe gelegenen Gebüsch. Jetzt hieß es warten, bis zur Dämmerung würde uns wohl ungefähr noch eine Stunde bleiben. 19 Und wir hatten Glück! Wie Samson es vorausgesagt hatte, erschien der Luchs, als es zu dämmern begann. Ein ausgewachsenes Tier von beeindruckender Gestalt! Unverwechselbar die langen Haare an den Ohren und der Stummelschwanz. Auch die Größe war noch etwa so wie früher. Der Luchs schien sich, im Gegensatz zu vielen anderen Tierarten, kaum verändert zu haben. Vorsichtig verließ das Tier seine Zuflucht. Es zog seinen linken Hinterlauf etwas nach. Wie wir vermuteten, hatte es sich irgendwann früher verletzt. Als der Luchs sich weit genug entfernt hatte, sprangen wir auf und trieben ihn schreiend in Richtung Baum. Der Trick klappte. Wie von Furien gehetzt sprintete Pinselohr davon, direkt in Richtung auf seinen Zugangs-Baum. Trotz seiner Behinderung erreichte er mit einem Sprung den rettenden Ast, um im gleichen Tempo hinüber zu dem Stamm auf der anderen Seite der Hecke zu hetzen und schließlich dort herunter zu springen. Dann war er verschwunden. „Lass uns zurück ins Dorf gehen. Den Ast können wir auch noch Morgen absägen. Heute Nacht wird Pinselohr auf keinen Fall zurückkommen.“ 20 Salz Unser Dorf mit seinen weit über vierhundert Einwohnern war zwar in der Lage, die Grundbedürfnisse der Gemeinschaft selbst herzustellen oder anzubauen, aber einige wichtige Dinge gab es einfach nicht, wie zum Beispiel Salz. Ich lernte bald in der Küche, dass man damit äußerst sparsam umging und stattdessen jede Menge Kräuter aus Wald und Feld zur Zubereitung der Mahlzeiten verwendete. Salz war eine absolute Kostbarkeit und musste bei einem anderen Stamm eingetauscht werden. So hatte Franziskus uns vier Freunde eines Tages zusammen gerufen: „Unsere Salzvorräte gehen wieder einmal zur Neige. Es gibt nur ein Dorf, bei dem wir Salz eintauschen können. Es liegt zwei Tagesreisen von hier entfernt. Der Weg ist nicht schwer zu finden, es führen viele Pfade dorthin, da alle Stämme im weiten Umkreis auf Salz angewiesen sind. Es gibt da allerdings ein Problem: Ihr wisst ja, das viele Stämme ihre Diebe und Mörder aus der Dorfgemeinschaft ausstoßen. Einige sammeln sich auf den Salzrouten und bilden Banden, um die Tauschtrupps auszurauben. Wir könnten eine größere Zahl Bewaffneter hinschicken, um einen relativ sicheren Weg zu haben, oder wir schicken einen kleinen Trupp, der unauffälliger ist. Wahrscheinlich denken die Diebe auch, dass es bei weniger Leuten auch nicht viel zu holen gibt, wenn diese überhaupt entdeckt werden. Was meint ihr, wollt ihr lieber mit einer größeren Gruppe losziehen, oder schafft ihr das alleine?“ Wir entschieden uns für die zweite Variante, hatten wir doch zu viert schon wesentlich gefährlichere Abenteuer erlebt. Wenn ich allerdings gewusst hätte, was wir als Tauschmaterial mitschleppen würden, hätte ich auf ein paar Träger bestanden! Aus irgendeinem Grund waren die Salzhändler verrückt nach unseren getrockneten Apfel- und Birnenringen. Wahrscheinlich lag es an der geheimen Zutat, die unser Stamm beim Handel mit ihnen immer erwähnte. Bloß – es gab gar keine geheime Zutat! Wahrscheinlich lag der besondere Geschmack nur an der 21 jeweiligen Apfel- oder Birnensorte. Doch die Menschen sind wohl fast überall gleich, sobald es etwas Geheimnisumwittertes gibt, ist das Interesse groß. Uns Bewohnern von Neu-Siegen konnte das nur recht sein. Noch freute ich mich auf den kleinen Ausflug. Als wir aber die Tauschware aus einem unserer Lagerhäuser abholten, änderte sich meine gute Laune schlagartig. Berti, der Lagerverwalter, grinste schon schadenfroh, als wir nach der Tauschware fragten. „Kommt mit. Die Körbe stehen in der Halle.“ Wir betraten den Lagerraum. Ein unglaublich intensiver Duft wehte uns entgegen. Alles, was man an Obst und Gemüse über eine gewisse Zeit aufheben konnte, wurde hier auf luftigen Regalen gelagert. Neben Äpfeln und Birnen waren das auch Zwetschgen, Kürbisse, Berge von Kartoffeln und diverse Kohlsorten. Die Dorfbewohner mussten ja versorgt werden. Auch wenn es praktisch keinen Sommer und Winter mehr gab, Vorratshaltung war immer noch angesagt. Berti zeigte auf vier gleich große Weidenkörbe, die auf einem Tisch standen. Sie waren nicht wie üblich rund, sondern eckig, in Form eines großen Schulranzens geflochten. Je zwei Trageriemen hatte man eingearbeitet. „Der letzte Korb ist für Sally!“ Beim Anblick der Körbe schwante mir nichts Gutes. Meine Vorahnung bestätigte sich, als ich mir einen davon auf den Rücken schnallte. Das mussten fast fünfzig Kilogramm sein! Sofort setzte ich das schwere Ding wieder ab. „Das kann doch nicht wahr sein!“, moserte ich, „das schwere Zeug kann doch kein Mensch schleppen! Außerdem ist dann auch kein Platz mehr für unsere Ausrüstung!“ Berti war auf meine Meckerei vorbereitet. Er holte vier aufgerollte Decken hervor. „Hier ist alles Notwendige drin. Wasser und ein wenig Nahrung. Für eure Waffen habt ihr ja noch eure Gürtel und die Hände. Viel Vergnügen und eine schöne Wanderung!“ Sein schadenfrohes Grinsen wurde noch breiter, bevor er den Lagerraum verließ. 22 Ich wog eine der Decken in der Hand – nochmal zusätzliche zwei bis drei Kilogramm. Bevor ich zu fluchen beginnen konnte, nahm Samson mir die Decke aus der Hand und verschnürte sie zusammen mit den der Anderen auf seinem Korb. Wortlos schnallte er sich alles auf den Rücken und verließ den Raum. Sally folgte seinem Beispiel. Als Pierre seinen Korb schulterte, murmelte er auf Französisch so etwas wie: „Merde …“ und einiges, was ich nicht verstand in seinen nicht vorhandenen Bart. Wohl oder übel folgte ich dem Beispiel meiner Kameraden und wir verließen den Lagerraum und begannen unseren Marsch. Nach zwei Stunden legten wir die erste Rast ein. Meine Schultern schmerzten höllisch, obwohl die Tragegurte gepolstert waren. Sally und ich massierten uns gegenseitig die Schultern, anschließend ging sie zu Samson und Pierre. Steif wie ein Brett marschierte ich etwas umher und lockerte meine Muskulatur. Neugierig ging ich zu den anderen Körben und hob sie kurz hoch. Pierres Korb war genauso schwer wie meiner, Sallys etwas leichter und Samsons, wegen unserer Decken, gut 10 kg schwerer. Sally schaute mir zu und schüttelte missbilligend den Kopf. „Was denn“, konterte ich, „man wird doch wohl mal schauen dürfen!“ Ich war immer noch stinksauer, weil Franziskus uns nach meiner Meinung so richtig hereingelegt hatte. Wahrscheinlich konnte er zur Zeit niemanden entbehren und hatte uns so die kleine Reise alleine aufgehalst. Im Laufe des Tages verrauchte mein Zorn und ich dachte nur noch daran, das Salzdorf möglichst schnell zu erreichen, um meinen schmerzenden Schultern und dem geplagten Rücken ein heißes Bad zu gönnen. Kurz nachdem wir unsere erste Rast beendet hatten, stießen wir auf einen der Hauptwege zu unserem Ziel. Dieser Weg war wirklich ein richtige schmale Straße. Sonst gab es ja üblicherweise nur noch kleine Pfade. Das zeugte von der Wichtigkeit des Salzdorfes. Wahrscheinlich kamen Tauschwillige aus allen 23 Dörfern im weiten Umkreis hierher. Ich war gespannt darauf, ob es sich um die erste Metropole der neuen Zeit handeln könnte. Bisher hatten wir nur Dörfer mit maximal 400 bis 500 Einwohnern gesehen. Wenn aber praktisch jeder Stamm hier seinen Salzvorrat auffüllte, konnte sich vielleicht eine kleine Stadt entwickelt haben. Den Rest des Tages verbrachten wir mit stummer Schlepperei. Zu unserer Überraschung gab es alle paar Kilometer kleine Plätze, auf denen man sein Lager aufschlagen konnte. Dennoch trafen wir bis zum Abend auf niemanden. Erst als wir auf einem der Plätze unser Nachtlager aufschlugen, gesellte sich ein schwer bewaffneter Trupp von ungefähr zwanzig Leuten zu uns. Wie unschwer an ihren Salzsäckchen zu erkennen war, kamen sie von unserem Ziel. Die Unterhaltung mit ihnen gestaltete sich zuerst schwierig, da sie voller Misstrauen uns gegenüber waren. Erst als sie feststellten, dass unsere Gruppe nur aus vier Personen bestand und keine weiteren folgten, waren sie etwas aufgeschlossener. Auf dem letzten Lagerplatz hatten sie einige Leichen gefunden, die vollkommen ausgeplündert worden waren. Sie selbst waren bisher ungeschoren davon gekommen, was sicherlich an ihren Waffen-starrenden Begleitern lag. Außerdem erzählten sie, der Salzpreis wäre zurzeit wegen der vielen Überfälle nicht so hoch. Das war es aber auch schon mit den Gesprächen. Die Nacht verlief friedlich. Als wir uns am nächsten Morgen verabschiedeten, trafen uns mitleidige Blicke. Mir kam es so vor, als rechneten sie auf jeden Fall mit dem Ableben unserer kleinen Gruppe. Daraufhin rumorte es in meinem Magen und das war nicht der Hunger! Den ganzen Tag über hatte ich ein komisches Gefühl und schaute mich immer wieder um. Mein Gefühl hatte mich wohl getäuscht, denn wir erreichten gegen Abend das Salzdorf ohne jeden Zwischenfall. Sofort als wir eintrafen, tauschten wir unser getrocknetes Obst gegen einige Säckchen Salz. Außerdem wies man uns eine Hütte zur Übernachtung zu. Ich war enttäuscht von der Größe des Dorfes. Gewiss, die Holzhütten waren etwas größer 24 als üblich, die Töpfe und Pfannen sahen besser aus als bei den anderen Stämmen und auch Essen gab es reichlich. Das alles zeugte schon von einem gewissen Wohlstand. Aber aus mehr als vielleicht 500 Einwohnern bestand auch diese Ansiedlung nicht. Wir hatten noch einige Zeit bis zum Einbruch der Dunkelheit und sahen uns den Ort etwas genauer an. Ich war gespannt, wie die Bewohner das Salz herstellten. In meiner Kindheit hatte ich mit meinen Eltern mal eine Woche Urlaub in Berchtesgaden verbracht und bei einem unserer Ausflüge ein Salzbergwerk besichtigt. Es hatte riesige Ausmaße gehabt. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es hier so etwas geben konnte. Wir schlenderten durch das Dorf. Überall standen Wachposten – vielleicht hatte es sogar hier schon Überfälle gegeben. Erst als wir die Randbezirke erreichten, wurde mir klar, wie hier Salz gewonnen wurde. Überall brannten kleine Feuer und große Kessel aus Kupfer oder Eisen hingen darüber. Es musste hier eine Solequelle geben. Das salzhaltige Wasser wurde über den Feuern verdampft und das zurückgebliebene Salz ausgekratzt. Eine ziemlich langwierige und aufwendige Prozedur. Hinter dem Bereich mit den Töpfen tat sich eine riesige freie Fläche auf. Hier mussten die Bewohner des Dorfes den Wald gerodet und das Holz für ihre vielen Feuer verwendet haben. Es sah trostlos aus und zuerst dachte ich an die Sünden vieler Nationen aus der alten Zeit. Beim genaueren Hinsehen allerdings bemerkte ich viele frisch angepflanzte kleine Sprösslinge. Die Dörfler forsteten ihren verbrauchten Wald wieder auf. Sie hatten damit vor noch nicht allzu langer Zeit begonnen, aber eine kluge Person hatte hier vorausschauend gehandelt. Respekt! Die Dämmerung war nun schon weit fortgeschritten und wir verzogen uns in unser Quartier bis zum nächsten Morgen. Wir bekamen von den Salzdörflern noch ein üppiges Frühstück serviert. Das gehörte wohl zum Service. Unsere knapp zweihundert Kilogramm getrocknete Früchte wurden gegen 25 vierzig Kilo Salz eingetauscht, was uns den Transport für den Rückweg natürlich immens erleichterte. Ich hatte Samson von meinem „komischen Gefühl“ auf dem Hinweg erzählt. Ihm war es nicht anders ergangen. Auch wenn er niemanden gesehen hatte – das Gefühl beobachtet zu werden, war stark gewesen. Darum beschlossen wir aus Sicherheitsgründen die Heimreise etwas abseits der Handelsstraße anzutreten. Dreihundert Meter Abstand zum Handelsweg sollten reichen, um eventuellen Dieben in den Rücken zu gelangen. Bis wir außer Sichtweite des Dorfes waren, blieben wir auf dem Weg, dann schlugen wir uns in die Büsche. Man wusste ja nie, ob sich vielleicht ein Spion im Dorf aufhielt. Natürlich war der Weg beschwerlicher, auch wenn Samson als unser Führer schwierige Passagen umging. „Lieber langsam vorankommen – dafür aber möglichst geräuschlos und sicher!“, lautete unsere Devise. Es dämmerte schon. Gerade als wir einen Rastplatz für die Nacht gefunden hatten, hob der Riese als Zeichen der Gefahr den rechten Arm. Sofort hörten wir damit auf, unser Lager herzurichten. Samsons ausgezeichnetes Gehör hatte verdächtige Geräusche erkannt. Er nahm seine riesige Keule von der Schulter und schlich los. Wir ließen Salz und Ausrüstung zurück, griffen unsere Waffen und folgten ihm. Doch auch unsere Gegner hatten aufgepasst. Es handelte sich ausschließlich um Großköpfe. Vielleicht hatten sie uns ja auch gespürt, so wie es Franziskus konnte. Wir wussten, dass zwar nur wenige der Großköpfe diese Fähigkeit besaßen, aber einer reichte ja auch schon. Sofort stürmten sie mit mehreren Angreifern auf unseren Freund zu. Der ließ die gewaltige Keule kreisen und mähte die ersten drei Angreifer regelrecht nieder. Die zweite Welle bestand aus sieben Personen. Von Samsons Keule abgeschreckt, verteilten sie sich diesmal und wollten uns von allen Seiten angreifen. Doch mittlerweile hatten wir unseren Freund erreicht und bildeten gemeinsam einen Kreis. Wir standen mit unseren Lanzen abwehrbereit vor ihnen. Vier gegen sieben. Alle waren 26 mit großen Buschmessern bewaffnet, das zeugte von einem gewissen Wohlstand, den sie durch ihre Überfälle erreicht hatten. Buschmesser waren nämlich sehr teuer und kosteten ausgezeichnete Tauschware. Dennoch zögerten sie, als sie in unsere entschlossenen Gesichter sahen. Samson hatte das Zögern bemerkt, ging seinerseits mit einem Schrei auf die ersten beiden Gegner los und streckte auch sie mit einem einzigen Hieb seiner Keule nieder. Sally, Pierre und ich schrien nun auch los und stürmten vor. Durch Samsons erneuten Streich und unsere wilden Schreie verloren die verbliebenen Gegner den Mut und gaben Fersengeld. Wir verfolgten sie nur wenige Meter, eilten dann zurück zu unserem Gepäck und verließen die Gegend auf dem normalen Handelsweg. Erst eine Stunde später, bei fast völliger Dunkelheit, lagerten wir erneut. Der Überfall war glimpflich verlaufen, niemand von uns hatte sich verletzt. Die fünf Gegner aber, die Samson mit seiner Keule niedergestreckt hatte, würden einige Zeit größere Schmerzen haben – falls sie überhaupt je wieder aufstanden! 27 Treibjagd Die Zeit stand nicht still in Neu-Siegen. Überall wurde gewerkelt und angebaut. Trotz der vielen Arbeit kam keine Hektik oder Frust bei mir auf. Ich liebte diese ehrliche Beschäftigung. Manchmal fragte ich mich, warum ich damals Biologie studiert und später den ganzen Stress bei unserer Firma Galaxis auf mich genommen hatte. Doch das war Schnee von gestern. Franziskus war ein sehr guter Bürgermeister. Dadurch, dass jeder Dorfbewohner mal eine andere Arbeit bekam, entstand keine Langeweile. Er hatte jederzeit sein großes Ohr am Puls der Dorfgemeinschaft. Nun ja, seine emphatischen Fähigkeiten halfen wohl auch dabei. Doch diesmal war es etwas anderes. Es gab mehrere Feste im Jahr. Eines davon war eine große Treibjagd mit anschließendem üppigem Festschmaus und Tanz. Bis vor ein paar Jahren veranstalteten die Dorfbewohner keine Treibjagden. Zumindest keine, um größere Mengen Fleisch zu beschaffen. Franziskus hatte sich diese Veranstaltung ausgedacht, um die Moral der Dorfbewohner zu stärken. Schließlich lag Neu-Siegen mit seinen riesigen Hecken sehr isoliert in der Landschaft. Kontakte mit anderen Dörfern gab es nur zu wichtigen Anlässen. Hier ging es neben der Moral darum, die Geschicklichkeit der Einwohner zu verbessern – und natürlich um den anschließenden Spaß. Darum wurden auch nur die Tiere gejagt, die es massenweise in der Umgebung gab. Es gab immer Dorfbewohner, die der Jagd nichts abgewinnen konnten. Das war aber kein Problem. Sie sicherten das Dorf oder bereiteten die anschließende Feier vor, während alle anderen sich zur Treibjagd versammelten. Jedes Jahr wurde dabei eine andere Tierart gejagt. Dieses Jahr war das Jahr des Hasen. Auch wenn die Hasen heute anders aussahen als zu unseren alten Zeiten, schmeckten sie immer noch ausgezeichnet. Es gab bestimmte Regeln bei dieser Jagd. Wer ein anderes Tier als einen Hasen erlegte, musste sich am Morgen nach dem Festschmaus um den Abwasch kümmern. 28 Das kam gar nicht mal so selten vor, da die Tiere aus dem Unterholz gehetzt wurden. Manchmal erkannte man eben erst nach dem Schuss mit dem Bogen, um was für ein Tier es sich handelte. Sieger war natürlich der- oder diejenige mit der größten Anzahl erlegter Tiere. Er oder sie wurden dann zum Jagdkönig beziehungsweise zur Jagdkönigin gekrönt. Nach dem Festessen spielte man auf zum Tanz. Dem Sieger oder der Siegerin durfte dann niemand den Tanz verweigern. Er oder sie hatte bis Mitternacht die freie Auswahl an Tanzpartnern. Der Titel war sehr begehrt, gab es doch auch den etwas schüchternen Personen die Gelegenheit, mit seiner Traumfrau oder seinem Traummann ins Gespräch (und vielleicht auch zu mehr) zu kommen. Außerdem durfte der Sieger oder die Siegerin im nächsten Jahr wieder Jäger sein. Es war ein harmloses Vergnügen, der Spaß stand eindeutig im Vordergrund. Natürlich wollte niemand immer nur Treiber sein und so wurde jedes Jahr gewechselt. Da wir bisher noch an keiner dieser Treibjagden teilgenommen hatten, wurden wir gefragt. Sally, Pierre und ich entschieden uns für die Jagd, während sich Samson, etwas überraschend, für den Treiber entschied. Mir sollte es Recht sein, damit war der wohl beste Jäger nicht dabei. Die Treibjagd wurde in zwei Abschnitte unterteilt. Vormittags und nachmittags. Dazwischen gab es Eintopf. Die zehn besten Jäger traten zum Nachmittags-Wettbewerb in einem anderen Waldstück an. Sie machten die Entscheidung unter sich aus. Mittlerweile hatte ich so ziemlich alle Dorfbewohner kennen gelernt und wusste, ob ihnen die Jagd lag oder nicht. Doch darüber wollte ich mir erst einmal keine Gedanken machen, wichtig war, in die zweite Runde zu kommen. Wir hatten Aufstellung genommen. Wir, das waren die Jäger auf der einen und die Treiber auf der anderen Seite eines Wäldchens. Es war kurz nach Sonnenaufgang und letzte Nebelschwaden verflüchtigten sich langsam. Links und Rechts neben mir, im Abstand von jeweils ungefähr fünfzig Metern, standen Lisa und Marga. Ich kannte beide ganz gut und wusste, dass sie keine besonders guten Jägerinnen waren. Keine Konkurrenz für mich. 29 Pierres und Sallys Positionen lagen außerhalb meiner Sichtweite. Insgesamt beteiligten sich 80 Dorfbewohner an dem Jagdspektakel. Je 40 auf beiden Seiten. In der Ferne ertönte ein Jagdhorn und die Treibjagd begann. Ich legte einen Pfeil auf die Sehne meines Bogens und wartete gespannt. Lautes Rufen und Trommelschläge näherten sich langsam meinem Standort. Gleich mussten die ersten Tiere aus dem Unterholz hervorbrechen. Ich zog die Sehne meines Bogens bis zum Anschlag auf. Urplötzlich sprang ein Tier aus dem Gebüsch. Ich schoss. Obwohl ich darauf gewartet hatte, verfehlte mein Pfeil ganz knapp das Ziel. Und das war gut so, das kleine Reh hätte mir den Abwasch eingebracht. Während ich einen neuen Pfeil aus dem Köcher holte, hörte ich das Kichern von Lisa, meiner Nachbarin auf der linken Seite. Ich schaute zu ihr herüber. „Na, Frank. Nervös geworden?“ Ich versuchte ein lässiges Grinsen, doch es wurde nur ein verbissenes Zähnefletschen daraus. Ich drehte meinen Kopf wieder in die Jagdrichtung und musste mit ansehen, wie auf meiner anderen Seite Marga mit ihrem ersten Pfeil einen Hasen erlegte. Verdammt! Der wäre genau in meine Schusslinie gelaufen, ich hatte mich ablenken lassen. Da, der nächste Hase! Ich zielte, schoss und … Volltreffer. Den nächsten Pfeil aus dem Köcher holen, auf die Sehne legen und den Bogen spannen war eine einzige fließende Bewegung. Immer mehr Tiere rannten auf uns zu. Die größeren wie Wildschweine, Rehe und Hirsche beachtete ich nicht. Auf die kleineren musste ich aufpassen. Links von mir ertönte ein Fluch. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass Lisas Pfeil eine Art Dachs durchbohrt hatte. „Das geschieht ihr recht“, dachte ich. Gerade als ich meinen Pfeil auf ein neues Ziel abfeuern wollte, durchbohrte ein weiterer Pfeil Margas den Hasen. Ich hatte mich wohl in ihren Schießkünsten gewaltig getäuscht. Da, mein nächster Hase. Ich schoss und traf. Nummer zwei. 30 Die Rufe und das Trommeln der Treiber rückte immer näher, gleich würde die Jagd beendet werden. „Noch nicht“, schoss es mir durch den Kopf, „noch nicht! Einen noch, nur einen!“ Weitere Tiere stoben nur so an mir vorbei. Endlich, noch ein Hase. Ich schoss, doch er schien weiterzulaufen und verschwand im hohen Gras. Das Horn ertönte. Die Jagd war vorbei. Hatte ich den Hasen noch erwischt? Während das Horn immer wieder erklang, kamen die Treiber laut rufend und winkend aus dem Wald. Schließlich wollte niemand von einem übereifrigen Jäger erschossen werden. Ihre Aufgabe war es nun, die geschossenen Tiere zu zählen und den Schützen zuzuordnen. Die Pfeile waren markiert und so gab es keine Missverständnisse. Ich schaute hinüber zu Marga. Sie hob ihre rechte Hand und zeigte mir drei Finger und freute sich. Sie hatte wohl drei Hasen erlegt. Ich war unsicher, hatte ich den dritten Hasen noch erwischt? Wir verließen das kleine Wäldchen und trafen uns alle am Dorfplatz. Der Eintopf stand schon bereit. Ich traf meine Freunde am Mittagstisch. Während Pierre komplett leer ausgegangen war, hatte Sally viermal getroffen. Pierre nahm es mit Humor und war sich sicher, auch ohne den ersten Platz genügend Tanzpartnerinnen zu bekommen. Als Sally mich nach meinem Ergebnis fragte, antwortete ich: „Zweieinhalb.“ „Zweieinhalb? Was heißt denn das? Hast du einen in zwei Teile zerlegt?“ Ich erklärte es ihr. Dann wurde das Ergebnis bekannt gegeben. Alle Teilnehmer, die 3 Hasen und mehr geschossen hatten, waren in der Endrunde. Unschlüssig schaute ich herum. Hier und da sah ich einige Jäger jubeln. Dann wurden die Namen aufgerufen. Meiner kam gleich nach Margas! Ich war dabei. Aus zweieinhalb waren doch noch drei Treffer geworden. Zwei Stunden später standen die elf Auserwählten an einem anderen Wäldchen und warteten. Elf deshalb, weil ein Jäger fünf Tiere, eine Jägerin vier Tiere und neun weitere je drei Tiere erlegt hatten. Insgesamt nahmen vier Männer und sieben 31 Frauen an unserem Finale teil. Das weibliche Geschlecht konnte eindeutig besser mit Pfeil und Bogen umgehen als die Männerwelt. Diana, die Göttin der Jagd, lässt grüßen! Die besten Schützen wurden in der Mitte platziert. Sally mit ihren vier Treffern und Wilhelm, der Vorjahressieger, mit fünf Treffern. Die anderen Positionen wurden ausgelost. Ich erwischte den Platz ganz links außen, neben mir stand ein weiteres Mal wieder Marga. Sie hatte mir zu meiner Überraschung nach dem Essen Glück gewünscht und mir einen Kuss auf die Wange gehaucht. Marga mochte so um die zwanzig sein und war eine lebenslustige Blondine mit draller Figur. Pierre hatte nach dem Kuss albern herum gejohlt und Samson konnte sich ein breites Grinsen nicht verkneifen. Sally hingegen schien das völlig egal zu sein, obwohl ich meinte, ein kurzes Aufblitzen in ihren Augen gesehen zu haben … Wahrscheinlich aber waren das nur die Sonnenstrahlen. Um es kurz zu machen, diese Jagd ging vollkommen an mir vorbei. Ich konnte keinen einzigen Hasen erlegen. Hatte aber Glück, auch kein anderes Tier getroffen zu haben. So blieb mir wenigstens der Abwasch erspart! Auch Marga neben mir ging leer aus. Wie es mit den anderen Teilnehmern des Finales aussah – ich hatte keine Ahnung. Niemand machte auf dem Weg zum Dorfplatz auch nur die geringste Andeutung. Gespannt warteten alle Final-Teilnehmer und die übrige Dorfgemeinschaft auf die Ergebnisse. Endlich wurden die Namen vorgelesen. Mein Name wurde mit vier anderen zuerst genannt. Alle mit null Treffern. Sally war nicht dabei. Dann gab es vier Teilnehmer mit je einem Treffer, auch hier war Sally nicht dabei. Blieben noch zwei übrig. Sally und der Vorjahressieger Wilhelm. Ich drückte Sally die Daumen. Dann wäre mein Tanzabend gesichert! Aber Franziskus sagte nur ein Wort: Entscheidungs-Schießen! Die Menge johlte. Dann wurde auf dem Dorfplatz eine Schießscheibe aufgestellt. Auf ein einfaches Tuch hatte man mehrere Kreise um einen Mittelpunkt gezogen. 32 Das Tuch wurde in Gesichtshöhe auf einen Strohballen gespannt. Die Regel war einfach. Nur ein Pfeil für jede Person, wer dem Mittelpunkt am nächsten kam, hatte gewonnen. Die Entfernung betrug ungefähr fünfzig Meter. Wilhelm begann. Sein Schuss landete etwa zehn Zentimeter links vom Mittelpunkt entfernt. Ein sehr guter Schuss! Wilhelm hob die Arme und ließ sich schon mal feiern. Sally schaute mit angespanntem Gesicht zu. Sie ging zur Abschusslinie, atmete tief durch, spannte den Bogen und hielt den Atem an. Der Pfeil sirrte durch die Luft und traf fast genau ins Zentrum. Gewonnen! Applaus und anerkennende Rufe schallten über den Platz. Irgendwie schien sich ein fünfhundert Jahre altes Ritual erhalten zu haben. Wie bei vielen Schützenfesten in der Vergangenheit wurde auch hier die Siegerin mit einem Haarkranz aus Eichenlaub gekrönt. Dann begann der gemütliche Teil. Überall wurden Fleischstücke auf die Grills geworfen, Salate, Kartoffeln und Obst auf die Tische gestellt. Fruchtwein servierte man in großen Kannen. Samson, Pierre und ich saßen an einem Tisch, während Sally sich durch die Reihen der Dorfbewohner kämpfte. Überall wurde ihr gratuliert und sie sollte einen Schluck Wein mittrinken. Ich verlor sie aus den Augen. Plötzlich stand Marga mit zwei Bechern Wein neben mir. „Na, wie geht es dir?“, begann sie. „Lass uns einen Schluck Wein zusammen auf uns Verlierer trinken.“ Ich stand auf. Sie hatte ein sündhaftes Kleid angezogen, ihre Brüste quollen praktisch aus dem Dekolleté. Mir gingen fast die Augen über und ich versuchte meinen Blick auf ihr Gesicht zu richten. Automatisch nahm ich den Becher und leerte ihn auf einen Zug. Marga hakte sich bei mir ein und schmiegte sich an meinen Körper. Doch in diesem Moment wurde das Fleisch an die Tische gebracht und wir wurden getrennt. Gott sei Dank! Wenn das Sally gesehen hätte … Ich schaute mich um, konnte sie aber nirgends entdecken. Eigentlich hatte ich ja gar nichts gemacht, warum hatte ich dann ein schlechtes Gewissen? 33 Als Marga wieder ihre Position an meiner Seite einnehmen wollte, erklärte ich ihr, leicht stotternd und bemüht, nicht auf ihre Oberweite zu starren, dass ich mit Sally zusammen wäre. Um es nicht zu schroff klingen zu lassen, versprach ich ihr einen Tanz. Sie schien nicht überrascht oder beleidigt zu sein, hauchte mir noch ein: „Bis nachher beim Tanz!“ in mein linkes Ohr, warf mir eine Kusshand zu und verschwand. Ich hatte mich gerade wieder an den Tisch gesetzt, als Sally sich neben mir auf die Bank fallen ließ. Ihr Gesicht war leicht gerötet von dem Gratulations-Marathon, der sich über sie ergossen hatte. Wir umarmten sie und gratulierten ihr herzlich. Sie benahm sich wie immer und erzählte, wie es ihr beim entscheidenden Schuss ergangen war. Ich war erleichtert, dass sie nichts von Margas Besuch mitbekommen hatte. Wir langten kräftig beim Essen zu und leerten auch den einen oder anderen Becher des leichten Fruchtweins. Dann spielte die Musik auf. Überrascht vernahm ich auch Geigenklänge. Ich schaute zur „Band“ hinüber. Wahrhaftig. Zwei Trommler, die auf Blechfässern spielten, zwei weitere, die eine Art Bongos bearbeiteten und ein Geiger mit einer echten Geige! Dazu gesellten sich noch eine Sängerin und ein kleiner Chor, bestehend aus fünf Sängern, die auch verschiedene, selbst gebastelte Blasinstrumente in den Händen hielten. Eine merkwürdige Zusammenstellung von Musikern. Die Musik war schwungvoll und erinnerte ein wenig an Country - und Western Musik. Zu meiner Überraschung tanzte jedoch niemand. Sallys Nachbar flüsterte ihr etwas ins Ohr. Sie nickte, sprang auf, fasste Samsons Hand und zog ihn hinter sich her. Als Sally und der verdutzte Samson die Tanzfläche erreicht hatten, füllte sich die Tanzfläche in Sekunden. Der EröffnungsTanz! Na klar! „Na, mein Freund? Sauer, weil du nicht die erste Wahl bei Sally bist?“ Pierres unnachahmliche Art, mich zu ärgern, ging mir manchmal gewaltig auf den Geist. Gerade deswegen ließ ich mir meine Enttäuschung so wenig wie möglich anmerken. 34 „Du weißt doch, ich bin ein ziemlicher Tanzmuffel und Sally kennt das. Wir werden sicherlich noch später lange genug das Tanzbein schwingen!“ Das war noch nicht einmal gelogen, ich war wirklich kein besonders guter Tänzer und hatte bei früheren Gelegenheiten immer Ausreden gefunden, um nicht so oft auf die Tanzfläche zu müssen. Dennoch nagte Pierres Stichelei an mir. Mit dem ersten Tanz hätte Sally allen zeigen können, dass wir ein Paar waren. Jeder hatte auf die Tanzfläche geblickt, als sie den Tanz eröffnete. Versteh einer die Frauen! Als Sally später mit Samson zurückkam, forderte sie sofort Pierre zum nächsten Tanz auf. Als Pierre meinen finsteren Blick bemerkte, beugte er sich kurz zu mir und flüsterte schadenfroh grinsend: „Das tut mir leid für dich, aber niemand darf die Wünsche der Jagdkönigin ablehnen!“ So ging es immer weiter. Sally tanzte und tanzte. Sie schien keinen der Männer auszulassen. Samson und Pierre amüsierten sich prächtig. Sie hatten viele Verehrerinnen, die beide immer wieder zum Tanz aufforderten oder sich zu uns setzten. Es ging schon auf Mitternacht zu, als plötzlich Marga neben mir auftauchte. „Hallo mein Süßer! Hattest du mir nicht einen Tanz versprochen?“ Eigentlich hatte ich absolut keine Lust, aber versprochen war nun mal versprochen. Als wir die Tanzfläche erreichten, spielte die Band gerade langsame Musik und Marga presste ihren opulenten Busen an meinen Körper. Ihren Kopf legte sie an meine Schulter und ihre Hände lagen kurz über meinem Gesäß. Ziemlich anzüglich streichelte sie mich auch noch ab und an. Ihr Haar roch nach Blüten. Auch wenn ich mit meinen Gedanken nicht so ganz bei der Sache war, schloss ich die Augen und versuchte, den Tanz zu genießen. Es muss wohl kurz vor Mitternacht gewesen sein, als ich plötzlich ein Tippen auf meiner Schulter bemerkte. Ich öffnete die Augen und blickte mich um. Sally! Sie sah Marga an und sagte etwas schnippisch: „Du hast lange genug mit ihm getanzt – jetzt bin ich auch mal dran!“ 35 Marga sah mich Widerspruch fordernd an, doch ich sagte mit gespieltem Bedauern zu ihr: „Tut mir leid, aber es ist noch vor Mitternacht und ich muss wohl mit Sally tanzen!“ Ich tat so, als würde ich mich nur schweren Herzens von Marga lösen. Obwohl langsame Musik gespielt wurde, hielt ich etwas Abstand zu Sally. Gerade so viel, als wäre sie nicht meine Partnerin, aber auch nah genug, um Offenheit zu demonstrieren. Ich spürte ihre Verärgerung, aber innerlich musste ich grinsen. Jetzt war meine Zeit gekommen! Süffisant sprach ich sie an: „Nun mein Schatz, hattest du einen schönen Tanzabend mit all den vielen Männern?“ Sallys Augen schickten kleine Giftpfeile in meine Richtung, während sie antwortete: „Oh ja! Hatte ich. Aber du warst ja schon den ganzen Tag mit der kleinen Marga unterwegs und hast dich auch prächtig amüsiert! Erst lässt du dich von ihr knutschen und dann kannst du deine Augen nicht von ihren üppigen Quarktaschen nehmen! Und zu guter Letzt fummelt sie auch noch an deinem Hintern herum!“ Ich hörte die gewaltige Verärgerung in ihrer Stimme – und freute mich darüber! Sally hatte natürlich wieder alles mitbekommen. Wie machte sie das bloß? Aber eigentlich war es mir in diesem Moment egal, dieses eine Mal kam ich mir wie der Gewinner bei unseren ständigen kleinen Scharmützeln vor. Ich zog Sally an meine Brust und wir tanzten, bis die Band im Morgengrauen aufhörte zu spielen. 36 Entführt! Natürlich gab es in einem wachsenden Dorf wie Neu-Siegen immer Bedarf an alltäglichen Gütern. Neben Salz, das wir eintauschen konnten, benötigten wir auch allerlei Gefäße, um unsere Getreideernte lagern zu können. Wir machten es wie die alten Ägypter und bewahrten unser Korn und das daraus gewonnene Mehl in großen Tontöpfen auf. Darin blieb es vor Ratten, Mäusen und anderem Ungeziefer verschont. Große Tontöpfe waren nicht einfach herzustellen und man ging behutsam damit um. Dennoch passierte es immer wieder, dass der eine oder andere Topf zu Bruch ging. Franziskus hatte Sally, Samson und mich ausgewählt, in einem zwei Stunden entfernten Steinbruch Ton abzubauen. Pierre war diesmal nicht dabei, er hütete mit einer Erkältung das Bett. Als Ersatz teilte der Bürgermeister uns einen sechzehnjährigen Burschen namens Harry zu. Er war ortskundig und wusste auch, auf welche Tonart wir zu achten hatten. Da der Weg in den Steinbruch nicht besonders weit und auch recht gut ausgebaut war, bekamen wir einen schmalen Karren mit. Ein nettes kleines Gefährt mit seitlichen Streben und einer Deichsel. Die Deichsel machte das rangieren in unebenem Gelände recht einfach. Allerdings verzichteten wir darauf, einen Ochsen davor zu spannen, der hätte uns nur aufgehalten. Andere Zugtiere wie zum Beispiel Pferde schien es nach der Apokalypse nicht mehr zu geben, und unsere Esel waren noch nicht alt genug. Also zogen wir abwechselnd den Karren, wobei Samson den Großteil dieser Arbeit übernahm. Er trug wie meistens, wenn wir das Dorf verließen, immer noch das Fell des Löwbären, den er seinerzeit erlegt hatte. Ein wenig ähnelte er damit dem Halbgott Herkules aus den Mythen und Sagen des griechisch-römischen Altertums. Unser Trupp hatte im Morgengrauen das Dorf verlassen. Da die ganze Arbeit bis zum Abend erledigt sein sollte, hatten wir nur wenig Wasser und Proviant dabei. 37 Wir kamen gut voran und erreichten wie geplant nach knapp zwei Stunden den Steinbruch. Allerdings waren wir dort nicht alleine. Ein Trupp von acht Männern lagerte schon an den Tongründen. Wir hatten sie noch nie gesehen und auch Harry waren sie unbekannt. Wie üblich stellten wir uns gegenseitig vor. Ihr Anführer erzählte uns, dass sie auf der Jagd seien und nun auf dem Rückweg in ihr Dorf noch ein wenig Ton mitnehmen wollten. Ich schaute mir die Leute an. Besonders erfolgreich war der Jagdausflug wohl nicht gewesen. Ein mageres Reh und zwei Hasen waren alles, was sie erlegt hatten. Dennoch schien die Jagd länger gedauert zu haben, denn sie machten einen reichlich verwahrlosten Eindruck. Nach dem kurzen Palaver stachen wir den Ton und beluden unseren Wagen. Die andere Gruppe schien es nicht eilig zu haben. Sie förderten nur wenig Ton. Wir hatten den Wagen schnell gefüllt und wollten vor der Rückreise noch eine Mahlzeit einnehmen. Der Trupp der Acht lagerte schon. Ihr Anführer bot uns Tee an, den wir aus Höflichkeit dankend annahmen. Sally wurde von einigen der Männer regelrecht angebaggert und beinahe mit Blicken verschlungen. Ich kannte das schon von anderen Begegnungen. Sie hatte das normalerweise im Griff und manches Mal flirtete sie dabei sogar ein wenig. Doch aus irgendeinem Grund war sie diesmal ziemlich einsilbig und versuchte den Annäherungsversuchen auf die schroffe Art zu entgehen. Mir reichte es. Ich stand auf, um die Männer in ihre Schranken zu weisen, als sich unvermittelt alles um mich herum drehte. Die Knie wurden mir weich und gaben nach. Bevor ich zusammensackte, sah ich Harry und Samson ebenfalls niedersinken. Dann war da nur noch Schwärze. „Aufwachen! Wach auf Frank!“ Jemand bearbeitete mein Gesicht mit seinen Händen. Unwillig schlug ich nach den Händen, ohne die Augen zu öffnen. Schlafen, ich wollte doch nur schlafen. „Frank, wach auf! Sie haben Sally!“ Sally? Was bedeutete das? Sie haben Sally? Plötzlich fiel mir alles wieder ein. 38 Der Tee, die Annäherungsversuche, die Ohnmacht. Ich öffnete die Augen und erhob mich mühsam. Samson half mir dabei. „Samson, was ist passiert?“ „Sie haben uns betäubt und Sally entführt. Harry ist noch bewusstlos.“ „Verdammt, wir müssen sofort hinterher. Wie lange war ich weggetreten?“ Samson schaute in den Himmel nach dem Sonnenstand. „Die Sonne steht nicht ganz so hoch. Wir müssen fast einen Tag und eine Nacht geschlafen haben!“ „Was? Das kann doch nicht sein. Wir müssen sofort los!“ „Beruhige dich, Frank. Wir müssen einen klaren Kopf bewahren. Kümmere du dich um Harry, während ich schon mal die Spuren verfolge. Ich bin gleich zurück.“ Mir brummte der Schädel. Ja, Harry war ja auch noch da. Ich beugte mich über ihn und schüttelte ihn so lange, bis er aus der Bewusstlosigkeit aufwachte. Während er sich langsam wieder erholte, ließ ich meinen Blick über das Lager schweifen. Unser Karren mit dem Ton stand noch da, unsere Waffen waren verschwunden. Verdammt! Wie sollten wir ohne Waffen die Verfolgung in dieser Wildnis aufnehmen? Egal, ich würde Sally auch ohne Waffen zurückholen. Wo blieb nur Samson? Wir hatten schon genug Zeit verloren. In meinem Kopf schossen die Gedanken nur so durcheinander. Was würden sie Sally antun? Was, wenn sie vergewaltigt oder getötet wurde, bevor wir sie fanden? Oder waren das Sklavenhändler und sie wollten Sally verkaufen? Ich atmete tief durch und versuchte mich zu beruhigen. Eines wusste ich, Sally würde sich sehr gut zu wehren wissen! So einfach gab meine Sally nicht auf! Aber die Entführer hatten einen ganzen Tag Vorsprung – wir mussten uns beeilen. Meine Verzweiflung brach wieder durch. Dann kam Samson zurück, in seinen Händen zwei einfache Speere. Einen reichte er mir. „Ich habe ihre Spur gefunden. Sie haben ein kleines Messer in meinem Löwbär-Fell übersehen. Ich konnte uns zwei Speere schneiden. Das muss reichen. Wir schicken Harry zurück. 39 Er soll Verstärkung holen. Für ihn ist es sowieso zu gefährlich. Diese verdammten Bastarde haben nicht nur Sally entführt, sondern auch meine Keule mitgenommen. Dafür werden sie bezahlen!“ Als ich Samsons entschlossenen Gesichtsausdruck sah, wich die Verzweiflung wieder und Zuversicht durchströmte meinen Geist. Samson liebte Sally wie eine Schwester und seine geliebte Keule stand nachts sogar neben seinem Bett. Wir würden es diesen Dreckskerlen zeigen und Sally zurückholen! Die acht Entführer machten es uns nicht leicht. Sie hatten ihre Fährte sehr gut verwischt. Doch Samson ließ nicht locker und fand ihre Spur immer wieder. Hier und da zeigten uns auch ein kleiner abgebrochener Zweig oder ein paar winzige Stofffasern, dass Sally versuchte, uns so unauffällig wie möglich Hinweise zu hinterlassen. Es handelte sich bei den Fasern um Teile von Sallys Unterwäsche – das war mir sofort klar. Ein gutes Zeichen – sie lebte also noch und war bei Bewusstsein! Wir wiederum hinterließen gut sichtbare Zeichen, damit unsere Verstärkung aus dem Dorf schnell aufholen konnte. Wir folgten der Spur, bis es in der Dunkelheit unmöglich wurde. „Was meinst du, Samson. Haben wir etwas aufgeholt?