5.Tag - XinXii

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Inhalt
Was bisher geschah…
5
Wieder daheim
10
Ein ungebetener Gast
15
Salz21
Treibjagd28
Entführt!
37
Hexe51
Romantische Gedanken?
64
Gefahren aus der Vergangenheit
66
Regenzeit
75
Einkaufsbummel
83
Papier95
Franziskus
101
Soziale Kontakte
107
Neue Pläne
115
Rückkehr zu den grauen Bestien
119
Entscheidung
123
2
Bekannte Orte (1.Tag)
125
Formicula (2.Tag)
129
Der Nusswald (3.Tag)
134
Teufelshöhle (4.Tag)
138
Ein ganz normaler Tag (5.Tag)
143
Erdwürmer (6.Tag)
146
Heika (7.Tag)
152
Attadorn (8.Tag)
158
Mutanten (9.Tag)
168
Sommersonnenwende (10.Tag)
174
Abgang
179
Der Autor
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3
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Was bisher geschah…
Eigentlich müssten wir längst tot sein. Eigentlich. Wir, das sind
Sally Rutherford aus England, der Franzose Pierre Fournier und
ich, Frank Rosbach aus Köln. Und warum müssten wir längst tot
sein? Nun ja, wer wird schon über 500 Jahre alt! Doch immer
der Reihe nach:
Meine Freunde und ich arbeiteten als Biologen bei dem Firmen-Konsortium Galaxis in dem kleinen Örtchen Grissenbach im
beschaulichen Siegerland. Nach dem Ausstieg der Amerikaner
aus dem bemannten Raumflug 2011 stieg unsere Firma genau
dort ein. An mehreren Standorten auf der ganzen Welt wurden
die einzelnen Komponenten dafür entwickelt und produziert.
Einige Jahre später wurden wir schließlich ausgewählt, um
mit 21 anderen Astronauten den Flug zum Mars anzutreten.
Fast alles lief programmgemäß, ein unbemanntes VersorgungsRaumschiff war schon planmäßig auf dem Mars gelandet. Da
unser bemannter Transporter nicht auf Geschwindigkeit, sondern auf möglichst hohe Ladekapazität ausgelegt worden war,
würde die Reise etwa 17 Monate dauern. Dabei sollte die Mannschaft den Flug im Tiefschlaf verbringen. Dazu wurden neuartige Schlafkammern mit einer extrem langlebigen Energieversorgung entwickelt. Zur Not sollten diese Schlafkammern auch
auf dem Mars das Überleben sichern. Als letzter Test vor dem
Start war eine 36-tägige Generalprobe geplant. Meine beiden
Freunde und ich wurden als Testpersonen ausgewählt.
Als wir erwachten, hatte sich unsere Welt komplett verändert. Es gab niemanden mehr in unserem Labor, niemanden
mehr in unserer Firma. Ein handgeschriebener Zettel hing an
der Nahrungsversorgung unserer Schlafkammern: „A-Krieg!
Alle fliehen in Panik. Viel Glück! Ron.“
Ron war unser Labortechniker gewesen und hatte dafür
gesorgt, dass wir dank seiner Voraussicht eine lange Zeit in
unseren Schlafkammern überleben konnten. Doch es hatte
sich nicht nur unsere Welt verändert, die ganze Welt war eine
andere geworden!
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Rund um unsere alte Firma waren Flora und Fauna mutiert, was
wir auf die Radioaktivität nach einem Atomkrieg zurückführten.
Doch wie und warum war es passiert? Und wie lange hatten wir
eigentlich geschlafen?
Wir wollten die Antworten in der Stadt Siegen mit ihren ehemals 100.000 Einwohnern suchen. Wenn es Überlebende gab,
dann sicherlich dort. Wir machten uns also auf den Weg.
Doch schon am gleichen Tag wurde ich von einer mutierten
Pflanze (oder war es ein Tier?) angegriffen. Im letzten Moment
rettete mich ein riesiger Kerl, der sich „Sams Sohn“ nannte.