“ „Aus den Fährten lese ich, dass sie zwar nicht allzu schnell vorwärts kommen, weil sie immer wieder ihre eigenen Spuren verwischen müssen. Aber sie verwischen sie leider so gut, dass wir auch nicht aufholen können! Ich hoffe, sie werden demnächst denken, dass wir sie nicht mehr verfolgen, weil wir ihre Spur verloren haben. Dann werden wir aufholen! Und zwar sehr schnell. Sie sind ein Trupp aus acht Leuten und eine Gefangene. Wir sind nur zu zweit und viel schneller. Leg dich hin und versuch zu schlafen. Ich rechne Morgen mit einer anstrengenden Suche!“ Samson hatte Recht! Auch wenn es nicht einfach war, ich versuchte meine Gedanken zu ordnen und mich auf den Schlaf zu konzentrieren. * 40 Wir waren seit dem Morgengrauen unterwegs, hatten zuvor unsere letzten Nahrungsvorräte hastig herunter geschlungen und folgten den Entführern so schnell wie möglich. Zuerst war die Suche immer noch sehr schwierig gewesen, aber seit etwa einer Stunde war das Unterholz sehr viel dichter geworden und es lohnte sich für die Kerle nicht mehr, ihre Spuren zu verwischen. In diesem Gestrüpp war es für sie so gut wie unmöglich, erfolgreich den Weg zu verbergen, den sie genommen hatten Irgendwo lag immer ein Steinchen mit der feuchten Seite nach oben, war ein kleiner Zweig abgebrochen oder altes Laub von den Sträuchern geschüttelt worden. Alles Hinweise, denen wir gut folgen konnten. Auch wenn die Entführer ihre Spuren nun nicht mehr verwischten, kamen sie nicht schneller voran. Das dichte Unterholz sorgte dafür. Wir hingegen holten deutlich auf. Samson legte eine höllische Geschwindigkeit vor, sein mächtiger Körper bahnte uns mit brachialer Wucht den Weg. Sein Leib war mittlerweile übersät mit Kratzern, die Dornen und Zweige hinterlassen hatten. Vermutlich sah ich wohl nicht viel besser aus. Wir achteten auch nicht auf den Lärm, den wir bei unserem Gewaltmarsch verursachten – noch waren wir nicht in Hörweite der Verbrecher. Hier und da stießen wir auf Überreste eines ihrer Lager. Sie wurden immer sorgloser. Als wir am Abend lagerten, schaute Samson mich zuversichtlich an. „Morgen Abend werden wir sie eingeholt haben. Ich hoffe, sie erreichen bis dahin nicht ihr Dorf, oder was immer ihr Ziel ist. Es reicht, gegen acht Leute kämpfen zu müssen, wir sollten ohne Verstärkung kein ganzes Dorf angreifen. Aber ich bin mir sicher, unsere Leute werden uns spätestens übermorgen eingeholt haben, dann können wir es auch mit einem Dorf aufnehmen!“ Der nächste Tag wurde noch härter. Samson hatte das Tempo nochmals erhöht. Obwohl er die ganze Zeit voraus lief und den Weg freimachte, konnte ich keinerlei Ermüdungserscheinungen bei meinem Freund feststellen. Mir hingegen rann der Schweiß aus allen Poren den Körper hinunter. 41 Immer wenn ich glaubte, es ginge nicht mehr weiter und gerade Samson bitten wollte, das Tempo etwas zu verlangsamen, legte er eine Pause ein. Er schien genau zu wissen, wie leistungsfähig mein Körper war. Bei einer unserer Pausen kramte Samson seinen Kräuterbeutel aus dem Löwbär-Fell. Er reichte mir einige Beeren. „Kau sie langsam. Sie werden dich stärken. Wir müssen nun jederzeit bereit sein, zu kämpfen. Die Bastarde sind ganz in der Nähe. Ich kann sie förmlich riechen!“ Ob Samson die Kerle wirklich riechen konnte, war mir ziemlich egal. Aber wenn er sagte, dass sie in der Nähe waren, dann waren sie auch in der Nähe. Ich kaute langsam auf den Beeren herum. Neue Kraft und Zuversicht strömten durch meinen Körper. Was immer das für Beeren waren, sie taten wirklich gut! Mein starker Freund folgte nun nicht mehr direkt den Spuren der Entführer, sondern machte kleine Umwege. Kein knackendes Ästchen, kein rollender Stein sollte uns verraten. Immer wieder hielt er an und streckte wie ein witternder Hund die Nase in die Luft. Mir war schleierhaft, was er da roch, bis ich endlich den Rauchgeruch auch selbst bemerkte. Die Halunken rasteten und hatten ein Feuer angezündet! Samson zeigte mir an, dass ich zurückbleiben sollte, während er das Lager näher auskundschaften wollte. Nach ein paar Minuten kam er zurück und berichtete leise. „Sie sitzen rund um ein Feuer, essen und unterhalten sich. Sally haben sie an einen Baum gefesselt und geknebelt – ihr scheint es gut zu gehen. Sie rechnen offensichtlich nicht mit einer Verfolgung oder einem Angriff. Doch irgendetwas stört mich, aber ich kann dir nicht sagen, was es ist. Wollen wir versuchen, Sally zu befreien oder warten wir auf unsere Verstärkung?“ Ich stellte eine Gegenfrage: „Können wir denn die acht Halunken überwältigen?“ Samson nickte, wirkte aber irgendwie unsicher dabei. Ich schüttelte den Gedanken ab. „Gut, dann lass uns loslegen. Ich will nicht, dass Sally eine Sekunde länger als nötig in ihrer Gewalt ist!“ * 42 Ich erwachte von einem fürchterlichen Stöhnen. Wer oder was brachte solche Geräusche hervor? Irgendwie bekam ich meine Augen nicht auf und versuchte, mich auf die Töne zu konzentrieren. Verdammt, das Geräusch kam von mir – was zum Teufel war geschehen? Endlich gelang es mir, die Augen zu öffnen. Balken, ich sah eine Menge aufgeschichteter Balken! Erst jetzt bemerkte ich die starken Kopfschmerzen und schloss meine Augen wieder. Tief atmete ich durch, der Sauerstoff schien die Schmerzen auf ein erträgliches Maß zu reduzieren. Wieder öffnete ich die Augen. Die Balken waren immer noch vorhanden. Nur langsam dämmerte mir, um was es sich handelte. Ich befand mich in einem Blockhaus! Wie war ich hierher gekommen? Ich versuchte mich aufzurichten, um umherblicken zu können. Mir wurde schnell klar, dass ich an Händen und Füßen gefesselt war. Ich war gefangen! Wie ein Blitz aus heiterem Himmel schossen mir plötzlich die Erinnerungen durch den Kopf. Die Suche nach Sally, die Beobachtung des Lagers und schließlich unser Angriff! Verdammt, da war etwas gewaltig schief gelaufen – wir waren direkt in eine Falle gerannt! Zuerst ging alles nach Plan. Wir waren auf den Lagerplatz der Entführer gestürmt und hatten das Überraschungsmoment auf unserer Seite gehabt. Die ersten vier Männer waren sehr schnell ausgeschaltet. Ich warf einen kurzen Blick zur geknebelten Sally. Ihre Augen waren geweitet – Panik stand in ihren Augen. Sie versuchte verzweifelt mit schüttelnden Bewegungen den Knebel loszuwerden. Gefahr! Meine Instinkte schlugen Alarm, doch es war bereits zu spät. Aus dem Gebüsch sprangen sechs Spinnenmenschen hervor. Alle mit schweren Knüppeln bewaffnet, und alle fast so riesig wie mein Freund. Einer hielt dessen gewaltige Keule mit seinen vier Händen fest umklammert und stürmte von hinten auf ihn los. Samson spürte die Gefahr und wollte sich herumwerfen, doch es war zu spät. Von seiner eigenen Keule getroffen ging er in die Knie. Blut schoss aus einer Wunde am Hinterkopf. 43 Verzweifelt versuchte er sich wieder aufzurichten, doch ein weiterer Schlag eines der anderen Angreifer ließ ihn endgültig zu Boden sinken. Genau in diesem Moment schossen tausend Blitze durch meinen Kopf und die Lichter gingen aus. * Ich hatte meinen Körper mittlerweile mühsam aufrichten können, lehnte an der Wand des Blockhauses und schaute mich um. Aus einem mit starken Hölzern vergitterten Fenster drang schwacher Lichtschein herein. Es schien Abend zu werden. Ich musste einige Stunden bewusstlos gewesen sein. Sally, Samson! Wo waren sie? Mein Blick durchstreifte die Hütte. Samson lag zusammen gekrümmt in einer Ecke. Er war bewusstlos. Mein Blick wanderte durch den kompletten Raum. Von Sally keine Spur. Ich schaute zurück zu Samson. Er lag mit dem Rücken zu mir. Das Blut auf seinem Hinterkopf war verkrustet. Sein Oberkörper bewegte sich in regelmäßigen Abständen. Er atmete! Erleichterung machte sich in mir breit. Auch er war an Händen und Füßen gefesselt. Nach den schweren Treffern, die er hatte einstecken müssen, würde er wohl noch einige Zeit bewusstlos bleiben. Meine Gedanken gingen zum Zeitpunkt des Angriffs zurück. Was hatten wir nur falsch gemacht? Und was übersehen? Sally ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Sie hatte es gewusst! In Ihren Augen hatte ich es gesehen, als sie verzweifelt versuchte, den Knebel aus dem Mund zu spucken. Der Knebel! Das war es! Meine Gedanken gingen weiter zurück – zu dem Zeitpunkt als Samson mir von dem Lager berichtete. Er hatte von der gefesselten und geknebelten Sally berichtet. Der Knebel wäre der Schlüssel gewesen. Warum sollten die Entführer Sally knebeln, wenn sie sicher waren, dass sie nicht mehr verfolgt wurden? Natürlich, sie sollte keine Gelegenheit haben, uns zu warnen. Zu diesem Zeitpunkt war die Falle schon gestellt und wir waren ahnungslos hinein getappt. Wie sie uns allerdings entdecken konnten, war mir schleierhaft. 44 Samsons Stöhnen unterbrach meine Gedankengänge. „Na, mein Freund, was bin ich froh, dass du wieder wach wirst. Du hast mächtige Schläge einstecken müssen.“ „Was ist passiert?“, antwortete Samson und richtete sich mühsam auf. Ich erzählte ihm von meinen Vermutungen und er nickte. „Es ist meine Schuld. Ich hatte gleich so ein ungutes Gefühl. Meine Instinkte haben mich gewarnt. Ich hätte auf sie hören sollen.“ „Niemand ist Schuld“, entgegnete ich, „wir haben einfach Pech gehabt.“ Unser kurzes Gespräch erstarb. Wir hingen unseren Gedanken nach und warteten. Irgendwann würden sich unsere Gegner melden. Was dann geschah und was mit Sally geschehen würde, konnte ich nur ahnen. * Dann war es soweit. Jemand machte sich an der Tür zu schaffen. Sie öffnete sich. Ich traute meinen Augen kaum. Sally stand vor uns. Weder gefesselt noch geknebelt. Zwei Begleiter standen neben ihr, doch es waren keine Aufpasser. Sie nickte den beiden zu, worauf diese zwei Messer zückten und auf Samson und mich zugingen. Was zum Teufel war das jetzt schon wieder? Wollten sie uns massakrieren? Hatten sie Sally unter Drogen gesetzt? Ich wollte ihr etwas zurufen, brachte aber vor Entsetzen keinen Ton heraus. Doch es kam ganz anders. Sallys Begleiter schnitten uns zu unserer grenzenlosen Überraschung die Fesseln durch und halfen uns sogar beim Aufstehen. Samson überwand seine Überraschung schneller als ich. „Sally, was ist hier los? Werden wir wirklich freigelassen?“ „Ja, ich erkläre es euch. Doch zuerst sollten wir nach draußen gehen. Da sind ein paar Leute, die euch gerne sehen wollen!“ Wir schritten nach draußen und unbeschreiblicher Jubel brandete auf! Vor uns standen mindestens hundert unserer Freunde aus Neu-Siegen, bewaffnet mit Bögen, Speeren, Knüppeln, Mistgabeln und allem, was sich irgendwie als Waffe verwenden ließ. In 45 ihrer Reihe stand Franziskus und grinste breit. Samson und ich waren sprachlos. Nachdem der erste Jubel verklungen war, kam er auf uns zu. „Nachdem Harry uns von der Entführung berichtet hatte, haben wir sofort alle verfügbaren Männer und Frauen ausgerüstet und sind aufgebrochen. Ihr habt gute Zeichen hinterlassen und wir sind vor kurzem hier eingetroffen. Angesichts unserer Entschlossenheit haben die „Unglücklichen“ schnell aufgegeben.“ Ich schaute Sally fragend an. „Ich erklär euch später, was mit den Unglücklichen gemeint ist.“ Nachdem wir dankbar jede Menge Hände geschüttelt hatten, führte meine Freundin uns durch das Dorf der Unglücklichen. Das hier etwas nicht stimmte, fiel mir sofort auf. Viele ältere Dorfbewohner wirkten kränklich. Junge Frauen oder Mädchen waren kaum zu sehen. Überhaupt gab es nur wenige Kinder. Etliche der Blockhäuser standen leer, obwohl sie noch gar nicht so alt aussahen. „Ihr wollt sicherlich wissen, wie es den Entführern gelungen ist, euch in die Falle zu locken.“ Samson und ich nickten zustimmend. Uns war immer noch schleierhaft, wie ihnen das gelungen war. „Nun, es war mehr oder weniger Zufall. Die Entführer hatten sich vor ihrem Jagdausflug in zwei Gruppen aufgeteilt. Da war die eine, der ich in die Hände gefallen bin und eine zweite, die euch dann später angegriffen hat. Als Treffpunkt war der letzte Lagerplatz ausgemacht. Nur wenige Stunden, bevor ihr mich befreien wolltet, ist die zweite Gruppe aufgetaucht. Sie haben Samson zufällig beobachtet, als er sich an das Lager anschlich. Den Rest könnt ihr Euch denken, eine Falle war schnell gestellt – nur mich musste man knebeln, damit ich euch nicht warnen konnte.“ So einfach war das! Ein dummer Zufall und man war geliefert. Wer weiß was alles noch geschehen wäre, wenn uns unsere Freunde aus Neu-Siegen nicht rechtzeitig gefunden hätten. 46 „Okay“, fragte ich, „aber was hat es mit der Bezeichnung der Dorfbewohner als „Die Unglücklichen“ auf sich?“ „Ich konnte mich mit meinen Entführern immer mal wieder unterhalten. Sie schienen mir so traurig, ja fast depressiv. Zuerst wollte niemand mit der Sprache herausrücken, doch nach einer Weile bin ich ihnen wohl so auf die Nerven gegangen, das sich ihr Anführer erbarmte und mir ihre Geschichte erzählte.“ Sally räusperte sich, während wir die Häuser verlassen hatten und über ein Gemüsefeld gingen. „Vor etwa 30 Jahren kam während der Regenperiode ein schwerer Sturm auf, der ihr Dorf dem Erdboden gleichmachte. Viele Bewohner wurden von ihren eigenen Häusern begraben und starben. Als der Sturm vorbei war, wollte man nicht mehr neu an dem alten Ort aufbauen. Man packte alle noch verbliebenen Habseligkeiten zusammen, zog dreißig Kilometer weiter und gründete hier an dieser Stelle ein neues Dorf. Der Platz schien ideal. Er war von schützenden Hügelketten umgeben, der Boden sah fruchtbar aus. Die ersten drei Jahre waren sehr hart, aber man schaffte es, neue Häuser zu errichten und neue Felder zu bestellen. Alles schien perfekt. Doch mit den Jahren wurden immer weniger Kinder geboren und wenn, dann fast ausschließlich Jungen. Auch war die Zahl der Mutationen ungewöhnlich hoch, weit höher, als in dieser Zeit üblich. Schließlich wurden viele der Alten kränklich. Es starben weit mehr Menschen, als geboren wurden. Ihr habt die leeren Hütten gesehen. Die Dorfbewohner erkannten, das über kurz oder lang die Dorfgemeinschaft aussterben würde, wussten aber nicht, woran es lag. Ein erneuter Umzug kam für sie erst gar nicht infrage, der Standort des Dorfes war ideal. Schließlich glaubten die Dorfbewohner, dass ein Fluch für ihr Unglück verantwortlich war. Sie besorgten sich aus der Umgebung Schamanen und zahlten viel Geld bzw. Tauschwaren dafür, um den Fluch aufzuheben. Das verschlimmerte ihr Unglück noch. Als alles nichts half, beschloss die Dorfgemeinschaft dem Kinderglück nachzuhelfen. Heimlich entführten sie durchreisende 47 Frauen und Mädchen und gliederten sie in ihre Dorfgemeinschaft ein. Ab und zu entführten sie auch jemanden aus weiter entfernten Dörfern – immer so, dass es nicht auffiel. Schließlich sterben oder verschwinden immer wieder Menschen auf der Jagd oder auf Reisen. Es ist halt eine gefährliche Zeit.“ Schweigend gingen wir weiter. Ich schaute mich um. Dieser Ort war ideal für den Anbau von Lebensmitteln, die Lage des Dorfes geschützt. Hier und da ragte ein dünnes Metallrohr aus dem Boden. Vermutlich ein Überbleibsel aus der Vergangenheit. Was also konnte die Ursache für den Geburtenrückgang sein? Zufall? Inzucht? Nein, das konnte nicht sein. Vor dem Sturm war alles in Ordnung gewesen. An Flüche glaubte ich sowieso nicht! Was kam noch infrage? Umweltbedingungen! In früheren Zeiten waren in der Nähe von Atomkraftwerken verstärkt Krankheiten vor allem bei Kindern aufgetreten. In der dritten Welt hatte es so genannte Müllkinder gegeben, die sich Tag und Nacht auf riesigen Müllkippen aufgehalten hatten und sich von den Überbleibseln des Wohlstandsmülls ernährten. Diese Kinder hatten im Allgemeinen nur eine geringe Lebenserwartung. Oder auch nach Chemieunfällen war es – oft erst Jahre später entdeckt – zu vielen Krankheiten und Todesfällen gekommen. Ich schaute zu meinen Freunden hinüber. Ich sah es in ihren Gesichtern arbeiten – sie überlegten genauso fieberhaft wie ich, was der Grund für das Problem sein könnte. Sally und ich waren gelernte Biologen, wir wussten von den Zusammenhängen zwischen Umweltbedingungen und Krankheiten. Unvermittelt blieb ich stehen und schaute mich um. „Was ist, Frank? Ist dir was aufgefallen?“ Ich stellte eine Gegenfrage: „Wohin hat man Mitte bis Ende des zwanzigsten Jahrhunderts Müllkippen gebaut?“ „Das war ein wenig vor meiner Zeit, aber ich denke, man hat kleine Täler voll geschüttet.“ „Richtig! Als dann immer mehr Müllverbrennungsanlagen aufkamen und auch mehr recycelt wurde, hat man die Müllkippen oftmals einfach mit Erde aufgefüllt. 48 Ohne an später zu denken, Jahre danach wurden dann sogar Häuser darauf gebaut. Manchmal hat man auch Rohre in die Erde eingelassen, die das Methan, welches sich zwangsläufig im Abfall bildet, abzuleiten und abzufackeln.“ Ich hob meine rechte Hand und zeigte mitten ins Gemüsefeld. „Siehst du? Solche Rohre wie diese da!“ „Du meinst …?“ „Ja, genau! Wir stehen hier auf einer alten Müllkippe. Wer weiß schon, was hier alles abgeladen wurde. Sicherlich mehr als nur Hausabfälle! Lass uns an einem der Rohre graben und schauen, ob ich recht habe.“ Wir wurden schnell fündig. Nach nicht mal einem Meter kam uns schon die erste Öldose entgegen. Plastikabfälle und alte Quecksilberhaltige Batterien fanden wir ebenfalls. Wahrscheinlich war hier ein Giftcocktail entstanden und über das Gemüse hatten die Menschen ihn zu sich genommen. Später stellte sich auch noch heraus, dass die Bewohner ihr Trinkwasser aus einer Quelle in der Nähe bezogen. Das Grundwasser war sicherlich ebenfalls belastet. Es war schwierig, den Dorfbewohnern den Sachverhalt zu erklären. Wie sollten sie auch die Zusammenhänge zwischen Umweltverschmutzung vor fünfhundert Jahren und ihrer Kinderlosigkeit verstehen? Schließlich kam uns Samson mit einer Idee zu Hilfe. Wir schoben alles auf einen Fluch, den man heute nicht mehr besiegen konnte, einen Fluch aus der Vergangenheit. Die „Unglücklichen“ gaben ihre Häuser ein weiteres Mal auf. Wohin sie ziehen wollten, wussten wir nicht. Nur eines war klar – sie würden sehr weit reisen, weit genug, um dem „Fluch“ zu entgehen! Wir machten uns auf die Rückreise. Samson ging vorher aber noch einmal zurück ins Dorf. „Was hat er vor?“ fragte ich Sally. „Ich habe keine Ahnung.“ Ein schlechtes Gefühl beschlich mich und ich lief hinter ihm her. Als ich ihn gefunden hatte, konnte ich noch sehen, wie er sich mit einem der Spinnenmenschen unterhielt. 49 Soweit ich mich erinnern konnte, war das jener, der Samson mit seiner eigenen Keule niedergeschlagen hatte. Mir schwante nichts Gutes. Der Freund würde doch nicht … Klatsch! Da war es auch schon passiert. Samson hatte dem Spinnenmenschen eine kräftige Ohrfeige verpasst. So kräftig, das sich der Kerl beinahe überschlug. Er hielt sich die schmerzende Wange. Den Schlag würde er so schnell nicht vergessen! Samson schnappte sich seine alte Keule, schulterte sie und kam auf mich zu. „Du hast ihm die Ohrfeige verpasst, weil er dich niedergeschlagen hat?“ „Oh nein!“, antwortete er. „Daran war ich selber schuld – ich hätte besser aufpassen müssen. Ich hab‘ ihm eine verpasst, weil er versäumt hat, mir meine Keule zurückzugeben! Niemand vergreift sich ungestraft an meiner Keule!“ 50 Hexe Samsons geniale Heilkräuter-Mischungen hatten sich – neben den eigenen Mischungen der Dorfheiler – auch in Neu-Siegen bewährt und bei Verletzungen und Krankheiten aller Art Anwendung gefunden. Die Kräutersuche für ein ganzes Dorf war natürlich mit einigem Aufwand verbunden. Mehrere pflanzenkundige Mitbewohner teilten sich diese Aufgabe. Dennoch ließ es sich Samson nicht nehmen, hin und wieder selbst auf die Suche zu gehen. Doch niemand verließ allein unseren kleinen Ort – auch Samson nicht. Da Pierre kein besonders großes Interesse an Kräutern hatte, ging der Riese meist mit Sally oder mit mir in die Wälder. Diesmal war ich wieder an der Reihe. Für Samson waren diese Tage im Wald wie Urlaub und auch ich konnte dabei mittlerweile herrlich ausspannen. Wir waren nie in Eile, denn Kräuter zu suchen dauert eben seine Zeit. Auch in dieser neuen Welt mit ihren riesigen Waldgebieten gab es einige der Zutaten für die Kräutermischung nicht an jeder Ecke. Nach zwei Tagen Suche waren wir sehr erfolgreich gewesen. Unsere Rucksäcke waren gut gefüllt. Ein oder zwei Zutaten noch, dann würden wir uns wieder auf den Rückweg machen. Obwohl wir in den letzten Monaten sehr oft in die Umgebung unseres Dorfes gewandert waren, blieb uns dennoch der Wald wegen seiner gewaltigen Ausmaße weitgehend unbekannt. Man würde wohl ein ganzes Leben benötigen, um sich nur im Umkreis von 3 Tagesmärschen einigermaßen auszukennen. Wir hatten längst schon bekannte Pfade verlassen und kämpften uns durch den Urwald. Ich denke, man kann Urwald sagen, nach einem fünfhundertjährigen Wachstum, ohne je von Menschen angerührt worden zu sein. „Hier in der Nähe könnte es den Baum geben, den ich suche. Wir nennen ihn Zitterbaum. Er wächst in lichten Laubwäldern und mag den Boden ein wenig feucht. Zu dieser Jahreszeit müsste er austreiben, wir benötigen die Knospen. Sie eignen sich zusammen mit einigen anderen Kräutern hervorragend als 51 Wundsalbe. Wir werden den Baum leicht erkennen können. Schon bei ganz leichtem Wind bewegen sich die Blätter, man kann es sogar hören, wenn man leise ist.“ Ich war Biologe, Zitterbaum? Das hörte sich verdammt nach Zitterpappel an. Manche sagten auch Espe. Die Baumart war früher ziemlich weit verbreitet gewesen. Bisher war mir noch keine Zitterpappel aufgefallen. Diese Art schien heutzutage recht selten zu sein. Schließlich fanden wir tatsächlich einen derartigen Baum. Er war nur mäßig groß, vielleicht 10 Meter hoch. Der untere Bereich war frei von Ästen und Blättern, der Stamm ziemlich glatt. Samson hob mich mit spielerischer Leichtigkeit in die Höhe. So erreichte ich die untere Reihe der Äste, klemmte meinen rechten Fuß in eine Astgabel und begann mit der Knospenernte. Ich kam mir vor wie der Druide Miraculix aus den Asterix Heften beim Mistelschneiden. Als Samson meinte, es wäre genug, schaute ich mich noch einmal um. Der Baum stand ziemlich frei und so hatte ich einen ganz guten Überblick. Rundherum überall Wald, nichts besonderes. Mit einer Ausnahme: Ich konnte eine alte Hütte sehen, nicht weit entfernt von unserem Standort. Sie schien ziemlich baufällig und war daher wohl unbewohnt. Es war schon später Nachmittag, vielleicht konnten wir dort übernachten. Ich erzählte Samson von der Hütte. Er zuckte mit den Schultern und meinte nur: „Warum nicht? Lass uns unser Lager dort aufschlagen, vielleicht finden wir in der Nähe die letzte Zutat, die auf meiner Liste steht. Die Gegend scheint mir dafür geeignet.“ Die Hütte war schnell gefunden, doch als wir uns bis auf etwa zwanzig Meter genähert hatten, erwartete uns eine große Überraschung. Die Tür öffnete sich knarrend und eine alte Frau mit langen, ziemlich verfilzten grauen Haaren trat heraus. Ihr Gang schien gebeugt, oder hatte sie sogar einen Buckel? Mir schossen sofort verrückte Gedanken durch den Kopf. Das war die Hexe aus Grimms Märchen! Hänsel und Gretel. Und das Haus war das Knusperhaus, wenn auch ohne Lebkuchen und so. 52 Bevor ich aber meine Gedanken weiterspinnen konnte, öffnete die Alte ihren Mund: „Ich habe euch schon erwartet. Kommt herein.“ Während Samson und ich uns verwundert anschauten, drehte sich die Alte um und verschwand in ihrem Knusperhaus. Zögernd folgten wir ihr. Als wir die Türschwelle überschritten, folgte die nächste Überraschung. Das Haus schien innen viel größer, als es von außen den Anschein gehabt hatte. Es war nur ein einziger großer Raum. An drei der vier Wände standen Regale, gefüllt mit hunderten von dunklen Gläsern, die wiederum mit irgendwelchen Substanzen gefüllt waren. Alle Gläser waren sorgfältig beschriftet. So viele Gläser in dieser Zeit? Woher hatte sie die nur bekommen? Die vierte Wand nahmen ein Bett, ein Schrank und ein großer Kamin ein. Im Kamin flackerte ein kleines Feuer und erhitzte einen eisernen Topf, der an einem Haken hing. In der Mitte stand ein prächtig mit geschnitzten Ornamenten geschmückter Tisch mit ebenso prächtigen Stühlen aus massiver Eiche. Der Raum strömte einen undefinierbaren, aber angenehmen Geruch nach Kräutern aus. Die Alte stand am Kamin und füllte eine Art Tee aus dem Kessel in drei Tonbecher. „Setzt euch. Lasst uns einen Tee trinken. Ihr habt sicherlich einige Fragen.“ Wir nahmen an dem Tisch Platz und die alte Frau stellte die Tonbecher vor uns hin. Ein Duft nach Minze stieg aus ihnen empor. Samson beäugte unsere Gastgeberin misstrauisch. Sie schien das zu spüren, hob den Becher und trank daraus. „Keine Angst, er ist nicht vergiftet. Es ist nur Minztee.“ Vorsichtig nippten wir an dem Getränk. Der Tee schmeckte ausgezeichnet und unsere Anspannung wich ein wenig. Ich hob meine Hand und zeigte auf die Gläser. „Woher in aller Welt haben sie die vielen Gläser? Und vor allem: Sie sagten eben, sie hätten uns erwartet. Haben sie uns beobachtet?“ Die Alte schaute mich durchdringend an – ihre schwarzen Augen ließen mich innerlich frösteln. 53 Schließlich senkte sie ihren Blick, holte tief Luft und begann mit krächzender Stimme zu erzählen: „Die Gläser! Die Gläser sind immer das erste, was euch Besuchern auffällt. Gibt es in dieser Zeit nichts Wichtigeres als Gläser? Immer stehen nur die materiellen Dinge im Vordergrund! Wie früher, als die Welt noch eine ganz andere war. Als Geld und Macht alles bedeuteten und dem Gott „Technik“ gehuldigt wurde, obwohl jedermann wusste, das irgendwann das Ende der Welt kommen würde!“ Mir fiel die Kinnlade runter. Woher wusste sie das? Ich schaute sie fragend an. „Du fragst dich, woher ich das weiß? Das tut nichts zur Sache, aber ich bin schon sehr, sehr alt! Aber wenn ich dich so anschaue, du bist auch gerade nicht mehr der Jüngste. Nein, nicht körperlich alt, oder doch? Ich weiß dich nicht richtig zu deuten. Dich umgibt eine besondere Aura! Eine Aura aus der Zeit vor der großen Katastrophe.“ Sie deutete auf die Gläser an der Wand. „Aus der Zeit, als diese Gläser da nichts besonderes waren und man sie für ein paar Euro kaufen konnte.“ Euro? Das Wort Euro hörte ich zum allerersten Mal in dieser Zeit! Niemand kannte heute noch den Begriff Euro! Ich schaute hinüber zu Samson. In seinem Gesicht regte sich kein Muskel. Er schien vollkommen fasziniert von der alten Frau zu sein. „Lassen wir mal die Gläser. Woher wissen sie von der alten Zeit und vom Euro?“ Sie schaute mich wieder mit ihren schwarzen Augen an. „Wie gesagt, ich bin sehr, sehr alt. Mehr möchte ich dazu nicht sagen!“ Ihr Gesichtsausdruck ließ keine weiteren Fragen zu diesem Thema zu, also versuchte ich es wieder mit der alten Frage. „Okay. Aber woher wussten sie, dass wir kommen?“ Bevor die Alte antworten konnte, meldete sich Samson zu Wort. „Sie hat das zweite Gesicht. Sie kann in die Vergangenheit und in die Zukunft blicken.“ Samson wandte sich zu ihr. „Habe ich recht?“ 54 „Vielleicht“, antwortete sie ausweichend, „auf jeden Fall weiß ich mehr, als ihr ahnen könnt.“ Die alte Frau erhob sich und damit war die Unterhaltung beendet. So sehr ich mich auch bemühte, sie wieder in Gang zu bringen, es war vergebens. Die Alte schritt an der langen Reihe ihrer Gläser entlang, als suche sie etwas. Schließlich hatte sie das richtige Glas gefunden, nahm eine Handvoll heraus und füllte sie in einen Leinenbeutel. Samson und ich schauten uns an. Da sie keine Anstalten machte, uns weiter zu beachten und uns auch nicht zum Bleiben aufforderte, erhoben wir uns und schritten zur Tür. Samson ging als erster hinaus. Ich wollte die Türe gerade hinter mir schließen, als ich die knöchrige Hand der Alten auf meiner Schulter spürte. Sie drückte mir den Leinenbeutel in die Hand und flüsterte mir ins Ohr: „Hütet euch vor den Fremden in der großen Höhle, sie wollen euch töten!“ Dann drückte sie mich aus der Tür und verschloss sie. Wortlos gingen Samson und ich wieder in den Wald. Nach einigen Minuten fragte Samson: „Was hat die Hexe dir gegeben?“ „Ich hab keine Ahnung.“ Ich reichte Samson den Beutel, der ihn öffnete und sich den Inhalt auf seine Hand schüttete. Es waren einige kleine schwarze Klumpen. Er wirkte überrascht. „Was ist das?“, fragte ich. „Das ist die letzte Zutat, die ich noch besorgen wollte. Es sind schwarze Tarüffel.“ Ich nahm einen der Klumpen in die Hand und roch daran. Trüffel! Diese Tarüffel wie Samson sie nannte, waren schwarze Trüffel! „Woher wusste sie das?“ Samson zuckte nur hilflos mit seinen mächtigen Schultern. „Sie hat das zweite Gesicht, ist eine Hexe. Gleich als ich sie aus dem Haus kommen sah, erinnerte ich mich an eine alte Kindergeschichte namens Hänsel und Gretel.“ „Du auch? Ich wusste nicht, das du dieses Märchen kennst!“ „Meine Mutter erzählte es mir, als ich noch klein war. Sie wollte uns wohl auf die Gefahren in der Wildnis aufmerksam machen.“ 55 So konnte man es auch sehen. Hänsel und Gretel als Warnung vor einer gefährlichen Umwelt. Ich erzählte Samson noch von der Warnung, die mir die Alte ins Ohr geflüstert hatte, doch auch Samson konnte sich keinen Reim darauf machen. Die Dämmerung war mittlerweile hereingebrochen und wir beeilten uns, einen geeigneten Lagerplatz zu finden. Schließlich lagerten wir in einer kleinen Mulde und zündeten ein Feuer an. Wir unterhielten uns noch eine Weile und fragten uns, ob die Hexe wirklich über fünfhundert Jahre alt war, wie sie angedeutet hatte. Gehörte sie dann zu den Gen – Mutanten? War sie eine Art Hellseherin? Oder war alles Humbug und sie besaß nur ein feines Gespür? Mal wieder mehr Fragen als Antworten. * Ich hatte eine unruhige Nacht hinter mir. Die Hexe hatte mit ihren seltsamen Andeutungen für einige verrückte Träume gesorgt. Wie das so oft am Morgen danach ist, konnte ich mich kaum noch an die Träume erinnern. Eine Szene war mir aber noch in Erinnerung geblieben: Ich irrte schweißgebadet durch ein riesiges Höhlensystem auf der Suche nach einem Ausgang. Hinter mir eine Horde weißer Mutanten. Links und rechts neben mir schlugen feine Laserstrahlen in die Höhlenwände ein. Stalagmiten und Stalaktiten zerplatzten unter dem Dauerfeuer meiner Verfolger. Vor mir tauchte der ersehnte Ausgang auf. Ich wusste genau – durch diese Tür und ich war gerettet! Ich erreichte die Tür und atmete auf. Erst als ich den Griff an der Tür in die Freiheit betätigen wollte, bemerkte ich das riesige Schloss. Verzweifelt rüttelte ich an der Tür – vergebens. Ich war verloren. Langsam drehte ich mich zu meinen Verfolgern um. Eine riesige Schar von Mutanten stand da, zielte mit ihren Strahlwaffen auf mich. Plötzlich tauchte die alte Hexe neben mir auf. „Ich habe dich gewarnt! Jetzt ist es zu spät!“ Dann drückten die Mutanten ab … Schweißgebadet war ich aufgewacht und konnte nur mit Mühe wieder einschlafen. Dementsprechend fühlte ich mich wie gerädert. Wir hatten ein kleines Feuer angezündet und hockten schweigend davor. In Samsons Gesicht konnte ich auch 56 keine richtige Erholung sehen, auch er wirkte nicht gerade frisch und ausgeschlafen. „Auch schlecht geschlafen?“, rief ich ihm maulfaul zu. „Verrückte Träume“, murmelte er genauso sparsam. Er also auch. Wie auf ein geheimes Kommando erhoben wir uns, packten eilig unsere Ausrüstung zusammen und machten uns auf den Heimweg. Bloß weg von dieser alten Hexe! Wie fast immer in den letzten Monaten überließ Samson einem von uns die Führung, wenn wir auf einer – normalerweise – ungefährlichen Mission waren. Da außer mir niemand dabei war, führte ich logischerweise unseren Zweimann-Trupp an. Der Freund war immer noch Lehrer und ich Schüler. Sicherlich, ich hatte eine Menge seit unserem ersten Zusammentreffen in Deuz gelernt, aber seine lebenslange Erfahrung konnte man einfach nicht aufholen. Hier und da machte er mich auf einige Dinge aufmerksam, fragte mich nach Spuren oder überprüfte meinen Orientierungssinn. In meiner Jugend hätte ich mich manchmal bevormundet gefühlt, aber hier und jetzt war diese Schulung überlebenswichtig. Waren wir anfangs noch ziemlich still unterwegs gewesen, blühten wir allmählich wieder auf und unterhielten uns angeregt. Wir hatten wohl den Einfluss der Hexe abgeschüttelt. Plötzlich hatten wir es auch nicht mehr eilig und legten ein nur mäßiges Tempo vor. In Neu-Siegen wurden wir sowieso erst am nächsten Abend erwartet, das würden wir locker schaffen. Ich bemerkte plötzlich, das meine Gedanken wieder einmal abschweiften. Mein Albtraum aus der letzten Nacht hielt mich noch immer gefangen. Wie schon so oft in den letzten Monaten fühlte ich eine unbestimmte innere Anspannung. Meistens hatte ich diese Gedanken recht schnell aus meinem Kopf verbannen können, heute aber hatten sie sich dort regelrecht fest gekrallt. Ich dachte zurück an Köln, an den schrecklichen Kampf, den wir beinahe verloren hätten. Einen dieser Mutanten hatte Samson mit viel Glück besiegen können. Was war eigentlich mit den vielen anderen? Sie hatten wohl Zentraleuropa zwischen sich aufgeteilt, aber würde es nicht 57 auffallen, dass einer von ihnen fehlte? Was würde passieren, wenn sie es merkten? Und – hatten sie es nicht ganz sicher schon bemerkt? Keiner von uns wollte die umfangreichen Dossiers lesen, die wir mitgebracht hatten. Das musste unbedingt nachgeholt werden, sobald wir zurück waren! Auch der Freund hinter mir schien in Gedanken vertieft. An den Spuren am Boden konnte ich erkennen, dass wir uns auf einem Wildwechsel bewegten. Die Baumkronen standen nicht besonders dicht und die Orientierung nach dem Sonnenstand fiel mir nicht schwer. Eine sehr angenehme Art zu wandern, bis ich plötzlich ein pfeifendes Geräusch hinter mir wahrnahm. Alle Alarmglocken schrillten in meinem Gehirn, doch es war zu spät. Mein Kopf ruckte nach hinten und ich sah, wie Samson seine Arme ausbreitete als ihn – und gleichzeitig auch mich – ein gewaltiger, durch die Luft sausender Baumstamm traf. Ich verlor sofort das Bewusstsein. Als ich wieder erwachte, standen die Sterne schon am Nachthimmel. Der Vollmond sorgte für ein dämmriges Licht, als ich mich umsah – noch am Boden liegend. Wo war Samson? Erst als ich mich aufrichten wollte, durchzuckte mich ein stechender Schmerz im linken Knöchel. Verdammt, der riesige Baumstamm! Er lag genau auf meinem Unterschenkel. Vorsichtig versuchte ich, meinen Fuß aus dem Gefängnis zu befreien – keine Chance. Der Stamm hatte einen Durchmesser von beinahe einem Meter und war schätzungsweise vier Meter lang. Das Ding wog bestimmt eine Tonne. Wo zum Teufel war der Riese? Als ich mir den Vorfall ins Gedächtnis rief, durchfuhr mich nochmals ein großer Schreck. Mein Freund hatte versucht, den Aufprall durch die ausgebreiteten Arme abzufangen – für mich! Er und nicht ich hatte die volle Wucht zu spüren bekommen. Konnte ein Mensch so einen gewaltigen Aufprall überhaupt überstehen? Der Stamm war aus der Höhe gekommen. Wenn ich mich richtig erinnerte, war er mit zwei Seilen befestigt gewesen. Ich schaute mir das mächtige Holztrumm an. Ja, ich konnte ein Seil ausmachen und es schien gerissen zu sein. 58 Wir waren in eine Falle für Großwild geraten! Nach dem schon ziemlich zerschlissenen Seil zu urteilen, musste sie schon vor vielen Jahren aufgebaut worden sein. Da würde sicherlich niemand mehr kommen, um danach zu sehen. Warum und wie sie ausgerechnet jetzt ausgelöst worden war – ich hatte keine Ahnung. Aber das war im Moment auch nicht wichtig. Ich schaute mich nochmals um. Von Samson keine Spur! Halt, da war doch was am oberen Ende des Stammes. Eine Hand! Sorge und Hoffnung machten sich gleichzeitig in meinem Inneren bemerkbar. Hatte er den Aufprall überstanden? War er verletzt oder gar tot? Oder war er „nur“ bewusstlos! Ich rief nach ihm – keine Antwort. Nicht mal ein Stöhnen. Ich musste nach ihm schauen. Doch wie kam ich aus diesem verflixten Gefängnis heraus? Vorsichtig tastete ich nach meinem Bein. Soweit ich sehen konnte, war nichts gebrochen, der Stamm hatte nur meinen Unterschenkel leicht in den Boden gedrückt. Vorsichtig versuchte ich die Erde unter dem Bein mit meinen Händen wegzukratzen. Die Schmerzen hielten sich in Grenzen, es war kein Blut zu sehen. Vermutlich war wirklich nichts gebrochen. Aber der Boden war an dieser Stelle knüppelhart. Ich würde Stunden benötigen, um aus dieser Falle heraus zu kommen! Dennoch, ich musste es schaffen. Mein Rucksack lag in unerreichbarer Ferne. Die Gurte mussten bei dem Aufprall abgerissen sein. Ich wollte meine Taschen nach einem brauchbaren Gegenstand zum Graben durchwühlen, doch dazu kam ich nicht mehr. Gerade als ich dachte, es könnte nicht mehr schlimmer kommen, ließ mich ein knurrendes Geräusch hinter mir zusammenzucken. Langsam drehte ich meinen Kopf und dachte: „Bloß keine hastigen Bewegungen!“ Dann blickte ich in das Gesicht eines Tieres, das ich noch aus meiner Zeit kannte, nur war es hier und jetzt mindestens doppelt so groß wie ich es gewohnt war. Vor mir stand mit gefletschten Zähnen – ein übergroßer Dachs. Ich wusste, dass Dachse mutige und gefährliche Räuber sein konnten. Doch dieses Vieh war auf Grund seiner Größe und der 59 enormen Zähne nicht mit einem solchen alter Art zu vergleichen. Ich spürte, wie sich meine Nackenhaare aufstellten. Verdammt! Verdammt! Verdammt, was mach ich nur! Ohne den Dachs gänzlich aus den Augen zu lassen, schielte ich nach einem Stein oder einem ähnlichen Wurfgeschoss. Nichts in erreichbarer Nähe. Langsam fuhr ich mit meiner eben erst begonnenen Suche nach einem brauchbaren Gegenstand in meinen Taschen fort. Das Raubtier kam allmählich näher, sein Knurren verwandelte sich langsam in ein wütendes Fauchen. In meinen Taschen war nichts, womit ich mich verteidigen konnte. Dann fiel mir mein Reserve-Messer am Unterschenkel ein. Ja, und da ich Rechtshänder war, trug ich es an meinem unverletzten rechten Bein. Wieso war mir das nicht eher eingefallen? Egal. Zentimeter für Zentimeter näherte sich meine rechte Hand dem Messer. Der Dachs war weiter auf dem Vormarsch, er sah so aus, als würde er sich jeden Moment für einen Angriff entscheiden. Ich erreichte mit den Fingerspitzen den Griff des Messers. Noch ein kleines Stückchen. Vorsichtig tastete ich mich tiefer. In diesem Moment gab der Dachs seine Zurückhaltung auf und griff an. Es war zu spät! Ich konnte den Messergriff zwar fassen, aber der Räuber sprang schon mit gefletschten Zähnen los. Schützend hob ich meinen linken Arm vors Gesicht und zerrte mit der anderen Hand an dem Messer, als ich einen dumpfen Schlag hörte. Es folgte ein erbärmliches Quieken. Ich spürte keinen Aufprall des Tieres, zog mein Messer vollends aus der Scheide und senkte den linken Arm. Der Dachs lag auf dem Rücken und strampelte verzweifelt mit den Füßen, ein mehr als faustgroßer Stein lag neben ihm. Dann kam der Dachs wieder auf die Beine und verschwand blitzschnell, ohne ein weiters Geräusch von sich zu geben! Wer hatte den Stein geworfen? Ich drehte meinen Kopf wieder in die andere Richtung. Samson! Auf wackligen Beinen und mit Blut-verkrustetem Gesicht stand er da. Seine Gesichtsfarbe unter dem Blut war schneeweiß und erinnerte mich unwillkürlich an einen Mozzarella-Käse. „Du lebst, Gott sei Dank!“, schrie ich heraus. 60 „Ja“, war die einsilbige Antwort. Er taumelte um den Baumstamm herum und setzte sich schwer atmend neben mich. Er hielt sich den Kopf, stöhnte leise und fragte: „Was ist eigentlich passiert?“ Überglücklich, ihn lebend zu sehen, begann ich zu erzählen: „Wir müssen in eine alte Großwild-Falle geraten sein. Ein riesiger Baumstamm hat uns umgehauen!“ Ich zeigte auf den Stamm und fuhr fort: „Die Taue waren wohl ziemlich morsch und sind gerissen. Dabei wurde mein linkes Bein eingeklemmt. Du hast versucht, den Aufprall für mich abzufedern, sonst befände ich mich sicherlich nicht mehr unter den Lebenden.“ Ich senkte erschüttert meine Stimme. „Ich fürchtete, der Baum hätte dich erschlagen!“ „Ja, jetzt erinnere ich mich. Ich konnte gerade noch die Arme ausbreiten und meine Muskeln anspannen. Das verdammte Ding hätte mir sonst das Rückgrat gebrochen.“ Er schaute kopfschüttelnd auf den Baumstamm. „Ich werde versuchen, den Stamm anzuheben. Aber gib mir noch einen Moment. Ich muss erst wieder zu Kräften kommen.“ Der Riese legte sich auf den Bauch und stöhnte vor Schmerz. An einer zerrissenen Stelle seines Löwbär-Fells schimmerte der Rücken blau. „Ja, natürlich. Leg dich neben mich und gib mir von deiner Salbe. Ich werde dir deinen Rücken verarzten und nach deiner Kopfwunde sehen.“ Ohne Widerspruch legte er sich an meine Seite. Es musste ihm wirklich dreckig gehen! Ich streifte sein Fell nach unten und erschrak. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Der halbe Rücken hatte sich durch den Schlag des Stammes blau verfärbt und war geschwollen. Vorsichtig trug ich die Salbe auf. Er gab keinen Laut von sich, aber ich konnte seine zusammengebissenen Zähne knirschen hören. Die Kopfwunde war nicht weiter schlimm. Er hatte sich beim Sturz auf den Boden einen Riss zugezogen. Ich reinigte die Wunde und strich ebenfalls etwas von der Salbe darauf. Als ich alles verarztet hatte, bemerkte ich seine tiefen Atemzüge – er war eingeschlafen. 61 Ich ließ ihn schlafen. Er schlief den Rest der Nacht und weiter bis etwa gegen Mittag. Die Nacht war ruhig verlaufen, kleinere Tiere hatten sich zwar hin und wieder genähert, verschwanden aber wieder, als sie merkten, dass hier nichts zu holen war. Gegen Morgen nickte ich ab und zu mal ein, wurde aber durch meinen knurrenden Magen und einen trockenen Mund immer wieder geweckt. Es war ja schon eine ganze Weile her, dass ich meine letzte Nahrung zu mir genommen hatte. Als Samson dann endlich aufwachte, hatte sein Gesicht schon eine wesentlich gesündere Farbe angenommen. Sie hatte sich von Mozarella-weiß in Gouda-gelb geändert. Immerhin! Zunächst blickte sich mein Freund noch etwas verwirrt um, dann setzte seine Erinnerung wieder ein. „Du wirst Hunger und Durst haben. Warum hast du mich nicht geweckt?“ Ich schüttelte nur den Kopf. Der Freund erhob sich schwerfällig und suchte unsere Ausrüstung zusammen. Er gab mir Wasser und etwas getrocknetes Fleisch und nahm selbst einiges zu sich. Dann suchte er die Umgebung ab, doch nach kurzer Zeit kam er kopfschüttelnd zurück. „So, es geht mir wieder gut. Jetzt werden wir uns um dieses kleine Problem da kümmern. Leider sehe ich weit und breit keinen geeigneten starken Ast oder dünneren Baum, den ich als Hebel verwenden könnte. Dann muss es halt so gehen.“ Samson schritt auf den Baumstamm zu und untersuchte zunächst die Lage meines Beines. „Du hast unglaubliches Glück gehabt, dein Bein liegt in einer kleinen Mulde. Ich glaube nicht, dass etwas gebrochen ist. Sicherlich nur eine starke Prellung. Ich werde den Stamm jetzt etwas anheben. Sobald du fühlen kannst, dass dein Bein frei wird, ziehst du es zurück – und zwar schnell! Alles klar?“ Ich nickte ihm zu, zweifelte aber, ob das so einfach gehen würde. Er war zwar extrem stark, aber solch einen Baum anzuheben – und das in seinem geschwächten Zustand? Mein riesiger Freund baute sich am Ende des Stammes auf und sorgte dort für einen sicheren Stand. 62 Dann griff er soweit wie möglich hinunter. Ich sah, wie sich seine gewaltigen Muskeln spannten, aber auch, wie der Schmerz seinen angeschlagenen Körper peinigte. Er ließ noch einmal los und schaute mich an: „Ich werde den Baum nicht lange halten können. Pass also auf und zieh den Fuß sofort zurück! Wir haben nur einen Versuch. Wenn ich zu früh loslasse, könnte dein Bein doch noch zerquetscht werden.“ Wieder nickte ich. Samson griff um den Stamm, holte tief Luft und – schaffte es! Seine Muskeln schienen zum Zerreißen gespannt, als er den Baumstamm um einige Zentimeter anhob. Sofort zog ich mein Bein heraus – gerade noch rechtzeitig. Der Baum krachte zurück auf den Boden. Ich sah in das schmerz-verzerrte Gesicht des Riesen. Er hatte es geschafft, wieder einmal! Wahrscheinlich hätten sechs Männer nicht ausgereicht, um das verdammte Ding anzuheben. Aber er, Samson, mein riesiger Freund, hatte es geschafft! Bevor ich mich bedanken konnte, winkte er schon ab. Er wusste genau, was in mir vorging und ich wusste es auch bei ihm! Am nächsten Morgen erreichten zwei äußerst angeschlagene Kräutersammler humpelnd Neu-Siegen. Von wegen Urlaub, wie ich noch zu Beginn unseres Ausflugs gedacht hatte! 63 Romantische Gedanken? Dank Samsons Heilsalbe und der intensiven Pflege Sallys war ich schon nach drei Tagen wieder auf den Beinen. Ich hatte wahnsinniges Glück gehabt. Wenn mein Bein nicht zufällig in einer kleinen Mulde gelegen hätte, als der Baumstamm herunter krachte, wäre es wohl zu Mus zerquetscht worden. Den Freund hatte es viel schlimmer erwischt. Der gewaltige Kerl war nach unserer Ankunft völlig erschöpft zusammen gebrochen. Vier Mann waren nötig gewesen, um ihn auf sein Lager zu betten. Er wurde gründlichst von unserer Dorfheilerin untersucht und behandelt. Sie konnte keine Brüche oder Wirbelsäulenschäden feststellen – nur enorme Prellungen und Quetschungen. Auch wenn es keine Röntgengeräte oder Computer-Tomographen mehr gab, hatte ich doch volles Vertrauen in die Fähigkeiten der Heilerin. Diese Leute hatten mehr Gefühl in ihren Fingerspitzen, als ich es je für möglich gehalten hätte. Das durfte ich bei den schmerzhaften Folgen unserer anstrengenden Abenteuer schon recht oft feststellen. Bei meinem letzten Krankenbesuch lag er in einem Bett aus Heilpflanzen und wurde liebevoll von mehreren hübschen Frauen umsorgt, worum ich ihn fast beneidete. Er war jedenfalls unzweifelhaft auf dem Wege der Besserung. Samson war von Anfang an in unserer Dorfgemeinschaft die wohl beste Partie und viele machten sich Hoffnungen, mit ihm zusammen zu kommen. Obwohl er hier und da wohl mal ein kleines Techtelmechtel gehabt hatte, war die Richtige noch nicht dabei gewesen. Vielleicht würde sich das ja nun durch die intensive weibliche Betreuung ändern. Bei Pierre hingegen war ich mir ziemlich sicher, das er es noch für viel zu früh hielt, sich fest zu binden. Nicht nur im Dorf, sondern auch bei auswärtigen Begegnungen hatte er immer wieder mal eine kleine Liaison mit der einen oder anderen Schönheit. Er genoss die wesentlich freizügigere Haltung in Sex- und Liebesdingen dieser neuen Zeit in vollen Zügen. 64 Männer und Frauen hatten dazu ein recht lockeres Verhältnis. Das lag sicherlich auch an der hohen Kindersterblichkeit durch die Apokalypse vor fünfhundert Jahren. Wurde ein Kind gezeugt, überlebte die Geburt und das darauf folgende erste Lebensjahr, war es immer mehr als willkommen. Niemand interessierte es sonderlich, ob dieses Kind sozusagen ehelich oder unehelich geboren wurde. Keiner wurde deshalb ausgegrenzt oder schief angesehen. Bei Pierre war ich mir ziemlich sicher, das hier und da ein kleiner „Pierre“ oder eine kleine „Pierrine“ herum liefen. Ich musste innerlich seufzen. Bei meinen besten Freunden schien alles klar in Liebesdingen zu sein – aber bei mir und Sally ging es drunter und drüber. Manchmal glaubte ich, es könnte nicht schöner sein. Eine unglaubliche Harmonie herrschte dann zwischen uns. Doch im nächsten Augenblick war alles wieder vorbei und Sallys vernichtender Blick traf mich bis ins Mark. Ich wurde einfach nicht schlau aus ihr. Oder lag es an mir? War ich vielleicht ein Gefühlstrottel? Mehr als einmal hatte ich mich schon in die Nesseln gesetzt und eine eben noch romantische Stimmung ins Gegenteil verkehrt. Pierre und Samson hatten meine Trotteligkeit meist schon kommen sehen und ich musste mir manche spitze Bemerkung meiner besten Freunde anhören. Ich hatte früher schon die eine oder andere längere Beziehung gehabt, aber so intensiv wie die mit Sally war bei Weitem keine gewesen. Allerdings war auch keine dieser Beziehungen so kompliziert gewesen. Dennoch, Sally war meine Nummer Eins. Und ich würde alles mir mögliche tun, damit auch ich ihre Nummer Eins werden würde! 65 Gefahren aus der Vergangenheit Die vor einigen Monaten begonnenen Arbeiten zur Vergrößerung unseres Dorfes liefen immer noch. Die Gemeinschaft hatte für den zukünftigen Bereich von Neu-Siegen neue Schutzhecken angelegt und eine große Zahl von Bäumen gefällt. Das Holz wurde vor allem für den Haus- und Stallbau genutzt. Nun stand uns der härteste Teil der Aufgabe bevor. Um den ehemaligen Waldboden als Acker- und Weideland nutzen zu können, mussten etliche Wurzeln der gefällten Bäume ausgegraben werden. Für neues Weideland war das nicht so tragisch, man hatte auch einzelne Bäume als Regen- oder Sonnenschutz für die Tiere stehen gelassen. Aber um einen Acker mit einem Ochsen zu bestellen, benötigte man möglichst gerade Flächen ohne Hindernisse. In unserem früheren Leben hatte man oftmals Wurzeln mit Dynamit oder anderen Sprengstoffen einfach herausgesprengt. Oder sie einfach mit starken Traktoren aus dem Boden gezogen. Hier und heute hieß es nur: Graben, graben, graben! Eine verdammt harte und unangenehme Arbeit! Franziskus hatte drei Trupps zu je vier Leuten zusammengestellt, die sich immer nur einen Wurzelstock vornahmen. Ausnahmsweise waren meine Freunde und ich bei einer innerdörflichen Aufgabe mal ein Team. Auch bei dieser körperlich sehr schweren Tätigkeit machte Franziskus keinen Unterschied zwischen Männern und Frauen. Nur Kinder, Kranke, Gebrechliche und hochschwangere Frauen waren ausgenommen. Unsere Werkzeuge waren halbwegs in Ordnung, die Eisenmenschen verstanden es, ordentliche Geräte herzustellen. Natürlich waren sie nicht zu vergleichen mit handgeschmiedeten Spaten und Schaufeln aus dem 21. Jahrhundert, aber es reichte, um die Baumwurzeln auszugraben. Wer noch nie mit dem Wurzelwerk eines hundert- oder zweihundert- jährigen Baumes zu tun hatte, weiß natürlich nicht, was auf ihn zukommt. So ging es Sally, Pierre und mir. Anfangs noch gut gelaunt, änderte sich unsere Stimmung schnell, als wir nach drei 66 Stunden harter Arbeit immer noch an der ersten Wurzel herum gruben. „Merde! Was für eine miese Arbeit! Und ich hatte gedacht, ein bisschen körperliche Arbeit kann nicht schaden!“ Sally fühlte sich angesprochen: „Mecker nicht dauernd rum, Pierre! Wir haben ja noch Samson dabei, die anderen nicht!“ Pierre schaute zur Nachbargruppe hinüber. „Und warum sind die auch ohne Samson genauso weit wie wir? Wie machen die das bloß?“ Wir drei hielten inne und schauten zu unseren Nachbarn. Es war keine besondere Technik oder Vorgehensweise zu erkennen. „Nun ja“, kommentierte Samson, „erstens nörgeln sie nicht laufend herum und zweitens sind sie gewohnt, Bäume auszugraben und teilen sich ihre Kräfte vernünftig ein. Das solltet ihr auch tun.“ Peng! Das saß! Der Riese hatte natürlich recht. Während wir drei immer wieder über die Knochenarbeit klagten und ständig ein kurzes Päuschen einlegten, gruben die beiden anderen Trupps zügig und stetig weiter. Beschämt arbeiteten wir zwei Stunden konzentriert weiter und siehe da – wir hatten Dank Samsons Kräften einen kleinen Vorsprung herausgearbeitet! Ich schaute hinüber zur anderen Gruppe. „Lasst uns Mittag machen. Die anderen sind schon weg. Ich hab einen Bärenhunger!“ Wie auf Kommando ließen alle ihre Werkzeuge fallen und kletterten aus der Grube. Nachdem wir den Dorfplatz erreicht hatten, schlugen wir uns den Magen mit reichlich Essen voll. Sogar Samson nahm neben seiner üblichen extra großen Portion Fleisch auch reichlich Kartoffeln und Gemüse. So ein riesiger und starker Kerl wie er benötigte jede Menge Kalorien! Wir unterhielten uns noch mit den anderen über den Stand der Arbeiten und dann ging es auch schon weiter. Nachdem wir eine weitere Stunde gegraben hatten, war es endlich so weit. Wir kappten die größten Wurzelenden. „Ich werde das Ochsengespann holen, damit wir die Wurzeln herausziehen können“, schlug Pierre vor. 67 „Warte mal, Pierre“, meinte Samson, „ich will mal versuchen, ob es auch anders geht.“ Wir schauten ihn fragend an. Er trat auf den Baumstumpf zu, ging in die Knie und umfasste ihn mit seinen gewaltigen Armen. Seine Arm- und Beinmuskeln schwollen an und mit einem Ruck stieß er sich in die Höhe. Die kleineren, noch mit dem Stumpf verbundenen Wurzeln zerrissen. Samson wuchtete den Baumrest samt anhängender Wurzeln aus der Grube über den Rand hinaus und setzte ihn dort ab. Wahnsinn! Obwohl ich den Freund schon oft in Aktion gesehen hatte, überraschte mich seine Kraft immer wieder. Hinter uns klatschten unsere Kollegen begeistert in die Hände. Samson tat so, als würde er es nicht hören. Nach einer kurzen Verschnaufpause schaufelten Sally und ich das Loch wieder zu, während die beiden anderen sich schon dem nächsten Baumstumpf zuwandten. Gerade als wir unseren beiden Freunden folgen wollten, hörte ich Pierres Aufschrei in seiner Heimatsprache und dann auch noch auf deutsch: „Verdammt! Verdammt! Verdammt!“ Sally und ich ahnten Schlimmes und liefen hinüber zu ihm. Er hatte schon einige Meter Grasnarbe frei geschaufelt. Dann sah ich den Grund für seinen Aufschrei und mir blieb regelrecht die Luft weg. Samson trat ebenfalls hinzu. „Was ist los? Was ist das für ein Metallding?“ Ich ging in die Knie und wollte mir das „Ding“ näher ansehen, doch Pierre hatte etwas dagegen: „Nicht anfassen! Ich hab so etwas ähnliches schon mal gesehen. Das ist eine Granate, oder besser gesagt eine Mini-Bombe. Mein Vater war bei der Legion, daher kenne ich mich ein wenig aus. Und es ist keine Granate aus dem Zweiten Weltkrieg, sondern …“. Pierre stockte. Ich hielt erschrocken inne und trat zurück. „Du meinst, es ist aus der Zeit der Apokalypse? Eine Atombombe?“ „Für eine Atombombe oder ähnliches ist der Sprengkörper zu klein. Aber es könnte eine bakteriologische oder chemische 68 Bombe sein. Und sie ist jedenfalls noch nicht hochgegangen, ist ein Blindgänger!“ Den Kollegen war unsere Aufregung nicht verborgen geblieben und sie näherten sich neugierig. „Bleibt zurück! Hört auf zu arbeiten – wir müssen jede Erschütterung vermeiden. Holt Franziskus, aber ohne den anderen etwas zu sagen. Wir können hier keinen Menschenauflauf gebrauchen.“ Pierre hatte den Ernst der Lage sofort erkannt und wandte sich auch zu uns. „Wir sollten uns auch mindestens 50 Meter zurückziehen, damit keine Erschütterungen das Ding hochgehen lassen.“ „50 Meter, reicht das aus?“ fragte ich ihn. „Für die Erschütterungen wohl schon, aber wenn die Bombe wirklich hochgehen und der Stoff im Inneren noch aktiv sein sollte, müssten wir – je nach Windrichtung – wohl mehr als zehn Kilometer Abstand halten.“ Ich fühlte, wie mir das Blut aus dem Gesicht wich. Auch meine Freunde sahen ziemlich grau um die Nasenspitzen aus. Nach einer Weile kam unser Dorfoberhaupt. Nach und nach traten auch immer mehr Mitbewohner dazu. Schlechte Nachrichten verbreiten sich bekanntlich unglaublich schnell! Wir klärten Franziskus kurz über die Gefährlichkeit unseres Fundes auf, um die immer größer werdende Menschenmenge loszuwerden. Nur mit Mühe gelang es ihm, die Leute fortzuschicken. Erst als er die Gefahr immer wieder beschwor und versprach, die Dorfgemeinschaft in Kürze über alles zu informieren, kehrten die Bewohner ins Dorf zurück. Pierre informierte den Bürgermeister, so gut er konnte. Ich sah, wie es in Franziskus Gesicht arbeitete. Er schien es irgendwie nicht glauben zu können. Dann spürte ich einen Hauch von Neugierde in meinem Gehirn. Das waren Franziskus geistige Fähigkeiten! Ich hatte noch niemals zuvor so etwas bemerkt, es fühlte sich an wie ein eisiger Windhauch in meinem Kopf. Franziskus schaute mich bedauernd an: „Entschuldige Frank, dass ich versucht habe, deine Gedanken zu lesen. Doch was Pierre da erzählt hat, war für mich so unglaubwürdig! Nach 69 über fünfhundert Jahren! Ich musste einfach eine Bestätigung haben.“ „Schon gut, Franziskus. Ich kann es ja selbst kaum glauben. Aber viel wichtiger ist, was wir jetzt tun sollen. Wir können das verfluchte Ding jedenfalls nicht hier herumliegen lassen!“ Wir berieten hin und her und kamen schließlich auch gemeinsam zu einem Entschluss. Die Bombe konnte nicht einfach wieder zugeschüttet werden, wir mussten sie ausgraben und an einem weit entfernten Ort möglichst sicher deponieren. Es blieb uns nichts anderes übrig, als das gesamte Dorf zu evakuieren und zwar mindestens zehn Kilometer weit. Natürlich konnten wir nicht den gesamten Viehbestand mitnehmen. Da wir im schlimmsten Fall die Gegend für immer verlassen mussten, sollte von allem nur soviel mitgenommen werden, wie für eine eventuelle Neugründung unbedingt nötig war. Franziskus begann sofort mit der Evakuierung des Dorfes. Meine Freunde und ich hielten Wache, damit niemand auch nur in die Nähe des Fundortes kommen konnte. Solom, einer der engsten Mitarbeiter unseres Bürgermeisters, hatte die Idee, die Bombe in einer weit entfernten Höhle zu deponieren und den Eingang mit großen Felsbrocken zu verschließen. Solom wurde zum Verbindungsmann zwischen Franziskus und uns. Er versorgte uns mit Lebensmitteln, berichtete uns vom Fortgang der Evakuierung und erklärte sich bereit, uns zur Höhle zu führen. Wir vier hatten uns bereit erklärt, die Bombe auszugraben und in die Höhle zu transportieren. Nach zwei Tagen war es soweit. Die fast 500 Einwohner und etwa ein Zehntel der Tiere und Gerätschaften waren in sicherer Entfernung untergebracht und unsere Arbeit begann. Solom hatte uns kleine Holzlöffel und Pinsel besorgt. Wir kamen zur Überzeugung, das Sally und ich die ruhigsten Hände hatten und daher sollten wir zwei die Bombe vorsichtig ausgraben, während Pierre uns beriet, so gut er konnte. Samson würde sie dann in die Höhle tragen – wenn alles gut ging. „Passt auf die Spitze auf, die aus der Erde ragt. Das dürfte 70 der Aufschlagzünder sein. Auf keinen Fall berühren! Wir haben schon unheimliches Glück gehabt, dass sie bei meiner Graberei nicht explodiert ist.“ Ich nickte Pierre zu und kroch langsam an das Höllending heran. Sally näherte sich von der anderen Seite. Auf dem Bauch liegend, gruben wir mit unseren Holzlöffeln vorsichtig um die Bombe herum und schafften das Erdreich beiseite. Ich war nach wenigen Minuten komplett durchgeschwitzt – mehr aus Angst, als vor Anstrengung! Während Pierre direkt neben uns immer wieder Anweisungen gab, saßen Solom und Samson in einiger Entfernung und unterhielten sich leise. Aus den Wortfetzen, die zu mir durchdrangen, erkannte ich, dass sie über den Transport in die Höhle redeten. Als wir uns dem Metallkörper bis auf ein paar Zentimeter genähert hatten, legten Sally und ich eine Pause ein. Wir wechselten unsere durchgeschwitzte Kleidung, tranken ein wenig und krochen zurück in den Gefahrenbereich. Jetzt kamen hauptsächlich die Pinsel zum Einsatz. Als ich damit zum ersten Mal das Gehäuse berührte, fing meine Hand unwillkürlich an zu zittern. Sally legte ihre Hand auf meine, drückte sie kurz und schaute mich an. „Geht`s noch, Frank? Ich kann auch alleine weiter machen!“ „Nein, nein. Ist schon wieder in Ordnung. Mir ist nur ein eisiger Schauer den Rücken herunter gelaufen.“ Sally nickte mir zu, ließ meine Hand los und machte weiter. Das Zittern hatte aufgehört und ich pinselte weiter Erde von dem Höllending. Dann dämmerte es und wir unterbrachen unsere Arbeit. Der ganze Tag war wie im Flug vergangen und trotzdem hatte ich das Gefühl, eine Woche ohne Unterbrechung durchgearbeitet zu haben. Am nächsten Tag war nach einer Stunde Arbeit die Bombe soweit freigelegt, dass Samson sie vorsichtig anheben konnte. Wir schärften ihm nochmals ein, wie gefährlich die Spitze mit dem Aufschlagzünder war und dass wir vermutlich alle sterben würden, wenn er die Bombe fallen ließe. Samson nickte geduldig – er war kein Dummkopf, er wusste 71 nach unseren Beschreibungen, wie gefährlich der Sprengkörper werden konnte. Er ging langsam auf die Bombe zu, kniete sich nieder, grub seine Hände vorsichtig unter sie und hob sie sanft in die Luft. Erst jetzt konnte ich das Höllending genauer erkennen. Es war etwa achtzig Zentimeter lang und sah fast wie eine normale Granate aus dem zweiten Weltkrieg aus. Eine eingefräste Jahreszahl „2015“ belehrte mich eines besseren. Ich schätzte das Gewicht auf etwa fünfzig Kilogramm – eigentlich keine besondere Last für einen Kerl wie Samson. Dennoch, unser Freund konnte das Gewicht nicht auf seinen Schultern oder auf dem Rücken tragen, sondern musste sich zehn Kilometer weit durch unwegsames Gelände quälen – mit der Bombe vor dem Bauch. Solom ging voraus, Pierre und ich folgten, dann Samson. Sally bildete die Nachhut. Solom hatte in der Zwischenzeit Buschmesser besorgt. Sobald irgendwo auch nur ein Strauch, ein Ast, ein Stein oder irgendetwas, das nach Hindernis aussah, in den Weg kam, räumten wir es zur Seite. Nach zwei Stunden legten wir die erste Rast ein. Der Riese konnte den Blindgänger dabei nicht ablegen – viel zu gefährlich! Er setzte sich auf einen großen Stein und lagerte ihn auf seinen Knien, ohne die Arme wegziehen zu können. Er war schweißgebadet. Die Anspannung und die einseitige verkrampfte Körperhaltung machten ihm zu schaffen. Sally wusch ihm vorsichtig das Gesicht ab und gab ihm zu trinken. Drei Stunden und zwei Pausen später erreichten wir die Höhle. Samsons Gesicht war schmerzverzerrt, sein Körper wurde von Krämpfen geschüttelt – so hatte ich meinen Freund noch nie gesehen. Ich befürchtete, dass er die letzten Meter zur Höhle nicht mehr schaffen würde, doch er ertrug die Schmerzen und wir gelangten ins Höhleninnere. Sie war nicht besonders groß, vielleicht zehn Meter lang, drei Meter breit und zwei Meter hoch. Die geringe Höhe war für den riesigen Kerl ein weiteres Hindernis. Gebückt erreichte er den hinteren Teil der Höhle. Er kniete sich vorsichtig hin, doch er legte die Bombe nicht ab. Er stöhnte auf. 72 „Was ist los? Warum legst du das Ding nicht ab?“ fragte ich. „Ich kann nicht!“, entgegnete er gequält, „meine Hände, ich kann sie nicht mehr öffnen. Sie sind total verkrampft!“ Pierre und ich sahen uns besorgt an. „Okay, okay. Kein Problem! Wir werden dir die Bombe vorsichtig aus den Händen nehmen. Halte nur noch ein wenig durch. Wir schaffen das. Wir schaffen das zusammen!“ Pierre und ich knieten uns Samson gegenüber auf den Boden und griffen vorsichtig nach dem gefährlichen Sprengkörper. Ich schaute erst Samson und dann Pierre an. „Bei drei ergreifen wir die Bombe und heben sie aus Samsons Händen: Eins, zwei, drei!“ Wir griffen uns das schwere Ding und hoben es vorsichtig an. Keine Sekunde zu früh! Sobald Samson spürte, wie ihm das Gewicht abgenommen wurde, kippte er zur Seite und wurde ohnmächtig. Unser Freund hatte alles gegeben und unmenschliches geleistet. Vorsichtig legten wir die Bombe auf den Boden. Alles ging glatt. Zu viert schnappten wir uns den Ohnmächtigen und zogen ihn aus der Höhle. Geschafft! Während Sally Samsons total verkrampften Körper massierte, trugen Solom, Pierre und ich schon mal eine Menge Steine zusammen und verschlossen den Eingang notdürftig. Später würden dann einige Dorfbewohner ihn vollständig verschließen, Erde anhäufen und giftige Sträucher darauf anpflanzen. Mehr konnten wir nicht tun. Der gestählte Körper des Freundes erholte sich rasch. Nach unserer Rückkehr ins Dorf informierte Solom Franziskus und die Dorfbewohner. Nach zwei weiteren Tagen war alles wieder an seinem Platz und das Leben ging weiter wie immer. Dennoch wurden wir drei aus der Vergangenheit noch lange mit Fragen bombardiert. War dieser immense Aufwand wirklich nötig gewesen? War das Ding aus schrecklicher Vergangenheit wirklich so gefährlich? So oder ähnlich lauteten die immer gleichen Fragen. Geduldig erklärten wir unseren Mitbewohnern immer wieder die Fakten. Schließlich waren den Menschen dieser neuen Zeit Begriffe 73 wie biologische- oder chemische Kampfstoffe, Bakterien, Viren und ähnliches unbekannt. Einen Vorteil hatte die ganze Angelegenheit jedoch für die Dorfgemeinschaft: In Zukunft würden die Menschen bei Grabungen viel vorsichtiger sein und sich erst einmal vergewissern, ob Dinge, die sie ausgruben, aus Stein oder Metall waren. Ich hatte eigentlich niemals damit gerechnet, dass in einer Gegend, die vor fünfhundert Jahren schon ziemlich einsam gewesen war, auch heute noch Bomben oder andere Gefahren aus längst vergangenen Zeiten im Boden liegen könnten. So sehr konnte man sich irren! Ein weiteres Mal wurde ich daran erinnert, wie hochgefährlich die Hinterlassenschaften unserer alten Zeiten noch heute werden konnten. Und noch immer gab es auch die Nachfahren der damaligen Auslöser der Menschheits-Katastophe! Wieder hatte ich den schon vor einiger Zeit während unserer „Kräutertour“ gefassten Entschluss verdrängt, endlich die seinerzeit mitgebrachten Dokumente der Gen-Mutanten zu sichten. Erneut nahm ich mir vor, das in nächster Zeit unbedingt zu erledigen, obwohl es mir beinahe körperliches Unbehagen bereitete. Wir mussten doch unbedingt wissen, wie gefährlich unser Leben auf dieser noch viel größeren Bombe wirklich war! 74 Regenzeit Kurz nach unserem „Bomben-Abenteuer“ begann die Regenzeit. Mittlerweile hatten wir ja schon mehrere davon erlebt. Nach meinen bisherigen Erfahrungen dürfte sie diesmal wohl so um die zwanzig Tage dauern. Die Arbeiten im Freien kamen jetzt fast gänzlich zum Erliegen. In den Tagen zuvor hatten wir alle kleinen Kanäle, die sich durch das Dorf zogen, gereinigt. Wir hatten die Abflüsse kontrolliert und den kleinen See in der Nähe gesichert. Diese Vorsichtsmaßnahmen waren unbedingt nötig, denn zwanzig Tage fast ununterbrochener Regen konnten natürlich auch schwere Schäden verursachen. Doch unsere Dorfgenossen kannten sich damit ja bestens aus – schließlich hatten sie ja ihr ganzes Leben in diesem für uns neuen Klima verbracht. In einem Ort wie Neu-Siegen gab es natürlich immer etwas zu tun. Man traf sich in den größeren Räumen des Haupthauses und reparierte gemeinsam alle Dinge, die übers Jahr ihren Geist aufgegeben hatten. Außerdem wurde in der Regenzeit die Wolle der Schafe gesponnen und gewebt, Tierhäute zu Leder verarbeitet und jede Menge Kleidung daraus geschneidert. Männer und Frauen waren dabei gleichermaßen beschäftigt. In den Scheunen und Vorratsräumen wurden frisch geerntetes Obst, Gemüse und Getreide haltbar gemacht und eingelagert. Natürlich gingen auch die normalen Wetter-unabhängigen Arbeiten, wie die Versorgung der Tiere, das Melken, die Butterund Käseherstellung weiter. Auch wenn eigentlich fast das ganze Jahr über geerntet werden konnte, fiel die Ernte vor einer Regenzeit meistens besonders üppig aus. Alle Früchte, die irgendwie durch den erwarteten Dauerregen geschädigt werden konnten, wurden daher rechtzeitig in Sicherheit gebracht. Das betraf zu allererst Kartoffeln und einige Sorten Obst und Gemüse. Viele Pflanzen hatten sich über die Jahrhunderte den neuen Begebenheiten angepasst, aber eben doch nicht alle. 75 In diesen Tagen wurden daher bei den Mahlzeiten hauptsächlich genau jene Lebensmittel aufgetischt. Tiere wurden kaum geschlachtet. Samson als typischer Fleischesser wurde von Tag zu Tag ungenießbarer. Nach 14 Tagen hielt er es dann nicht mehr aus und wurde bei unserem Dorfoberhaupt vorstellig. Als ich unseren Riesen mit Franziskus reden sah, wusste ich genau, worum es ging. Ich unterbrach meine Arbeit und ging auf die beiden zu, nicht das ich besonders neugierig war, aber man will ja informiert sein. Gerade als ich mich ihnen näherte, hörte ich noch die Worte des Bürgermeisters: „ … niemand geht alleine auf die Jagd, auch du nicht. Ich kann keine Ausnahme machen.“ Franziskus sah mich herankommen. „Aber wenn du bei diesem Wetter einen Begleiter findest, kannst du gerne gehen.“ Ruckartig blieb ich stehen. Das konnte nichts Gutes bedeuten. Gerade als ich mich wieder umdrehen und verschwinden wollte, hatte der Riese mich entdeckt. „Frank! Mein lieber Freund! Du kommst gerade zur rechten Zeit.“ Samson fuhr seinen langen Arm aus, legte ihn um meine Schulter und zog mich zu sich heran. Seine Finger bohrten sich schmerzhaft in meine Schulter. „Du hast doch sicher Lust, mit mir auf die Jagd zu gehen. Diese paar Regentropfen machen dir doch nichts aus, oder?“ Als ich nicht sofort antwortete und sich mein Blick hilfesuchend auf Franziskus richtete, verstärkten Samsons Finger den Druck auf meine Schulter. Franziskus schien meine verzweifelten Blicke nicht zu bemerken, oder war da ein leichtes Grinsen um seinen Mundwinkel? Ich gab mich geschlagen. Obwohl ich nicht die geringste Lust hatte, bei dem Sauwetter jagen zu gehen, nickte ich. Mit großer Mühe konnte ich noch schnell einen Einwand anbringen: „Aber nur einen Tag. Wenn wir abends nichts erlegt haben, geht’s wieder nach Hause!“ „Aber natürlich, mein Freund. Wir brechen morgen bei Sonnenaufgang auf.“ Samson blickte Franziskus fragend an. Der nickte kurz und sagte: „Also gut, ich erlaube es.“ 76 Ich verfluchte insgeheim meine Neugierde! Sally konnte sich ein schadenfrohes Lächeln nicht verkneifen, als ich ihr von dem geplanten „Ausflug“ mit Samson erzählte. Der Rest des Tages war für mich gelaufen. Am nächsten Morgen stand der Freund pünktlich zum Sonnenaufgang vor unserem Zimmer und klopfte. Ich war noch nicht ganz fertig und schaute missmutig aus dem Fenster. Von wegen Sonnenaufgang! Es goss in Strömen. Normalerweise gab es während einer Regenzeit auch mal ein, zwei Trockenstunden pro Tag. Seit es jedoch vor nunmehr 15 Tagen zu regnen begonnen hatte, war mir noch nicht eine einzige Regenunterbrechung aufgefallen. Ich schulterte gerade meinen Rucksack, als Samson erneut klopfte. „Ist ja schon gut, ich bin ja fast fertig! Geh schon mal runter in die Küche, ich bin in einer Minute da.“ Natürlich war Sally mittlerweile aufgewacht. Ich beugte mich zu ihr ins Bett hinunter und hauchte ihr einen Kuss auf die Wange. „Ich wünsche euch viel Spaß bei eurem Jagdausflug!“ Hatte Sally gestern noch versucht, ihre Schadenfreude halbwegs zu verbergen, grinste sie heute bis über beide Ohren. „Ja, ja“, sagte ich, „ Wer den Schaden hat ... und so weiter. Aber du hast recht, ich bin ja selbst Schuld!“ Ich verließ unser gemeinsames Zimmer und ging hinunter. Der riesige Freund stand in der Küche und kaute an einem kalten Hähnchenschenkel. Wortlos schnappte ich mir eines der für uns bereit gestellten kleinen Proviantpakete und verstaute es in meinem Rucksack. Nach Frühstück stand mir nicht der Sinn. Ich verließ die Küche, während Samson sein abgenagtes Hühnerbein zielsicher in einen Abfalleimer warf. Als ich an ihm vorbei ging, wischte er sich den Mund ab und grinste mich zufrieden an. Nach wenigen Minuten im Freien war ich klatschnass bis auf die Haut. Daran änderte auch der übergroße Hut, den ich mir aus der Kleiderkammer geholt hatte, fast gar nichts. Wenigstens lief mir der Regen nicht ununterbrochen in den Nacken. Nach etwa zwei Stunden rasteten wir unter einer großen Eiche. Wir hatten unser Jagdgebiet erreicht. 77 Das dichte Blätterdach hielt den Regen ein wenig zurück. Mittlerweile hatte sich auch mein Magen gemeldet und ich verzehrte ein belegtes Brot aus meinem Vorrat. „Ab hier müssen wir uns möglichst geräuschlos fortbewegen. Die meisten Tiere werden sich in ihren Lagern aufhalten. Am ehesten werden wir wohl auf Wildschweine oder Hirsche treffen. Denen macht die Regenzeit nicht so viel aus.“ Ich nickte Samson zu, schlang den Rest meiner Mahlzeit hinunter und los ging’s. Mein Freund hatte für die Jagd einen relativ dünn bewachsenen Teil des Waldes ausgesucht. In der Nähe lag eine große Wiesenfläche. Alles in allem gut geeignet für Rotwild. Die heutigen Hirsche waren nicht nur wesentlich größer, sie hatten auch ein viel größeres Geweih als noch vor fünfhundert Jahren. Deshalb bevorzugten die majestätischen Tiere auch lichte Wälder und Wiesen. Wir bewegten uns vorsichtig auf den Waldrand zu. Von hier aus hatten wir den perfekten Überblick sowohl in den Wald hinein als auch auf die Wiese. Das Gras stand sicherlich einen Meter fünfzig hoch, was unsere Sicht auf ein liegendes Tier etwas einschränkte. Nun, so ein ganz perfektes Jagdgebiet war es wohl doch nicht. Niemand in meinem Bekanntenkreis konnte so gut Spurenlesen wie Samson, und daher hatte er auch bald eine Fährte entdeckt. Er hatte mir vorher noch geraten, dass mein übergroßer Hut zu leicht gesehen werden konnte. Ich hatte ihn abgenommen und im Rucksack verstaut. Der unaufhörlich niederprasselnde Regen lief nun ungehindert von meinem Kopf in den Nacken über den Rücken direkt in meine Hose hinein. „Hoffentlich hole ich mir da unten an meinen wichtigsten Teilen keine Erkältung“, dachte ich gerade noch, als sich der Freund zu mir herunter beugte und mir ins Ohr flüsterte: „Siehst du dort auf der Wiese das zerteilte Gras?“ Samson zeigte mit dem ausgestreckten Arm darauf. Ich schaute gespannt in die angegebene Richtung. Es dauerte eine Weile, bis ich die minimale Veränderung in der Wiese erkennen konnte. „Dort ist vor kurzer Zeit ein größeres Tier, wahrscheinlich 78 eine Hirschkuh, in die Wiese gelaufen. Warte du hier und halt den Speer bereit. Ich werde die Stelle weitläufig umgehen und versuchen, das Wild in deine Richtung zu treiben. Der Wind steht günstig, du dürftest nicht gewittert werden.“ „Soll ich nicht den Bogen nehmen? Wer weiß, wo das Tier hervorbricht und der Bogen hat eine größere Reichweite.“ Der Riese schaute mich an, als überlegte er. „Du kannst den Bogen bereit legen, aber du bist viel besser mit dem Speer. Ich werde versuchen, das Tier direkt in deine Richtung zu lenken.“ Während er geräuschlos verschwand, legte ich Pfeil und Bogen neben mich, für alle Fälle. Ich nahm den Speer in meine rechte Hand und balancierte solange damit, bis ich den optimalen Schwerpunkt für einen sicheren Wurf gefunden hatte. Der Hirsch, oder was auch immer, konnte kommen, ich war bereit! Angespannt lauschte ich und mein Blick schweifte immer wieder in die vermutete Richtung, aus der das Tier kommen würde. Plötzlich war es soweit. Etwas sprang in die Höhe und hetzte in weiten Sprüngen direkt auf mich zu. Es war eine junge Hirschkuh. Ich schleuderte den Speer auf das Tier. Für einen winzigen Moment sah es so aus, als habe die Kuh den heran fliegenden Speer entdeckt und wollte ausweichen, aber es war schon zu spät. Der Speer traf seine Brust und drang tief ein. Sekunden-Bruchteile später überschlug sich die Hirschkuh und verschwand im hohen Gras. Ich lief auf die Stelle zu. Es war ein Volltreffer gewesen. Das Tier lag regungslos im Gras. Ich stand vor meiner Jagdbeute und schaute hinunter in die gebrochenen Augen. Aus irgendeinem Grund wollte bei mir keine große Freude über den Jagderfolg aufkommen. Vielleicht weil es keine Jagd aus der Notwendigkeit heraus war, sondern eigentlich nur zum Spaß. „Ein prächtiger Wurf und ein prächtiges junges Tier!“ Samson war jedenfalls begeistert. Er machte sich direkt daran, die Beute auszunehmen. Ich verscheuchte meine trüben Gedanken, indem ich mir einredete, dass die Hirschkuh hier nicht einfach nur verwesen würde, sondern zumindest als Nahrung für die Dorfgemeinschaft diente. Ich zog mein Messer aus dem Gürtel 79 und half dem Freund bei seiner blutigen Arbeit. Nach gut 30 Minuten hatten wir die Hirschkuh ausgenommen, in Stücke geschnitten und in die Rucksäcke verstaut. Wir suchten und fanden einen kleinen Felsüberhang, der nahezu den kompletten Regen abhielt. Wie Samson bei diesen Wetter-Verhältnissen ein Feuer anzünden wollte, war mir schleierhaft, aber er schaffte es. Er sammelte aus Baumhöhlen, die als Nester für Vögel oder kleine Nager gedient hatten, das trockene Nistmaterial heraus, brach ein paar vertrocknete Zweige von den Bäumen und zündete ein kleines Feuer an. Mit zwei Astgabeln baute er eine Art Mini-Grill und hängte einige ausgesuchte Fleischstücke übers Feuer. Seine Augen strahlten und ich war froh, das mir endlich kein Regenwasser mehr in die Hose floss. Nachdem wir uns gestärkt hatten, setzte ich wieder den übergroßen Hut auf und wir machten uns auf den Rückweg. Ich hatte die Nase voll vom Regen und schlug eine Abkürzung vor. „Lass uns die Strecke an unserem See entlang nehmen, dieser Weg ist von hier aus kürzer.“ „Kein Problem. Du hast recht. Es wird Zeit, aus den nassen Kleidern herauszukommen.“ Die Aussicht auf ein warmes Plätzchen am Kamin trieb mich an und so erreichten wir den See oberhalb unseres Dorfes schon nach einer Stunde. Noch ein paar Minuten und wir würden im Trockenen sein. „Irgendwie sieht das hier ziemlich gefährlich aus!“ Samson verzog sorgenvoll das Gesicht. Ich blickte ihn fragend an: „Was meinst du damit? Was ist gefährlich?“ Er zeigte auf die Wasserfläche vor uns. „Der See hat seine Größe vervielfacht. Das Wasser schwappt über den Damm. Soweit ich das von hier aus sehen kann, ist vermutlich der Ablauf verstopft. Wir müssen ihn unbedingt schnellstens wieder frei machen, sonst weicht der ganze Damm auf und könnte brechen. Bei der Menge an Wasser könnte dann das ganze Dorf in Gefahr sein. Lass uns schnell zu der anderen Seite laufen und genauer nachschauen!“ 80 Ich wünschte mir im Moment eigentlich nichts sehnlicher als trockene Kleidung, doch er hatte recht. Das Dorf lag unterhalb des Sees, und wenn bei einem Dammbruch diese Unmengen an Wasser herunter stürzen würden, wäre das fatal. Wir beschleunigten unsere Schritte und standen kurz darauf an der Einmündung des Abflusses. Da sah ich die Bescherung! „Verdammt! Der Abfluss ist nicht verstopft. Es ist einfach zu viel Wasser. Der Kanal kann diese Mengen an Wasser nicht ableiten.“ Er nickte mir bestätigend zu. „Wir müssen etwas unternehmen. Das Wasser, das über den Damm schwappt, hat schon tiefe Furchen im Erdreich hinterlassen. Hier kann jeden Moment alles brechen und unser Dorf überfluten. Lauf ins Dorf, wir brauchen jeden Mann und jede Frau. Und Schubkarren, Hacken und Schaufeln! Ich versuche in der Zwischenzeit, den Ablauf zu vergrößern. Beeil Dich!