Wir beschlossen, den Weg zur Stadt Siegen gemeinsam fortzusetzen. Der Hüne berichtete uns von seinem Stamm aus dem
Land Frankenfurt, der von Banditen niedergemetzelt worden
war. Er hatte sich auf die Suche nach diesen Mördern seines
Volkes gemacht. Es sollte sich später herausstellen, dass es sich
um eine Art Piraten handelte, die von einem alten Schaufelraddampfer aus agierten.
Unterwegs erkannten wir die gewaltige Kraft unseres Begleiters, als wir von einem Rudel Wolfshunde angegriffen wurden.
In Siegen trafen wir auf den Stamm der Schlossmenschen, die
unsere Fragen aber nicht beantworten konnten. Zum ersten
Mal sahen wir, dass die Mutationen auch die Menschen betroffen hatten. Dennoch lebten mutierte und nicht mutierte Menschen hier friedlich miteinander.
In einem Bunker aus dem zweiten Weltkrieg stießen wir
auf eine Nachricht aus der Vergangenheit. Ein Mitarbeiter des
Technischen Hilfswerks schilderte das Sterben der Siegener
Bevölkerung. Die Vermutung lag nahe, dass atomare, biologische und chemische Waffen zum Einsatz gekommen waren. Mit
einer kleinen Gruppe Überlebender hatte er sich auf den Weg
nach Ahrweiler am Rhein gemacht, um im dortigen ehemaligen
Regierungsbunker nach Antworten und Hilfe zu suchen.
Wir beschlossen, seinem Weg zu folgen. Unterwegs hatten
wir gegen verschiedene mutierte Bestien zu bestehen, was
uns Dank Sams Sohn auch gelang. Wir wurden unterwegs zu
echten Freunden und gründeten nach einem Ritual seines alten
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Stammes einen neuen Stamm. Wir nannten ihn den Stamm der
Biologen und gaben Sams Sohn den Namen Samson.
Auf dem weiteren Weg entdeckten wir das gut geschützte
Dorf Neu-Siegen, das von dem ehemaligen THW Mitarbeiter
gegründet worden war. Der jetzige Stammesführer Franziskus,
ein mutierter Großkopf mit emphatischen Talenten, zeigte uns
sein paradiesisches Dorf und gab neue Hinweise auf die Piraten.
Nachdem wir den Ort wieder verlassen hatten, entdeckten
wir zufällig das Lager der Verbrecher. Ohne etwas auszurichten,
zogen wir weiter, um zuerst nach Ahrweiler zu gelangen und
anschließend Verbündete für den Kampf gegen die Piraten zu
finden.
Der ehemalige Regierungsbunker wurde erreicht. Hier erfuhren wir, das wir rund 500 Jahre verschlafen hatten und der Krieg
wirklich mit ABC Waffen geführt wurde, wobei neu entwickelte
EMP- (Elektro-Magnetischer-Puls) Waffen die Hauptrolle spielten. Der Krieg sollte über das Internet in den USA ausgelöst
worden sein. Doch niemand wusste, wer dort auf den „Roten
Knopf“ gedrückt hatte.
Schließlich verließen wir den Bunker wieder und wurden von
einem Stamm gefangen genommen, dessen Häuptling der vierarmige Nerius war- und ist. Nach einem „Kampf der Wahrheit“
zwischen Nerius und Samson – den letzterer gewann – fanden
wir hier und bei einem Nachbarstamm Verbündete.
Zusammen mit einigen Jägern und Jägerinnen beider Stämme
eroberten wir das nur von Wachtposten besetzte Lager und zerstörten dort die Schusswaffen aus längst vergangener Zeit. Von
den Gefangenen erfuhren wir von „schwarz gekleideten Fremden“, die angeblich die Piraten durch ein Fluggerät mit Schusswaffen versorgten und von Attil, dem Anführer der Verbrecher.