“ Bevor der Freund die letzten Worte ausgesprochen hatte, lief ich schon los. Es waren nur ein paar hundert Meter bis zum Hauptgebäude. In Rekordzeit erreichte ich es und stürmte hinein. In der kleinen Eingangshalle hielten sich ungefähr 50 Personen auf, Franziskus war auch darunter. „Wir brauchen Hilfe! Der Damm bricht. Wir benötigen alle Dorfbewohner und Werkzeuge! Das Wasser wird sonst das ganze Dorf überfluten!“ Franziskus hatte den Ernst der Lage sofort erkannt. Er ging auf die Veranda und schlug mit einem Eisenstab auf eine Glocke ein. Das Alarmsignal. In wenigen Minuten würde das ganze Dorf hier versammelt sein. Inzwischen teilte er die 50 in der Halle versammelten Personen auf. Einen Teil ließ er Werkzeuge holen, ein Teil schickte er sofort zum Damm. Dann kamen die übrigen Leute und mit ihnen auch Sally. Während Franziskus die Dorfgemeinschaft aufteilte und auch ältere Menschen und Kinder evakuieren ließ, kam sie zu mir. Ich erklärte ihr alles und gemeinsam, bewaffnet mit Hacke und Schaufel, liefen wir in den strömenden Regen. Einige hatten den Damm schon erreicht und versuchten, zusammen mit Samson 81 den Abfluss zu erweitern. Andere trugen Steine herbei und lockerten schon mal Erdreich an einer Böschung. Dann traf das Gros der Menschen ein und mit ihnen jede Menge Schubkarren und Werkzeuge. Ich versuchte, die Leute einzuteilen, was mir leidlich gelang. Dann kam Franziskus und übernahm das Kommando. Männer und Frauen schaufelten in die Schubkarren, was das Zeug hielt. Steine wurden an besonders aufgeweichten Stellen platziert und mit Erde verfüllt. Der Damm lief immer noch über. „Weg da unten!“ rief Samson, „gleich kommt hier jede Menge Wasser runter!“ Die Arbeiter unten am Damm sprangen zur Seite – keine Sekunde zu früh! Der Freund und seine Helfer hatten endlich das zu schmale Abflussrohr herausreißen können und ein gewaltiger Wasserstrahl schoss mit hohem Druck aus der breiter gewordenen Öffnung. Einer der Helfer wurde beinahe von den Wassermassen in die Tiefe gerissen, doch Samsons Hand war schneller. Er ergriff den Mann an seiner Jacke und zerrte ihn aus dem Gefahrenbereich. Sally und ich hatten uns mittlerweile in eine Kette eingereiht, die Steine von einem Hang herüber transportierte. Erst nach etwa einer Stunde ließ endlich der Druck auf den Damm nach und kein Wasser lief mehr über seine Krone. Wir arbeiteten den ganzen Abend und die halbe Nacht bis zur vollkommenen Erschöpfung. Dann erst war die Gefahr vorüber. Der Wasserspiegel im See war stark gesunken und der Damm ausreichend verstärkt. Das ganze Dorf fiel todmüde ins Bett, bis auf einige, die Franziskus noch als Wächter aufgestellt hatte. Wir würden nach der Regenzeit noch eine Menge Arbeit mit unserem „kleinen“ See haben! 82 Einkaufsbummel Wir waren auf dem Weg zu den Ruinen einer kleinen Stadt südlich von Neu-Siegen, von der niemand mehr wusste, wie sie geheißen hatte. Wir, das waren meine Freunde und vier weitere Begleiter, also insgesamt acht Personen. Franziskus hatte uns den Auftrag gegeben, in der Geisterstadt nach einigen Dingen zu schauen, die wir in der Dorfgemeinschaft nicht selbst herstellen konnten und für die es auch nur einen winzigen oder gar keinen Tauschmarkt gab. An oberster Stelle der Liste stand Papier. Natürlich war es nach so langer Zeit fast unmöglich, noch echtes Papier zu finden, der Zahn der Zeit hatte sicherlich alle Reste davon vernichtet. Aber einige Jahre vor dem großen Knall hatte ein pfiffiger Kopf eine Art unverwüstliches Papier aus Kunststoff-Resten erfunden, das die Zeiten wohl überdauert haben dürfte. Franziskus war ein ordentlicher Mensch und kam mir manchmal wie ein Beamter aus der Vergangenheit vor. Er versuchte alles, was für den Betrieb in unserem kleinen Dorf erforderlich war, schriftlich festzuhalten. Er und seine Verwalter schrieben Arbeitspläne, Ernteerträge, Tierbestände, Vorräte und vieles mehr nieder. In den letzten Jahren hatte sich Franziskus mit selbst geschöpftem Papier über Wasser gehalten. Das war sehr umständlich und zeitaufwändig in der Herstellung. Weitere Punkte auf der Liste waren so profane Dinge wie Teller und Schüsseln aus Porzellan oder Steingut, Essbestecke aus Metall, Töpfe und Pfannen und jede Menge anderes für den täglichen Bedarf. Die Zahl der Dorfbewohner stieg in den letzten Jahren stetig an, da die Kindersterblichkeit von über 70% nach Beginn der Katastrophe auf unter 40 % gefallen war. Metallwaren konnten wir zwar bei den Eisenmenschen eintauschen, aber kein Tausch ohne Gegenleistungen und nicht immer war das Dorf in der Lage, die Wünsche der Handelspartner zu erfüllen. Wenn man bedachte, was heute in der neuen Zeit alles recycelt wurde und dabei über 500 Jahre alt war – was waren wir doch damals zu unserer so fortschrittlichen Zeit nur 83 für schreckliche Stümper gewesen! Wir marschierten also in Richtung Süden, der uns unbekannten kleinen Stadt entgegen. Laut Franziskus lag sie ungefähr vierzig Kilometer entfernt und war erst vor ein paar Jahren zufällig von einem Reisenden entdeckt worden. Man wusste nicht viel über diese Stadt. Der einzelne Mann hatte sich nur kurz dort aufgehalten. Er hatte berichtet, dass noch relativ viele Gebäude intakt waren. Das ließ auf eine Stadt schließen, in der Bauwerke aus der Zeit vor dem Zwanzigsten Jahrhundert errichtet worden waren. Auf unseren Wanderungen hatten wir immer wieder den Verfall von Betongebäuden festgestellt, während alte Häuser aus Stein und Lehm die 500 Jahre viel besser überstanden hatten. Der Informant berichtete weiter, dass er die Gebäude nicht betreten hatte, da sie aus irgendeinem Grunde unheimlich und Angst einflößend wirkten. Franziskus erwähnte allerdings, der Mann hätte nach seiner Rückkehr unter Fieber gelitten. Wahrscheinlich hatte ihn das Fieber schon zur Zeit der Entdeckung der kleinen Stadt im Griff gehabt. Wie dem auch sei, wir hatten nur eine ungefähre Wegbeschreibung erhalten. Anfangs kamen wir noch gut voran. Es gab einige Trampelpfade, die ungefähr in die angegebene Richtung führten. Doch schon nach etwa fünf Kilometern gabelte sich der Trampelpfad in eine Ost- und eine Westrichtung auf. Von nun an arbeiteten wir uns mit Hilfe unserer Buschmesser durch das Dickicht. Samson führte meist den kleinen Trupp an, während ich das Schlusslicht bildete. Es war ein mühsames Vorankommen, nur hin und wieder lichtete sich der Wald etwas. Als wir wieder an so einer lichten Stelle ankamen, beschlossen wir, hier zu übernachten. Wenn es hoch kam, hatten wir ungefähr zehn Kilometer Wegstrecke zurückgelegt. Alle waren rechtschaffen müde und so wurde das Lager in kürzester Zeit eingerichtet. Nach einer Mahlzeit aus unseren Vorräten legten wir uns aufs Ohr, nicht ohne zwei Wachposten aufzustellen, die alle zwei Stunden abgelöst wurden. Die Nacht verlief ereignislos. Sally und ich legten in den frühen Morgenstunden Brennholz 84 nach und weckten unsere Kameraden. Eine kurze Katzenwäsche, eine Tasse Kaffee aus gerösteten, gemahlenen Eicheln und ein Stück Fladenbrot mit etwas Trockenfleisch stärkte uns für den weiteren Weg. Nach einer Wanderung von etwa einer Stunde lichtete sich plötzlich das Gestrüpp und wir standen in einem dichten Wald aus Laubbäumen. Das Laub der Baumkronen war so dicht, das kein Sonnenstrahl den Boden erreichte. Kein Licht – kein Gestrüpp, so einfach war die Rechnung. Wir kamen zwar nun wesentlich besser voran, aber wir hatten Schwierigkeiten, den Weg nach Süden beizubehalten. Selbst die vier Neu-Siegener Urbürger wurden sich immer unsicherer. Wie hatte es früher in irgendwelchen Abenteuerfilmen geheißen: „Orientiert euch am Moos der Bäume, es wächst nur an der sowieso-Seite“. Ich war zwar Biologe, aber mit Moosen hatte ich niemals zu tun gehabt, und auf welcher Seite das Moos wachsen sollte – wie in den Filmen beschrieben – hatte ich auch vergessen. Abgesehen davon – hier wuchs kein Moos an den Bäumen, auch sonst gab es keinerlei Vegetation, die uns helfen konnte. Selbst Samson, das erfahrenste Mitglied der Expedition, kam in Schwierigkeiten. Wir bewegten uns in Lichtverhältnissen, die einer späten abendlichen Dämmerung glichen. Uns blieb nichts anderes übrig, als hin und wieder einen Mann auf die Bäume zu schicken, der das Laub beiseite schob und sich nach dem Stand der Sonne umschaute. Warum Samson dabei ausgerechnet auf mich kam, war mir zunächst schleierhaft. „Samson, warum soll ich das machen?“ fragte ich ihn, während ich hoch zum nicht vorhandenen Himmel schaute, „ich erreiche doch nicht einmal die unteren Äste dieser Riesenbäume!“ „Kein Problem, Frank. Ich helfe dir.“ Er kam auf mich zu, umfasste mit seinen riesigen Pranken meine Hüften und schleuderte mich fast drei Meter in die Höhe. Überrascht schrie ich auf meinem Flug nach oben kurz auf, musste dann allerdings zusehen, wie ich mich an einem der unteren Äste festhalten konnte. Mein Schrei verstummte. Leicht zitternd krallte ich 85 mich fest und suchte mir einen sicheren Stand. Von nun an ging es ziemlich einfach. Ich zog mich von Ast zu Ast nach oben und verstand endlich, warum ich und nicht Samson diesen Weg machen musste. Man benötigte eine gewisse Menge an Kraft und durfte nicht zu schwer sein, da die Äste nach oben hin logischerweise immer dünner wurden. Im Wipfel angekommen, schob ich die Blätter des Baumes zur Seite und berichtete nach unten, was ich sah. Der Riese nickte nur und winkte mich herunter. Bevor ich mich an den Abstieg machte, schaute ich mir die Blätter des Baumes noch einmal genauer an. Sie waren äußerst ungewöhnlich, sahen nicht wie normale Blätter aus, eher wie übergroße Rhabarber-Blätter! Ich konnte es kaum glauben, sollte hier Rhabarber zu riesigen Bäumen mutiert sein? Ich musste es ausprobieren, riss ein Blatt mitsamt dem Stängel ab und biss zaghaft hinein. Ich hatte den herzhaft sauren Geschmack des Rhabarbers erwartet, aber nein – dies hier schmeckte einfach nur bitter – kein Riesen-Rhabarber! Ich beeilte mich mit dem Abstieg. Samson hatte wieder Anhaltspunkte für unsere Orientierung und es ging weiter. Dank dieser etwas unkonventionellen Idee kamen wir gut voran. Die nächsten zwei Tage schafften wir annähernd 30 Kilometer. Irgendwo in der Nähe musste also das verlassene Städtchen liegen. Wir übernachteten am Rand eines etwa 500 Meter breiten Wiesengeländes. Der Streifen Wiese schien einige Kilometer weit zu reichen, es war jedenfalls kein Ende zu sehen. Warum ausgerechnet hier kein Wald wuchs, war mir schleierhaft. Vielleicht hatte es mal eine Windhose gegeben, die für den Kahlschlag verantwortlich war. Es war gegen 10 Uhr vormittags, wenn ich meinen Instinkten trauen darf, als wir auf einer Hügelkuppe standen und hinunter in ein kleines Tal blickten. Zwischen den vielen Bäumen konnte man hier und dort einige Dachspitzen erkennen. Wir hatten es geschafft! Der Weg ins Tal war rasch zurückgelegt. Unten angekommen, hielt Samson witternd seine Nase in den schwachen Wind. 86 „Ich glaube, uns droht keine Gefahr. Ich rieche kein Feuer und auch keine Tiere. Dennoch sollten wir unsere Waffen kampfbereit halten. Man kann ja nie wissen.“ Mit gespannten Bögen zogen wir langsam in den kleinen Ort ein. Ja, es war nur ein kleiner Ort – keine Stadt, der Späher musste wirklich schon hier Fieber gehabt haben. Es standen vielleicht 25 Häuser um einen kleinen Dorfplatz herum, nicht mehr. Natürlich war auch hier vieles zugewuchert, aber die meisten Häuser schienen noch intakt zu sein. Das war äußerst ungewöhnlich. Es sah aus, als wäre dieser Ort in der alten Zeit nur noch von älteren Menschen bewohnt worden, die nicht mehr neu gebaut hatten. Nirgends waren Überreste von Gebäuden aus dem zwanzigsten Jahrhundert zu sehen. „Oh je, das wird nichts“, hörte ich Pierre sagen, „hier hat es schon vor fünfhundert Jahren keine Geschäfte mehr gegeben. Wir werden allenfalls noch ein bisschen Geschirr finden. Der Weg hierher war umsonst!“ Sally ging auf Pierre zu: „Nein, das glaube ich nicht. Pierre, du bist in Paris geboren und aufgewachsen, du kennst das Landleben nicht. Es mag hier keine Geschäfte mehr gegeben haben, aber gerade deshalb schaffte man sich größere Vorräte an. Niemand wollte hier wegen einer zerbrochenen Schaufel in die nächste Stadt fahren. Außerdem wurden Geschirr, Besteck und viele andere Dinge von den Alten immer weiter gegeben, während sich die junge Generation Neues anschaffte. Wir werden hier bestimmt eine Menge Nützliches finden. Außerdem sieht es so aus, als sei in den letzten 500 Jahren niemand hier gewesen!“ Sally hatte recht. Wenn man sich den üppigen Pflanzenbewuchs weg dachte, sah es hier noch so aus, wie in den Dörfern aus dem 18. oder 19. Jahrhundert. Massive, aus Bruchsteinen gebaute Häuser mit stabilen, aus alter Eiche gezimmerten Dachstühlen. Während Sally, Pierre und ich uns noch über den wunderschönen Ort unterhielten, hatten sich unsere Gefährten schon am Dorfbrunnen versammelt und ihr Gepäck abgestellt. 87 Samson schritt derweil die Häuserfront ab und verschaffte sich einen ersten Eindruck. Sally und Pierre hielten auf den Brunnen zu, während ich zu Samson hinüber ging. „Was meinst du, Freund? Werden wir hier fündig?“ „Ich denke schon. Ich habe die Argumente von Sally mitbekommen. Sie ist eine kluge Frau und hat bestimmt recht! Lass uns zu den Anderen gehen. Wir sollten uns ein stabiles Haus suchen und uns dort einrichten. Wir könnten heute noch alle Häuser durchsuchen und uns morgen wieder auf den Rückweg machen.“ Wir wählten eines der größten Häuser aus und richteten uns dort ein. Wir fühlten uns sofort wohl, nur der Riese schaute ziemlich missmutig drein. Das lag wohl an den nur etwa zwei Meter hohen Decken der Zimmer. Er war zwei Köpfe größer und musste sehr gebückt gehen, wenn er sich hier aufhalten wollte. Nach einer sehr kurzen Inspektion der Räumlichkeiten verschwand er wieder nach draußen. Wir teilten uns schließlich in Zweier-Gruppen auf, um in den Häusern nach Schätzen zu suchen. Da Samson keine Lust hatte, in den niedrigen Zimmern herumzulaufen, wollte er die Scheunen durchsuchen. Ich war dabei sein Partner. „Wo fangen wir an? Hier scheint fast jedes Haus Scheunen oder Stallungen zu haben!“ Er schaute sich kurz um. „Lass uns dort drüben beginnen“, er wies auf einen großen Steinbau mit Scheunentoren. „Dort werden wir am ehesten Geräte oder Werkzeuge finden. Die anderen Scheunen bestehen größtenteils aus Holz und sind schon ziemlich baufällig. Außerdem scheint dieses Haus dem größten Bauern gehört zu haben. Der hatte natürlich auch die meisten Geräte. Mit acht Personen können wir sowieso nur eine begrenzte Menge an Gegenständen mitnehmen.“ Wir schritten auf die Scheunentore zu. Im Laufe der Jahrzehnte hatten sich die Torflügel natürlich verzogen und verkantet. Doch Samson spannte nur kurz seine gewaltigen Muskeln an, hob eines der Tore aus den Angeln und ließ es zu Boden krachen. Nun hatten wir beides, einen Eingang und einen 88 respektablen Lichteinlass. Dennoch mussten sich unsere Augen erst einen Moment an die im Inneren herrschende Dämmerung gewöhnen. Die Zeit schien hier drin keine Bedeutung gehabt zu haben – mehrere nahezu unversehrte Traktoren, Pflüge, Eggen und andere Gerätschaften füllten den großen Raum aus. Oberhalb der Geräte war eine Decke eingezogen, zu der einige Leitern hinaufführten. Man konnte dort oben noch eine große Anzahl an Heuballen ausmachen. Meine Blicke wanderten wieder nach unten. Keine einzige Schaufel, Mistgabel, Hacke oder Spaten war zu sehen. Doch bevor meine Enttäuschung gar zu groß wurde, fiel mein Blick auf eine breite Tür, die zu einem abgetrennten Raum innerhalb der Scheune gehörte. Ich stieß Samson an und wies darauf. Als wir an den Traktoren vorbeigingen, berührte ich einen von ihnen. Sofort brach das Blechteil ab und zerbröselte regelrecht unter meinen Fingern. Ich schaute genauer hin. Die Räder mit den Gummireifen sahen noch ziemlich stabil aus, auch die Kabine schien in Ordnung. Aber dort, wo das Metall relativ dünn war, hatte der Rost ganze Arbeit geleistet. Man konnte das Metall einfach in die Hand nehmen und ohne Kraftaufwand zerdrücken. Samson schaute mir bei meinen Experimenten nur kurz zu, zuckte mit den Schultern und steuerte weiter auf den Nebenraum zu. Ein kleiner Ruck und die Tür sprang auch hier auf. Ich folgte ihm in den Raum hinein. Zahlreiche verschlossene Schränke, eine Bank und ein großer Tisch waren das ganze Inventar. Wir öffneten einen Schrank nach dem anderen und uns gingen beinahe die Augen über. Überall lagerten in den einzelnen Schrankfächern Gartengeräte, die in Ölpapier eingewickelt waren. Fantastisch! In einem Schrank befanden sich jede Menge Holzstiele für die verschiedensten Geräte. Über die Jahre waren viele regelrecht krumm geworden. Manche, die nicht aus Hartholz bestanden, hatten sich langsam aber sicher aufgelöst. Aber Stiele waren sowieso nicht gefragt. Wenn es in unserem Dorf von etwas genug gab, 89 so waren es Holz und Menschen, die dieses vorzüglich bearbeiten konnten. Aber in Ölpapier eingewickelte Spaten, verschiedenartige Hacken, Schaufeln, Gabeln und Rechen waren in dieser Zeit ein sehr großer Schatz! Und all das sah aus wie neu! Selbst Samson, den sonst so leicht nichts aus der Ruhe bringen konnte, pfiff laut hörbar anerkennend durch die Zähne. „Das ist ja wie ein Sechser im Lotto“, stieß ich hervor. „Was meinst du damit? Ein Sechser im Lotto?“ Samson schaute mich fragend an. Ich wollte gerade zu einer langwierigen Erklärung über Glücksspiele ansetzen, als mir einfiel: Wozu? Das war alles Vergangenheit! So sagte ich nur: „Das ist mal wieder so eine Redewendung aus alten Zeiten. Es bedeutet, dass wir unheimliches Glück gehabt haben.“ Er nickte bestätigend.„Ja, ich kann es kaum glauben. Es ist wirklich wie Sex im Lotto!“ Ich musste über seinen kleinen Versprecher grinsen. Gerade als ich ihn korrigieren wollte, hörten wir von draußen kleine Freudenschreie. Sofort vergaß ich mein Vorhaben wieder. Samson und ich packten einige der Werkzeuge zusammen und eilten hinaus. Rund um den Brunnen hatten sich unsere Gefährten versammelt und legten ihre Fundsachen ab. Franco, ein kleiner, aber äußerst kräftiger Kerl kam freudestrahlend auf uns zu: „Wir haben tolle Sachen gefunden. Jede Menge Geschirr, Besteck, Töpfe und Pfannen. Und sogar eine Nudelmaschine, wie Sally uns sagte. Ich weiß zwar nicht, was das ist, aber es hört sich toll an!“ Franco strahlte über das ganze Gesicht. So eine Freude hatte ich lange nicht mehr gesehen. Doch nicht nur er strahlte, auch alle anderen lachten und schlugen sich vor Freude gegenseitig auf die Schultern. Wie im Rausch trugen wir in der nächsten Stunde all unsere Schätze zum Brunnen. Es türmten sich am Ende so viele Dinge auf, dass wir sie nie und nimmer alle transportieren konnten. Moss, unser Mann für die Versorgung, stoppte schließlich die Schatzsuche. Es war gerade erst früher Nachmittag und 90 alle waren sich einig, das am Abend ein kleines Fest stattfinden sollte. Doch mit Trockenfleisch wollte niemand feiern und so einigten wir uns auf Samson und mich als Jäger, während die anderen die gefundenen Schätze nach Wichtigkeit sortieren, verpacken und für den Transport fertig machen sollten. Der große Rest sollte in einem Raum versteckt werden, um ihn irgendwann später holen zu können. Während der Freund sich mit Bogen, Keule und Messer bewaffnete, reichte bei mir Speer und ebenfalls ein Messer. Mit dem Bogen war ich ja kaum Durchschnitt, aber mit dem Speer konnte ich es mittlerweile mit fast allen anderen aufnehmen. Die Jagd war eröffnet! Wir zwei schlichen uns durch den angrenzenden Wald. Wir hatten die Spur eines kleinen Wildschweins entdeckt, gerade die richtige Größe für ein üppiges Abendessen. In einer Stunde würde es dunkel werden, wir mussten uns also beeilen. Plötzlich stoppte Samson und zeigte mit der ausgestreckten Hand nach vorne. Nur etwa fünfzig Meter vor uns suhlte sich das Schwein in einer kleinen Pfütze. Für einen gezielten Schuss mit dem Bogen war es ziemlich weit entfernt, zumindest für einen normalen Bogenschützen. Nicht für Samson, dennoch zögerte er. „Zu viele Bäume“, flüsterte er mir ins Ohr. „Ich werde versuchen, eine bessere Position zu finden. Bleib du hier. Vielleicht ergibt sich für dich eine Möglichkeit, den Speer einzusetzen.“ Er verschwand lautlos. Ich schaute ihm nach, doch schon nach wenigen Metern verschwand er aus meinem Blickfeld. Nach einer viertel Stunde wurde ich langsam unruhig. Nichts von Samson zu sehen und das Schwein schien genug von seinem Schlammbad zu haben. Es war mittlerweile dazu übergegangen, sich ausgiebig an einem Baum zu scheuern. Lange würde es sich nicht mehr hier aufhalten. Doch gerade als ich beschloss, mich näher heran zu pirschen, hörte ich das Sirren eines Pfeils und dann sah ich auch den Aufprall. Doch der Pfeil steckte nicht etwa in dem Schwein, wie ich es erwartet hatte, sondern knapp daneben in dem Baum. Das Tier musste sich kurz bewegt haben! Es verharrte für einen Moment verdutzt, 91 um dann mit lautem Quieken davon zu stürzen. Ein weiteres Sirren und ein zweiter Pfeil streifte die hintere Backe des Tieres. Wieder quiekte es laut, diesmal schmerzvoll, überschlug sich fast und rannte dann genau auf mich zu. Ich hob den Speer in meiner Hand und wartete auf den richtigen Augenblick. Gerade als ich die Waffe auf die Reise schicken wollte, wechselte das Tier seine Richtung und lief nun mit seiner Breitseite etwa fünf Meter an mir vorbei. Mein Speer flog durch die Luft und traf genau. Durch seinen enormen Schwung überschlug sich das Wildschwein, blieb dann zuckend liegen und quiekte zum dritten und letzten Mal. Die Jagd war beendet! Als wir erfolgreich zurück zum Lager kamen, war schon alles für unsere kleine Feier vorbereitet. Niemand schien daran gezweifelt zu haben, dass Samson und ich etwas erlegen würden. Ein großes Feuer brannte, links und rechts daneben steckten schon zwei Astgabeln im Boden, die bereit waren, einen größeren Braten aufzunehmen. Wir luden das Schwein ab. Sofort kümmerte sich Rea, die zweite Frau auf unserer Reise, zusammen mit Franco um die Verarbeitung der Beute. Nicht mal zwanzig Minuten später drehte sich der Spieß mitsamt dem Schwein über dem Feuer. Moss, unser Versorgungsmann, zauberte zwei Krüge aus seinem Gepäck und reichte sie herum. Sie waren gefüllt mit einem leichten Fruchtwein. Alle unterhielten sich, während der Duft des gebratenen Wildscheins durch die Runde zog. Es schmeckte herrlich! Pierre hatte sich nach dem Essen neben Rea gesetzt und flirtete angeregt. Etwas verwundert schaute ich mir Rea genauer an. Rea war blond, etwa mittelgroß und ein wenig stämmig. Eigentlich passte sie so gar nicht in Pierres sonstiges Beuteschema. Pierre war immer sehr diskret, was seine Frauengeschichten anging, aber aus seinen sparsamen Erzählungen wusste ich, dass er eher auf zierliche Rothaarige stand. Doch wahrscheinlich faszinierten ihn Reas Augen. Als ich vor einigen Monaten zum ersten Male in ihre tiefblaue Augen hinein geschaut hatte, 92 blieb mir doch glatt die Spucke weg! Ich hatte sie damals so unverblümt angestarrt, dass Sally mir einen kräftigen Stoß in die Seite versetzte. Genau in diesem Moment setzte letztere sich neben mich. „Na, schon wieder in Reas Augen verliebt?“ Verdammt, wie machte sie das nur, irgendwie wusste sie immer, was ich dachte! Bevor ich stotternd zu einer Erklärung ansetzen konnte, legte sie mir beruhigend ihre Hand auf meinen Unterarm. „Schon gut, Frank“, sagte sie ausgesprochen milde, „ Appetit hast du dir ja jetzt geholt, aber gegessen wird heute Nacht bei mir!“ Es wurde eine fantastische Nacht! Am nächsten Morgen hatte sich der Himmel zugezogen. Das war ziemlich untypisch, da die Regenzeit erst vor wenigen Wochen geendet hatte. Auch Samson und die anderen in dieser Zeit geborenen schauten besorgt zum Himmel. Mir war das alles total egal, ich fühlte mich großartig! Auch Sallys Augen blitzten vor Freude. Moss hatte bei der Verteilung der Packstücke ganze Arbeit geleistet. Jeder bekam nach seiner ungefähren Kraft Waren auf seinen Rücken. Die beiden Frauen bekamen die kleinsten Pakete und Samson das Größte. Für den ersten Teil des Rückwegs übernahm Franco die Führung. Er sollte hinter dem Wiesengelände abgelöst werden. Der Riese und ich bildeten das Schlusslicht, als uns Francos Ruf erreichte. Nebel hatte uns die bisherige Wegstrecke begleitet. Ich konnte Francos Worte nicht verstehen, aber wir hatten wohl die Wiesen erreicht. Es wurde auch allmählich Zeit für eine Pause, denn mein Rücken schmerzte. Vor mir wurde es etwas heller, die Wiese lag vor uns. Wir alle hatten uns diese Pause verdient und die Rucksäcke glitten zu Boden. Plötzlich hörten wir einen dumpfen Knall und unmittelbar einen lauten Schmerzensschrei, der sofort wieder erstarb. Alle griffen zu den Waffen und stürmten in Richtung auf das Geräusch. Doch es war zu spät! Sally stand ganz vorne, den Bogen noch auf ein Ziel gerichtet. Sie war nur ein paar Meter hinter Franco hergegangen. „Sally, was ist los? Was ist passiert?“ Sie brachte kein Wort 93 hervor und winkte nur mit dem Bogen. Ich folgte mit meinen Augen der gewiesenen Richtung. Einige Meter entfernt lagen ein riesiger Hirsch und Franco, vom Hirschgeweih aufgespießt in einer großen Blutlache. Schon von ferne konnte ich sehen, dass hier jede Hilfe zu spät kam! Sallys Pfeil steckte in Herzhöhe in dem mächtigen Tier – ein perfekter Schuss, doch er war zu spät gekommen. Während die anderen zum Unglücksort liefen, nahm ich Sally in den Arm und drehte sie vom Geschehen weg. Sie schluchzte: „Er tauchte plötzlich aus dem Nebel auf und rammte ihm das Geweih in die Brust. Ich war nicht schnell genug. Ich war einfach zu langsam! Es ist meine Schuld!“ Tränen flossen aus ihren Augen. „Es ist nicht deine Schuld. Du konntest es nicht ändern. Du hast alles versucht, er hatte keine Chance!“ Zwei Stunden später hatten wir uns um Francos Grab versammelt. Ich hatte noch nie an einer Begräbnis-Zeremonie der Neu-Siegener teilgenommen. Niemand sprach, alle waren mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt. Ich hielt Sallys Hand, ihre Augen waren gerötet und in ihrem Gesicht stand immer noch der Schock. Man hatte Franco in ein tiefes Grab gelegt. Dem Hirsch waren Geweih und zwei der besten Fleischstücke entnommen worden. Das Fleisch und einen Krug Wasser für die Reise ins Jenseits hatte man dem Toten mit ins Grab gegeben. Das war Neu- Siegener Brauch. Den kleinen Erdhügel hatte man mit dem kapitalen Geweih verziert. Der Kadaver war in einiger Entfernung verbrannt worden. Selbst in dieser Zeit, wo Nahrung immer willkommen war, wollte das Fleisch dieses Tieres niemand verzehren. Unvermittelt setzte Moss zu einem Lied an. Er sang von Frieden, der wunderschönen Natur und von Freundschaft. Es war sehr bewegend. Ich dachte an den Augenblick, als uns Franco gestern noch freudestrahlend entgegenkam und von den vielen Funden und der Nudelmaschine berichtete. In diesem Moment wurde mir bewusst, wie dicht Freude und Tod beieinander liegen konnten. Meine Augen füllten sich mit Tränen. 94 Papier Das Leben ging weiter. Sally hatte Francos Tod noch nicht überwunden und ihre Selbstvorwürfe nagten an ihr. Auf unserer Reise hatten wir viel Nützliches gefunden. Irgendwann würde Franziskus einen Trupp losschicken, um den Rest abzuholen. Doch eines war nicht dabei gewesen: Papier. Oder vielmehr dessen Nachfolge-Produkt aus vergangener Zeit. Gut erhaltenes Papier war natürlich nur noch selten zu finden, aber die Papierfolien, die ein kluger Mann einige Jahre vor der Apokalypse erfunden hatte, musste es noch geben. Wir waren auf unserem Weg von Grissenbach nach Neu-Siegen hin und wieder darauf gestoßen. Es schien überhaupt nicht zu altern. Für Franziskus wäre ein Paket davon von unschätzbarem Wert, auch wenn es für die Dorfgemeinschaft nicht unbedingt Lebenswichtig war. Um Sally auf andere Gedanken zu bringen, schlug ich Franziskus vor, eine kleine Exkursion mit ihr zu unternehmen. Nichts Aufregendes oder Gefährliches. Franziskus hatte da auch schon etwas im Sinn. Eine verlassene Burganlage, von der aus man den Rhein sehen konnte, etwa zwei Tagesreisen entfernt. Da die Burg kaum jemandem bekannt war, gab es nur schmale Pfade oder Wildwechsel, die dorthin führten. Unser Bürgermeister kramte in seinen Archiven herum. „Ich habe eine ganz gute Wegbeschreibung. Als einer unserer Späher vor Jahren die Burg entdeckte, hat er sie angefertigt. Ah ja. Hier ist sie. Ich werde dir die markanten Punkte auf der Karte erklären, dann dürftet ihr keine Schwierigkeiten haben, den Weg zu finden. Vielleicht gibt es dort sogar wirklich Papier. Damals hat unser Späher nur festgestellt, dass die Burg unbewohnt ist und ein paar Metallteile mitgenommen. Er hielt den Ort für uninteressant. Ich habe dann auch niemanden mehr dorthin geschickt. Der ideale Platz für Sally, um auf andere Gedanken zu kommen! Ihr beide werdet allein reisen und ich werde es als offizielle Mission verkünden. Dann merkt sie sicherlich nicht, dass die Reise extra für sie arrangiert wurde. Einverstanden?“ 95 Ich stimmte sofort zu. Zwei Tage später waren wir bereits unterwegs. Wir hatten nur den nötigsten Proviant für etwa fünf Tage mitgenommen. Außerdem hatte Franziskus uns mit zusammenklappbaren Körben ausgestattet, die man auch auf den Schultern tragen konnte. Für das vermutete Papier natürlich. Auch wenn weder er noch ich an einen unentdeckten Papiervorrat auf der Burg glaubten, wurde so die Mission für Sally glaubhafter. Franziskus hatte wirklich an alles gedacht! Es war ein wunderbarer Tag. Die Sonne schien, der Weg war nicht sonderlich beschwerlich. Die Wiesen, die wir durchquerten, standen in voller Blüte. Der Wald duftete nach frischen Kiefernnadeln. Nach alter Zeitrechnung würde ich sagen: Ein herrlich warmer Frühlingstag. Zuerst schritten wir schweigend nebeneinander her. Nach ein paar Stunden Wanderung durch die herrliche Landschaft taute Sally langsam auf und wir redeten über alles, was ihr auf der Seele lag. Wir waren so vertieft in unsere Unterhaltung, dass wir die heraufziehende Dämmerung erst spät bemerkten. Doch das war kein Problem. Sehr schnell fanden wir einen geeigneten Lagerplatz. Nachdem wir ein kleines Feuer angezündet hatten, kuschelte sich Sally an meinen Körper. Wir waren glücklich. Unsere Unterhaltung hatte mir und vor allem ihr gut getan. Sie schlief in meinen Armen ein, ein zufriedenes Lächeln im Gesicht. Nach einer Weile löste ich mich vorsichtig von ihr. Auch wenn ich liebend gerne so mit ihr die Nacht verbracht hätte, dazu war die Wildnis einfach zu gefährlich. Ich legte Feuerholz nach und drehte meine Runden um unser kleines Lager. Obwohl ich nicht damit gerechnet hatte, löste mich Sally etwa zwei Stunden nach Mitternacht ab. Sie hauchte mir einen Kuss auf die Wange und sagte nur ein Wort: „Danke!“ Wir erreichten unser Ziel zur Mittagszeit des nächsten Tages. Es lag, wie eigentlich alle Burgen auf einem Berg. Der ehemalige Burggraben war kaum noch zu sehen, Bäume und Sträucher aller Art hatten ihn in Besitz genommen und verdeckten auch große Teile der Burgmauer. Zusätzlich hatten sich Schlingpflanzen 96 den Weg über die Gebäude bis in die Spitzen der Burgtürme gebahnt. Ich kam mir vor wie bei Dornröschen. Nachdem wir das zerfallene Tor passiert hatten, erwartete uns eine wildromantische Burganlage. Zwischen den Pflastersteinen der Wege hatten sich über die Jahrhunderte jede Menge Büsche und Sträucher angesiedelt. Wahrscheinlich hatten Vögel mit ihrem Kot und der Wind die Samen von wilden Brombeeren, Himbeeren, Lupinen und den verschiedensten Gräsern ins Innere der Mauern transportiert. Wir hatten Mühe, uns einen Weg bis zum Eingang zu bahnen. Die massive Eichenholztür war noch ziemlich gut erhalten, die Scharniere allerdings festgerostet, so konnten wir sie erst nach mehreren vergeblichen Versuchen aufstemmen. Im Inneren erwartete uns nicht das, was wir eigentlich vermutet hatten. Keine dicken Bruchsteinwände, Ritterrüstungen oder andere mittelalterliche Gegenstände, sondern eine moderne, weiß gestrichene Empfangshalle. Schon auf den ersten Blick konnten wir erkennen, dass diese Burg irgendwann einmal zu einer Tagungsstätte umgebaut worden war. Ein heruntergefallener Wegweiser, beschriftet mit Hinweisen zu den verschiedensten Tagungsräumen, bestätigte unsere Annahme noch. Wir wanderten durch das Gebäude. Man hatte zwar die grobe Architektur mit Rundbögen, Nischen und Erkern beibehalten, aber da sämtliche Wände begradigt und verkleidet worden waren, ging sehr viel vom Charme des alten Gemäuers verloren. Auch die ehemals wohl bunten Fenster waren durch moderne ersetzt worden, aber wenigstens hatten sie noch ein Fensterkreuz. Hier und da war die eine oder andere Scheibe zerborsten und ein warmer Windhauch zog durch die Gänge. In Fensternähe hatten sich einige Pflanzen angesiedelt, Vögel hatten ihre Nester darauf gebaut. Kleiderhaken waren an den Innenwänden zu den Tagungsräumen angebracht worden – hier und dort hing noch eine längst vergessene Jacke oder der Hut eines der Tagungsteilnehmer. Als ich eine der Jacken anfasste, zerbröselte sie regelrecht 97 zwischen meinen Fingern. Wir öffneten einen Raum nach dem anderen und suchten nach brauchbaren Gegenständen, vor allem nach Papier. Doch der Späher aus Neu-Siegen hatte recht gehabt, hier schien es kaum etwas Brauchbares zu geben. Tageslichtprojektoren, Computer, Tische und Stühle aus Kunststoff, die haufenweise herumstanden, waren für uns uninteressant. Eigentlich hatte ich damit gerechnet, gerade in den Tagungsräumen Papier vorzufinden, doch kein einziges Blatt war zu finden. Sogar im ehemaligen Speisesaal und der angrenzenden Küche fanden wir nichts Brauchbares. Noch nicht mal eine Gabel oder ein Topf waren zu sehen. Vor vielen, vielen Jahren musste hier alles systematisch ausgeräumt worden sein. Sicherlich von Überlebenden der großen Katastrophe. Nachdem wir die ganze Burg im Erdgeschoss und den darüber liegenden Etagen untersucht hatten, blieben uns nur noch die Kellerräume. Es war mittlerweile später Nachmittag und noch hell genug, um uns kurz dort umzuschauen. Im Eingangsbereich führte eine alte Steintreppe nach unten. Auf dem Gang herrschten diffuse Sichtverhältnisse, da durch die Lichtschächte weit weniger Helligkeit hereindrang, als durch die Fenster eine Etage darüber. Hier unten waren die Wände nicht verkleidet worden, die Bruchsteine waren überall zu sehen. Wir hasteten durch die Räume, um der nahenden Dunkelheit zuvor zu kommen. Schließlich gelangten wir in einen Raum, der als Archiv ausgewiesen worden war. Überall standen Aktenordner, einige Schränke sowie ein Computer. Als wir die Aktenordner in die Hand nahmen, rieselte uns der Inhalt entgegen. Altes Papier, von Ungeziefer zerfressen und durch den Zahn der Zeit verwittert. Suchend öffneten wir einige Schränke und wurden endlich fündig. Mehrere eingeschweißte Packungen Druckerpapier, hergestellt 2018. Das war genau das, was wir suchten. 2016 hatte der Erfinder das unverwüstliche Papier aus Kunststoffresten erfunden und 2018 schon gab es praktisch kein normales Papier mehr. Sechs Packungen mit jeweils 500 Blatt waren zwar nicht 98 besonders viel, das hatte aber andererseits mehrere Vorteile. Unser Auftrag war erfüllt und wir hatten dennoch nicht allzu viel zu schleppen. Sally würde die von Franziskus und mir vorgetäuschte Geschichte wohl glauben. Als ich ihr von unserem Auftrag vor ein paar Tagen erzählt hatte, war sie ziemlich skeptisch gewesen. Ich hatte in ihren Augen gesehen, dass sie mir nicht glaubte, aber gesagt hatte sie nichts. Nachdem wir unseren Fund verstaut hatten, stiegen wir die Treppe wieder hinauf, suchten uns einen Raum, in dem wir unser Nachtlager aufschlagen konnten. Unter dem letzten Tageslicht standen wir dann eng beieinander an einem der Fenster und genossen den weiten Ausblick auf die dicht bewaldeten Uferberge zu beiden Seiten des Stromes. Dazwischen zogen die Wasser des Flusses ruhig und majestätisch dahin. Die Schienenstränge und die Straßentrassen an den Ufern aus unseren alten Zeiten konnte man von hier oben nicht mehr erkennen. Verstummt war das Rattern der langen Güterzüge und das früher pausenlose Brummen der Motoren. Stetiges Rauschen des Windes im dichten Blattwerk der Bäume und der zum Abend abebbende Vogelgesang bildeten eine friedliche Geräuschkulisse. Ganz entspannt standen wir da und freuten uns auf eine ruhige Nacht. Da ertönte in der Ferne ein leises Summen, das allmählich anschwoll und näher zu kommen schien. Woher kannte ich nur diesen Ton? Sehr bald wusste ich die Antwort, als am südlichen Horizont drei helle Lichter auftauchten, die sehr schnell näher kamen. Die Fluggeräte der Zerstörer unserer alten Welt! Ich hatte die Wahrscheinlichkeit, das es von ihnen noch viele geben musste, völlig aus meinem Bewusstsein verdrängt. Aber hier waren sie wieder und erinnerten deutlich an die noch immer bestehende Gefahr für unsere neue Welt. Sie zogen hoch über dem Flusslauf entlang und verschwanden so schnell aus unserem Blickfeld, wie sie vorher gekommen waren. Keiner von uns Vieren hatte sich nach der Zerstörung der Kölner Zentrale noch große Gedanken um die Gen-Mutanten gemacht – aber genau das würden wir dringend tun müssen! 99 * Der nächste Morgen bescherte uns herrliches Wetter. Blauer Himmel, soweit das Auge reichte. Die Temperatur lag schon bei gut 20 Grad. Ein Tag wie geschaffen für den Heimweg. Nachdem wir gegen Mittag eine kleine Pause eingelegt hatten, ging es weiter. Die Temperatur war nochmals gestiegen und dürfte herrliche 28 Grad erreicht haben. Wir hingen beide unseren Gedanken nach und wanderten in nicht allzu flotter Gangart durch eine blühende Wiese. Das Gras hier war bestimmt 1,50 Meter hoch und roch herrlich. Plötzlich verdunkelte eine Wolke den Himmel und warme Regentropfen trafen mein Gesicht. Ich blickte nach oben. Eine einsame kleine, graue Wolke stand direkt über uns und verdeckte die Sonne. Der warme Regen wurde stärker und ich wollte Sally gerade vorschlagen, uns irgendwo unterzustellen, als sich mein Blick von der Wolke löste und zu ihr hinüber glitt. Sie stand splitternackt vor mir, mit geschlossenen Augen nach oben blickend. Regentropfen fielen auf ihr Gesicht, liefen den schmalen Hals herunter über ihre schönen Brüste, sammelten sich kurz unterhalb und rannen verstärkt über den Bauch und die langen Beine zu Boden. Ich musste schlucken bei dem atemberaubenden Anblick, der sich mir bot. Sie öffnete die Augen, schaute mich kurz an, rief: „Fang mich!