Zu viert machten wir uns weiter auf die Suche nach diesem
„Kapitän“. Auf einer kleinen Rheininsel konnten wir ihn schließlich aufspüren. Er hatte zuvor mit seinen Männern ein grausames Blutbad an den Menschen eines Dorfes angerichtet und
feierte seinen Sieg ausgelassen auf der Insel.
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Es gelang uns, Attil aus dem Lager der betrunkenen Piraten
zu entführen. Bei einem Verhör erfuhren wir von ihm, das die
schwarz gekleideten Fremden nur Hilfskräfte einer kleinen
Gruppe „Gesichtsloser“ waren. Der Kapitän war überzeugt, dass
diese „gesichtslosen Weißen“ (weil weißgekleidet) die eigentlichen Anführer sein mussten. Sie sollten Befehle gegeben haben,
vor allem Frauen und Kinder zu töten. Niemand wusste, ob sie
Mutanten oder vielleicht sogar Außerirdische waren.
Bevor der Verbrecher noch weitere Hinweise geben konnte,
stürzte er bei einem Befreiungsversuch und brach sich dabei
das Genick. Nachdem wir die Verfolger mit einer vorbereiteten
List ausgeschaltet hatten, zog es uns zurück zu Franziskus und
dem Dorf Neu -Siegen.
Dort gewöhnten wir uns an den Alltag in der neuen Zeit. Das
Leben im Dorf war bei weitem nicht so aufregend wie die Wanderungen, die wir hinter uns hatten, doch es gefiel uns. Franziskus – der Dorfoberste – gliederte uns geschickt ins alltägliche
Leben ein. Doch auch hier verfolgten uns die Taten der schwarzen Fremden. Beim Handel mit einem anderen Dorf erfuhren
unsere Mitbewohner von der Stadt „Kölle“, in der Unerklärliches vorgehen sollte.
Nicht nur, das dort immer wieder Menschen verschwanden,
sondern es wurde auch eines der merkwürdigen Fluggeräte
gesehen. Wir wussten sofort, das unser Aufenthalt in Neu-Siegen damit vorerst beendet war und machten uns auf nach Köln,
meiner alten Heimatstadt, jetzt „Kölle“ genannt.
Schon nach kurzer Zeit wurde uns klar, nicht auf direktem
Weg dorthin reisen zu können. Die Hauptwege wurden überwacht und wir nahmen daher weite Umwege in Kauf. Nach einigen aufregenden Abenteuern mit anderen Menschen und einer
gefährlichen Tierwelt gelangten wir schließlich in meine alte
Heimat aus unserer Vergangenheit.
Im Kölner Dom fanden wir weitere Hinweise auf den Anführer der schwarzen Fremden. Als wir ihn stellten, ergab sich ein
überraschendes Szenario.
Verantwortlich für das Ende der alten Welt war eine Gruppe
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Gen-manipulierter Menschen aus der Zeit des Kalten Krieges
im zwanzigsten Jahrhundert gewesen. Ihre überragende Intelligenz, gepaart mit hypnotischen Fähigkeiten, enormer körperlicher Stärke und extrem hoher Lebenserwartung nutzten diese
mutierten Menschen für ihre Ziele aus: Rache für die erlittenen
Qualen und Ausrottung der gewöhnlichen Menschheit.
Nach hartem Kampf und mit sehr viel Glück konnte Samson den
Anführer in der Region Köln töten und wir kehrten nach NeuSiegen zurück. Doch leider war dieser Gen-Mensch nicht der
letzte seiner Art …
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Wieder daheim
Köln und die Vernichtung des weißen Mutanten lagen nun
schon einige Monate zurück. Wir hatten meine Geburtsstadt
fluchtartig verlassen. So schnell würden uns keine zehn Pferde
mehr dorthin bekommen. Nach unserer Rückkehr in Neu-Siegen übergaben wir die erbeuteten Unterlagen Franziskus, unserem Bürgermeister. Weder Sally, noch Pierre, Samson oder ich
wollten auch nur eine Zeile davon lesen. Wir hatten einfach
die Nase gestrichen voll von Ungeheuern und verrückten GenMutanten. Sollte Franziskus sich damit beschäftigen!