“, und rannte davon. Ich weiß nicht, wie sie es geschafft hatte, sich in diesem kurzen Moment unbemerkt auszuziehen, aber meine Kleidung flog jetzt ebenfalls so schnell ins Gras, dass ich wohl nicht viel langsamer war. Wir liefen wie spielende Kinder durch den warmen Regen. Das hohe Gras streichelte unsere feuchten Körper. Wir waren wie im Rausch. Ich sah alles wie in Zeitlupe. Sallys geschmeidige Bewegungen, ihre durch die Luft wirbelnden Haare, das Aufund Ab ihrer Brüste. Dann blieb sie unvermittelt stehen und drehte sich zu mir um. Ich stoppte ebenfalls und genoss ihren fantastischen Anblick. Sie schaute mir in die Augen. „Gefällt dir unsere kleine Jagd?“ Ihre Brust hob und senkte 100 sich in schneller Folge und ihre Augen blitzten vor Vergnügen. „Oh ja! So etwas habe ich noch nie erlebt!“ antwortete ich mit heiserer Stimme. Sallys Blick wanderte von meinen Augen hinunter in Richtung Hüfte. „Das glaube ich dir. Ich sehe nur zu deutlich, wie sehr es dir gefällt!“ Dann gab es für uns kein Halten mehr. Eng umschlungen sanken wir ins nasse Gras, der warme Regen streichelte dabei unsere nackten Körper und die Welt um uns herum hörte auf zu existieren … Franziskus Zwei Wochen waren seitdem vergangen. Das Leben ging seinen gewohnten Gang. Vor zwei Tagen waren Samson und Pierre mit einer anderen Gruppe wieder in den kleinen Ort aufgebrochen, um die versteckten Schätze zu holen. Sally und ich hatten darauf verzichtet. Sie schien sich wieder gefangen zu haben. Wir alle versicherten ihr, dass sie nicht versagt hatte und es ein unvorhersehbares Unglück gewesen war, das zu Francos Tod führte. Am meisten half ihr, neben unserem wunderschönen Ausflug, wohl ein Gespräch mit Samson. Er hatte ihr den ganzen Ablauf noch einmal vor Augen geführt und gemeinsam waren sie zu dem Schluss gekommen, selbst er mit seinen überragenden Reflexen hätte nicht schneller handeln können. Danach ging es ihr Tag für Tag besser und so langsam wurde sie wieder zu der, die ich so liebte: positiv, geistreich mit scharfem Verstand, manchmal undurchsichtig und auch schon mal zickig. In Neu-Siegen selbst war der Tod des alten Gefährten mit kurzer Trauer zur Kenntnis genommen worden, aber der Tod war hier allgegenwärtig und man fand sich schnell damit ab. Franco war für Franziskus allerdings ein wichtiger Mitarbeiter gewesen. Er hatte die Arbeiten innerhalb des Dorfes, Jagdausflüge und Tausch-Expeditionen zu anderen Orten koordiniert. 101 Kurz gesagt, Franco hatte das Dorfleben zusammen mit unserem Bürgermeister organisiert. Es war nicht weiter verwunderlich, das Franziskus nach einem Nachfolger Ausschau hielt, aber das er ausgerechnet mich ansprach, überraschte mich doch sehr. „Ich benötige jemanden, der intelligent ist, der auf die Menschen im Dorf eingehen kann und über ein gewisses Organisationstalent verfügt. Ich habe dabei an dich gedacht. Gemüse schneiden und kochen ist eine ehrbare Arbeit, aber ich glaube, deine Talente kommen an meiner Seite besser zur Geltung – zum Wohle von Neu-Siegen. Morgen nach dem Frühstück kommst du zu mir.“ Das waren seine Worte gewesen. Ich war so perplex – ich starrte ihn mit offenem Mund an und war zu keiner Antwort fähig. Ich, ein Organisationstalent? Das hatte mir noch niemand gesagt! Auf die Menschen im Ort eingehen können? Da hätte er mal lieber Sally fragen sollen! Die hätte ihm was anderes über mich erzählt! Nun ja, in einem Punkt hatte Franziskus ja recht: Dumm war ich sicherlich nicht, auch wenn ich mich manchmal dumm anstellte. Als ich Sally am Abend davon erzählte, lachte sie nur kurz auf und meinte: „Oh Frank! Franziskus ist ein sehr heller Kopf, er wird sich schon was dabei gedacht haben.“ Damit war das Thema beendet. Am nächsten Morgen begann mein neuer Job. Der Bürgermeister war ein guter Lehrer. Den ganzen Tag gingen wir von einem Arbeitsplatz zum nächsten. Überall gab er mir wichtige Einblicke in die tägliche, wöchentliche oder monatliche Arbeit. Gut, das ich mir Notizen machen konnte! Es gab eine Unmenge an Dingen, die zu beachten waren. Abends brummte mir der Schädel, doch die nächsten Tage ging es weiter. Er legte mir Arbeitspläne, Lagerlisten, Materiallisten, Viehbestandslisten und was weiß ich noch alles für Listen vor. Ich verzog mich mit dem verdammten Papierkram in eine ruhige Ecke der Veranda und schaute mir alles an. Zwischendurch kam Franziskus immer mal wieder aus seinem 102 Zimmer und schaute nach mir. Ich hatte eine Menge Fragen, doch er war sehr geduldig und erklärte mir alles. Zwischendurch stellte er mir Fragen zu Dingen aus der alten Zeit. Mal technische Begriffe, mal Ortsangaben, mal fragte er nach der Bedeutung einzelner Wörter. Mich verwunderten seine Fragen, tat es aber mit einer gesunden Neugierde ab. Franziskus war brillant. Was er einmal gehört hatte, vergaß er nie wieder. Auch konnte er Zusammenhänge aus der Vergangenheit erkennen, die selbst mir, der in dieser Zeit aufgewachsen war, schleierhaft waren. Sein riesiger Kopf schien alles wie ein Computer aufnehmen und verarbeiten zu können. So intensiv hatte ich bisher mit der Mutationsform der Großköpfe noch nicht zu tun gehabt. Es war faszinierend! Samson und Pierre waren mittlerweile von ihrer Tour zurückgekommen. Beide lächelten, als ich ihnen von meiner neuen Tätigkeit erzählte. Doch Samson brachte es auf einen Punkt. „Gefällt dir die Arbeit, obwohl du so viel lernen musst?“ Ich zögerte. Darüber hatte ich mir noch gar keine Gedanken gemacht. Ich dachte an die letzten Tage zurück. Ja, es machte Freude, mit Franziskus zusammenarbeiten zu können. Ich nickte meinen beiden Freunden zu. „Ja, es macht mir großen Spaß!“ Das veranlasste Pierre mal wieder zu einer spöttischen Bemerkung: „Ihr Deutschen! Je mehr ihr verwalten und organisieren könnt, umso wohler fühlt ihr euch. Das wird sich nie ändern, selbst nach der Apokalypse nicht!“ Pierres Worte tat ich mit einer verächtlichen Handbewegung ab, aber insgeheim wurmten mich seine Worte doch sehr. Ja, wir Deutschen waren immer die Nation mit den meisten Gesetzen, Verordnungen und Vorschriften gewesen. Allein unsere Steuergesetze waren wahrscheinlich umfangreicher als alle der restlichen Welt zusammen gewesen! Auch Franziskus hatte stapelweise Papiere in seinem Zimmer liegen. Mein Ehrgeiz wurde geweckt und ich schwor, mir ein einfaches und geniales Verwaltungssystem zu entwickeln. Ich würde es Pierre schon zeigen! Die Tage vergingen und so langsam bekam ich einen Überblick 103 von den Vorgängen im Dorf. Franziskus und ich unterhielten uns oft nach getaner Arbeit auf der Veranda. Wir waren viel vertrauter geworden, und so fragte ich ihn eines Tages etwas ziemlich privates: „Manchmal kommt es mir so vor, als könntest du Gedanken lesen. Wie ist das eigentlich so, wenn man in das Gehirn eines anderen schauen und lesen kann?“ „Oh Frank! Da hast du ganz falsche Vorstellungen von meinen Fähigkeiten. Ich bin kein Gedankenleser. Ich bin eine Art Emphat, ich empfange Schwingungen meines Gegenübers. Starke Gefühle wie Angst, Trauer, Schmerz, aber auch Freude, Liebe und Hoffnung. Mein Gehirn ist in der Lage, bestimmte Schlüsse daraus zu ziehen. Meist stimmt es, aber nicht immer. Das ist ziemlich gefährlich, da man sich leicht überschätzt. Wenn ich zum Beispiel eine Lüge nicht erkenne, kann das unter Umständen das ganze Dorf gefährden. Daher habe ich bei bestimmten Anlässen Berater an meiner Seite, die keine Großköpfe sind. Ich benötige ihren gesunden Menschenverstand und ihre Intuition. Erinnere dich an unsere erste Begegnung. Auch da hatte ich zwei Berater an meiner Seite. Während ihr meiner Einladung gefolgt seid und gegessen habt, habe ich mich unauffällig mit ihnen beraten. Erst danach habe ich euch unser Dorf gezeigt. Doch nun genug für heute. Es ist schon dunkel – Sally wird auf dich warten.“ Als ich unser winziges Zimmer betrat, lag Sally schon im Bett. Sie schlief tief und fest. Seit sie sich am Häuserbau beteiligte, war sie abends ziemlich geschafft und schlief meist schon, wenn ich nach Hause kam. Mir war das im Moment ganz recht, da mich meine neue Aufgabe oft bis in die Nacht auf Trab hielt. In dieser neuen Zeit gab es keine Wochentage und Wochenenden mehr, aber es gab freie Tage und Franziskus achtete darauf, dass Partner möglichst oft gemeinsam solche Tage verbringen konnten. Sally und ich verbrachten die meiste freie Zeit an einem kleinen See und mit Spaziergängen. Sie erzählte nahezu schwärmerisch vom Hausbau, während ich ihr viel von den komplizierten 104 Vorgängen einer Dorfgemeinschaft nahe brachte. Ich verstand zwar nicht so ganz ihre Begeisterung für den Hausbau, bewunderte aber ihre handwerkliche Geschicklichkeit. Wir waren uns in den letzten Wochen sehr viel näher gekommen. Dennoch – irgendwie hatte ich den Eindruck, Sally wolle mir noch etwas Wichtiges mitteilen. Doch wenn ich sie danach fragte, meinte sie nur, ich solle mich überraschen lassen. Zwei Tage später unterhielten Franziskus und ich uns mal wieder über den Papierkram, als er unvermittelt das Thema wechselte. „Frank, ich mache mir Sorgen um die Zukunft unserer Gemeinschaft. Wir leben hier ziemlich abgeschieden. Es passiert nicht allzu oft, dass wir frisches Blut in unsere Reihen bekommen. Wir haben zwar Kontakte zu anderen Dörfern und sobald ich merke, dass sich ein Mann oder eine Frau für ein Mitglied eines anderen Dorfes interessiert, lasse ich mir Aufgaben einfallen, die sie einander näher bringen könnten. Doch ich tauge als Verkuppler nicht viel. Hast du vielleicht eine Idee, wie wir das ändern könnten?“ Dem selben Problem waren wir auf unseren Reisen von Siegen an den Rhein schon oft begegnet. In Betzdorf, einer nahen Kolonie bei Siegen, hatten wir den Bewohnern geraten, sich mit den Siegenern zusammenzuschließen. Keine der beiden Siedlungen hatte voneinander gewusst, obwohl sie nur etwa zwanzig Kilometern voneinander getrennt lagen. Doch hier lag der Fall anders, Neu-Siegen hatte durchaus Kontakte zu anderen Stämmen, wenn es auch nur wenige waren. „Vielleicht sollten wir ein großes Fest veranstalten und andere Dörfer dazu einladen.“ Franziskus schaute skeptisch.„Nun, wir haben uns all die Jahrhunderte darum bemüht, nicht entdeckt zu werden. Du kennst ja unsere undurchdringliche Hecke. Anfangs kam es immer wieder zu Kontakten mit anderen Dörfern. Doch seitdem wir unter meiner und unter der Leitung meines Vorgängers in den letzten 50 Jahren unsere Hecke immer mehr perfektioniert haben, werden Partnerschaften mit Bewohnern anderer Dörfer 105 immer seltener. Damals trieben viele Banden ihr Unwesen und später kamen dann noch die Gerüchte um die Piraten. Damals habe ich mich für absolute Sicherheit entschieden. Vielleicht war das ein Fehler.“ Franziskus Stimme war zuletzt immer leiser geworden. Er machte sich Vorwürfe. Ich versuchte ihn aufzuheitern: „Für den Anfang können wir unsere jungen Leute ja ab und zu in die Nachbardörfer schicken. Unterwegs haben wir gesehen, dass durchaus Feste gefeiert oder zumindest Märkte abgehalten werden. Einige dieser Märkte finden regelmäßig statt.“ Franziskus schaute mich an. „Das ist eine gute Idee, wir werden unsere jungen Menschen auf Märkte schicken, Tauschware haben wir Dank unseres großen Fundes ja genug. Man wird uns dann sicherlich auch irgendwann zu Festen einladen. Vielleicht sollten wir auch unsere Tore für andere öffnen. Dank euch besteht die Gefahr der Piraten und der Gen-Menschen ja nicht mehr.“ Als Franziskus die letzteren erwähnte, lief es mir eiskalt den Rücken herunter. Ich erinnerte mich an die kürzliche Beobachtung in der Burgruine, die ich doch tatsächlich bis zu diesem Tage wieder erfolgreich verdrängt hatte. Ein ungutes Gefühl stieg in mir auf und ich schaute zu Franziskus hinüber. An seinem Gesicht konnte ich ablesen, das er meine Gefühle genau verstanden hatte. Ich wusste, dass mit Sicherheit diese Gefahr noch immer bestand und erzählte ihm von den Fluggeräten. 106 Soziale Kontakte Es dauerte nicht lange, und Franziskus setzte seine Gedankenspiele zur Blutauffrischung in die Tat um. Etwa einen Tagesmarsch südlich lebte der Stamm der Zeitlosen. Als ich Franziskus nach dem Grund für den doch etwas sonderbaren Namen fragte, meinte er nur, ich solle mich überraschen lassen. Auf jeden Fall stellte unser Bürgermeister einen Trupp von zwanzig Männern und Frauen zusammen, die sich mit Tauschware aus unserem Dorf auf den Weg machen sollten. Wir vier waren natürlich wieder dabei, auch wenn Sally und ich allgemein als Paar galten. Samson und Pierre waren ebenso Junggesellen wie die anderen Teilnehmer und unser riesiger Freund war als Beschützer sowieso unentbehrlich auf solchen Reisen. Sally und ich sollten uns wohl mehr um den Handel kümmern, damit unsere Mitbewohner „soziale Kontakte“ knüpfen konnten. Doch noch war es nicht soweit. Bis zum Vollmond, an dem der Markt bei unseren Nachbarn regelmäßig stattfand, war noch eine Woche Zeit und es galt, Vorbereitungen zu treffen. Für die Bewohner von Neu-Siegen war es die erste Veranstaltung dieser Art. Normalerweise tauschte man hier und da Waren, die vorher mit dem Stammes-Oberhaupt des anderen Ortes abgesprochen waren. Auf einem Markt hingegen kamen Menschen aus vielen verschiedenen Orten zusammen und jeder brachte mit, was er entbehren konnte. Das fing bei lebenden Tieren an, über Felle bis hin zu Werkzeugen aus Metall. Auf einem derartigen Markt versorgten die Einheimischen die Besucher mit Nahrungsmitteln – gegen einen kleinen Obolus, versteht sich. Daher mussten alle Teilnehmer des Marktes ihre mitgebrachten Lebensmittel am Ortsrand abliefern. Während des zweitägigen Marktes waren nur Speisen vom Stamm der Zeitlosen erlaubt. Damit dies auch eingehalten wurde und nachts niemand am Ortsrand versteckte Lebensmittel einschmuggelte, patrouillierten ständig Wachposten rund um das Dorf. Die Zeitlosen waren wirklich sehr geschäftstüchtig. 107 Niemand bekam einen Marktstand gestellt. Jeder musste, wenn er seine Waren ordentlich präsentieren wollte, seinen eigenen Stand mitbringen. Das bedeutete mehr Träger, was gleichzeitig mehr Esser und größere Einnahmen für das Dorf einbrachte. Doch viele Händler, auch nicht dumm, präsentierten ihre Waren einfach auf mitgebrachten Decken und Fellen. Da wir mit zwanzig Personen anrücken wollten, ließ Franziskus einen tragbaren Stand von etwa drei Metern Länge und einem Meter Breite bauen. Auch sollten wir nur einen kleinen Teil der Äxte, Schaufeln und so weiter aus unserem kürzlichen Fund anbieten. Diese Teile waren in der heutigen Zeit sehr wertvoll und Neider gab es überall. Niemand sollte zu einer unüberlegten Tat verführt werden. Neben den Arbeitsgeräten nahmen wir noch einige Krüge verschiedenster Fruchtweine mit, die wir als Tauschmittel für Nahrung und kleinere nützliche Dinge wie Nadeln, Garn und Knöpfen vorgesehen hatten. Während Samson und die anderen Begleiter den Verkaufsstand vorbereiteten, stellten Franziskus und ich eine Liste mit Waren zusammen, die wir für unser Dorfleben dringend benötigten. Diverse Gewürze, Metallnägel und etwas so profanes wie Gummiringe für Einmachgläser. Gummi hatte in all den Jahren so gut wie nie überdauert und war deshalb sehr wertvoll. Vielleicht gab es ja einen Händler, der derartiges anbot. Auch Zucker stand ganz oben auf der Liste, war es doch bisher der Dorfgemeinschaft nicht gelungen, Zucker selbst herzustellen. Es gab zwar Honig aus den Waben der wilden Bienen, aber der war sehr begrenzt! Auch sollten wir versuchen, Samen einiger Gemüsepflanzen zu ergattern. Ich hatte Franziskus von Tomaten und Kopfsalat erzählt, die es im Dorf nicht gab. Einen Tag vor Vollmond brachen wir auf. Es hatte hin und wieder Kontakte zum Stamm der Zeitlosen gegeben und so war der Weg bekannt und problemlos zu bewältigen. Wir erreichten am späten Nachmittag den Ortsrand. Hier wurden wir und unsere Waren gründlich nach Nahrungsmitteln durchsucht. Vor allem unsere Krüge mit den Fruchtweinen wurden argwöhnisch 108 betrachtet und Krug für Krug geschüttelt. Unsere wenigen mitgebrachten Lebensmittel wurden in Verwahrung genommen, sie konnten nach dem Markt wieder abgeholt werden. Wir marschierten im Gänsemarsch durch die Ortschaft. Die ersten Häuser, die wir sahen, waren im Blockhausstil gebaut, sie schienen recht neu zu sein. Sally stieß mich an und zeigte auf die Eingangstür eines der Blockhäuser. Nein, nicht die Eingangstür war interessant, sondern das was sich darüber befand: Eine Uhr ohne Zeiger! Zwar alt und verwittert, aber immer noch als Uhr zu erkennen. Ich schaute mich um. Über jeder Eingangstür hing eine große Uhr. Mal verwittert aus Metall, mal etwas besser erhalten wohl aus Kunststoff, alle ohne Zeiger. Die Zeitlosen! Das hatte Franziskus also gemeint. Ich musste schmunzeln. Vielleicht hatte es hier mal eine Uhrenfabrik gegeben oder ein durchfahrender LKW, voll beladen mit Uhren, hatte zur Zeit der Apokalypse seinen Geist aufgegeben. Wir gingen weiter in Richtung Ortsmitte. Hier standen Häuser aus Bruchsteinen, der alte Stadtkern. Der Ort schien heute größer zu sein, als noch vor fünfhundert Jahren. Das zeigten die vielen neueren Blockhäuser rund um den alten Ortskern – eine Seltenheit in dieser Zeit. Vermutlich hatte der regelmäßige Markt dazu beigetragen, die Einwohnerzahl zu erhöhen. Beeindruckend! Eine Frau kam auf uns zu, fragte nach der Anzahl der Personen, ob wir ein Zelt dabei hätten und wie groß unser Stand sein würde. Sie wies uns einen Platz zu, an dem schon einige Zelte mit Verkaufsständen standen. Ware durfte erst am kommenden Morgen bei Sonnenaufgang ausgelegt werden. Sie vergaß natürlich auch nicht, auf eine Schänke und diverse Stände mit den Nahrungs-Angeboten hinzuweisen! Alles war sehr gut durchorganisiert. Da Sally und ich die nächsten Tage wohl meist hinter dem Marktstand stehen würden, schickte uns Samson los, um den Ort zu erkunden. Für den Aufbau von Zelt und Stand hatten wir ja genügend Leute. Wir verließen die kleine Zeltstadt der Händler und steuerten auf die Stände der Einheimischen zu, an 109 denen allerlei Köstlichkeiten angeboten wurden. Überall waren einfache, aber stabile Tische und Bänke aufgebaut. Viele der schon angereisten Händler saßen hier, aßen und tranken. Überall wanderten als Zahlungsmittel kleine Metallstücke oder irgendwelcher Krimskrams von einer Tasche in die andere. Dieser Markt erinnerte mich sehr an den in Overath, den wir vor einiger Zeit auf unserer Reise nach Kölle besucht hatten. Sally und ich waren überwältigt von der Vielzahl der angebotenen Lebensmittel. Sicherlich, Fleisch wurde fast überall angeboten, aber auch Kartoffeln, Brot, Butter, Eier und die verschiedensten Gemüse! Ein Sammelsurium von Düften zog durch unsere Nasen. Hier würden wir sicherlich auch Samen für unseren Garten bekommen. Ich bereute es ein wenig, keine Tauschobjekte in meiner Tasche zu haben, bei all den tollen Angeboten lief mir das Wasser im Munde zusammen. So ziemlich am Ende der Bewirtungsstände erlebten wir eine Überraschung. Ein etwa zwei Meter großer Verkaufsstand handelte mit Gebäck und Obst. Aber nicht das Gebäck war es, das mich magisch anzog, sondern der süße Duft, den es umgab. In einem Topf neben dem Verkaufsstand köchelte auf kleiner Flamme ein brauner Sud, der mich an meine Kindheit erinnerte. Das musste Zuckerrübensirup sein! Als Kinder gab es am Wochenende oft Brötchen mit Zuckerrübensirup auf dem Frühstückstisch. Herrlich! Sally hatte wohl meinen verlangenden Blick bemerkt. „Hey, dir läuft ja das Wasser aus dem Mundwinkel. Was macht dich denn da so an? Die hübsche Verkäuferin oder das braune Zeug in dem Topf?“ Ich schaute auf und sah die hübsche, mich anlächelnde Person hinter dem Verkaufstisch. Sally war Engländerin. Ich weiß nicht, ob es bei ihr Zuckerrübensirup gegeben hatte und ihre Frage ignorierte ich. „Das ist Zuckerrübensirup. Der schmeckt köstlich. Als Kind habe ich ihn …“ „Ja, ja. Ist schon gut, mein kleiner Junge. Ich kauf dir deinen 110 Sirup.“ Sally kramte in ihren Taschen und holte einen kleinen Metallring heraus, reichte ihn der Verkäuferin und deutete auf ein Gebäckstück. „Zweimal, aber bitte mit dem braunen Zeug.“ Die Verkäuferin schüttelte mit dem Kopf und präsentierte Sally drei ihrer Finger. Das war ein stolzer Preis. Sally schaute mich an, schaute in mein sabberndes Gesicht und kramte zwei weitere kleine Metallstücke hervor. Das Metall verschwand in der Hand des Mädchens. Sie nahm zwei Gebäckstücke, tunkte sie kurz bis zur Hälfte in den braunen Sud und reichte sie uns. Sally schaute mich an und stichelte: „Wehe, dieser Sirup schmeckt nicht, Frank!“ Es schmeckte Ihr. Der Abend ging schnell vorüber. Am nächsten Morgen hatten Sally und ich alle Hände voll zu tun. Unsere Garten- und Feldwerkzeuge waren begehrte Objekte. Obwohl Besucher aus anderen Dörfern erst nach und nach eintrafen, war unser Stand stets von Menschen umringt. Das lag daran, dass sich auch viele Händler mit unseren Dingen bevorrateten, um sie später gewinnbringend auf anderen Märkten weiter zu verkaufen. Es wurde gefeilscht was das Zeug hielt, und so konnten wir eine Menge Dinge auf unserer Einkaufsliste am Abend abhaken. Wir waren total erschöpft, denn unsere „Freunde“ hatten sich den ganzen Tag nicht blicken lassen. Anscheinend funktionierte das mit den sozialen Kontakten hervorragend. Nach einer ausgiebigen Mahlzeit verkrochen wir uns todmüde ins Zelt, um für den nächsten Tag gerüstet zu sein. Am Morgen war Lagebesprechung. Ein Teil unserer Leute sollten Ausschau nach Dingen halten, die wir noch nicht eingetauscht hatten. Die Anderen konnten sich wieder ihren Kontakten widmen. Gegen Mittag trafen wir uns wieder. Unser Stand hatte außer ein paar Schaufeln und etwas Fruchtwein nichts mehr zu bieten und wir beschlossen, ihn dicht zu machen. Wir hatten fast alles bekommen, nur Zucker und einige Gewürze fehlten noch. Gewürze würden wir hier wohl nicht mehr in ausreichender Menge bekommen, aber wegen des 111 Zuckers hatte ich eine Idee. Ich drückte Sally zwei Krüge Fruchtwein in die Hand und nahm selbst zwei Schaufeln mit. Sally schaute mich fragend an. „Wohin geht’s denn?“ „Zum Zuckerrübensirup“, war meine knappe Antwort. „Aha, zu der hübschen Blonden!“ Ich verdrehte in gespielter Verzweiflung die Augen, sagte aber nichts. Sally hatte wohl die Ironie in meinen Augen nicht bemerkt, biss sich deshalb wegen ihrer Bemerkung auf die Lippen. Endlich! Endlich hatte ich es geschafft! Sally hatte sich mit ihren spitzen Bemerkungen mal den Mund verbrannt. Sie war eifersüchtig! Das ich das noch erleben durfte … Wir näherten uns dem Stand mit dem Sirup. Großspurig sagte ich zu Sally: „Überlass das Verhandeln mir, ich werde schon mit der kleinen Blonden klar kommen!“ Wir verhandelten über eine viertel Stunde und einigten uns schließlich auf einen Preis, der mir ziemlich hoch erschien. Beide Schaufeln und einen Krug Fruchtwein gegen vier Krüge Sirup. Als die hübsche Blondine die Ware aus dem hinter ihrem Stand stehenden Schuppen holte, sah Sally mich vorwurfsvoll an. Ich zuckte mit den Schultern und sagte nur: „Ist wohl ziemlich selten, dieser Sirup. Da muss man schon einmal tiefer in die Tasche greifen.“ In diesem Moment schwang knarrend die Tür des Schuppens auf und unser Blick fiel hinein. Hunderte von Krügen standen dort und alle wohl mit Sirup gefüllt! Während die blonde Verkäuferin vier Krüge aus dem Schuppen holte, warf ich einen verstohlenen Blick auf Sally. Sie konnte sich kaum noch beherrschen. Ihr Grinsen reichte ihr bis zu den Ohren. Auf dem Weg zu unserem Zelt konnte sie sich nicht mehr beherrschen: „Ziemlich selten, der Sirup“, äffte sie mich nach und: „überlass das verhandeln mir … ich werde mit der Blonden schon klar kommen …“ prustete sie heraus. „Verdammt“, dachte ich, „wieso schaffe ich es immer wieder, mich vor Sally lächerlich zu machen?“ Sie sah meinen Frust und hauchte mir zum Trost einen Kuss auf die Wange. 112 Sie konnte in mir lesen wie in einem Buch! Als wir zurück zum Zelt kamen, erwarteten uns Samson und Pierre schon. Irgendwie sahen beide nicht mehr so fröhlich aus, wie noch am Morgen. Bevor ich sie fragen konnte, kam mir Pierre zuvor. „Lasst uns unter die Leute mischen und einen Trinken gehen. Wir haben euch was zu erzählen.“ Wir reichten die Krüge mit dem Zuckerrübensirup an einen unserer anderen Mitbewohner weiter und gingen hinter Samson und Pierre her. Er steuerte schnurstracks durch das Gedränge auf einen Stand zu, an dem noch eine Bank und ein Tisch frei waren. Samson bestellte Bierra, eine Art Gerstenwein, für uns alle und legte einige Metallstücke auf den Tisch. Ein Metallstück blinkte irgendwie anders. „Moment, das ist Gold, das ist viel zu wertvoll“, rief ich aus, doch Samson zuckte mit den Schultern. „Frank, das ist Metall, genauso wie jedes andere Metallstück. Es glänzt nur etwas mehr!“ Ich wurde mir meiner Dummheit bewusst. Ob Gold, Silber oder Blech, in dieser Zeit war jedes intakte, nicht verrostete Metall gleich viel Wert. Bisher hatten wir noch niemanden getroffen, der Metall aus Erz gewinnen konnte, selbst die Eisenmenschen formten ihre Werkzeuge aus altem Schrott! Nachdem Pierre einen tiefen Schluck aus seinem Krug genommen hatte, schaute er uns an und begann zu erzählen: „Ich hatte gerade eine Menge Spaß mit einer hübschen Rothaarigen. Wir saßen an diesem Tisch, als ich zufällig Zeuge eines Gesprächs am Nachbartisch wurde. Dort saß ein fahrender Händler, der schon einiges getrunken hatte und von seinen Reise-Abenteuern prahlte. Ich war so erschrocken über das, was er erzählte, dass ich meine kleine Begleiterin vom Schoß stieß und aufsprang. Was mir eine Ohrfeige einbrachte und mir heute Nacht wohl ein einsames Lager bescheren dürfte.“ Er fuhr sich mit seiner Hand über die Wange und dachte wohl kurz über die verpasste Gelegenheit nach. „Wie dem auch sei. Ich setzte mich zu ihm, bestellte ein paar Runden Bierra und quetschte ihn aus.“ Wieder machte Pierre 113 eine Pause, nahm einen kräftigen Schluck und fuhr dann fort. „Er erzählte von einer Reise zu einem Markt, als er unweit von einem kleinen Örtchens namens „Attadorn“ eine seltsame Beobachtung machte. Es war der Abend vor der Sommersonnenwende vor zehn oder elf Monaten, kurz bevor es dunkel wurde. Der Händler wollte sich gerade in sein Zelt zurückziehen, als am Himmel merkwürdige Gebilde erschienen. Sie kamen immer näher und er beschrieb sie mir als schwarze Flugdrachen. Sie kamen aus allen Himmelsrichtungen und hatten als Ziel wohl Attadorn, denn sie flogen alle in diese Richtung. Kurze Zeit später war der Spuk vorbei. Er zählte mehr als vierzig Flugdrachen. Er und seine Kollegen packten daraufhin ihre Sachen zusammen und verschwanden aus der Gegend. Ich habe ihn noch dazu überreden können, mir eine Wegbeschreibung nach Attadorn zu geben. Ich habe sie aufgezeichnet. Das war’s! Was haltet ihr davon?“ Es herrschte betretendes Schweigen am Tisch, jeder hing seinen Gedanken nach. Mir wurde sofort mein ungutes Gefühl bewusst, das ich noch vor ein paar Tagen bei diesem Gespräch mit Franziskus gehabt hatte. Verdammt! Sally bekam zuerst ihre Gedanken in den Griff: „Er erzählte vom Abend vor der Sommersonnenwende und von über vierzig Flugdrachen?“ Pierre nickte kurz. „Das ist nicht gut“, flüsterte Sally kaum hörbar, „das hört sich für mich nach einer Versammlung der 48 – nein, es sind ja nur noch 47 – Gen-Mutanten an.“ 114 Neue Pläne Ich hielt Pierres Karte in der Hand und hatte einen Stapel Papiere vor mir liegen. Vor einer Woche waren wir von den Zeitlosen in unser Dorf zurückgekehrt. Die Reise war eigentlich ein voller Erfolg gewesen. Unsere Begleiter hatten einige Kontakte geknüpft und eine Frau war sogar spontan mit uns gegangen, um ihren neuen Freund und unser Dorf besser kennen zu lernen. Franziskus war sehr zufrieden – nicht nur mit den geknüpften Kontakten, sondern auch mit den eingetauschten Waren. Dennoch – seitdem hatte ich kaum noch geschlafen. Mir gingen immer wieder diese Gen-Mutanten durch den Kopf. Der Stapel Papiere vor mir war unser Mitbringsel aus Kölle. Damals hatte sie niemand gelesen, wir hatten einfach die Nase voll gehabt von dem ganzen Thema. Jetzt sah die Sache anders aus. Mehrfach hatte ich alles durchgearbeitet, um mehr über den Ort Attadorn und eine eventuelle Versammlung dieser Mutanten herauszufinden. Ich schaute auf meine Notizen, die ich gemacht hatte – viel war es nicht. Ich beschloss, heute Abend mit Franziskus und meinen Freunden darüber zu reden. * Wir trafen uns in meinem neuen Büro. Franziskus hatte es mir vor einigen Tagen einrichten lassen. Mein neuer Job als so etwas wie ein stellvertretender Bürgermeister hatte dies mit sich gebracht. Auch bei mir stapelte sich inzwischen schon jede Menge an Papieren, wenn auch weit weniger als bei Franziskus. Als sich alle einen Platz gesucht hatten, begann ich sofort mit meinem Bericht. „Die Geschichte des fahrenden Händlers bei den Zeitlosen scheint sich zu bestätigen. In den Unterlagen aus Kölle habe ich Hinweise darauf gefunden, dass sich die ursprünglich 48 Gen -Menschen einmal im Jahr an einem geheimen Ort bei Attadorn treffen. Die Mutanten haben Europa praktisch unter sich aufgeteilt, jeder hat seinen eigenen Wirkungsbereich. Ihr 115 Ziel ist die komplette Ausrottung der überlebenden Menschen. Wir normalen Menschen verursachen bei ihnen körperliche und seelische Schmerzen. Daher trug der Gesichtslose Weiße auch diesen Schutzanzug bei unserer Begegnung. Ohne so einen Anzug können sie sich nur unter starken Medikamenten in unserer Nähe aufhalten. Ihre eigenen Nachkommen aus den vergangenen fünfhundert Jahren sind davon seltsamerweise nicht betroffen. Es existieren übrigens auf den britischen Inseln schon ein paar tausend derartige Mutanten-Nachkommen. Dort lebt praktisch kein einziger Mensch der alten Rasse mehr. Irgendwann wollen sie wohl später auch das Festland besiedeln. Aber das spielt für uns ja im Moment noch keine Rolle. Viel mehr habe ich nicht herausbekommen können. Wir haben nur folgende Fakten: 1. Einmal im Jahr – vermutlich zur Sommersonnenwende – treffen sich diese 47 Weltzerstörer irgendwo in der Nähe dieses Ortes Attadorn. 2. Wir wissen nicht, ob sie dabei Begleiter haben – und wenn ja, wieviele. Weiterhin wissen wir nicht, wo genau das Treffen stattfindet. 3. Sollen wir etwas gegen diese Verbrecher unternehmen und wenn ja, wie könnte das gelingen? Wir sind zu schwach, um sie im Kampf zu besiegen. Trotz Samsons riesiger Kräfte hat er nur mit Mühe gerade einen von ihnen erschlagen können. Wir normalen Menschen hätten keine Chance gehabt. Außerdem: Falls wir wirklich ihren Aufenthaltsort finden können, wie verbergen wir uns vor ihnen, denn sie spüren ja unsere Annäherung!“ * Eine Weile sagte keiner von den anderen etwas. Dann warf Samson die erste Frage in die Runde: „Wohnten früher viele Menschen in diesem Ort „Attadorn“ und ist es möglich, dass es dort noch eine Kolonie der Menschen gibt?“ Bevor ich antworten konnte, meldete sich Sally zu Wort: „Ich bin einmal dort gewesen. Es war ein früher ein kleines Städtchen mit ein paar tausend Einwohnern. Damals hieß es noch 116 Attendorn. Gut möglich, das heute noch eine Siedlung existiert. Außerdem, Pierre, wenn ich mich recht erinnere, sagtest du doch, dieser fahrende Händler habe nach Attadorn gewollt?“ Pierre schaute überlegend an die Decke meines Büros. „Genau, Sally. Du hast recht. Ich habe mir noch einmal den Wortlaut überlegt – er wollte nach Attadorn! Es muss also dort eine Siedlung geben. Aber warum sollten diese Gen-Menschen in der Nähe einer Siedlung ihre Versammlung abhalten? Das ist doch unlogisch, es würde sie doch stören!“ Franziskus hatte sich bisher zurückgehalten, aber ich sah ihm an, dass er nun einen Gedanken hatte. „Franziskus, du hast eine Idee?“ „Nun ja. Ich kenne diese Leute nur aus euren Erzählungen, doch zwei Dinge sind mir aufgefallen: Vielleicht ist eine gewisse Entfernung zu den Menschen wichtig, damit sie kein Unwohlsein spüren. Zweitens gibt es ja in Attadorn möglicherweise einen Ort, der sie von den Menschen abschirmt. Irgendein Gebäude mit sehr dicken Mauern. Oder eine …“ „Genau, eine Höhle!“, vollendete ich den Satz. „Attadorn ist, oder vielmehr war früher, weltberühmt für seine Tropfsteinhöhle. Ein kilometerlanges Höhlensystem, unter einem Bergzug gelegen. Das muss es sein!“ Urplötzlich schoss mir der Satz der Hexe, die Samson und ich damals während der Jagd-Exkursion getroffen hatten, durch den Kopf: „Hütet euch vor den Fremden in der großen Höhle, sie wollen euch töten!“ Meine Nackenhaare stellten sich auf und es kribbelte unangenehm in meinem Genick. Ich schaute Samson an, er schien den gleichen Gedanken zu haben, sagte aber nichts. Ein zustimmendes Gemurmel hatte eingesetzt, doch plötzlich stand Pierre auf und aller Augen richteten sich auf ihn. „Stopp! Hier sollten wir aufhören. Ihr redet so, als wäre es beschlossene Sache, nach Attadorn zu gehen und die Mutanten mal eben so im Vorbeigehen zu erledigen. Aber eines ist doch klar: Wir können dort nicht mit einer Armee von Neu-Siegenern und anderen Verbündeten auftauchen. Sie würden unsere 117 Anwesenheit sofort bemerken. Also kämen nur wir vier infrage. Bis zur Sommersonnenwende sind es noch drei Wochen. Wir benötigen für den Weg dorthin vielleicht fünf, sechs Tage. Zeit genug wäre also noch. Ich kann nur für meine Person sprechen. Wollen wir denn wirklich dieses Risiko eingehen? Es wäre vielleicht ein Todeskommando, außerdem: Wie sollen wir sie ausschalten? Ich fühle mich hier sehr wohl und möchte vielleicht eine Familie gründen. Wollen wir das wirklich alles aufgeben? Lasst uns in einer Woche nochmals hier treffen. Jeder sollte sich gründlich Gedanken darüber machen.“ Er drehte sich um und verließ den Raum. Wir waren alle sehr nachdenklich geworden. Nach und nach verließen auch Franziskus, Samson und zuletzt Sally mein Büro. In den nächsten Tagen gingen wir uns alle irgendwie aus dem Weg. Auch Sally und ich sprachen nicht über unser Problem. Ich vergrub mich noch mehr in meine Arbeit als Organisator des Dorflebens. Wenn es die Zeit zuließ, las ich immer wieder die alten Papiere aus Kölle durch. Ich hoffte, doch noch irgendetwas zu finden, das uns die Entscheidung erleichtern könnte. Auch wenn ich schon spät nach Hause kam, Sally kam noch später in unser kleines Zimmer. Sie arbeitete wie besessen an ihren Hausprojekten und fiel abends todmüde neben mir ins Bett. Franziskus bemerkte natürlich auch, dass wir uns aus dem Wege gingen. Am fünften Tag nach unserem Gespräch ordnete er einen kleinen Jagdausflug an. Das Ziel: Vergrößerung unserer kleinen Eselschar. Franziskus betonte die Wichtigkeit des Unternehmens. Schließlich wolle man Neu-Siegen mehr nach außen öffnen, um eine Inzucht zu vermeiden. Man würde also mehr Handel treiben und die Tiere wären für den Transport der Waren ideal. Und wenn man genug Esel gezüchtet hätte, könnte man die Tiere auch gegen Waren eintauschen. Niemand in der näheren Umgebung besaß Esel. Ich hatte allerdings die leise Ahnung, dass mehr hinter diesem Auftrag steckte. Er wollte uns die Entscheidung „Attadorn“ erleichtern. Jeder 118 einzelne hatte genug Zeit gehabt, um darüber nachzudenken, nun sollten wir gemeinsam entscheiden. So ein kleiner Ausflug war ideal, um wieder ins Gespräch zu kommen. Meine liebe Sally war überhaupt nicht begeistert über unser Vorhaben und murmelte etwas von: „ … noch nicht fertig sein ... “. Franziskus nahm sie beiseite und überredete sie schließlich. Als ich sie danach fragte, winkte sie nur ab. Auch wenn dies keine Jagd im herkömmlichen Sinne war – wir wollten die Tiere ja nur fangen, und nicht erlegen – rüsteten wir uns aus wie immer. Neben den üblichen Waffen nahmen wir eine Menge starker Seile mit. Wir wussten schließlich, wie störrisch die wilden Esel sein konnten. Rückkehr zu den grauen Bestien Da wir von unserer letzten Esel-Jagd den ungefähren Standort der Herde kannten, machten wir uns ohne Umwege direkt dorthin auf. Wir waren bisher nur einmal in dieser Region gewesen und kannten deshalb kaum die Gefahren, die uns möglicherweise erwarten konnten. Besondere Vorsicht war also angesagt. Samson, nach wie vor immer darauf bedacht, unsere Instinkte zu schulen, ließ uns abwechselnd die Führung übernehmen. Als ich an der Reihe war, bekam ich leichte Schwierigkeiten mit der Orientierung. Allerdings hatte ich eines gelernt: Es ist immer besser, zweimal zu überlegen, in welche Richtung man geht, als sich einmal zu verirren. So dauerte es zwar etwas länger, aber schließlich stießen wir auf Spuren der Esel. Wir alle begutachteten sie und wir waren uns schnell einig: Diese Fährten waren mindestens einen Tag alt, wir würden ihnen also folgen müssen. Damals war es eine große Herde von ungefähr achtzig Tieren gewesen, es schien sich hier wieder um dieselbe zu handeln. Die Verfolgung der Spuren war durch die große Zahl der Tiere sehr einfach. Schon gegen Abend hatten wir die 119 Esel-Herde gefunden. Wahrscheinlich weideten die Tiere nur in einem sehr begrenzten Gebiet und waren deshalb noch von niemandem außer uns entdeckt worden. Wenn Neu-Siegen eine Eselzucht zustande bringen würden, war das von sehr großer Bedeutung für das Dorf. Da hatte Franziskus auf jeden Fall recht. Wir beschlossen, in der Nähe der Weidegründe unser Nachtlager aufzuschlagen, um morgens in aller Frühe losschlagen zu können. Ein kleines, rauchloses Feuer war schnell entfacht, natürlich weit genug von der Herde entfernt. Wir wollten schließlich nicht riskieren, dass sich die Esel über Nacht verzogen. Die Vorgehensweise musste genau überlegt werden. Beim letzten Mal hatten wir uns alle mehr oder weniger starke Blessuren zugezogen, die grauen Biester hatten uns ganz schön zu schaffen gemacht. Diesmal wollten wir es geschickter anstellen. Die zusätzlich mitgebrachten Seile würden uns dabei von Nutzen sein. Die Wiese war links und rechts von dichtem Gebüsch mit dahinter liegendem Wald umgeben. Ein kleiner Vorteil für uns. Die Esel hatten also nur zwei Fluchtmöglichkeiten. Noch vor Sonnenaufgang brachten wir in einem der Fluchtwege einige Seile trichterförmig an. Am Ende des Trichters ließen wir einen schmalen Durchgang offen, dahinter wurde dann ein kleines Areal mit Seilen abgegrenzt, um den Eseln den Fluchtweg zu versperren. Verstärkt wurde es mit einigen frisch geschlagenen Ästen. Unser Plan sah folgendes vor: Mit drei Leuten wollten wir einen Teil der Herde in Richtung Trichter treiben. Der letzte von uns sollte versteckt am Trichterende stehen, um ihn mit einem Seil zu verschließen, wenn genügend Esel in unsere Koppel eingedrungen waren. Dann würden wir Zeit genug haben, um die Esel Tier für Tier einzufangen. Wir wollten etwa zehn der Tiere fangen, mehr konnten wir sowieso nicht zurück nach Neu -Siegen bringen. Getarnt hinter einigen Büschen hatte Sally die Position am Trichterende bezogen. Sobald wir die Esel in das Areal getrieben hatten, brauchte sie nur ein vorbereitetes Seil hochzuziehen 120 und es mit den anderen Seilen zu verknoten. Die Esel wären in dem kleinen Areal eingesperrt. Samson, Pierre und ich schlichen zur anderen Seite der Herde. Wir hatte kleine Fackeln vorbereitet, um die Herde mit ein wenig Qualm in die richtige Richtung treiben zu können. Wir zündeten die Fackeln an und verließen wild schreiend unsere Deckung. Sofort ging ein Ruck durch die Herde und sie geriet in Panik. Doch die Tiere rannten nicht wie erhofft auf unser Trichterende zu, sondern stoben nach allen Seiten davon, ohne Rücksicht auf uns oder das dichte Buschwerk zu nehmen. Nur mit Mühe schafften wir es, nicht über den Haufen gerannt zu werden. Wie die Hasen sprangen wir zur Seite und wichen ihren nach allen Seiten tretenden Hufen aus. Nachdem der größte Schwung an Eseln entkommen war, erhoben wir uns fluchend. Doch wir hatten Glück. Wir erkannten schnell eine neue Möglichkeit und konzentrierten uns auf eine Gruppe, die dem Trichter am nächsten stand. Wir breiteten die Arme mit unseren Fackeln aus, bildeten eine Kette und trieben so eine kleine Anzahl in das Areal. Sally verschloss es. Geschafft! „Verdammt! Wir haben einen Fehler gemacht“, rief Samson ärgerlich, „das hätte böse enden können. Wir wussten nichts über das Fluchtverhalten der Tiere.