Zu unserer Begrüßung gab es ein großes Fest. Natürlich
wollten die Dorfbewohner jede Einzelheit unseres Abenteuers erfahren, und Pierre machte sich wieder einmal als großer
Erzähler einen Namen. Wir anderen waren froh darüber, dass
er uns diese Pflicht abnahm, auch wenn er dabei hier und da
seine eigene Rolle – sagen wir mal – etwas ausschmückte.
Wir fanden das okay, schließlich musste er auch in den nächsten Tagen immer und immer wieder bei Nachfragen Auskünfte
geben. Pierre machte das nichts aus und er wurde nicht müde,
jede noch so kleine Frage ausführlich zu beantworten.
Samson hatte sich in den Tagen nach der Rückkehr ein wenig
zurückgezogen. Ich glaube, er hatte mit der Tatsache zu kämpfen, dass er bei dem Kampf gegen den weißen Gen-Mutanten
nicht nur ihn, sondern auch alle seine manipulierten Gehilfen
getötet hatte.
Sally und ich hatten mehrmals vergeblich versucht, ihm klar
zu machen, dass nicht er, sondern die Chips in ihren Gehirnen
dafür verantwortlich gewesen waren.
Sie und ich waren noch immer – oder vielleicht auch wieder
– ein Paar. Unser Verhältnis war allerdings kompliziert. Wir
hatten zusammen ein winziges Zimmer im Gemeinschaftshaus
bezogen. Es gab gerade mal genug Platz für ein Bett und einen
grob gezimmerten Schrank.
Ich fand das schön, ich war einfach nur froh, mit ihr zusammen zu sein. Ich war mir nicht so sicher, was Sally davon hielt.
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Vielleicht fand sie das Zimmer einfach nur zu winzig. Hier und
da sah ich sie jedenfalls mit anderen Männern flirten. Auch
tuschelte sie gerne mit manchen Frauen, und ich wusste dann
genau, dass ich der Gegenstand des Getuschels war. Manchmal kam es mir so vor, als mache sie das alles nur, um mich zu
ärgern. Vielleicht wollte sie mir damit auch etwas sagen. Doch
auf meine Nachfragen zuckte sie nur mit den Schultern und
grinste undurchschaubar. Wie gesagt, es war kompliziert!
Meine drei Freunde und ich hatten nun mehrmals alle Stationen des Dorflebens durchlaufen und Franziskus fand, es
wäre an der Zeit, sich für eine vorrangige Beschäftigung zu entscheiden. Aus irgendeinem Grund wollte er nicht, dass wir uns
absprechen konnten und fragte uns daher einzeln.
Ich arbeitete gerade in den Stallungen und versorgte unsere
drei gefangenen Esel. Der Hengst war störrisch wie eh und
je und schnappte nach allem, was sich ihm näherte. Nur bei
Samson verzog er sich nach wie vor in die hinterste Ecke des
Stalles. Die beiden Eselstuten waren von friedlicher Natur und
erwarteten demnächst Nachwuchs. Sie würden den Grundstock
für eine kleine Lasttier-Herde bilden. In den letzten fünfhundert Jahren wurden die meisten Straßen überwuchert und ein
Durchkommen mit Ochsenkarren oder Fuhrwerken war unmöglich. Alle Waren, die man mit den anderen Stämmen tauschen
wollte, mussten mühsam auf dem Rücken der Menschen heran
geschafft werden. Die Esel würden eine enorme Erleichterung
für den dörflichen Handel bringen. Sicherlich würden wir zur
Zucht irgendwann weitere Exemplare einfangen müssen, aber
das war Zukunftsmusik.
Ich goss gerade einen Eimer Wasser in die Tränke, als Franziskus mich ansprach: „Hallo Frank! Alles in Ordnung?“
Ich nickte.
„Du weißt ja, dass sich hier jeder für eine Arbeit entscheiden soll, die er vorzugsweise verrichten will. Natürlich soll
jeder nicht immer nur diese eine Arbeit machen, wir wollen
ja schließlich unser Leben so abwechslungsreich wie möglich
gestalten. Aber hier im Dorf leben über vierhundert Menschen
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und ich muss natürlich darauf achten, dass alle Arbeiten erledigt werden. Bedenke bitte, das du und deine Freunde schon
mehr Jagdzeit als die anderen gehabt haben und die Jagd für
unser Dorf nicht lebenswichtig ist, die Jagd als Aufgabe ist also
ausgeschlossen von der Wahl.“ Franziskus machte eine kurze
Pause und zeigte auf seinen vierarmigen Begleiter, der mit Stift
und Papier bewaffnet war.
„Du kennst ja Solom, meinen Schreiber und Verwalter. Hast
du dich für eine Arbeit entschieden?“
Ich überlegte nur kurz und antwortete spontan: „Ich würde
gerne in der Küche arbeiten. Gemüse schnippeln und kochen.
Das könnte mir Spaß machen.“
Franziskus riesiger Kopf wackelte ein wenig hin und her. Er
schien überrascht. Ich hatte oft den Eindruck, Franziskus könne
mit seinem großen mutierten Kopf Gedanken lesen, doch diesmal hatte ich ihn wirklich überrascht und ich konnte daher ein
breites Grinsen nicht unterdrücken.
„Bist du dir da sicher?“
Ich nickte.
„Das trifft sich gut. Bei drei Mahlzeiten am Tag gibt es hier
immer etwas zu tun. Schließlich sind nicht alle verheiratet oder
leben zusammen in einem der Einzelhäuser und kochen dort für
sich. Und viele der Paare essen auch lieber mit gemeinsam mit
den anderen – vor allem am Abend.“
Der Dorfälteste nickte kurz zu Solom hinüber, der einen Eintrag auf seinem Papier machte, und dann verließen beide den
Stall.
Nachdem sie gegangen waren, überlegte ich kurz, was meine
Freunde wohl für eine Wahl treffen würden. Bei Samson und
Pierre war ich mir da nicht sicher. Ich hoffte aber, Sally hätte sich
auch für die Küche entschieden. Zum Mittagessen würde ich es
erfahren. Ich konnte es kaum erwarten.
Daher saß als ich einer der Ersten am Mittagstisch. Es gab
Rinderbraten, Kartoffeln und Rotkohl, fast so wie in den Zeiten
vor der Apokalypse. Ich stocherte lustlos in meinem Essen
herum und hielt immer wieder Ausschau nach Sally und meinen
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Freunden. Endlich. Samson und Pierre standen an der Essensausgabe und bedienten sich. Samson schaufelte sich ein riesiges Stück Braten auf den Teller, dazu ein paar Kartoffeln und
ein wenig Rotkohl. Er war der typische Jäger und Fleischesser.
Pierre nahm heute kein Fleisch, nur Rotkohl und Kartoffeln. Für
ihn war der Braten viel zu sehr durch gegart. Er hatte es am
liebsten, wenn aus einem Stück Fleisch noch das Blut heraustropfte. Die Freunde setzten sich zu mir. Von Sally war nichts zu
sehen. Ich stocherte in meinem Essen herum und fragte:
„Na, für was habt ihr euch entschieden?“, und wie beiläufig
fügte ich hinzu: „Und wisst ihr, was Sally machen wird?“
Pierre und Samson schauten sich an und grinsten.
„Nun“, begann Samson, „Pierre hat sich für die Gemüsezucht
entschieden und ich werde mich um den Hausbau kümmern.
Schließlich gibt es immer wieder Paare, die zusammen wohnen
wollen, und nicht wie wir im Gemeinschaftshaus. Und was ist
mit dir?“
„Ich werde in die Küche gehen, damit Pierre auch mal ein
Stück blutiges Fleisch bekommt!“
Samson sah mich an: „Das meinte ich nicht mit meiner
Frage. Ich meinte, ob du und Sally nicht auch zusammen eines
der Häuser beziehen wollt?“
Für einen Moment stutzte ich. Darüber hatte ich noch nie
nachgedacht! Bevor ich mir jedoch Gedanken darüber machen
konnte, kam unsere Freundin an den Tisch.