“ Während wir uns die Grasbüschel aus den Kleidern schüttelten, kam Sally auf uns zu. „Alles in Ordnung? Das sah gefährlich aus!“ „Alles okay“, versicherte ich ihr, „wie viele haben wir denn gefangen?“ „Es sind zwölf, darunter ein Junges. Aber so genau hab ich sie mir noch nicht angeschaut. Hoffentlich sind nicht zu viele Hengste darunter.“ Wir schauten uns gemeinsam unseren Fang an. Dabei waren drei Hengste, einer davon war schon ziemlich alt, einer wohl gerade geschlechtsreif und der letzte noch relativ jung. Von den neun übrigen Tieren wurde eines noch gesäugt. Glücklicherweise hatten wir aber Mutter und Kind zusammen erwischt. Blieben noch sieben Stuten, zwei davon schon ziemlich betagt. 121 Wir beschlossen, sie erst einmal in Ruhe zu lassen, bevor wir sie endgültig festbinden wollten. Wir aßen und tranken etwas und überlegten uns, welche der Tiere uns begleiten sollten. Die beiden älteren Hengste und die beiden älteren Stuten würden wir wieder in die Freiheit entlassen. Damit hatten wir zwar zwei Tiere weniger als geplant, aber angesichts unserer nicht besonders gut ausgeklügelten Jagdmethode war das Unternehmen doch noch als Erfolg zu bezeichnen. Man lernt halt nie aus. Mit so einem Fluchtverhalten der Esel hatten wir nie und nimmer gerechnet! Wir schafften es schließlich ohne größere Probleme, die vier überzähligen Tiere auszusondern und unseren Fang sicher anzuleinen. Dennoch hatte uns das so viel Zeit gekostet, dass es darüber Abend wurde. Nach der Mahlzeit teilten wir unsere Nachtwache wie üblich ein, Samson begann, gefolgt von Pierre und schließlich Sally. Die letzte Wache war meine Aufgabe. Als sie mich kurz vor dem Morgengrauen weckte, legte sie sich nicht gleich schlafen, sondern ging mit mir auf die Runde. Wir schritten schweigend nebeneinander her. Sie sah mich immer wieder prüfend an. Ich wusste, ihr brannte etwas auf den Lippen. Schließlich überwand sie sich. „Was denkst du? Hast du dich schon entschieden?“ Obwohl ich die Frage erwartet hatte, druckste ich herum. „Ich weiß noch nicht. Es ist sehr gefährlich, wir könnten alle sterben. Du könntest sterben!“ „Hör bitte auf, Frank! Du hast dich doch bereits von Anfang an entschieden. Du wirst auf jeden Fall nach Attadorn aufbrechen. Und Samson wird mit dir gehen, egal ob Pierre und ich dabei sind!“ Ich blieb stehen, schaute sie an und nahm ihr Gesicht in meine Hände. „Sally, du weißt, ich liebe dich. Du hast recht, ich werde gehen. Und ich möchte, dass du in Neu-Siegen bleibst.“ Nun war es heraus. Sie sah mich einen Moment lang an. Es schimmerte feucht in ihren Augenwinkeln. Dann entwand sie sich aus meinem Griff und ging zurück zum Lager. Sie schien 122 mich verstanden zu haben, ich wollte nicht, dass sie mit nach Attadorn ging. Ich war erleichtert. Kurz darauf ging alles wieder seinen gewohnten Gang. Nach der Katzenwäsche wurde gefrühstückt. Wir hauten ordentlich rein. Vom letzten Eseltransport wussten wir ja, wie schwierig er werden konnte. Das Mittagessen würde wohl ausfallen, wenn wir heute Abend noch unser Dorf erreichen wollten. Anfangs gestaltete sich unser Viehtransport noch recht schwierig. Erst als wir die Eselin mit dem Jungen an die Spitze unseres Zuges stellten, kamen wir ohne größere Probleme voran und erreichten Neu-Siegen schon am späten Nachmittag. Die neue und alte Eselschar wurde neu aufgeteilt. Die beiden trächtigen Tiere, die Mutter mit dem Jungen und der junge Hengst bekamen eine eigene kleine Weide und ein separates Stallabteil. Die neuen Eselinnen bekamen eine andere Weide zugeteilt, die zur Freude unseres alten Hengstes direkt an seinem Stall lag, wenn auch noch durch einen Balken getrennt. Schließlich sollten sich die Neuankömmlinge erst einmal eingewöhnen, ohne direkt mit dem Temperament unseres ersten Zuchtesels konfrontiert zu werden. Das gefiel ihm natürlich überhaupt nicht. Er blökte und jammerte die ganze Nacht hindurch mit einer Lautstärke, die ganz Neu-Siegen nicht schlafen ließ. Am nächsten Morgen ging Franziskus kurzerhand zum Stall unseres jammernden Esels und entfernte den Balken. Das Geschrei hörte augenblicklich auf und das Tier nahm mit Begeisterung die Arbeit auf, für die es gedacht war: Die Zucht! Entscheidung Nach dem Abendessen trafen wir uns im Büro von Franziskus. Wir setzten uns und unterhielten uns noch kurz über den Eselfang. Nach einer kurzen Pause sprach er uns an und seine Augen richteten sich auf mich. 123 „Nun, wie habt ihr euch entschieden?“ „Ich werde gehen“, war meine knappe Antwort. Sein Blick wanderte weiter zu Samson, der nur kurz nickte. „Und wie sieht es mit dir aus, Pierre?“ Der holte tief Luft und verdrehte die Augen. „Ich kann diese beiden Anfänger doch nicht alleine auf die Gen-Mutanten loslassen. Ohne mich wären sie ja verloren.“ Ein breites Grinsen durchzog sein Gesicht. Ich erhob mich und hielt die Sache für beendet. Sally würde hier bleiben, so dachte ich. Franziskus aber war da anderer Meinung. „Frank, setz dich wieder hin. Wir sind noch nicht fertig“, kam es ungewöhnlich scharf aus seinem Mund. Etwas verwundert ließ ich mich wieder auf den Stuhl fallen. Unser Bürgermeister fuhr fort: „Sally, wir haben von dir noch keine Antwort erhalten.“ Sie schaute zu ihm und dann zu mir. Ihre Augen funkelten mich an und ich ahnte schon, was kommen würde. „Natürlich bin ich dabei. Auch wenn es hier eine Person gibt, die das anders sieht!“ Franziskus seufzte: „ Nun gut, ihr hattet Zeit genug, es euch zu überlegen. Ich hätte es lieber, wenn ihr hier bleiben würdet, doch ich kann euch auch verstehen. Solange es diese Mutanten gibt, wird es keinen Frieden geben. Versprecht mir nur, vorsichtig zu sein und umzukehren, wenn ihr keine Möglichkeit zur Lösung des Problems seht. Habt ihr mich verstanden?“ Wir nickten ihm zu. „In zwei Wochen ist Sommersonnenwende. Eure Reise wird maximal eine Woche dauern. Ihr solltet Attadorn zwei bis drei Tage vorher erreichen, um vielleicht vor Ort einen guten Plan entwickeln zu können. Ihr seid für die nächsten drei Tage von euren Pflichten freigestellt. Spannt aus, erholt euch oder macht sonst was. Ihr solltet frisch und ausgeruht an eure Aufgabe herangehen.“ Damit war alles gesagt. Die nächsten drei Tage verbrachten Sally und ich fast ununterbrochen gemeinsam. Nur einmal trennten wir uns. Sie wollte 124 noch einmal kurz nach dem Hausprojekt sehen, während ich mit Franziskus noch einige Dinge Verwaltungs-technischer Art besprach. Wenn sich meine Befürchtungen bewahrheiteten, musste er sich wohl oder übel schon wieder nach einem neuen Mitarbeiter umsehen. Auch wenn ich von Sallys Entscheidung nicht begeistert war, so konnte ich ihr doch nicht böse sein. Insgeheim war ich froh, dass sie bei mir war. Wir vertrieben uns die Zeit bis zum Aufbruch mit langen Spaziergängen, gutem Essen und ausgiebigem Sex! Die drei Tage und Nächte vergingen wie im Flug. Franziskus hatte zusammen mit Samson unsere Ausrüstung zusammengestellt. Wir bekamen die beste Waffen, die Neu-Siegen zu bieten hatte. Nagelneue Seile, Speere und Bögen mit wunderbar austarierten Pfeilen mit Eisenspitzen, fantastische Messer und Äxte von den Eisenmenschen und sogar den einzigen Klappspaten aus unserem jüngsten Fund. Pierre hatte die Karte, die uns nach Attadorn bringen sollte, noch einmal überarbeitet. Ein alter Autoatlas aus der Zeit des Gründers von Neu-Siegen, Franz Gross, war ihm da besonders hilfreich gewesen. Auch wenn die meisten dort verzeichneten Orte nicht mehr existieren sollten, so konnten wir doch anhand der Straßenverläufe unseren Weg finden. Wir waren bestens ausgerüstet! Noch 10 Tage bis zur Sommersonnenwende! Bekannte Orte (1.Tag) Der Abschied von Neu-Siegen fiel schwer. Selbst die größten Optimisten im Dorf verabschiedeten uns meist stumm und mit einem leicht verlegenen Blick. Franziskus umarmte uns. Zu uns allen gewandt, wiederholte er seine Warnung, nicht zuviel zu riskieren und lieber umzukehren, als einen aussichtslosen Kampf zu führen. Eine Weile marschierten wir, ohne ein Wort zu verlieren. 125 Jeder hing seinen Gedanken nach. Der erste Teil der Strecke war uns bekannt. In Mühleip war der riesige Stier gewesen, den Samson nur Dank seiner gewaltigen Kraft besiegen konnte. Auch fiel mir die VW-Sammlung und der etwas abseits gelegene Hof mit den niedrigen Decken ein. Diesmal würden wir dort nicht übernachten, er lag zu nah an Neu-Siegen. Unser heutiges Tagesziel war Eitorf, an diesem Ort waren wir damals nur vorbeigewandert. Wenn ich mich recht erinnerte, gab es dort zwar keine Menschen, aber einige Gebäude, die zur Übernachtung taugten. Von da an waren es laut alter Karte noch ungefähr sechzig Kilometer bis Attadorn, das früher einmal Attendorn hieß. Viele kleine Orte würden wir auf dem Weg dorthin passieren. Allesamt unbekanntes Gebiet mit ebenso unbekannten Gefahren. Pro Tag lag eine Wegstrecke von zehn bis fünfzehn-, vielleicht auch zwanzig Kilometern vor uns. Je mehr unberührter Urwald, desto langsamer würde es voran gehen. Einige Erfahrungen gab es ja schon von unserem Weg von Grissenbach nach Neu-Siegen. Auf jeden Fall sollte es uns möglich sein, binnen einer Woche Attadorn zu erreichen. Dann würden wir noch drei Tage Zeit haben bis zur Sommersonnenwende. Eitorf wurde schon am frühen Nachmittag erreicht. Eigentlich hätten wir es bis Sonnenuntergang sogar noch ein paar Kilometer weiter geschafft, aber unsere ungewohnt schweren Rucksäcke drückten für den ersten Tag der Reise ganz ordentlich auf unsere Schulterblätter. Morgen würde es besser gehen. Wir bezogen unser Nachtlager in einem alten Bruchsteingebäude am Ortseingang von Eitorf. Zumindest schien dies der Ortseingang gewesen zu sein. Nach über fünfhundert Jahren war so etwas nur schwer einzuschätzen. Überall vor uns lagen kleine überwucherte Hügel, vermutlich Überreste alter Häuser. Die alte Straße war nur noch zu vermuten, weil links und rechts eben diese kleinen Hügel zu sehen waren. Ein kleiner Bach plätscherte einige Meter neben unserer Bleibe vor sich hin. Für frisches Trinkwasser war gesorgt. 126 Ich kramte den alten Autoatlas aus meinem Gepäck. Er war noch erstaunlich gut erhalten, bestand er doch aus dem damals neuartigen Kunststoff-Papier, das ab 2016 praktisch über Nacht die übliche Papier-Herstellung überflüssig machte. Ein Blick auf die ersten Seiten bestätigte meine Vermutung: Hergestellt 2018. Eitorf wurde mit einigen Zeilen erwähnt. Der kleine Bach dürfte der Eipbach sein. Weiter war zu lesen: Die höchste Erhebung ist der „Große Schaden“ mit 388 m über NN. „Toller Name!“, murmelte ich. Einwohnerzahl: 18.777. „Na, das hat sich wohl erledigt“. Sehenswürdigkeiten: Kloster Merten, Burg Merten, Jüdischer Friedhof und die über 260 Jahre alte und 26 m hohe Stieleiche. Ich schaute mich um. Von einem Kloster, Friedhof oder einer Burg war nichts zu sehen, vielleicht standen sie etwas abseits. Und eine 26 m hohe Stieleiche würde heute kaum auffallen, die meisten der Bäume, die uns hier umgaben, waren höher und viele sicherlich auch älter. Die Natur hatte in den letzten fünfhundert Jahren gewaltig zugelegt. Ich lief einige Meter auf der vermeintlichen Straße entlang. Keine Spur von Leben. Hier schien seit der Apokalypse niemand mehr gewesen zu sein. Das bereitete mir einige Sorgen über den Zustand des weiteren Weges. Wenn hier schon kaum ein Weg zu erkennen war, wie würde es erst aussehen, wenn wir weiter Richtung Attadorn gingen. Nach Eitorf würden viele kleinere Ortschaften folgen. Eine Straße würde kaum noch zu erkennen sein. Nun, wir hatten ja Samson. Er besaß einen fantastischen Orientierungssinn. Ich schlenderte weiter und stoppte nach etwa hundert Metern überrascht. Rechts von mir tat sich ein weitgehend baumloses Gelände auf. In Reih und Glied standen hier kleine, von Gras überwucherte Hügel. Irgendwie erinnerten mich die kleinen Hügel an einen englischen Park, in dem hunderte Buchsbäume fein säuberlich zu Figuren zurechtgeschnitten waren. Ich ging näher heran und schaute genauer hin. Natürlich! Ein altes Einkaufszentrum oder eine Autohandlung! Auf dem Parkplatz mussten damals rund einhundert Autos gestanden haben, als die Katastrophe eintrat. Mit den Jahren hatte sich Erde auf und an den 127 Autos angesammelt, die wiederum von Gras bewachsen wurde. Die Natur hatte sich hier ein eigenes Kunstwerk geschaffen. Wunderschön und doch makaber, wenn man an die Ursache dachte. Ich beschloss, meine kleine Exkursion zu beenden und zu meinen Freunden zurückzukehren. Ein kleines Feuer brannte draußen vor unserer Übernachtungsstätte. Ein am Spieß bruzzelnder Hase oder so etwas ähnliches verbreitete den angenehmen Geruch von gebratenem Fleisch. Überrascht schaute ich meine Freunde an. „Er ist mir praktisch vor die Füße gelaufen und hat darum gebettelt, gebraten zu werden“, war Pierres schnodderige Antwort auf mein fragendes Gesicht. Ich setzte mich dazu. „Habt ihr euch schon mal darüber Gedanken gemacht, was wir eigentlich machen wollen, wenn wir den Mutanten begegnen?“ Es war Samson, der mir antwortete. „Eins ist doch klar. Wir müssen die Mutanten aufhalten, sonst ist die gesamte Menschheit in Gefahr. Es wird sich mittlerweile herum gesprochen haben, dass einer von ihnen getötet wurde. Wahrscheinlich wissen sie nicht von wem, aber dass er aus diesem Gebiet kommen muss, ist klar. Sie werden nach den Tätern suchen. Mit ihren technischen Möglichkeiten werden sie früher oder später den Weg nach Neu-Siegen finden. Und wenn sie uns dennoch nicht finden sollten, werden sie vielleicht einfach eine ihrer Bomben werfen und alles auslöschen. Nach euren Schilderungen können diese Bomben riesige Gebiete zerstören.“ Sally, Pierre und ich schauten uns erschrocken an. Soweit hatte bisher keiner von uns gedacht. Sally fing sich als erste: „Ich glaube nicht, dass die alten Bomben noch verwendet werden können. Aber bestimmt haben die auch längst eigene Bomben entwickelt. Wer weiß das schon. Samson, du hast recht. Wir müssen sie unter allen Umständen aufhalten. Allerdings können wir von hier aus absolut nichts planen. Wir müssen vor Ort entscheiden!“ Damit war die kurze Diskussion beendet. In aller Frühe verließen wir am nächsten Morgen Eitorf. 128 Formicula (2.Tag) Meine Befürchtungen, den Weg zu verlieren, bestätigten sich schon kurz nach dem Aufbruch. Beim besten Willen waren keinerlei Reste einer ehemaligen Straße zu erkennen. Hier schien 500 Jahre lang niemand mehr entlang gekommen zu sein, Gestrüpp und Bäume bildeten eine harmonische Einheit. Samson bereitete das allerdings keine Sorgen, er war es gewohnt, sich nach Sonnenstand und Sternenhimmel zu orientieren. Unser Weg führte durch hügeliges Land und war nicht immer einfach. Kleine Bäche ließen sich ja noch leicht überwinden, aber manchmal gab es regelrechte Heckenlandschaften, und zwar immer welche der sehr stacheligen Art. Hier halfen nur weiträumige Umgehungen. Diese Umwege verlangsamten unser Reisetempo, doch noch hatten wir genügend Zeit. Gegen Mittag erreichten wir einen etwa drei Meter breiten Fluss und beschlossen, zu rasten. Das Wasser war frisch und klar. Es schmeckte ausgezeichnet. Samson hatte unterwegs einige Wurzeln und Pilze gesammelt, die wir in unseren einzigen Topf warfen. Wasser und ein paar Kräuter dazu und schon ließ mir eine herrlich duftende Gemüsesuppe das Wasser im Mund zusammenlaufen. Der Topf war ausgesprochener Luxus für uns. Wir hatten ihn überhaupt zum ersten Mal dabei. Er war ein Fund aus dem verlassenen Dorf südlich von Neu-Siegen gewesen. Ich setzte mich auf einen Stein und ließ meine Blicke über den Fluss auf einen nahe gelegenen Hügel schweifen. Irgendetwas war daran seltsam. Der Hügel schien sich zu bewegen. Oder war es nur Gras, das im Wind hin und her wogte? Ich kniff die Augen zusammen. Das war kein Gras! Gras kann nicht den Hügel herunter laufen! Die wogende Masse schien immer mehr auf uns zuzukommen. Verdammt, das waren Ameisen! Ein riesiges Heer von Ameisen und sie schienen ziemlich groß zu sein. „Freunde“, rief ich, „wir müssen hier schleunigst verschwinden. Von dem Hügel da oben kommen Wanderameisen auf uns zu. Es sind Tausende und jede einzelne ist bestimmt zehn 129 Zentimeter groß! Vielleicht hält sie ja der Fluss auf, aber wir sollten es nicht darauf ankommen lassen.“ Als Biologen wussten wir alle, dass Wanderameisen regelrechte Raubzüge unternahmen. Je nach Art jagten sie meist die Brut von Wespen und anderen Ameisen, aber auch Larven, Regenwürmer und kleine Tiere standen auf ihrer Speisekarte. Die mir bekannten Wanderameisen waren allerdings winzig im Vergleich zu denen hier! Die waren sicherlich in der Lage, große Tiere und wohl auch Menschen zu töten. Ein Blick in Samsons besorgtes Gesicht verriet mir, das auch er schon mit den Wanderameisen Bekanntschaft gemacht hatte. So schnell wir konnten, rafften wir unsere Ausrüstung zusammen und liefen Flussaufwärts. Ich warf einen Blick zurück und sah unseren Topf über dem Feuer hängen. Verdammt, die schöne Suppe, der schöne Topf! Einen kurzen Moment war ich versucht umzudrehen, aber ein Blick auf die Ameisen belehrte mich sofort eines Besseren. Am Flussufer angekommen machten sie nicht kehrt, sondern bauten eine Brücke aus ihren Körpern. Zuerst staute sich der Tross ein wenig, doch dann begannen einzelne Ameisen ihren Körper teils am Ufer und teils ins Wasser zu bewegen. Die nächste ging über den Körper und klammerte sich fest. Die übernächste tat es ihr gleich und verband sich wiederum mit der folgenden. Zuerst waren es nur zwei, drei Reihen und manches der Tiere wurde durch die Strömung weggetragen. Doch immer mehr Ameisen bildeten eine Art Brückenkopf und die ganze Konstruktion wurde immer stabiler. Im Nu hatten sie die Mitte des Flusses erreicht. Hier war die Strömung am stärksten und viele wurden weggespült. Doch von hinten rückten immer mehr Tiere nach und so war es nur eine Frage der Zeit, wann die Kolonie das andere Flussufer erreichen würde. Fasziniert schaute ich auf den Brückenbau. Ich hatte schon davon gehört, das einige Ameisenarten auf diese Weise Flüsse überqueren konnten, doch hier sah ich das live und wahrhaftig. In diesem Moment spürte ich Samsons schwere Hand auf 130 meiner Schulter. „Lass uns hier verschwinden. Sie werden in Kürze den Fluss überquert haben und ich möchte nicht in ihrer Reichweite sein. Sie sind gefährlich!“ Samson hatte recht. Ich riss mich von dem faszinierenden Anblick los und folgte ihm. Pierre und Sally waren schon gut hundert Meter voraus, hatten sich aber auch umgedreht und verfolgten die Szenerie. Gemeinsam verließen wir schließlich die Gegend. Als wir später eine kurze Rast einlegten, waren die Ameisen natürlich Gesprächsthema Nummer eins. Samson hörte zu, während wir drei Alt-Biologen über das weitere Schicksal der Brückenameisen diskutierten. Allgemein waren Ameisen wohl ordentliche Schwimmer. Doch waren diejenigen, die die Brücke bildeten, später noch in der Lage, das andere Ufer schwimmend zu erreichen? Würden sie sich überhaupt von den anderen Ameisen lösen können? War es nicht wahrscheinlicher, dass die meisten vorher ertrinken würden, wenn abertausende ihrer Artgenossen über sie hinweg stiegen? Fragen über Fragen! Wir diskutierten uns die Köpfe heiß, bis Samson zum Aufbruch mahnte. Als wir wieder unterwegs waren, fiel mir ein Schwarzweißfilm aus den fünfziger Jahren ein. „FORMICULA“. Ich hatte ihn mal in einem Kino-Special gesehen. Der Film handelte von etwa 3,5 Meter großen Riesenameisen, die sich auf Grund der Atombomben-Versuche in der Wüste New Mexicos entwickelt hatten. Ich erinnere mich nicht mehr an den genauen Verlauf des Films, aber zum Ende hin wurden die Riesenviecher in Los Angeles von der Armee mit Flammenwerfern und Bomben vernichtet. Jahre danach hatte man den Film dann als Abbild seiner Zeit bezeichnet. Ameisenstaat stand für Kommunismus, Ameisen für Rote Gefahr, Mutierte Tiere für Angst vor Verstrahlung in einem Atomkrieg und so weiter. Ob der Filmemacher daran gedacht hatte, als der Film gedreht wurde? Schließlich war Formicula der erste Film dieser Art überhaupt. Die Gedanken, die ich mir über die Ameisen machte, waren eine willkommene Ablenkung. 131 Mit Attadorn wollte ich mich im Moment noch nicht beschäftigen, das war meine Devise! Unser Weg führte weiter durch die hügelige Landschaft. Meist ging es durch Wälder, hier und da durch kurze Graslandschafts-Passagen aufgelockert. Keine Menschenseele war weit und breit auszumachen. Schließlich erreichten wir mal wieder so ein Gebiet ohne Bewaldung. Samson stoppte plötzlich und schaute sich witternd um. „Etwas ist anders. Schaut nur auf diese sechs Kegel vor uns. Sie passen nicht in diese Landschaft. Was meint ihr? Was könnte das sein?“ Ich schaute an Samson vorbei. Sechs etwa 50 Meter hohe, gleichmäßig geformte Kegel waren zu sehen. Erst dachte ich, es handele sich um riesige Ameisenhügel und mir wurde mulmig in der Magengegend. Bei näherem Hinsehen erkannte ich allerdings den dichten Pflanzenbewuchs in seinen frischen grünen Farben. Ameisen bauen ständig an ihren Behausungen, aber hier war davon nichts zu sehen. Diese Kegel mussten Menschen aufgetürmt haben. Langsam gingen wir auf die künstlichen Gebilde zu. Wir alle waren mehr oder minder sprachlos, niemand hatte eine Ahnung, was das sein konnte. Ich nahm meinen Speer und stocherte in der Grasnarbe herum. Die Grasschicht war nicht besonders dick und ich machte grabende Bewegungen mit dem Speer. Dann stieß ich auf etwas, das mir sehr bekannt vorkam. Ich rammte die Waffe in den Gegenstand und zog ihn hinaus. Es war eine alte Spülmittelflasche. Ich nahm sie von der Speerspitze und reichte sie Sally. Während sie Samson erklärte, um was es sich hier handelte, grub ich weiter. Immer mehr Plastikflaschen, Plastikbeutel und andere Gegenstände aus Kunststoff kamen zum Vorschein. Uns dreien aus der alten Zeit ging sofort ein Licht auf, während Samson uns fragend anschaute. „Wir sind auf einem Recycling-Hof gelandet! Hier wurde wohl der Müll aus den gelben Säcken bzw. gelben Tonnen sortiert. Vielleicht besteht auch der eine oder andere Hügel aus Glas, fein säuberlich nach Farben 132 getrennt.“ Ich erklärte Samson den Sinn und Zweck einer solchen Anlage. Eine Bemerkung konnte ich mir allerdings in Richtung der alten Wissenschaftler-Kollegen aus dem 21. Jahrhundert nicht verkneifen. „Damals hat man gesagt, Plastik wäre nach 500 Jahren vollkommen verrottet. Das ganze Zeug hier sieht aber noch ziemlich frisch aus. Es müssen wohl Wissenschaftler aus der Kunststoff-Industrie gewesen sein, die diese Behauptung aufgestellt haben. Diese Lobbyisten waren ziemlich überzeugend, ich jedenfalls habe es geglaubt!“ Pierre schaute mich an: „Das mag für den einen oder anderen Kunststoff auch gegolten haben, aber hast du wirklich geglaubt, die sagen uns die volle Wahrheit? Wie oft haben uns denn damals schon Wissenschaftler und Gutachter im Auftrag der Industrie angelogen? Selbst die Regierungen haben von der Industrie bezahlte Gutachter herangezogen, die alles andere als neutral waren. Wenn etwas nicht passte, wurde es passend gemacht!“ Ja, natürlich wusste ich das. Immer wieder war irgendetwas Vertuschtes ans Tageslicht gekommen, meistens allerdings erst dann, wenn der Schaden schon angerichtet war. Doch ab und zu hatte ich mir über bestimmte Dinge einfach keine Gedanken gemacht oder es verdrängt … wie wohl die meisten Menschen in den Gebieten mit hoch entwickelter Wirtschaft. 133 Der Nusswald (3.Tag) Die Nacht war verhältnismäßig kühl gewesen, Nebelschwaden hingen in den Tälern. Von unserem erhöhten Standort aus hatte ich einen herrlichen Blick über das angrenzende Tal, von dem außer einem weißen Nebelteppich nichts zu sehen war. Wie immer hatte ich die letzte Nachtwache übernommen und genoss die Stille. Der Nebel sorgte dafür, dass es heute noch stiller war als sonst. Die Vögel schienen verschlafen zu haben, andere Tiere waren auch nicht zu hören. Als Kind hätte mir diese unwirkliche Ruhe wahrscheinlich Angst gemacht. In Großstädten wie Köln gab es nie wirkliche Ruhe. Irgendwo waren immer Autogeräusche, lärmende Nachbarn oder eine Straßenbahn zu hören. Ich saß auf einem umgekippten Baumstamm und träumte vor mich hin, bis Sally auf mich zu kam und mir einen Kuss auf die Wange gab. Wortlos setzte sie sich neben mich und genoss mit mir den Ausblick. Schließlich sagte sie: „Es sieht so aus, als könne man über den Nebel auf die andere Seite laufen. In der Umgebung von Sallerfield habe ich manchmal Nachtwanderungen durch die Wälder unternommen. Da gab es fast immer Nebel. Das hier erinnert mich stark daran.“ Ich schaute ihr ins Gesicht: „Vermisst du deine Heimat?“ Sie dachte kurz nach. „Eigentlich nicht. Ich habe schon lange nicht mehr daran gedacht. Wir sind nun schon seit fast zwei Jahren in dieser neuen Zeit. Meine Heimat ist jetzt hier. Gewiss, überall lauern Gefahren. Aber es ist auch ein Paradies. Schau dir nur die Tier- und Pflanzenwelt an – einfach phantastisch! Ich liebe Neu-Siegen und die Menschen dort und habe sehr viele Freunde gefunden. Und dich.“ „Hey, ihr Turteltäubchen! Hat denn niemand von euch Holz aufs Feuer gelegt? Es dürstet mich nach Samsons Tee!“ Natürlich! Wenn jemand eine romantische Stimmung von einer Sekunde auf die andere zerstören konnte, war es Pierre mit seinen schnodderigen Kommentaren. 134 Ich seufzte. „Pierre, kannst du nicht einmal jemand anderem mit deinem Gesülze auf die Nerven gehen? Mich dürstet nach Samsons Tee … Wir sind doch nicht im Mittelalter!“ Die Träumereien waren beendet und nach einem ausgiebigen Frühstück ging unsere Wanderung weiter. Der Nebel hatte sich noch nicht ganz verzogen, als wir das Tal erreichten. Ich hatte gerade die Führung übernommen. Wir betraten hier einen neuen Wald, wie ich ihn bisher noch nicht gesehen hatte. Zuerst war mir nichts aufgefallen, die Bäume standen zwar lichter als sonst, aber das war`s auch schon. Einige Nebelschwaden zogen noch durchs Unterholz. Erst, als ich fast wie auf einer Bananenschale ausrutschte und unsanft auf dem Hintern landete, nahm ich diesen besonderen Wald wahr. „Verdammt! Wer hat denn hier Murmeln verstreut? Das ist ja schlimmer als Glatteis!“ Ich zog eine der „Murmeln“ unter meinem schmerzenden Allerwertesten hervor und staunte nicht schlecht. Eine Walnuss! Ich erhob mich, um gleich darauf fast wieder das Gleichgewicht zu verlieren. Ein Meer aus Walnüssen lag vor unserer kleinen Gruppe. Das mussten Millionen sein! Jeder Baum dieses Waldes hatte seine Früchte zur gleichen Zeit abgeworfen. Die Nüsse hatten ihre grüne Ummantelung verloren und bildeten einen regelrechten Teppich aus braunen „Murmeln“. Und sie hatten verdammt harte Schalen, wie mir mein lädiertes Gesäß mitteilte. Ich war ja nicht gerade ein Fliegengewicht mit meinen achtzig Kilogramm, aber die Nüsse hatten nicht den geringsten Schaden genommen. Ich versuchte, ein paar zu knacken, indem ich sie zwischen den Händen zusammendrückte. Bei den Nüssen aus den alten Zeiten war dies kein Problem gewesen. Hier aber konnte ich drücken, soviel und so fest wie ich wollte, nicht mal ein leises Knirschen war zu hören. Samson schaute meinen vergeblichen Bemühungen interessiert zu, hob eine Nuss auf … und knackte sie mit spielerischer Leichtigkeit zwischen zwei Fingern. Ein kurzes Auflachen zu meiner Linken ließ meinen Kopf zu Pierre herumfahren. „Was? Versuch du es doch mal!“ rief ich leicht verärgert. Daraufhin nahm er ebenfalls ein paar Nüsse, 135 legte sie zwischen seine Hände und drückte siegessicher zu. Kein Knacken! Ungläubig schaute er auf die Nüsse und presste mit aller Kraft die Hände zusammen. Sein Gesicht verfärbte sich vor Anstrengung rot, die Adern an seinen Schläfen schwollen an. Nichts geschah! Nun war ich mit Grinsen dran. „Na Pierre, keine Kraft in den Fingern? Wohl etwas schwach auf der Brust!“ Diese kleinen „Nettigkeiten“ gehörten unter Freunden dazu, zeigten aber auch Samsons unglaubliche Kraft. „Jeder sollte ein paar Nüsse mitnehmen“, Sally dachte praktisch, „außerdem gibt es hier sicherlich Eichhörnchen. Wir sollten uns frisches Fleisch besorgen!“ Ich nickte zustimmend. Früher hätte ich nicht mal im Traum daran gedacht, Eichhörnchen zu essen, aber in Neu-Siegen hatte ich sie schon mehrmals probiert. Sie waren ausgesprochen lecker. Die Eichhörnchen in der heutigen Zeit waren nicht mit den zierlichen, rotbraunen Tieren von damals zu vergleichen. Erstens waren sie grau oder schwarz, vermutlich Nachkommen der in Deutschland eingeschleppten Art der amerikanischen Grauhörnchen. Zweitens hatten sie kräftig an Gewicht und Größe zugelegt. Drei bis vier Kilo waren normal, im Gegensatz zu ein paar hundert Gramm von früher. Und drittens waren sie wegen ihres größeren Gewichts etwas langsamer und somit leichter zu fangen. Samson blickte skeptisch zu uns herüber und wunderte sich anscheinend über unseren Jagdeifer. „Geht ihr Jagen, ich sammele einige Nüsse ein. Eure Ausrüstung könnt ihr hier lassen. Ich nehme sie mit bis ans Ende des Nusswaldes. Erfahrungsgemäß ist er nicht allzu groß. Wir treffen uns dann dort.“ Samson zeigte in die Richtung, in die er gehen wollte. Ein leichtes Grinsen spielte um seine Mundwinkel. Was hatte das denn nun wieder zu bedeuten? Egal. Mit Pfeil, Bogen und Speer bewaffnet machten wir drei uns auf die Suche nach den Nagern. Schon nach ein paar Metern waren Schwierigkeiten erkennbar. Die riesige Anzahl an Nüssen auf dem Boden hinderte uns doch sehr. Wir bewegten uns wie auf Eiern, immer darauf bedacht, 136 nicht auszurutschen. Eichhörnchen gab es hier genug, doch wenn gerade eines gesichtet war, kollerten mal wieder einige Nüsse gegeneinander und das Tier verschwand. Wir änderten nun unsere Taktik und schlurften mehr als wir gingen – und das wie in Zeitlupe. Das gab zwar nun weniger Lärm, aber sobald wir zum Speerwurf ausholten, kullerte wieder irgendeine Nuss gegen eine andere. Es war zum Verzweifeln. Einmal kamen wir in eine gute Schussposition mit Pfeil und Bogen, doch ausgerechnet jetzt meldete sich ein Vogel mit einem lauten Warnruf. Am liebsten hätte ich dem Schreihals buchstäblich den Hals umgedreht, doch er war außer Reichweite. Nach zwei Stunden brachen wir die Jagd ergebnislos ab und folgten Samsons Spuren. Unterwegs fiel mir sein Grinsen wieder ein – er hatte genau gewusst, was passieren würde! Als wir das Ende des Nusswaldes erreichten, saß der Riese mit unserem Gepäck an einem kleinen Feuer. Über diesem Feuer lagen zwei Spieße, die Samson hin und wieder gemütlich wendete. Ein herrlicher Duft von gebratenem Eichhörnchen stieg mir in die Nase. Als wir uns ihm ohne Beute näherten, schaute er so unschuldig drein wie möglich, aber seine blitzenden Augen verrieten die Schadenfreude! „Keinen Erfolg gehabt?“ rieb er uns unter die Nase. „Genau“, antwortete ich, „aber das wusstest du ja schon vorher. Nicht war?“ Er zuckte nur amüsiert mit den Schultern, holte die Spieße vom Feuer und teilte den Braten unter uns auf. Wir hatten schon viel von ihm gelernt, aber er war uns immer noch meilenweit voraus! Später erklärte er uns dann seine Jagdmethode. 1. Eichhörnchen immer nur vom Waldrand aus jagen – die Nüsse im Wald machen eine geräuschlose Jagd so gut wie unmöglich. 2.Möglichst mit Pfeil und Bogen wegen der größeren Reichweite und 3. Auf die Alarmvögel achten. Da hätten man auch selbst drauf kommen können, doch wir hatten zwei Stunden Lehrgeld zahlen müssen. Früher hätte 137 man auf Neudeutsch „Learning by doing“ dazu gesagt, Samsons beliebteste Methode uns etwas beizubringen! Nach der Mahlzeit erlegten wir noch einige der Nager, brieten sie auf Vorrat und setzten dann unseren Weg fort. Teufelshöhle (4.Tag) Der Morgen war ereignislos verlaufen. Wir durchwanderten einzelne Wälder mit den unterschiedlichsten Baumarten oder kurze Abschnitte mit Wiesen- oder Buschland. Das hügelige Gelände war manchmal sehr anstrengend, vor allem, wenn man sich zusätzlich noch den Weg durchs Gestrüpp mit den Buschmessern bahnen musste. Hier und da kreuzten sich unsere Wege mit heimischen Tieren. Wie wir auch früher schon feststellen konnten, hatte sich vieles in der Tierwelt geändert. Die meisten noch vorhandenen Gattungen waren größer als früher, viele hatten auch ein anderes Aussehen und Verhalten angenommen. Manche Arten schienen sich vollkommen neu entwickelt zu haben, so fremd sahen sie aus. Ich bezweifle das. In fünfhundert Jahren konnte sich keine neue Rasse entwickeln, oder etwa doch? Meine Theorie besagte, dass sich durch den Einsatz von atomaren, biologischen und chemischen Waffen ein Cocktail entwickelt hatte, der Mutationen extrem begünstigte. Da der Einsatz der Waffen auch regional sehr unterschiedlich war, bildeten sich auch viele unterschiedliche Mutationen aus. Samson hatte von vielen unterschiedlichen Tierarten aus Frankenfurt berichtet, die im Siegerland oder hier im Sauerland nicht oder ganz anders entwickelt vorkamen. So eine Vielfalt an Tieren hatte es wohl seit Jahrtausenden nicht mehr gegeben. Unser Anführer war stehen geblieben und schaute besorgt zum Himmel. „Es wird Regen geben!“ Überrascht sah ich ihn an. „Regen? Aber die Regenzeit dürfte doch erst in etwa zwei Wochen beginnen!“ 138 „Du hast recht, Frank. Aber hin und wieder, wenn auch sehr selten, gibt uns die Natur einen kleinen Vorgeschmack auf die kommende Regenzeit. Das kann ein kleiner Schauer sein, aber es kann auch ein stundenlanger Dauerregen werden. Heute tippe ich eher auf Dauerregen. Wir sollten uns einen Unterschlupf suchen, eine Höhle vielleicht. Wir sind schon an einigen vorbeigekommen, es dürfte nicht schwierig sein, eine weitere zu finden. Wir haben sicherlich noch zwei Stunden Zeit.“ Während wir weiter in Richtung Attadorn gingen, hielten wir Ausschau nach einer Höhle. Der Himmel hatte sich inzwischen schon stark verfinstert. Das Licht im Wald wurde immer spärlicher, als wir endlich auf ein Höhlentor stießen. Die ersten Tropfen fielen bereits, als wir uns vorsichtig dem Eingang näherten. Zögerlich ging Samson auf die Höhle zu. Irgendetwas schien ihn zu irritieren. Ich bemerkte einen seltsamen Geruch, der zu uns heraus zog. Plötzlich hörten wir ein lautes kreischendes Geräusch, das mich an eine Mischung aus Kreissäge und Grunzen erinnerte. Der Riese schrie plötzlich laut auf: „Lauft! Lauft! Klettert auf den nächsten Baum!“ Selten hatte ich ihn so aufgeregt eine Warnung herausschreien hören. Was er gesehen hatte, musste äußerst gefährlich sein. Wir drehten uns auf den Absätzen herum und spurteten los. Samson überholte uns alle und steuerte auf einen kräftigen Baum zu. „Hierher! Schnell hier auf diesen Baum, bevor es zu spät ist!“ Als wir den Baum erreichten, hob er uns in Windeseile auf die unteren starken Äste des Baumes in etwa drei Meter Höhe. Dann zog er sich selbst hinauf. „Klettert schnell höher, wir sind erst so ab fünf Metern Höhe in Sicherheit!“ Während wir uns eilig die Äste hinaufzogen, hatten wir immer noch keine Ahnung, was er in der Höhle gesehen hatte und ihn so panisch werden ließ. Endlich waren wir hoch genug. Wir saßen auf dem Baum wie die Hühner auf der Stange. „Samson, was ist denn bloß los? Und was war das um 139 Himmels Willen für ein fürchterliches Geräusch in der Höhle?“ „Ein Stinkteufel! Das ist ein Stinkteufel.“ Samson wurde von einem weiteren unwirklichen Kreischgeräusch genau unter uns unterbrochen. Ich blickte hinunter. Ein etwa 1 Meter langes und 50 cm breites Ding mit schwarzem Fell kratzte unter uns an dem Baumstamm und stieß diese fürchterlichen Geräusche aus. Das Ding war nur etwa 25 cm hoch und sah aus wie ein laufender Teppich! Auch wenn seine Zähne blitzten und seine Ohren sich rot färbten, besonders gefährlich sah das Tier eigentlich nicht aus. Wenn nur nicht diese fürchterlichen Schreie wären. „Deswegen sind wir auf dem Baum gelandet? Ist er giftig? Oder tritt er im Rudel auf?“ „Nein, nein Frank. Er ist nicht giftig und er ist ein Einzelgänger.“ „Was hat er dann an sich? Normalerweise erlegen wir ein Tier in dieser Größe doch ohne Probleme?“ Ich schaute mir unseren Belagerer noch genauer an. Irgendwie sah der schwarze Kerl da unten wie eine Mischung aus Dachs und Tasmanischem Teufel aus. Aber ein gefährliches Tier? „Warte, ich zeige es dir.“ Samson schaute nach oben, sah einige Zapfen und griff danach. Er zielte kurz und warf einen der Zapfen auf den Schreihals. Das Kreischen wurde noch lauter, als er getroffen wurde. Wie wild kratzte er an der Tanne, als plötzlich ein Strahl durchsichtiger Flüssigkeit aus seinem Maul auf uns zuschoss. Die Flüssigkeit erreichte die unteren Äste des Baumes, auf denen wir eben noch gesessen hatten. Ich erwartete, dass sich die Flüssigkeit als Säure entpuppte und sich in das Holz fraß. Doch nichts dergleichen geschah! Ich wollte schon an Samsons Verstand zweifeln, als plötzlich ein übler Geruch zu uns heraufstieg. So etwas konnte es doch gar nicht geben! Ich würgte und spürte den Eichhörnchenbraten von heute Morgen, der sich einen Weg in Richtung Mund bahnte. Neben mir blieb es nicht beim Würgen. Gemeinsam ließen Pierre und Sally den Dingen freien Lauf und spuckten die schon vorverdauten Essensreste in Richtung Stinkteufel. Ich schloss mich den beiden an und 140 übergab mich ebenfalls. Wie ich aus den Augenwinkeln registrierte, hielt unser Anführer – mit grünem Gesicht zwar, aber doch – noch eine Weile länger durch. Auch er musste allerdings schließlich den Kampf gegen das Erbrechen aufgeben. Mittlerweile goss es in Strömen. Der Geruch hatte sich etwas abgeschwächt, war aber immer noch deutlich wahrzunehmen. Unsere Mägen waren geleert, der Stinkteufel schob weiterhin Wache und stieß immer wieder durch Mark und Bein gehende, Schreie aus. Samson hatte uns zu absolutem Schweigen verdonnert. Jedes kleine Geräusch, egal ob ein Seufzen, ein Scharren oder eine kleine Positions-Veränderung auf dem unbequemen Ast, ließ die Wut des schwarzen Kerls wieder aufflackern. Die Ohren leuchteten dann rot auf und die Schreie verstärkten sich. Endlich, nach über zwei Stunden hörte die Belagerung auf. Dem Stinkteufel wurde es wohl zu nass. Er verschwand, sich immer wieder umdrehend, aus unserem Blickfeld. Wir warteten noch ungefähr eine Viertelstunde und kletterten dann erst möglichst leise den Baum hinunter. Wie vier begossene Pudel schlichen wir uns durch den strömenden Regen davon und hielten erst an, als er nach einer Stunde nachließ. Wir entzündeten auf einer kleinen Lichtung mühevoll ein Feuer und trockneten unsere Sachen. Nachdem wir die Reserve-Kleidung angezogen hatten, berichtete uns Samson von seiner ersten Begegnung mit so einem Stinkteufel. Damals war er von dem Strahl getroffen worden, wenn auch leicht. Über eine Woche hatte er damals mit dem Brechreiz zu kämpfen gehabt. Seine Kameraden und auch seine Familie hatten ihn gemieden. Der Geruch ließ sich einfach nicht abwaschen. Es war sogar soweit gekommen. das Samson einige Tage außerhalb seines Dorfes verbringen musste. Man konnte den Stinkteufel auch nicht töten. Wenn ihn ein Speer oder Pfeil traf, explodierte er regelrecht und verpestete seine Umgebung auf gut hundert Metern! Jetzt wurde uns allen klar, warum Samson lieber die Flucht angetreten hatte. Es war nun früher Nachmittag. Wir hatten einige Stunden verloren und beschlossen, bis zum Anbruch der Dunkelheit weiter 141 zu marschieren. Es wurde ein unruhiger Marsch. Bei jedem etwas außergewöhnlichem Geräusch zuckten wir zusammen. Der Stinkteufel spukte immer noch in unseren Köpfen herum. Gegen Abend erreichten wir einen kleinen See und schlugen dort unser Nachtlager auf. Ich hatte das Bedürfnis, mich gründlich zu waschen, besser noch zu baden und ging ans Seeufer. Die Sonne stand noch halb über dem See und schickte ihre letzten Strahlen auf das ruhig daliegende Wasser. Ein herrlicher Anblick! Ich zog mich nackt aus. Gerade als ich ins Wasser steigen wollte, tauchte der Riese auf. „Hier würde ich besser nicht schwimmen gehen!“ Fragend schaute ich ihn an. „Siehst du die Schildkröten da vorne?“ Ich nickte. „Das sind Schnappschildkröten. Ein Biss von ihnen und ein Zeh oder ein Finger sind weg. Ganz besonders gerne mögen sie den da!“ Er zeigte auf meinen Penis und machte mit seiner Hand eine schnappende Bewegung. Unwillkürlich zuckte ich zusammen und mein geliebtes Stück schrumpfte augenblicklich auf Minimalgröße, als sei ich ins Eiswasser gestiegen. Was für ein Scheiß-Tag! Doch damit noch nicht genug, erzählte unser Anführer am Lagerfeuer die kleine Geschichte in allen Einzelheiten. Nach dem schadenfrohen Gelächter von Pierre und Samson musste Sally natürlich auch noch ihren Senf dazugeben: „Schade, dass ich das nicht gesehen habe! Aber für die Zukunft kenne ich jetzt eine einfache Handbewegung, um dich im Zaum zu halten!“ Ihre Augen funkelten vor Vergnügen, während ich nur gequält die Augen verdrehen konnte. 142 Ein ganz normaler Tag (5.Tag) Am nächsten Tag ging unser Marsch weiter. Ich dachte noch länger über die Schnappschildkröten nach. Sicherlich ein Überbleibsel der Menschen aus meiner Zeit. Hin und wieder hatte man von Piranhas, Schlangen und kleinen Krokodilen in der Zeitung gelesen, die irgendein Idiot in einem Weiher entsorgt hatte. Man hatte sogar mal einen Badesee wegen einer Schildkrötenart leer gepumpt und sie trotzdem nicht gefunden. Wahrscheinlich hatten das Auspumpen Männer veranlasst. Bei solchen, unsere Männlichkeit bedrohenden Dingen, waren wir sehr gründlich! Im Übrigen ging man davon aus, dass diese exotischen Tiere bei uns nicht über den Winter kommen konnten. Wie man sich täuschen konnte! Fast hätte ich es am eigenen Leib erfahren. Mich schüttelte es bei dem Gedanken. Unvermittelt traten wir aus einem dichten Waldgebiet in das helle Licht einer kaum bewaldeten Fläche. Nein das war nicht ganz korrekt – es war eine ehemals bewaldete Fläche. Mehrere hundert Bäume lagen kreuz und quer vor uns. Hier musste ein schlimmer Sturm gewütet haben. Obwohl Mischwald nicht so empfindlich gegen Sturmschäden ist, wie die Monokulturen der Fichtenwälder, hatte es hier die Bäume ordentlich zerlegt. Wir schauten uns um. Ein Weiterkommen war hier so gut wie unmöglich, oder nur mit immensem Kraft- und Zeitaufwand. Uns blieb nichts anderes übrig, als am Rand des zerstörten Waldstücks entlang zu laufen, bis wir wieder in die ursprüngliche Richtung weiter marschieren konnten. Merkwürdigerweise gab es neben den meisten umgestürzten Bäumen größere Löcher, die aussahen wir Tierhöhlen. Auch Samson war dies aufgefallen. Er drehte sich zu uns herum. „Ratten! Sie haben in diesem Waldstück ihre Jungen großgezogen. Normalerweise ziehen sie durch die Gegend und bleiben nie lange an einem Ort. Doch einmal im Jahr, zur Paarungszeit, graben sie sich Höhlen und beschädigen dabei die Baumwurzeln. Sie gebären dort ihre Jungen. Nach etwa 4 Wochen ziehen sie dann weiter. Diese Höhlen sind schon lange verlassen, ein 143 Sturm hat dann die angeknacksten Bäume umgeblasen.“ Nach ein paar hundert Metern konnten wir unsere alte Richtung wieder einschlagen. Nach einer Weile erreichten wir mal wieder eine große baumfreie Fläche. Ein Meer aus Gelborange-blühenden Blumen sprang uns förmlich entgegen. Es schien sich um eine Art von Sonnenblumen zu handeln. Die Pflanzen hatten eine Größe von ungefähr zwei Metern, eine Blüte und Blätter wie eine Sonnenblume. Nur der Stängel war nicht grün, sondern bestand aus braunem Holz – ähnlich wie bei einem Haselnussstrauch. Über und auf den Blüten schwärmten tausende Bienen. Ihre Flügel verursachten ein auf- und abschwellendes Summen und Brummen. Wenn wir auch einen weiteren Umweg in Kauf nehmen mussten – niemand wollte durch das Bienenheer laufen – schien Samson hocherfreut über den Umweg zu sein. Wir zogen uns etwa 50 Meter in den Wald zurück und umrundeten das Sonnenblumenfeld. Samsons Blick richtete sich dabei immer wieder nach oben. Dann sah ich, wonach er die ganze Zeit Ausschau gehalten hatte. Bienennester! Etwa zweihundert Bienenvölker hatten, Baum an Baum, ihre Nester in etwa fünf Metern Höhe angelegt. Es herrschte ein Kommen und Gehen. Unermüdlich schafften die Bienen ihre Honigausbeute heran und luden ihre süße Fracht in den Bienenstöcken ab. „Geht etwa 500 Meter in diese Richtung“, Samson wies uns den Weg, „ich komme gleich nach. Vielleicht müssen wir noch einen kleinen Spurt einlegen, bereitet euch darauf vor.“ Uns war natürlich sofort klar, worauf es Samson abgesehen hatte. Honig war ein begehrtes Gut. Etwas schneller als sonst rückten Sally, Pierre und ich ab. Pierre und ich mühten uns dabei mit Samsons Rucksack ab. Bis zu diesem Zeitpunkt war mir nicht klar gewesen, welche Last Samson diesmal mit sich herumschleppte. Nach zweihundert Metern blickten wir uns um. Der Riese schien nach einem bestimmten Stück Holz zu suchen. Er wurde fündig. Es hatte die Form eines Bumerangs. Er holte sein Messer aus dem Gürtel, schnitzte einige Zeit an dem Holz 144 herum und schien schließlich zufrieden. Samson blickte noch einmal in unsere Richtung und gab ein Zeichen, dass wir uns noch weiter entfernen sollten. Rückwärts laufend zerrten wir den Rucksack mit uns. Wir wollten auf keinen Fall verpassen, wie er den Bienenstock vom Baum holte. Er holte aus, schleuderte den Bumerang und traf mit bemerkenswerter Präzision. Der Bienenstock stürzte zu Boden und zerbrach in mehrere Teile. Ein blitzschneller Griff, und die Waben befanden sich in Samsons Hand. Die Waben schüttelnd sprintete unser Freund los. Die Bienen schienen von der Schnelligkeit der Attacke zu verwirrt, um ihm folgen zu können. Eine Stunde später labten wir uns an dem vorzüglichen Honig. Die Suche nach Nahrung war auf all unseren Wanderungen immer ein wesentlicher Teil gewesen. Doch manchmal stolperte man fast über die nächste Mahlzeit. So auch an diesem Tag. Es war kurz vor Sonnenuntergang. Wir hielten gerade Ausschau nach einem geeigneten Lagerplatz. Ich hatte die Führung unserer kleinen Gruppe übernommen. Meinen Speer hatte ich wie immer in der rechten Hand. Ich benutzte die Schaftseite als Gehstock, als nur einen halben Meter vor mir ein Kaninchen aus seiner Deckung hervorsprang. Instinktiv änderte sich mein Griff am Speer von Spazierstock- in Wurfposition. Blitzschnell holte ich aus und schleuderte den Speer zielsicher in den Körper des Kaninchens. Ich hatte in den letzten zwei Jahren viel gelernt, aber das ich hier traf, überraschte mich selbst! Von Samson und Sally erntete ich ein anerkennendes Nicken. Pierre murmelte etwas von „Zufall“, klopfte mir aber kameradschaftlich auf die Schulter. Dieses Kaninchen schmeckte mir besonders gut! Doch nicht nur die Umwege und Jagden des heutigen Tages, auch die vergangenen Tage hatten uns immer wieder Zeit gekostet. Insgesamt dürften wir sicherlich wenigstens einen ganzen Tag verloren haben. Alles noch kein Problem, einen gewissen Zeitverzug hatten wir ja bei unserer Planung einkalkuliert. 145 Erdwürmer (6.Tag) Sally hatte mich in den frühen Morgenstunden zur Wachablösung geweckt. Wie schon so oft, drehten wir noch eine gemeinsame Runde um unser Lager herum. Diese Minuten gehörten uns ganz allein. Meist gingen wir wortlos Hand in Hand und genossen die Stille der Natur. Noch herrschte Dunkelheit um uns herum. In etwa einer Stunde würde die Sonne am Horizont erscheinen. Wir saßen noch für einige Minuten auf einem umgestürzten Baumstamm und lauschten den Geräuschen in unserer Umgebung. Plötzlich war im Dickicht einige Meter voraus ein leises Knacken zu vernehmen und jedes andere Geräusch erstarb. Sofort erhöhte sich unsere Aufmerksamkeit – diese Stille war nicht normal. Vielleicht ein Raubtier auf der Jagd? Vorsichtig standen wir auf und sondierten die Umgebung. Nichts. Dennoch sträubten sich mir die Nackenhaare, alle meine Sinne schlugen Alarm. Ich beugte mich zu ihr: „Geh so leise wie möglich zurück in unser Lager und weck Pierre und Samson. Ich werde mich in die Büsche schlagen und nachschauen, was los ist.“ Sally nickte mir zu und verschwand in der Dunkelheit. Automatisch fasste ich meinen Speer fester und tastete mit der Linken nach meinem Messer am Gürtel. So leise wie möglich schlich ich in der Dunkelheit durch das Gebüsch. Meine Sinne waren im höchsten Maße angespannt. Gefährliche Raubtiere gab es überall. Viele machten bei ihren Beutezügen auch vor Menschen nicht halt. Ich dachte sofort an den riesigen Löwbären, den Samson in Alt-Siegen nur mit Mühe und einigen Verletzungen besiegen konnte. „Bloß nicht so ein Monstrum“, schoss es mir durch den Kopf. Auf meiner Suche verließ ich die nähere Umgebung des Lagers und machte einen Bogen um hinter einen möglichen Gegner zu gelangen. Und da sah ich ihn. Das gefährlichste Raubtier von allen: Einen Menschen! Zuerst sah ich nur einen fast weißen Haarschopf hinter einem Baumstamm hervorschauen. Der Blick war in Richtung Lager gerichtet. Ich schlich näher heran und sah 146 den Körper des Mannes, ebenfalls merkwürdig hellhäutig. Er war nur mit einem Lendenschurz bekleidet. In den Händen hielt er einen kurzen Bogen, auf dem ein Pfeil aufgelegt war. Bevor ich näher heran kam, hob er den Bogen und zielte in Richtung Lager. Es war keine Zeit mehr zu verlieren. Ich hob meinen Speer an und lief mit wildem Gebrüll auf den Gegner zu. Vollkommen überrascht wirbelte der Angreifer herum, den Bogen in der Hand, nach einem Ziel in der Dunkelheit suchend. Er schoss. Für einen winzigen Moment spürte ich einen Luftzug an meinem linken Ohr, dann war ich über ihm. Mein Speer durchbohrte seine linke Schulter, der Bogen des Angreifers flog davon. Fast gleichzeitig hörte ich Kampfgeräusche aus dem Lager. Ich hatte es schon befürchtet, es gab mehrere Angreifer! Mein Gegner stöhnte schmerzhaft und sank zu Boden. Mit einem Ruck zog ich die Speerspitze aus seiner Schulter, trat ihm mit dem rechten Fuß unter die Kinnlade und schickte ihn ins Reich der Träume. Dann stürzte ich mich durchs Gebüsch in Richtung der Geräusche. Ich hörte einen schrillen Schrei. Sally! Wie eine Antilope übersprang ich den letzten Busch und stand mitten im Kampfgetümmel. Zwei Angreifer hatten sie mit ihren Messern an einen Baum getrieben. Sie verteidigte sich mit ihrem Speer, traf schließlich einen der Angreifer mit einem Rundumschlag an der Schläfe. Er sank zu Boden. Sein Kamerad nutzte die Gelegenheit, um mit dem Messer auf sie zu zielen, verfehlte aber knapp sein Ziel, da Sally einen Schritt zu Seite machte. Dann war ich heran und schlug mit der bloßen Faust so fest ich konnte in den Nacken des Angreifers. Noch während er zu Boden sank, sprang Sally an meine Seite. Ich wirbelte herum und gemeinsam nahmen wir den nächsten Gegner ins Visier. Auch Pierre hatte es mit mehreren Angreifern zu tun. Einem davon trat Sally mit voller Wucht von hinten in die Beine. Er knickte ein, ich erledigte mit einem Faustschlag den Rest. Während Sally und ich einen weiteren von Pierres Gegnern mit der gleichen Taktik aufs Korn nahmen, sah ich aus den Augenwinkeln Samson mit seiner gewaltigen Keule wüten. 147 Doch mir blieb keine Zeit für weitere Beobachtungen. Ich schickte einen weiteren von Sally vorbereiteten Kämpfer in die Bewusstlosigkeit. Pierres Speer bohrte sich fast gleichzeitig in den Oberschenkel seines letzten Gegners. Ich wirbelte herum. Zu Samsons Füßen lagen vier der Angreifer, drei weitere hielten inne, schrien sich etwas zu und liefen davon. Der Kampf war beendet. Während wir uns um Samson herum sammelten, bereit für die Abwehr eines weiteren Angriffs, erhoben sich nach und nach die am Boden liegenden Kämpfer. Sie schauten ängstlich zu uns herüber. Vorsichtig griffen sie sich ihre verletzten Kameraden und schleppten sie davon. Wir ließen sie gewähren. Einen der Angreifer ließen sie liegen. Ich beugte mich zu ihm hinunter und tatstete nach seinem Puls. Er war tot, Samsons Keulenschlag hatte er nicht überstanden. „Er hat es nicht überlebt.“ Ich schaute zu Samson hinauf. In seinem Gesicht bewegte sich kein Muskel, aber in seinen Augen sah ich das Bedauern. Er kniete sich neben mich und wir untersuchten den Toten. Schlohweißes Haar, wie das aller seiner Kameraden, umrahmte sein Gesicht. Die Haut war sehr hell, fast wie gebleicht. Doch das merkwürdigste waren die Augen des Angreifers. Die Pupillen waren stark vergrößert und fast weiß. „Ich habe auf meinen Reisen schon mal von solchen Leuten gehört“, begann Samson, „man nannte sie Erdwürmer.“ „Erdwürmer?“ fragte Pierre erstaunt, „was für ein seltsamer Name. Warum nannte man sie so?“ „Nun, sie leben wohl tief unter der Erde in der ewigen Dunkelheit. Sie kommen nur nachts aus ihren Höhlen, um zu Jagen. Vielleicht sind sie nur zufällig bei einem ihrer Jagdausflüge auf unser Lager gestoßen. Besonders gut organisiert war der Angriff nicht. Das war unser Glück, denn es heißt, sie jagen und essen alles. Damit meine ich, sie essen auch Menschen!“ Kannibalen! Mich schüttelte es. Bisher waren wir in diese Epoche fast immer nur auf friedliche Menschen gestoßen. Die Piraten ausgenommen, hatte es nur hin und wieder mal kleine Scharmützel mit anderen gegeben. 148 Aber auf Kannibalen waren wir noch nie gestoßen. Ich erhob mich. „Vielleicht sollten wir den Spuren folgen und sehen, wo sie geblieben sind. Die Sonne geht gerade auf, das dürfte nicht allzu riskant sein, wenn sie das Tageslicht meiden.“ Meine Freunde nickten zustimmend. Wir begruben den Toten und suchten dann die Spuren seiner Kameraden. Ihrer Fährte konnte man leicht folgen, hatten sie doch Verwundete bei sich, die sie mitschleppen mussten. Schließlich gelangten wir an den Rand einer größeren Lichtung. Um einen besseren Überblick zu haben, kletterte ich einige Meter hoch auf einen Baum. Schon nach kurzer Zeit stieg ich leise wieder nach unten. „Lasst uns hier verschwinden“, flüsterte ich den anderen zu, „ich erzähle euch alles nachher.“ Nachdem wir etwa eine Stunde Weg hinter uns gelassen hatten, legten wir eine kleine Rast ein. Ich begann meinen Bericht. „Ich habe zwei Wachposten gesehen, daher der Abgang. Doch der Reihe nach. Auf der Lichtung sah ich die Trümmer eines sehr großen Anwesens. Hier muss wohl früher ein stinkreicher Typ seine Villa hingestellt haben. Nicht weit vom ehemaligen Haus entfernt gibt es einen unterirdischen Zugang. Ich konnte extrem dicke Betonwände im Eingangsbereich und eine Stahltür ausmachen. Im Schatten der Betonwände sah ich zwei Wachposten stehen. Sie hatten Tücher vor den Augen, wohl um sich vor der Helligkeit zu schützen. Außerdem habe ich mehrere kleine Schornsteine aus dem Boden ragen sehen, auf einer sehr großen Fläche verteilt. Ich denke, es handelt sich um die Lüftungsschächte eines Atombunkers. Das Ding muss verdammt groß sein.“ In den Gesichtern meiner Freunde arbeitete es. „Die Bewohner des Bunkers müssen sehr lange nach dem großen Knall in dem Bunker gelebt haben“, kommentierte Sally. „Irgendwann ist ihnen der Diesel für die Generatoren ausgegangen und sie haben dort weiter in der Dunkelheit gelebt.“ „Ja, das glaube ich auch. Nach einigen Jahren in der Dunkelheit konnten sie sich wohl nicht mehr an das Tageslicht gewöhnen. Über die Generationen hinweg haben sich dann die großen 149 Pupillen und die helle Haut entwickelt. Verkürzte Evolution.“ „Evolution? Was ist das, Pierre?“ Pierre erklärte es Samson. Kurze Zeit später brachen wir dann wieder auf. Es war noch nicht einmal Mittag und wir hatten hier schon mehr erlebt als sonst in Neu-Siegen in einem Monat. „Wer weiß schon, was der Tag uns sonst noch bringen wird“, ging mir durch den Kopf. Am späten Nachmittag erreichten wir einen kleinen See, der von einem etwa drei Meter hohen Wasserfall gespeist wurde. Da wir in den letzten Stunden eine beachtliche Wegstrecke zurückgelegt hatten, beschlossen wir, hier unser Nachtlager aufzuschlagen. Es war ein herrlicher Ort. Das Wasser war klar, Laubbäume säumten das Ufer. Die Sonne würde wohl genau über dem Wasserfall untergehen. Während Pierre auf Brennholzsuche ging, zog es Sally hin zum Wasserfall. Samson und ich bereiteten unser Lager vor. Wir hatten schon ein kleines Feuer angezündet. Wir warteten auf Pierre, während meine Freundin sich unter dem Wasserfall aufhielt. Die Sonne stand direkt darüber und schien uns direkt ins Gesicht. Wir konnten Sally daher nur schemenhaft im Gegenlicht erkennen. „Weißt du, Frank“, begann Samson, „du hast unglaubliches Glück mit Sally. Sie ist wunderschön, klug und ausgesprochen mutig. Und wenn du es nicht versaust, wird sie dir eine treue Partnerin bis ans Lebensende sein.“ „Ja, ich weiß! Ich hätte es früher nicht einmal gewagt, an so etwas zu denken. Es waren erst eine Apokalypse und 500 Jahre Schlaf notwendig, um mich meinen Gefühlen zu stellen.“ Ich schaute zu Samson. „Aber was ist mit dir? Deine Frau ist nun schon vor langer Zeit gestorben. Willst du es nicht noch einmal versuchen, eine Familie gründen und wieder Kinder haben?“ Ich hatte Samsons wunden Punkt bewusst angesprochen, wenn nicht in dieser Situation, wann denn sonst! Die Frage geisterte schon lange in meinem Kopf herum. Für einen Moment sah ich Schmerz in des Freundes Augen, der zu meiner 150 Überraschung aber schnell wieder nachzulassen schien. „Du hast recht! Es wird dir nicht entgangen sein, dass ich hin und wieder auf unseren Reisen Kontakt mit Frauen gehabt habe. Doch das war nicht die Art von Frau, die ich suche. Aber ich bin mir sicher, ich werde sie eines Tages finden, vielleicht findet sie aber auch mich.“ Samson war immer sehr, sehr diskret in allen Belangen gewesen, die Frauen angingen. Ich glaube, ich ahnte eher, dass er was mit einer Frau hatte, als es zu wissen. Sally war mittlerweile ans Ufer geschwommen, hatte sich wieder angezogen und kam die kleine Böschung herauf. „Hey, was ist mit euch los? Ihr seht aus, als hättet ihr schwerwiegende Probleme zu wälzen! Springt ins Wasser und klärt eure Gedanken!“ Samson und ich sahen uns grinsend an, sprangen auf und hechteten samt Klamotten in den kleinen See. Kurze Zeit später gesellte sich Pierre auch noch zu uns. Wir entledigten uns unsere Kleider und planschten übermutig wie die kleinen Kinder im See. Es war einfach herrlich! Auch Sally saß entspannt am Ufer, genoss unsere Kindereien und sicherlich auch den Anblick von drei ziemlich gut gebauten, splitternackten Männern in allen Einzelheiten … 151 Heika (7.Tag) Nach einem kurzen Frühstück zogen wir weiter. Samsons Schätzungen zufolge würden wir morgen Mittag Attadorn erreichen. So langsam stieg die Spannung bei uns allen, was sich in einer relativ schweigsamen Wanderung bemerkbar machte. Wir hatten gerade eine kleine Hügelkette erklommen und waren auf dem Weg in die nachfolgende Senke, als uns eine Überraschung erwartete. „Schaut mal da vorne! Seht ihr das? Es sieht aus wie … wie … ein Schiff!“ „Ein Schiff mitten im Wald? Pierre, du hast wohl einen Sonnenstich!“, rief Sally empört. Nach Pierres Worten reckte ich mich in die Höhe, um einen besseren Überblick zu bekommen. Tatsächlich, unten in der Senke lagen die Überreste eines großen Schiffes. Auch Sally und Samson hatten es mittlerweile entdeckt. Erstaunt steuerten wir darauf zu. Wie zum Teufel kommt ein Schiff mitten in den Wald? Eine verheerende Flut? Ein Erdbeben? Als wir es erreicht hatten, kamen wir nicht aus dem Staunen heraus. Sicher, es war fast nur noch ein Haufen Schrott, aber ein ziemliche großer Schrotthaufen. Ich schätzte die Länge auf etwa 50 Meter. Die meisten Teile des Schiffes hatten die schmutzigbraune Farbe des Rostes angenommen, hier und da schimmerte noch etwas weiße Farbe durch. Gemeinsam umrundeten und bestaunten wir diese Merkwürdigkeit. Doch auf der anderen Seite angekommen, erklärte sich plötzlich alles. Auf dem mittleren Teil des Rumpfes prangten einige Buchstaben. „WESTFA…“ konnte ich entziffern. Natürlich! Dieses Schiff war nicht durch Sturm oder Erdbeben hierher gelangt, es war früher hier gefahren! Wir mussten uns mitten im ehemaligen Biggesee befinden. Die MS Westfalen war eines der Schiffe, die hier verkehrten. Sally, Pierre und ich hatten hier sogar mal eine Betriebsfeier erlebt. Die beiden unterhielten sich ein paar Meter weiter mit Samson darüber. Der Biggesee war verschwunden, kein Wunder nach so langer 152 Zeit. Aber dieses Schiff war noch ein Zeitzeuge aus meinem früheren Leben. Es fühlte sich in meinem Inneren seltsam an, vielleicht etwas nostalgisch – mehr nicht. Das Schiff war die Vergangenheit! Das Stück Wald, in dem es stand, war das Hier und Jetzt. Ich war wohl endgültig im Hier und Jetzt angekommen. Wir verzichteten darauf, die MS Westfalen zu durchsuchen. Durch den vielen Rost war es einfach zu gefährlich. Unser Weg führte aus der Senke wieder hinauf in den Wald. Der Eichenwald, durch den wir wanderten, erleichterte uns den Weg ungemein. Durch den dichten Blätterwald schien nur hier und da die Sonne und so konnten am Boden kaum Sträucher wachsen, die unseren Weg behinderten. Vor etwa einer Stunde waren wir sogar auf einen Pfad gestoßen. Wir waren auf dem richtigen Weg! Ich glaube nicht, dass ich jemals zuvor durch einen so großflächigen Eichenwald gewandert bin. In den alten Zeiten gab es höchstens Eichenhaine von geringer Ausdehnung. Es war immer wieder fantastisch zu sehen, was die Natur ohne die Einflussnahme des Menschen erreichen konnte. Unter unseren Füßen knirschten die Eicheln. Es schien die Zeit zu sein, die früher der Herbst gewesen war. Die Natur hatte sich umgestellt. Hatte es früher vier Jahreszeiten gegeben, schien es heute nur noch eine zu geben. Abgesehen von den Regenperioden. Irgendwie hatte sich das schon in meiner Jugend abgezeichnet. Immer öfter war der Schneefall im Winter ausgeblieben, die Temperaturen nicht mehr so oft unter Null gegangen. Mein Vater hatte mir noch von echten Wintern erzählt, in denen es sogar in Köln wochenlang Schnee gegeben hatte. Im Siegerland, unserem ehemaligen Arbeitsort, waren die Temperaturen seinerzeit auch oftmals unter 15 Grad Minus gefallen. Vorbei! Der Mensch hatte, neben der damaligen Umweltverschmutzung, mit dem Einsatz seiner ABC Waffen vor 500 Jahren für diese völlig veränderten Umweltbedingungen gesorgt. In grauer Vorzeit waren einige Tausend Jahre für eine Klimaveränderung nötig gewesen, der Mensch hatte es in Zweihundert Jahren plus einen Tag Apokalypse geschafft. Doch die 153 Natur hatte sich darauf eingestellt. Zumindest hier in Mitteleuropa. Aus den Unterlagen der Gen-Mutanten wussten wir, dass sie den zentralen europäischen Raum nur mit wenigen atomaren Raketen und relativ wenigen Bio- und Chemiewaffen verseucht hatten. Schließlich hatten sie dieses Gebiet für ihre eigenen Zwecke auserkoren. Ob es der Natur in den anderen Teilen der Erde genauso gelungen war, sich zu regenerieren wie hier, erschien zumindest sehr zweifelhaft. So verbrachte ich den Morgen mit meinen Gedanken, bis wir gegen Mittag eine Rast einlegten. Ein kleines Feuer züngelte vor sich hin und wir bereiteten uns einen Tee aus Samsons Kräutervorrat zu, als Samsons Kopf hoch ruckte: „Wir bekommen Besuch. Ich glaube nicht, dass es sich um Angreifer handelt. Sie sind sorglos und machen eine Menge Lärm. Haltet aber für alle Fälle eure Waffen bereit.“ Unwillkürlich zog ich meinen Speer dichter an den Körper und überprüfte den Sitz meines Messers. Es dauerte noch ein wenig, bis auch ich die Geräusche der herannahenden Menschen wahrnehmen konnte. Am Rande unserer kleinen Lichtung blieben die Neuankömmlinge stehen und riefen uns an: „Hallo Feuer! Wir sind friedliche Wanderer, die nur hier durchziehen. Dürfen wir ans Feuer kommen?“ Statt einer Antwort erhob sich Samson und winkte sie heran. Nach und nach versammelten sich etwa 25 Männer, Frauen und Kinder. Es schien sich nur um Normal-Gestaltete und Spinnenmenschen zu handeln. Sie alle trugen ausschließlich braune Wildlederkleidung und waren offensichtlich Jäger und keine Viehzüchter wie die Menschen in unserem Dorf. Wir hatten schon lange die Kleidung aus dem 21. Jahrhundert verschlissen und trugen schwarze und braune Lederkleidung aus Kuhhäuten, was uns als Viehzüchter auswies. Nur Samson trug wie immer sein Löwbärfell. Nach einer kurzen Begrüßung verteilten sich alle auf der Lichtung. Der Anführer kam zu uns ans Feuer. „Wir sind aus dem Städtchen Attadorn auf dem Weg zu unseren Verwandten, den Drolshagenern.“ Nachdem wir uns als Neu-Siegener zu erkennen gegeben 154 hatten, kamen wir ins Gespräch. Die Wanderer erzählten uns einige sehr interessante Dinge. „Wir sind auf unserer alljährlichen Reise zu unseren Verwandten. Jedes Jahr kurz vor der Sommersonnenwende verlassen alle Familien unsere Dorfgemeinschaft Attadorn, um erst sieben Tage später zurückzukehren.“ Obwohl ich mir natürlich denken konnte, warum gerade zu dieser Zeit das Dorf verlassen wurde, fragte ich nach. „Diese Zeit ist seit Generationen tabu! Jeder, der sich um die Sommersonnenwende dort aufhält, wird von fliegenden Schiffen verfolgt und durch Blitze getötet. Doch was treibt euch in diese Gegend?“ Ich wollte natürlich nicht sofort mit der Tür ins Haus fallen und versuchte es daher mit vorsichtigen Worten. „Wir haben von den Höhlen in Attadorn …“ „Tabuuu!Tabuuu!“ schallte es uns aus 25 Kehlen entgegen. Und wieder: „Tabuuu!Tabuuu!“ Das Geräusch das sie dabei erzeugten ging durch Mark und Bein. Bevor ich nach dem Grund für ihr Tabu fragen konnte, sprach uns der Anführer mit Nachdruck an. „Niemand darf sich den Höhlen nähern! So steht es seit Generationen geschrieben! Ich rate euch, nicht dorthin zu gehen. Schon gar nicht um diese Zeit! Es würde euren Tod bedeuten!“ „Nun gut. Wir haben eine sehr wichtige Mission zu erledigen. Könnt ihr uns zumindest den Weg zu den Höhlen beschreiben?“ Der Anführer der kleinen Schar schaute uns missbilligend an. „Wenn ihr unbedingt sterben wollt? Ich habe euch gewarnt! Heika ist eine unserer besten Jägerinnen. Sie hat als Kind verbotenerweise oft bei den Höhlen gespielt. Manchmal glaube ich, dass sie sich auch heute noch gelegentlich dort herumtreibt. Sie kann euch den Weg am besten erklären. Heika!“ Der Anführer erhob sich und machte Platz für die angesprochene Jägerin. Als sie an dem Anführer vorbei ging, fiel mir zuerst ihre Größe auf. Sie war um die dreißig und mit rund 1,70 Metern relativ klein in einem Umfeld von Menschen, deren Körpergröße oft bei zwei Metern lag. Die vierarmigen 155 Spinnenmenschen waren sogar in der Regel noch größer. Ich stellte sie mir neben dem riesigen Samson vor und musste grinsen. Wie Patt und Pattachon, zwei der unterschiedlichsten Typen aus der Stummfilmzeit! Mein Grinsen schien sie irgendwie zu Irritieren. Ihre gerade noch fragenden Augen veränderten sich plötzlich zu schmalen Schlitzen, die Blitze in meine Richtung zu schießen schienen. Meine Güte, was für Augen! Ich versuchte das Grinsen in ein Lächeln umzuwandeln, was mir wohl leidlich gelang, denn sie wandte sich an meine Freunde und stellte sich kurz vor. Ich beobachtete sie dabei. Sie hatte tiefschwarze, kurze Haare mit einer weiß-gefärbten Strähne. Auf ihrem sympathischen Gesicht hatten sich ein paar Sommersprossen verteilt. Um ihre Mund- und Augenwinkel zeigten sich kleine Lachfältchen, welche ihr Gesicht noch anziehender machten. Ihr Körper war gut durchtrainiert, bis auf ein kleines süßes Bäuchlein. Sollte sie …? Heika setzte sich zu uns und begann ohne Umschweife: „Wenn ich euch schon in den Tod schicken soll, dann müsst ihr mir alles erzählen. Ich will genau wissen, was ihr vorhabt, sonst bleiben meine Lippen stumm!“ Wir schauten uns an. Sie konnte für uns wichtige Informationen haben und so begann Samson zu erzählen, was mich etwas verwunderte. Normalerweise überließ er uns ausführliche Schilderungen. Heika hörte sehr aufmerksam zu. Als Samson geendet hatte, rechneten wir mit der Wegbeschreibung ihrerseits. „Ich werde euch begleiten. Ohne mich habt ihr keine Aussicht auf Erfolg!“ Heika erhob sich und teilte ihre Entscheidung dem Anführer mit. Sofort erhob sich dieser, schaute Heika noch einmal bedauernd an und gab dann das Zeichen zum Aufbruch. Während sich die kleine Lichtung leerte, waren wir immer noch perplex. Schließlich trat Samson vor und ging auf Heika zu. „Heika, so sehr ich deine Erfahrung auch schätze, du kannst nicht mit uns kommen. Es ist viel zu gefährlich.“ „Gefährlicher als für euch? Das glaube ich dir nicht!“ 156 „Du kannst nicht mitkommen“, wiederholte Samson, „nicht in deinem Zustand!“ Auch er hatte das Bäuchlein gesehen und zeigte darauf. Für eine Sekunde stutzte Heika, schaute hinunter auf ihren Bauch und fing schallend an zu lachen. „Ihr denkt, ich sei schwanger? Nein, nein. Das sieht nur so aus. Wir haben jedes Jahr vor der Sommersonnenwende ein drei-tägiges Fest mit allem, was die Speisekammern zu bieten haben. Da hab ich es wohl etwas mit dem Essen übertrieben“, und etwas leiser fügte sie hinzu: „Mein Gefährte ist vor fast genau zwei Jahren gestorben. Ich kann nicht schwanger sein.“ Damit war die Sache für sie erledigt. Zehn Minuten später hatten wir unser Lager abgebrochen und wir marschierten weiter. Heika voran. Bis zum Abend folgten wir dem Weg, den unsere neue Gefährtin und ihre Familie zuvor gegangen waren. Wir lagerten direkt an einem kleinen See. Mein Appetit war nicht sonderlich groß. Mir schwirrten allerlei Gedanken durch den Kopf und ich entschloss mich zu einem Rundgang um den See. Als ich gut 300 Meter von unserem Lagerplatz entfernt war, hörte ich ein plätscherndes Geräusch. Neugierig schaute ich durch die Bäume des Seeufers und erkannte Heika splitternackt durch den See schwimmen. Sie schien das Bad zu genießen, kraulte, tauchte und ging dann in die Rückenlage über. Ihre Brüste hoben und senkten sich im Takt der Kraulschläge. Ein sehr ästhetischer Anblick. Ein kurzer Blick auf ihre Schamgegend bestätigte meine Vermutung. Ihr schwarzes Haar war nicht überall schwarz! Wieder einmal musste ich grinsen. Die Frauen in allen Zeiten hatten eines gemeinsam: Den Spaß, ihren Körper zu schmücken, egal ob es Schmuck, Tatoos oder gefärbte Haare waren. Gerade als ich mich wieder auf den Weg machen wollte, spürte ich jemanden hinter mir. Natürlich, das konnte nur Sally sein. „Na mein Lieber? Gefällt dir, was du siehst?“ Langsam drehte ich mich um. „Ich, äh, ja, äh, nein … Ich wollte gerade …“ „Ganz ruhig Frank. Ja, sie ist eine schöne Frau. Aber ich weiß, das sie nicht auf dich steht.“ Während sie dies sagte, umarmte 157 sie mich mit beiden Armen und zog mich an ihren Körper. Wir liebten uns im weichen Gras, als wäre es das letzte Mal und vielleicht sollte das ja sogar stimmen … Attadorn (8.Tag) Heika hatte uns am nächsten Tag noch vor Mittag nach Attadorn geführt. Wir standen in dichtem Gebüsch und beobachteten seit geraumer Zeit den Eingang der Höhle. Er lag etwas höher als unser Standort, ein breiter Weg schien einen Berghang hinauf dorthin zu führen. Wenn wir es von hier aus richtig erkennen konnten, verschloss ein großes Tor den Eingang. „Soweit ich mich an die Besichtigung der Tropfsteinhöhle erinnern kann, war der Weg zur Höhle damals nicht so breit ausgebaut und das Eingangs-Portal wesentlich kleiner“, erinnerte sich Sally. „Vielleicht haben die Mutanten die Höhle für ihre Zwecke ausgebaut. Da war sicherlich schweres Arbeitsgerät erforderlich.“ „Wie dem auch sei. Wir hocken hier seit fast zwei Stunden“, warf Pierre ungeduldig ein. „Nichts und niemand scheint den Eingang zu bewachen. Kameras sind auch keine zu entdecken. Wir sollten endlich aufbrechen und schauen, ob wir überhaupt in die Höhle hineinkommen!“ Ich wandte mich an Heika. „Du hast uns sicher hierher gebracht, du musst nicht weiter mitkommen.“ „Ich muss nicht – aber ich will! Seit Kindertagen werde ich von dieser Höhle angezogen, trotz unseres Tabus. Ich will endlich wissen, wie es da drinnen aussieht!“ Ich sah Samson Hilfe suchend an, doch der zuckte nur mit den Schultern. Wir brachen auf. Vorsichtig, immer wieder nach Kameras oder Wachen spähend, näherten wir uns über die breite Auffahrt dem Eingang. Schließlich standen wir vor dem riesigen Tor. Es war aus Stahl und bestimmt 5 x 5 Meter groß. Kein Griff, kein Schloss, nur eine riesige Stahlplatte! Samson mit 158 all seiner Kraft oder auch Sally mit ihren Schlossknacker-Fähigkeiten konnten hier absolut nichts ausrichten. Vermutlich wurde die Stahlwand über ein Funksignal von den Mutanten gesteuert. War das schon das Ende unseres Vorhabens? Ich sah in die enttäuschten Gesichter meiner Freunde. Mein Blick wanderte zu Heika. Sie schien nicht besonders überrascht zu sein. Irgendetwas hatte sie noch in Petto! „Was ist? Hast du noch eine Idee?“, fragte ich etwas unwirsch. „Wenn du es genau wissen willst, ich hab da noch eine Idee. Kommt mit.“ Sie führte uns zurück und um den kleinen Berg herum. Schließlich stoppte sie, als suche sie etwas. Sie räumte einige Äste und Büsche beiseite und grub mit ihren Händen oberflächlich in der Erde herum. Schließlich hatte sie das Objekt ihrer Begierde gefunden. Neugierig ging ich auf sie zu. Ein alter Grenzstein! „Hier müssen wir hoch. Oben auf dem Berg gibt es eine alte Tür. Vielleicht kommen wir dort hinein. Ich hab sie als Kind gefunden und immer davon geträumt, sie irgendwie aufzubekommen. Vielleicht schaffen wir es ja gemeinsam!“ Heika kletterte voran. Die Wand war ziemlich steil, Sträucher und Bäume versperrten immer wieder den Weg. Oben angekommen, wandte sie sich erst nach links, danach wieder nach rechts, um dann endlich noch ein kleines Stück hinunter zu klettern. Sie musste sehr oft hier gewesen sein, denn sie schien jeden Felsen und jeden Baum zu kennen. Ich schaute Sally fragend an. „Frank, ich habe keine Ahnung, wie weit die Höhle wirklich reicht. Damals gab es eine Führung über etwa 800 Meter, die fast nur aus ausgebauten Wegen und Stegen bestand. Wie viele Seitenarme die Höhle außerdem noch hat, weiß ich auch nicht. Jedenfalls sagte der Führer, sie sei noch nicht vollständig erschlossen und hätte wahrscheinlich eine Ausdehnung von mehr als sechs Kilometern.“ Wir kraxelten mühevoll weiter. Schließlich hielt Heika an, räumte einen kleinen Busch beiseite und da war er dann: Ein etwa ein mal ein Meter breiter Eingang, verschlossen mit einer 159 Tür aus Stahlblech. Diese Tür stammte auf jeden Fall noch aus der Zeit vor der Katastrophe. Die alte grüne Farbe war an vielen Stellen abgeplatzt und von borkigem Rost unterwandert. Oberhalb eines Schlüssellochs gab es einen ehemals schwarzen, eisernen Griff. Ich fasste danach und hatte ihn gleich darauf in der Hand. Durchgerostet, abgerissen. Die Tür an sich machte allerdings noch einen relativ stabilen Eindruck. Das Schloss von Sally knacken zu lassen, würde sinnlos sein. Wind und Wetter hatten es festrosten lassen. Hier half nur noch rohe Gewalt. Ich machte Platz für Samson. Er erledigte es dann mit Köpfchen und Kraft. Seine Finger tasteten zunächst rund um die Tür, dann um den Rahmen. Schließlich fand er eine Lücke, die groß genug war, um mit seinen Fingern hineinzugreifen. Unsere Führerin schaute mit skeptischem Blick zu. Sie glaubte wohl nicht, dass Samson diese Tür aufbrechen könnte. Samsons Arme und Schultern spannten sich, seine gewaltigen Muskeln traten hervor. Die Tür knirschte, gab aber nicht nach. Er veränderte seinen Stand, um seine Kräfte besser einsetzen zu können. Ein gewaltiger Ruck, Steine brachen aus dem Fels hervor und unser Freund hatte die Tür mitsamt der Angel herausgerissen. Ich hielt den Atem an. Insgeheim hatte ich mit heulenden Alarmsirenen gerechnet, doch es blieb still. Während Samson die Tür beiseite schob, schaute ich nach verborgenen Drähten. Nichts. Die Mutanten schienen diesen Eingang nicht zu kennen. Samson hatte es besonders schwer, sich durch den Eingang zu quetschen. Seine riesige Körpergröße und seine extrem breiten Schultern waren hier von Nachteil. Wir hatten einige Fackeln aus unseren Rucksäcken geholt, zündeten sie an und schauten uns um. Eine kleine Höhle tat sich vor uns auf, hier und da gab es einige Tropfsteingebilde, manche davon waren beschädigt. Vielleicht war dieser Eingang der ursprüngliche Einstieg gewesen und man hatte später erst das jetzige große Tor angelegt. Hoffentlich gab es eine Verbindung zu den anderen Teilen der Höhle. Am Ende gab es zumindest einen kleinen Gang. 160 Im Gänsemarsch steuerten wir darauf zu. Wir kamen nur sehr langsam voran, immer wieder gab es enge Spalten, durch die wir kriechen mussten. Hier und da konnte man die Schönheit der Höhle ahnen. Nicht nur Stalagmiten und Stalaktiten, sondern auch gardinenartige Fächer und regelrechte Skulpturen säumten unseren Weg. Nach einiger Zeit gelangten wir in einen größeren Raum des Höhlensystems. Es reichte ein Blick und die aufkommende Begeisterung für die wunderbare Tropfsteinwelt war vergessen. Diese Halle hatte sicherlich eine Größe von 250 Quadratmetern. Auf der gegenüberliegenden Seite unseres Standortes schien eine Betonwand zu verlaufen. Seitlich waren einige Gitter angebracht, die jeweils mannshohe Röhren verschlossen. Sie schienen in die Betonwand zu führen. Doch nicht dieser Stilbruch schockierte uns, sondern die Skelette, die überall auf dem Boden herumlagen. Es mussten Hunderte sein, Stofffetzen hingen hier und dort an den Knochen. Einige hatten schwarze Anzüge an, die wir sehr gut kannten. Zuletzt hatten wir sie in dem Gebäude am Kölner Dom gesehen, als Samson den weißen Gen-Mutanten besiegt hatte. Fassungslos wateten wir durch das Knochenmeer. Wir erreichten die Betonwand mit den Gittern. „Was hier wohl geschehen ist?“ Pierres Stimme hatte unwillkürlich einen gedämpften Tonfall angenommen. Samson war sonst nicht so leicht aus der Ruhe zu bekommen, aber als er jetzt sprach, zitterte seine Stimme vor unterdrückter Wut. „Das ist gar nicht so schwer zu erraten. Die Mutanten haben dieses Gebilde hier bauen lassen“, er wies auf die Betonwand. „Als die Arbeiten erledigt waren, haben sie die Arbeiter umgebracht und einfach weggeworfen. Und ihre Schwarz-gekleideten Aufpasser gleich mit. Niemand sollte hiervon erfahren.“ Ja, das klang logisch. Trotz des Ekels über die Tat, schoss mir ein Gedanke durch den Kopf. Irgendwie mussten diese Menschen ja hier hineingekommen sein, sei es schon tot oder auch noch lebendig. 161 In der Nähe musste es es also einen Zugang geben! Ich hob meine Fackel in Augenhöhe und suchte die Betonwand nach Lücken ab. Mit der rechten Hand fuhr ich immer wieder über die raue Oberfläche der Wand. Ein schmaler Ritz, ein kleines Schlüsselloch oder ein versteckter Türgriff musste doch zu finden sein. Meine Freunde hatten sofort verstanden, was ich mit meiner Suche erreichen wollte. Auch ihre Hände tasteten Zentimeter für Zentimeter den Beton ab. Am Ende der Wand wurde Sally schließlich fündig. Ein kleines Schlüsselloch war ihrer Aufmerksamkeit nicht entgangen. „Hierher! Ich hab den Eingang gefunden!“ Wir schauten uns diesen möglichen Eingang genau an. Das Schlüsselloch war sehr klein und die Umrisse der Tür waren nur aus nächster Nähe auszumachen, so geschickt war sie in der Wand eingelassen. „Was machen wir nun? Brechen wir die Tür auf?“ „Nein Pierre, lass es erst einmal Sally versuchen. Schließlich hat sie schon einmal eine Tür geknackt. Wir sollten so wenig Spuren wie möglich hinterlassen.“ Samson hatte recht. Ein gewaltsamer Einbruch dürfte auch hinter der Betonwand Spuren hinterlassen. Wenn unsere Vermutung richtig war, befand sich hinter der Tür ein Gang, der zum Versammlungsort der Gen-Menschen führte. Sally kramte in ihrem Rucksack, holte zwei Drahtstücke hervor und begann in dem kleinen Schloss herumzustochern. Schon nach kurzer Zeit machte es „klick“ und die schwere Tür schwang geräuschlos nach innen auf. Fantastisch! Wir schauten erwartungsvoll in den Gang hinein, doch nichts als absolute Dunkelheit erwartete uns hier. Samson nahm seine Fackel und machte den ersten Schritt hinein. Kaum hatte er den Boden des Ganges berührt, flammte auch schon ein Licht auf. Ich bemerkte, wie der Riese kurz zusammenzuckte, dann aber unbekümmert weiter hineinging. Wir folgten ihm und schauten uns um. Das Licht reichte etwa 20 Meter vor und hinter den jeweiligen Standort. Wahrscheinlich handelte es sich um im Fußboden eingelassene Sensoren, die das Licht immer nur in 162 einem begrenzten Bereich an- und ausschalteten. „Hier brauchen wir keine Fackeln“, war Pierres Kommentar. Wir gingen zurück in die Höhle, löschten alle Fackeln und deponierten sie so, dass man sie nicht sofort bemerkte, aber dass sie dennoch für uns schnell zu erreichen waren. Als wir wieder in den Gang traten, bemerkten wir auch unsere Fußspuren, die wir als Kalkablagerungen aus der Höhle hineingetragen hatten. Also wieder in die Höhle hinein, alle Spuren im Gang beseitigen und unsere Schuhe gründlich reinigen. Endlich waren wir alle im Gang versammelt, die Tür fiel hinter uns zu. Erst in diesem Augenblick erkannte ich die Schienen, die an der anderen Seite des Ganges entlangliefen. Hier musste wohl früher schweres Material transportiert worden sein, vermutlich für den Bau der Anlage. Die Schienen waren in sehr gutem Zustand und relativ blank. Das zeigte uns, das zumindest hin und wieder immer noch Dinge darauf transportiert wurden. Wir machten uns auf, den Versammlungsort der Gen-Mutanten zu erkunden. Da wir keine Ahnung hatten, in welchem Teil der ehemaligen Tropfsteinhöhle wir uns befanden, war es egal, in welche Richtung wir gingen. Wir entschlossen uns für den Gang, der nach links führte. Das Licht sprang vor uns lautlos an und erlosch hinter uns wieder. Wir hatten ungefähr einen Weg von 200 Metern zurückgelegt, als wir eine Wand erreichten. Bisher waren wir an keiner Abzweigung oder Tür vorbeigekommen. Wir näherten uns dem Hindernis. Ich befühlte die Wand und tastete sie forschend ab. „Stahl! Von der Größe her würde ich sagen, es handelt sich um das Eingangstor. Wir sollten nach einem Mechanismus suchen, der es uns ermöglicht sie von innen zu öffnen – falls wir später schnell verschwinden müssen.“ Lange Suche war nicht notwendig. Rechts neben dem Stahltor befand sich ein Hebel. Wir waren uns sicher, mit ihm das Tor öffnen zu können. Wir unterließen es jedoch, ihn zu betätigen. Niemand konnte wissen, ob er nicht irgendwo ein verstecktes Alarmsignal auslösen würde. Etwas erleichtert, eine zweite eventuelle Möglichkeit zur Flucht gefunden zu haben, machten 163 wir kehrt. Seitlich neben dem Eingangstor setzte sich der Gang in etlichen Windungen fort. Vermutlich folgte er dem ursprünglichen Verlauf der Höhle. Nach der letzten Biegung gabelte sich der Gang. Kurz hinter der Gabelung zeigte sich die erste Tür im linken Abzweig. Sie war nummeriert. Die Zahl 48 stand dort. Die Tür war unverschlossen und wir gingen hinein. Licht flutete auf und vor uns tat sich ein etwa 40 Quadratmeter großes Appartement auf. Es sah aus wie in einer auf gehobenem Standard eingerichteten Hotelsuite. Alles, was man zum Wohnen braucht, war vorhanden, es hatte einen geradlinigen, nüchternen Stil. Das Bett maß etwa 2,50 Meter im Quadrat und schien wie frisch bezogen. Kein Fältchen war zu sehen. Dusche, Toilette, Waschbecken, Spiegel, alles von hervorragender Qualität. Mehrere Bildschirme über einer Sitzgelegenheit rundeten das Bild ab. Wahrscheinlich dienten sie der internen Kommunikation. Warum sie diese Einrichtung benötigten, war mir allerdings schleierhaft. Hatte doch der getötete Mutant ausgiebig mit den telepathischen Fähigkeiten seiner Gruppe geprahlt. Heika hatte noch kein einziges Wort gesagt, seitdem wir in den Gang eingedrungen waren. Jetzt stand sie staunend vor dem Bett und wollte nach dem Stoff greifen. „Nichts anfassen! Die Mutanten haben ein ausgezeichnetes Gedächtnis. Vielleicht sogar ein fotografisches.“ „Was meinst du mit ,fotografisch‘?“ Ich überlegte kurz. „Das bedeutet, dass sie sich sehr genau an alles erinnern, was sie jemals gesehen haben. Wenn wir hier also etwas in Unordnung bringen würden, könnten sie es bemerken!“ Heika nickte verstehend. Für sie musste es sehr schwer sein, so viele neue Eindrücke zu verarbeiten. Das fing wohl bei der Bettwäsche an und hörte bei der Toilette auf. Wir verließen den Raum und achteten sorgfältig darauf, keine Spuren hinterlassen zu haben. Von nun an reihte sich ein Raum an den anderen. Zwei weitere schauten wir uns noch an. Die Nummern 47 und 46. Alles gleich! Je tiefer wir in die Anlage vordrangen, umso niedriger wurden die Zahlen. Wie ich erwartet hatte, gab es 48 164 Apartments, genau jeweils eines für die uns bekannte Zahl der Gen-Mutanten. Nun ja, es waren ja nur noch 47, seit unserem Abenteuer in Köln. Wir warfen noch einen kurzen Blick in den Raum von Nummer Eins. Alles war gleich, nur war hier der Bildschirm wesentlich größer – hier liefen wohl die Fäden zusammen. Nun wurde es interessant. Gab es noch weitere Räume und wenn ja, wozu dienten sie? Einen Konferenzraum gab es sicherlich auch noch. Wohin führten die Schienen? Ihr gepflegter Zustand wies darauf hin, dass sie auch heute noch einem bestimmten Zweck dienten. Wir verließen Raum Nummer Eins. Etwa 50 Meter weiter wurden wir erneut fündig. Die Ziffer „0“ stand an der Tür. Als wir sie öffneten, war uns sofort klar: Dies musste der Konferenzraum sein. Es war der bisher größte Saal. In der Mitte stand ein riesiger, runder Tisch mit 48 Stühlen. Im ersten Moment dachte ich an König Artus und die Tafelrunde. Der Gedanke verbot sich mir aber sofort. Dies war keine Runde, die sich mit Gerechtigkeit und Ritterlichkeit beschäftigte, sondern mit Massenmord und Größenwahn, eine wahre Teufelsrunde. Wir verließen den Raum. „Sally, kannst du dich noch ungefähr daran erinnern, wie groß die Höhle war?“ „Nach meiner Schätzung dürfte das ursprüngliche Höhlenende fast erreicht sein. Die Mutanten haben sie aber ausgebaut, sonst könnten nicht so viele Seitenräume existieren. Von der ursprünglichen Schönheit dürfte wegen des Ausbaus nichts mehr übrig sein. Die wenigen Tropfstein-Formationen, die wir bei unserem Einstieg gesehen haben, sind sicherlich der kärgliche Rest.“ Wir folgten weiter dem gewundenen Gang. Etwa zweihundert Meter schlängelte er sich ohne irgendeinen Einlass dahin. Vermutlich waren die Felsen hier zu hart gewesen, um Platz für Räumlichkeiten zu schaffen. Dann endete der Stollen, Weg und Schienen gabelten sich ein weiteres Mal und es tat sich vor uns jeweils eine lange Gerade 165 mit zahlreichen Türen auf. Wir entschieden uns wiederum für den linken Weg. Die Türen waren hier mit römischen Ziffern gekennzeichnet. Die ersten beiden Räume waren Kühlkammern, hier wurden große Mengen von Lebensmitteln tiefgefroren gelagert. Man hörte das leise Summen der Kühlaggregate. Dass die Mutanten über beträchtliche technische Möglichkeiten verfügten, war uns spätestens nach der Sichtung ihrer Fluggeräte klar geworden. Eine dauerhafte Energieversorgung für diese Höhlen herzustellen, dürfte kein Problem für sie gewesen sein. Nach den Kühlkammern folgte eine Küche mit Speisesaal. Weitere Räume beinhalteten Werkzeuge, elektronische Bauteile, Kleidung, allerlei Möbel und was man sonst noch so für ein angenehmes Leben benötigte. Am Ende des Ganges ging es nach rechts. Hier gab es eine große Zahl von Laborräumen, ich zählte zwanzig davon. Aber der riesige Komplex ging noch weiter. Wir passierten mehrere Gabelungen, die jedoch nicht mit Schienen ausgestattet waren. Wir hielten uns an die Schienen, um uns nicht zu verirren. Schließlich meinte Samson: „Wir sind auf dem Weg zurück. Zur ersten Gabelung. Wir müssen einen Ort finden, der weit genug entfernt von den Wohnräumen der Mutanten ist. Sie dürfen uns nicht spüren. Irgendwo müssen wir ja auch die Nacht verbringen, es ist nämlich schon spät.“ Plötzlich fiel mir etwas ein. „Freunde, sucht weiter, ich gehe noch einmal zurück. Ich habe da eine Idee, wie wir es den Mutanten schwerer machen können, uns aufzuspüren. Lasst einfach eine Tür offen stehen, ich finde euch dann. Es dauert nicht lange.“ Ehe jemand eine Frage stellen konnte, spurtete ich los. Ich wusste genau, wo ich hinwollte. Ich lief an den Laborräumen vorbei und kam wieder in den Gang mit den verschiedensten Artikeln. Ich suchte Raum Römisch-Zehn, den zehnten Raum. Da war er endlich. Ich öffnete die Tür und trat ein. Sofort flammte das Licht auf und ich sah etwa 200 Quadratmeter vor mir, die mit Kleidung gefüllt waren. Ich kam mir 166 vor wie in der Textilabteilung bei Karstadt. Rundherum hingen – fein säuberlich aufgereiht – die verschiedensten Kleidungsstücke. Doch ich interessierte mich nur für eine bestimmte Farbe: Weiß! Da waren sie, an der hintersten Wand. Zuerst Laborkittel, dann die Schutzanzüge. Ich suchte nach bestimmten Schutzanzügen. Ja, auch die hatte ich gefunden. Schutzanzüge, wie der getötete Mutant sie getragen hatte. Mehrere hundert Stück in verschiedenen Größen. Ich bediente mich. Zwei Anzüge in meiner Größe für Pierre und mich. Einen kleinen und einen etwas größeren für Heika und Sally. Dann den größten für Samson. Von seiner Größe gab es die meisten, viele der Mutanten mussten eine enorme Größe haben. Nachdem ich die alte Ordnung bei den Schutzanzügen möglichst genau wieder hergestellt hatte, verschwand ich aus dem „Kaufhaus“. Nun ja, bezahlt hatte ich nicht, aber es gab auch niemanden, der kassieren wollte. Voll gepackt machte ich mich auf die Suche nach meinen Freunden. Als ich die Stelle erreicht hatte, an der ich sie verlassen hatte, stand Sally immer noch dort. „Was ist los? Warum seid ihr nicht weitergegangen?“ Sie fasste mich am Arm und zog mich in Richtung des ersten Raumes. Erst jetzt fiel mir auf, dass die Schienen hier eine Abzweigung in diesen Raum hatten. „Schau selbst. Wir sind fündig geworden.“ Ich trat in die Halle, sie war ebenso groß wie die Kleiderkammer. Ich staunte nicht schlecht. Kisten über Kisten – voll mit Munition! Einige davon waren offen, sie waren bis oben hin voll gepackt. Munition für Gewehre und Pistolen, sowie Handgranaten. Das mussten eine Million- oder mehr Schuss sein! Eine kleine Lore stand am Ende des Raumes auf den Schienen. „Die dazu passenden Waffen gibt es in dann den nächsten drei Hallen. Aber das Beste kommt noch!“ Sally führte mich ans hintere Ende der Halle. Zu meiner Überraschung gab es hier eine weitere Tür, die offen stand. Samson und Pierre standen in der etwa fünfzig Quadratmeter großen Halle. Sprengstoff! Der komplette 167 Raum war mit den verschiedensten Sprengstoffen und Zubehör gefüllt. Große Mengen Dynamit, zahlreiche Kisten mit dem Plastiksprengstoff C4, noch größere Behälter mit TNT und was es sonst noch so an hochexplosiven Stoffen gab. Dazu Zünder, Sprengkapseln und Zündschnüre. Soeben waren unsere Chancen, die Mutanten auszuschalten, enorm gestiegen! Jetzt brauchten wir nur noch einen durchführbaren Plan. Nachdem sich die Begeisterung über unseren Fund gelegt hatte, richteten wir uns in dem Munitionsdepot häuslich ein. Samsons Zeitgefühl sagte uns, das es kurz vor Mitternacht sein dürfte. Wir alle waren müde und so beschlossen wir, unseren Plan am Morgen zu entwickeln – frisch ausgeruht nach ein paar Stunden Schlaf. Mutanten (9.Tag) Sally weckte mich zur letzten Wache. Ich hatte keine Ahnung, wie spät es sein konnte. Die Nacht war jedenfalls sehr kurz gewesen. Geschlafen hatte ich auch nicht lange – zu viele Gedanken schwirrten in meinem Kopf herum. Sally legte ihren rechten Zeigefinger an ihre Lippen und zog mich aus dem Munitionsdepot auf den Gang. „Wir sollten uns einige Waffen aus dem anderen Raum besorgen. Wir müssen uns verteidigen können, falls wir auf die Mutanten stoßen sollten. Komm mit, hilf mir tragen. Jeder sollte mindestens zwei Pistolen bei sich tragen.“ Ich nickte. Normalerweise hielt ich nichts von Schusswaffen, aber hier waren sie wohl leider angebracht. Als wir den Waffenraum betraten, ging Sally suchend von einer Kiste zur nächsten. Sie wurde fündig, öffnete eine Kiste und reichte mir einige in Ölpapier eingewickelte Pistolen. Als wir zurück in unseren Schlafraum gingen, regten sich die anderen schon. Niemand schien besonders gut geschlafen zu haben. Während wir eine 168 kleine Mahlzeit vorbereiteten, durchstöberte meine Freundin die Munitionskisten. „Was macht Sally da?“ „Sie hat einige Pistolen geholt und sucht die passende Munition. Es könnte uns helfen, einige Waffen zu haben.“ Pierre nickte zustimmend. „Ich hab zwar keine Ahnung von Pistolen, aber Sally kennt sich da ja ein wenig aus.“ Die kam soeben zurück mit einer Kiste voll Munition. Während wir noch frühstückten, lud sie jede Pistole sorgfältig auf. Da ich wusste, was auf uns zukommen würde, erklärte ich Heika erst einmal, was eine Pistole ist. Obwohl Samson schon Schusswaffen kannte, gesellte er sich zu uns und hörte aufmerksam zu. Schließlich hatte Sally alle Pistolen geladen und begann mit ihren Erklärungen. Wie viele Schuss im Magazin waren, wo man entsichern musste und so weiter. Anschließend führte sie Heika und Samson noch einmal alles vor. Für den Notfall musste das reichen. Nachdem der Unterricht an den Waffen beendet war, setzten wir uns zusammen. „Hat jemand eine Idee, wie wir vorgehen könnten?“ begann ich die Runde. Samson rieb sich seinen Drei-Tage-Bart. „Wenn dieser Sprengstoff so mächtig ist, wie ihr sagt, könnten wir überall welchen deponieren und alles in die Luft jagen, sobald die Mutanten alle versammelt sind.“ „Das können wir nicht, Samson“, widersprach Sally. „Wenn auch nur einer von ihnen den Sprengstoff zufällig entdecken würde, wäre unser Plan gescheitert. Außerdem spüren sie unsere Anwesenheit. Wahrscheinlich werden sie dann erst gar nicht tief genug in die Anlage hereinkommen, damit wir sie in die Luft sprengen können.“ Da fielen mir endlich wieder die Anzüge ein, die ich gestern besorgt hatte! Ich sprang auf und lief zu dem Ort, an dem ich sie abgelegt hatte. Ich nahm die Overalls und verteilte sie. „Was sollen wir mit diesen Anzügen, Frank?“ Pierre schaute mich verständnislos an. 169 „Das sind genau die Overalls, die der Mutant in Köln getragen hat, um sich vor den Gedanken der normalen Menschen zu schützen.“ Ich erklärte auch Heika den Sachverhalt. „Vielleicht schützt er ja auch umgekehrt und wir werden nicht so schnell entdeckt. Wir sollten nur vermeiden, näher als zehn- oder zwanzig Meter an die Kerle heran zu kommen. Wie wir wissen, war der Anzug kein hundertprozentiger Schutz für diesen Mutanten. Er fühlte sich in unmittelbarer Nähe von uns immer noch unwohl. Doch da gibt es noch ein weiteres Problem. Morgen ist Sommersonnenwende. Wir wissen aber nicht genau, wann die Verbrecher ankommen werden.“ Heika hatte bisher nur aufmerksam zugehört und meldete sich nun zu Wort. „Da kann ich helfen. Ich habe die fliegenden Dinger immer beobachtet. Die meisten werden heute Abend kommen, kurz vor Sonnenuntergang. Morgen früh kommen dann noch ein paar Nachzügler.“ „Das heißt, wir müssen bis heute Abend unsere Falle fertig gestellt haben, uns dann möglichst bis zum nächsten Tag unsichtbar machen und den geeigneten Augenblick abwarten bis wir hier alles in die Luft jagen. Aber natürlich kennt sich niemand von uns mit Sprengstoff aus, wir jagen uns wahrscheinlich schon vorher selbst in die Luft! Falls es uns doch gelingt, den Sprengstoff zu handhaben, gibt’s noch andere Probleme. Ach ja, die Mutanten sollten auch alle hier in der Anlage und wenn möglich an einem Ort versammelt sein. Allerdings wissen wir noch nicht einmal, wie die Falle aussehen soll. Und wenn es möglich ist, möchte ich natürlich auch noch mit heiler Haut entkommen!“ Pierre hatte recht. Wir wussten nun schon einige wichtige Fakten, aber wie wir vorgehen sollten, war immer noch unklar. Wir redeten noch eine Weile durcheinander. Heika schien sehr besorgt. Ihr Gesicht war schon ganz grau. Zu meiner Überraschung gesellte sich nicht Pierre zu ihr, sondern Samson. Er nahm sie behutsam in seine starken Arme und redete mit ihr. Ich stand auf und ging in den Sprengstoffraum. 170 Mir kam da so eine Idee … Diesmal durchsuchte ich die Kisten. Sally stand hinter mir und schaute zu. Endlich, hier waren die Zündschnüre. Wenn das deutsche Erzeugnisse waren, gab es auch eine ausführliche Bedienungsanleitung. Richtig. Hier stand genau, wie man die Zündschnüre handhabte, mit welchem Sprengstoff sie kompatibel waren und wie lange sie pro Meter brannten. Es ging doch nichts über deutsche Gründlichkeit! Schnell suchte ich noch den passenden Sprengstoff heraus. Ich hatte meinen Plan, und wenn er gelang, kamen wir sogar mit dem Leben davon. Als ich ihn dann vorgetragen hatte, herrschte für einige Sekunden rundherum Schweigen. Samson fasste sich als Erster. „Frank, da sind ziemlich viele Wenn und Aber. Bist du sicher, das es so funktionieren könnte?“ „Ich denke schon. Und mir fällt vor allem auch nichts Besseres ein. Habt ihr vielleicht noch eine andere Idee?“ Alle schauten betreten zu Boden. Keiner meiner Freunde hatte eine Idee, die uns mehr Sicherheit geben konnte. Schließlich fragte Heika: „Wer soll denn den Sprengstoff vorbereiten und auch zünden?“ Wie auf Kommando schauten mich alle an. So hatte ich mir das eigentlich nicht vorgestellt. „Ich helfe dir, Frank“, stand Sally mir bei, um dann resolut zu ergänzen: „Und versuch bloß nicht, es mir auszureden!“ Ich versuchte es tatsächlich nicht. Insgeheim war ich froh, dass Sally mir beistand. Sie würde im entscheidenden Augenblick den kühleren Kopf behalten. „Gut, das ist nun geklärt. Wir sollten aber eines bedenken: Der Sprengstoff wird hoffentlich den ganzen Berg in die Luft jagen. Aber der besteht schließlich aus ziemlich viel Fels. Man weiß ja nie“, Pierre holte Luft. „Vielleicht stürzt die ganze Anlage aber auch erst nach und nach ein. Oder ein Teil bleibt stehen. Die Mutanten sind ja nicht blöd. Sie werden für alle Fälle den einen oder anderen Notausgang eingebaut haben. Danach sollten wir zunächst noch suchen. Vielleicht können wir sie ja verschließen, ohne das man es merkt. Wir wissen doch nicht 171 einmal genau, wie groß die Anlage ist. Wir sollten sofort mit der Suche anfangen, damit wir fertig sind, bevor die ersten Gleiter hier ankommen.“ Alle erhoben sich, die Aufgaben waren verteilt. „Frank, Sally! Wir fangen im Konferenzraum an und gehen dann in Richtung der Räume, die wir noch nicht gesehen haben. Wir sind in einigen Stunden rechtzeitig zurück.“ Samson klopfte uns auf die Schultern. Sally und ich waren nun allein mit meinem Plan. Sally und ich lasen uns noch einmal die Anleitung für die Zündschnüre durch und suchten uns den passenden Sprengstoff dazu. Wir leerten eine der Holzkisten und drehten sie um. Auf der Holzkiste platzierten wir den Sprengstoff. Vorsichtig legte ich die Zündschnur an. Ich hatte keine Ahnung, ob der Sprengstoff Erschütterungen ertrug oder nicht und behandelte ihn deshalb wie rohe Eier. Ich hatte während der ganzen Prozedur seltsamerweise immer das Bild eines alten Western im Kopf. Da wurde Nitroglyzerin transportiert und bei einer starken Bodenwelle flog der ganze Wagen samt Besatzung in die Luft. Schließlich hatte ich die Zündschnur wie beschrieben angebracht. Schweiß tropfte von meiner Stirn. Um sicher zu gehen, dass später auch der gesamte Vorrat hochgehen würde, platzierte ich rund um meine Bombe Teile von den anderen Sprengstoffen. Diese sollten wiederum das im gesamten Raum gelagerten Explosiv-Material hochjagen. So der Plan. „Was meinst du, Sally: Wie lange benötigen wir von hier bis zur Betontür, dann bis zum Bergausgang und haben dann noch genug Zeit, um den Berg zu verlassen?“ „Wir sollten nicht zu knapp kalkulieren, uns allerdings auch nicht zu viel Zeit lassen. Wer weiß denn schon, ob und wie lange diese Verbrecher an einen Ort bleiben. Ich denke, dreißig Minuten dürften reichen. Wir kennen ja jetzt den Weg.“ Ich schaute noch einmal in die Beschreibung hinein. Dreißig Minuten bedeuteten fünfundvierzig Meter Zündschnur. Ich wickelte die benötigte Länge ab und verteilte die Schnur spiralig im Raum. Sie durfte sich nirgendwo überschneiden, sonst 172 könnte es vielleicht schon vorher knallen. Vorsichtig und sehr darauf bedacht, die Lage der Zündschnur nicht mehr zu verändern, verließen wir den Raum. Gedankenverloren blickte ich auf die Lore, die immer noch im Waffenraum herum stand. Mir gingen die Bilder des Westerns nicht mehr aus dem Kopf. „Was ist los, Frank? Was überlegst du?“ „Wir sollten noch eine zweite Bombe bauen. Für alle Fälle. Wir legen sie in die Lore hinein und nehmen sie mit bis zur ersten Gabelung. Dahinter befinden sich alle Räumlichkeiten der der Mutanten. Wir könnten, wenn es nötig sein sollte, diesen Teil sprengen und uns damit den Rücken freihalten. Außerdem wäre auf jeden Fall der Haupteingang blockiert – eine Fluchtmöglichkeit weniger für die Kerle.“ Sally war einverstanden. Wir bauten eine zweite Bombe nach dem gleichen Prinzip wie die erste, nur fahrbar und kleiner. Die Zündschnur wickelte ich auf und legte sie mit in den Wagen. Nach einigen Stunden trafen auch Heika, Pierre und Samson wieder bei uns ein. Sie hatten einen Notausgang in einem der hinteren Räume entdeckt und das Schloss von außen unsichtbar mit einem Metallstück blockiert. Allerdings waren sie sich nicht sicher, ob es der einzige Notausstieg war. Die Zeit hatte einfach nicht gereicht, um jeden Raum gründlich zu untersuchen. Wir mussten jetzt jederzeit mit der Ankunft der Gen-Mutanten rechnen und beschlossen, die Overalls anzulegen. Da wir nicht wussten, wie lange wir sie tragen würden, erledigte jeder von uns vorher noch seine natürlichen Bedürfnisse. Essen und Trinken waren tabu. Ich hatte vorher noch einige Zweifel gehabt wegen der Atmung im geschlossenem Anzug, aber es gab keine Probleme. Der Stoff war luftdurchlässig. Auch das Sichtfenster beschlug nicht. Einen positiven Nebeneffekt hatte die weiße Farbe der Kleidung auch noch, sie hoben sich farblich nicht von den weißen Wänden- und Fußböden der Gänge ab. Es war sicher eine technische Meisterleistung der Mutanten, solch einen Anzug herzustellen. Aber das interessierte mich wenig. Hauptsache, sie konnten unsere Ausstrahlung nicht wahrnehmen, oder unsere 173 Gedanken auffangen. Oder was auch immer sie an uns gewöhnlichen Sterblichen störte. Das lange Warten begann. Wir beschlossen, einen Wachposten an der ersten Gabelung am Zugang zu den Quartieren der Mutanten aufzustellen. Von dort aus musste es möglich sein, die Öffnung des Haupteinganges oder zumindest ihre herannahenden Schritte zu hören. Sally, Heika, Samson und ich saßen in einem kleinen Kreis zusammen, während Pierre Wache hielt. Wir unterhielten uns mit gedämpfter Stimme und spielten alle möglichen Szenarien durch, kamen aber immer wieder zum gleichen Ergebnis. Die größten Möglichkeiten zur Ausschaltung aller Mutanten ergaben sich, wenn alle versammelt waren, oder zumindest sich in ihren Zimmern aufhielten. Natürlich wäre eine Sprengung während der Nachtruhe die für uns sicherste Lösung gewesen, aber durch Heika wussten wir ja, dass einige erst am nächsten Morgen ankommen würden. Also hieß das für uns, dass wir frühestens Morgen zur Sommersonnenwende im wahrsten Sinne des Wortes die Bombe platzen lassen würden. Samson bot sich an, die Zündung alleine durchzuführen, doch niemand ging darauf ein. Schließlich kam Pierre zurück und berichtete, dass das Tor geöffnet worden war. Wie abgesprochen, hatte er beim ersten Geräusch seinen Horchposten verlassen und uns informiert. Soweit waren unsere Kalkulationen aufgegangen. Nun warteten wir auf den nächsten Tag und hofften nicht entdeckt zu werden. Sommersonnenwende (10.Tag) In der Nacht zogen mir einige Gedanken durch den Kopf. Das war ja auch nicht verwunderlich, bei dem, was morgen noch vor uns lag. Meine Gedanken drehten sich aber kaum um die nahe Zukunft, sondern um die Vergangenheit. Und das auch fast 174 ausschließlich um die letzten zwei Jahre, von unserer „Ankunft“ bis zum gestrigen Tag. Trotz aller Gefahren, Kämpfe und der fremden Umgebung war es die schönste und aufregendste Zeit meines Lebens gewesen! Und das sollte auch so bleiben! Die Nacht verlief ausgesprochen ruhig. Obwohl wir jederzeit mit unserer Enttarnung rechneten, schienen uns die Anzüge der Mutanten vor ihren eigenen geistigen Fähigkeiten abzuschirmen. Daran hatten die „allwissenden“ Verbrecher wohl nicht gedacht, dass man ihre eigenen Errungenschaften gegen sie verwenden konnte. Obwohl sie sicherlich allen noch existierenden Menschen in fast jeder Hinsicht überlegen waren, hatten wir offensichtlich eine Schwachstelle gefunden. Um diesen Vorteil nicht zu verspielen, verzichteten wir darauf, sie weiter zu beobachten. Wir konnten uns natürlich nicht sicher sein, ob mittlerweile alle eingetroffen waren. Trotzdem beschlossen wir aber, den Angriff nun endlich durchzuführen. Ursprünglich wollten wir erst gegen Mittag zuschlagen, aber in uns allen herrschte eine große Unruhe und so entschlossen wir uns schon am Vormittag dazu. Ein letztes Mal überprüfte ich die beiden Sprengladungen, rechnete noch einmal nach, ob die Zündschnur für den großen Raum auch wirklich 30 Minuten brennen würde. Für die Sprengladung in der kleinen Lore berechnete ich maximal 10 Minuten Zündschnur. Kürzer war kein Problem, man konnte sie ja auch mittendrin anzünden. Ich überprüfte die fünfhundert Jahre alten Zündhölzer, die wir immer dabei hatten. Fünfzehn Stück waren in der Schachtel noch übrig. Genug, auch wenn ein paar nicht mehr funktionieren sollten. Sally, Pierre und Heika gingen voraus. Samson und ich folgten mit der Lore, nachdem wir die Zündschnur im Sprengraum angezündet hatten. Ab jetzt lief die Zeit! Meine Befürchtungen, dass die Räder der Lore quietschen könnten, bewahrheiteten sich Gott sei Dank nicht. Das Fahrzeug schien des Öfteren bewegt worden zu sein, schließlich waren die Piraten damals wohl von hier aus mit Waffen versorgt worden. 175 Wir bewegten uns sehr vorsichtig und leise. Hin und wieder kamen wir an einer Abzweigung vorbei, aber Pierre gab uns jedes Mal das „Alles Okay“ Zeichen. Schließlich gelangten wir an die letzte Kreuzung. Hier wollten wir die Lorenbombe zünden. Nur noch wenige Meter bis zu unserem Ausgang. Allerdings auch nur wenige Meter bis zum ersten Zimmer der Mutanten um die Ecke. Ich wickelte die Zündschnur ab, während Pierre um die Ecke spähte. Pierre drehte sich um und kam die paar Meter zu uns zurück gelaufen. „Alles klar. Keine Bewegung auf dem Gang. Lass uns das Ding anzünden und dann nichts wie weg hier. Zehn Minuten sind nicht gerade viel, um aus dem Berg herauszukommen!“ Gerade wollte ich die Lunte anzünden, doch es kam anders. Wir hatten einen Fehler gemacht, Pierre hätte seine Position nicht verlassen dürfen. Ob uns die Mutanten gespürt hatten, oder ob es einfach purer Zufall war, ich weiß es nicht. Plötzlich kamen jedenfalls vier von ihnen um die Ecke und steuerten mit wild entschlossenen Gesichtern auf uns zu. Heika stieß einen spitzen Warnschrei aus, unsere Köpfe ruckten herum. Sally und Samson reagierten sofort, letzterer jedoch anders als erwartet. Während Sally ihre Pistole zog und sofort abdrückte, griff Samson zu seiner Keule und schleuderte sie dem vordersten Angreifer mit all seiner Kraft ins Gesicht. Ein dumpfer Aufprall, ein kurzes Knacken und der Mutant fiel mit gebrochenem Genick zu Boden. Sally hatte ihr gesamtes Magazin verschossen und zwei der Angreifer getötet. Auch Pierre und Heika zogen ihre Waffen, konnten aber nicht schießen, da Samson mit dem letzten Angreifer rang. Wir wussten ja, welche gewaltige Kraft diese Kerle besaßen. Samson und sein Gegner hatten sich regelrecht ineinander verkeilt und drückten sich gegenseitig die Kehlen zu. Ein gespenstischer, fast lautloser Kampf. Pierre eilte Samson zu Hilfe und stieß seinen Speer mit voller Wucht in den Rücken des Gegners. Sofort lockerte sich der Griff um den Hals de s Freundes, während dieser unvermindert zudrückte. Der Mutant brach zusammen. Während Samson sich erschöpft den Hals 176 rieb, rief Sally mir zu: „Die anderen kommen! Zünde die Sprengladung. Dreißig Sekunden!“ Ich riss mit zitternden Händen das Streichholz an und schätzte die Länge der Zündschnur, die ich benötigte. „Lauft! Schnell weg hier!“, schrie ich noch und die Lunte begann zu glimmen. Doch meine Warnung war überflüssig. Meine Freunde rannten schon, so schnell sie konnten, und ich natürlich hinterher. Hinter meinem Rücken wurden Stimmen laut, die anderen Mutanten waren wohl durch die Schüsse aufgeschreckt worden. Ich blickte nicht zurück, sondern nur nach vorn. Endlich! Die Tür! Samson stand daneben, schob gerade Pierre hindurch und rief: „Schneller, Frank! Sie kommen gleich!“ Gerade als ich die Tür erreichte und Samson mich hindurchschob, explodierte unsere Lorenbombe. Der Druck der ohrenbetäubenden Explosion schleuderte mich weit in das alte Leichenfeld hinein. Für einen kurzen Moment musste ich das Bewusstsein verloren haben. Ich spürte Hände, die auf mein Gesicht einschlugen, öffnete verwirrt die Augen und sah Sally und Pierre über mich gebeugt. Sie sagten etwas zu mir, doch ich verstand kein Wort. Ich schüttelte verwirrt den Kopf, während meine Freunde mich aufrichteten. Noch immer konnte ich kein Wort verstehen. Ich blickte mich um, sah Heika mit schneeweißem Gesicht wie sie in Richtung Tür zeigte und für mich unhörbar etwas rief. An ihren Mundbewegungen konnte ich ein Wort ablesen: SAMSON! Wir drehten uns um zur Tür, besser gesagt, dorthin, wo die Tür eigentlich hätte sein sollen. Nicht nur die Tür, sondern auch mehrere Meter der Wand waren verschwunden. Während ich mich so langsam wieder aufrappelte, lief Heika auf das Loch in der Wand zu. Wir folgten ihr. Von Samson keine Spur, ihn musste die Explosion voll erwischt haben. Wir erreichten den Gang. Rechts von uns war die Decke mitsamt einigen Felsen herunter gekommen und der Weg zu den Mutanten versperrt. Eine gute Nachricht! Doch wo nur war Samson? 177 Auch links von uns lagen etliche Felsbrocken. Mein Gehör setzte langsam wieder ein, denn ich hörte Heika verzweifelt nach Samson rufen. Sie kletterte über die Felsen und rief immer wieder seinen Namen. Doch es kam keine Antwort. Sally, Pierre und ich teilten uns auf und durchsuchten das Trümmerfeld. Nichts, keine Spur von Samson. Er musste unter den Felsen begraben sein. Pierre kam auf mich zu. „Wir müssen schnell hier verschwinden, die Hauptexplosion wird uns sonst alle töten! Vielleicht können wir noch später nach ihm suchen!“ Verdammt, Pierre hatte recht. Die große Explosion! Wie viel Zeit war vergangen? 25, 26 Minuten? Wir hatten die Lorenbombe früher gezündet als vorgesehen. Genau in diesem Moment hörte ich Heikas Aufschrei: „Hier, er ist hier. Ich hab ihn gefunden! Helft mir, schnell!“ Jetzt war es egal, ob wir noch Zeit hatten oder nicht. Wir stürmten zu Heika. Ja, die Tür. Hinter der Tür hatte ich ihn zum letzten Mal lebend gesehen. Er hatte mir noch einen letzten Schubs gegeben, bevor es krachte. Unter der Tür sah ich Samsons linkes Bein herausragen. Mit vereinten Kräften schoben wir einige Felsbrocken zur Seite und hoben vorsichtig die Tür an. Samson lag vor uns, Blut lief über sein Gesicht. Er sah fürchterlich aus. Heika tastete vorsichtig nach seinem Hals um den Puls zu fühlen, als ob sie Angst vor dem Ergebnis ihrer Untersuchung hätte. Atemlos standen wir da und warteten. „Er lebt! Er lebt!“ stammelte Heika, Tränen der Erleichterung flossen ihr übers Gesicht. Die Tür musste einen Großteil der Explosion abgemildert und ihn vor den großen Felsbrocken geschützt haben. „Schnell, wir müssen hier raus, bevor der ganze Berg in die Luft fliegt. Heika, Sally, die Füße! Wir nehmen den Oberkörper und dann nichts wie raus hier.“ Pierres Stimme riss uns aus der Erstarrung. Wir griffen uns den schweren Körper unseres riesigen Freundes und schleppten ihn durch die Felsengänge, in die wir vor gerade mal zwei Tagen eingedrungen waren. Mir kam es vor wie eine Ewigkeit. Doch diese Ewigkeit 178 schien nun zu kurz für unsere Rettung zu werden. Wir zogen und zerrten den bewusstlosen Samson in Richtung Ausgang. Der Schweiß lief uns in Strömen an unseren Körpern hinunter. Wir gingen dabei nicht gerade pfleglich mit dem Körper unseres Freundes um. Doch auf ein paar Schnittwunden und Prellungen mehr kam es jetzt auch nicht mehr an. Wie viel Zeit blieb uns noch? Sekunden oder doch noch Minuten? Ich wusste es nicht. Endlich erreichten wir die alte Metalltür. Pierre stieß sie auf und kletterte hinaus, während ich Samsons Oberkörper alleine festhielt, bis Pierre wieder mit zufasste. Gemeinsam schoben und zerrten wir Samsons Körper durch den kleinen Eingang an die Oberfläche. Wir hatten es geschafft! Alle waren draußen. Gerade als wir den Feund den Hügel hinunter schleiften, erfolgte die Explosion. Die gesamte Bergspitze wurde gut einen Meter angehoben, um dann in sich zusammenzufallen. Die Erschütterung riss uns von den Beinen und wir rollten den Abhang hinunter. Abgang Immer wieder kullerten noch einige kleinere und größere Steine den Berg herunter. Nachdem wir uns der weißen Schutzanzüge entledigt hatten, schlugen wir unser Lager etwa fünfhundert Meter entfernt auf. Heika und Pierre verarzteten den gerade wieder erwachten Samson. Er hatte etliche Schnittwunden und Prellungen. Der linke Arm war gebrochen und wurde von den beiden geschient. Sally und ich standen etwas abseits. Wir schauten zu den dreien herüber. „Da scheint sich ja was zwischen Samson und Heika zu entwickeln“, begann Sally, „hast du die Angst in ihren Augen gesehen, als sie Samson gefunden hat?“ 179 Ich nickte. „Auch wenn ich vielleicht nicht der sensibelste im Umgang mit Frauen bin, das habe sogar ich gesehen!“ „Apropos Sensibilität, Frank. Was machen wir zwei, wenn wir wieder zurück in Neu-Siegen sind?“ Ich verstand nicht ganz, aber Sally schien eine Antwort zu erwarten. „Nun ja, ich denke, wir werden uns in unser kleines Zimmer zurückziehen und erst einmal drei Tage schlafen.“ „Oh nein, mein Freund, ich werde das ganz bestimmt nicht tun.“ Sally machte eine Pause und mir wurde ganz elend zumute. „Sally, was meinst du damit?“ „Was glaubst du, warum ich in den letzten Wochen jeden Tag sechzehn Stunden beim Hausbau gearbeitet habe?“ Ich verstand immer noch nicht. „Frank, du bist ein Idiot! Du versteht wirklich nichts von Frauen. Ich habe natürlich jeden Tag für unser Haus geschuftet!“ So langsam dämmerte es mir. Dann nahm mich Sally in den Arm und flüsterte mir ins Ohr: „Du bist zwar ein Idiot, aber ein sehr, sehr liebenswerter. Und ich liebe dich!“ Womit hatte ich das nur verdient … 180 Der Autor Winfried Steger Jahrgang 1957, lebt und arbeitet er in Siegen/Westfalen. Er schreibt seit einigen Jahren hauptsächlich Science-Fiction Kurzgeschichten und hat mit „Sams Sohn I und II“ seinen ersten kompletten Roman veröffentlicht, der jetzt durch den hier vorliegenden dritten Teil vervollständigt wird. Zur Zeit arbeitet er außerdem an dem zweiten Band eines illustrierten Vorlesebuchs für Kinder. www.zibbelchen.de Außerdem malt er leidenschaftlich gerne Landschaftsbilder in Öl – zu sehen auf: https://landschaftsmalereisteger.wordpress.com 181 182
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