„Hallo, war denn Franziskus auch schon bei euch?“, und fuhr
fort, ohne die Antwort abzuwarten. „Für welche Arbeit habt ihr
euch entschieden?“ Wir sagten es ihr. Sie säbelte an ihrem Stück
Fleisch herum, während ich es vor Neugierde kaum aushielt.
„Für was hast du dich denn entschieden, Sally?“, fragte ich so
beiläufig wie möglich.
Sie blickte mich an.
„Eigentlich wollte ich ja beim Hausbau mitmachen, aber
wenn ich dich so ansehe, frage ich mich, wozu?“ Sallys Augen
funkelten. Sie sprang spontan auf und ihre schwarze Mähne
wirbelte dabei durch die Luft. Sie schnappte sich ihren Teller
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und setzte sich an einen anderen Tisch, wo sie sofort zum
Gesprächspartner einiger Junggesellen wurde.
Verdutzt wandte ich mich zu Pierre und Samson: „Was sollte
das denn heißen? Versteht ihr das? Was habe ich jetzt schon
wieder falsch gemacht?“
Samson und Pierre wechselten einen erstaunten Blick und
letzterer antwortete mit ernster Stimme: „Mon ami, wenn du
das nicht langsam weißt, dann kann dir niemand mehr helfen!“
Die nächsten drei Tage ging Sally mir aus dem Weg.
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Ein ungebetener Gast
Das Dorfleben innerhalb unserer schützenden Hecken war
meist ziemlich beschaulich. Nur selten passierte etwas Aufregendes oder gar Gefährliches.
Ich hatte mittlerweile meinen Küchendienst angetreten. Die
Aufgaben waren vielfältig und bestanden nicht etwa nur aus
dem Gemüse schnippeln, wie ich gedacht hatte. Es mussten
unter anderem auch Eier aus den Ställen der Hühner geholt und
auf den Feldern frisches Gemüse geerntet werden.
Ebenso gehörte das Schlachten und Rupfen von Hühnern,
Enten und Gänsen zu meinen Aufgaben. Natürlich gab es nicht
jeden Tag Fleisch, aber wenigstens zweimal pro Woche schon.
Viele der Dorfbewohner lebten separat als Familien und kochten für sich selbst. Aber zum Mittagessen kamen immerhin
noch rund hundert Personen zusammen. Wenn also Geflügel
geschlachtet wurde, dann immer eine ganze Menge. Für so
viele Esser mussten fünfundzwanzig Hühner ihr Leben lassen.
Eine gestandene Frau so um die Vierzig und ich hatten diese
Aufgabe zu bewältigen. Sie hieß Rosa und besaß einen ziemlich
schrägen Humor. Unsere Schlachtungen liefen gewöhnlich folgendermaßen ab:
Nachdem wir die Hühner gefangen und in bereitgestellte
Käfige gesperrt hatten, überließ sie es mir, ihnen mit einer Axt
den Kopf abzuhacken. Dazu benötigten wir natürlich noch einen
Hauklotz. Rosa presste das jeweilige Hühnchen fest auf diesen
Klotz, während ich das Beil schwang. Dann warf meine Kollegin das enthauptete Huhn in die Luft, wo es noch etliche Meter
kopflos weiter flog – getrieben von irgendwelchen Reflexen. Sie
bedachte jeden kopflosen Flug mit einem Jubelschrei, der umso
länger anhielt, je weiter das kopflose Huhn flog.
Wie gesagt, Rosa war ein wenig seltsam. Auch dieses Mal
begleitete sie mich am frühen Morgen zu den Stallungen. Ich
war schon gespannt, ob sie auch heute wieder ihre „Flugstunden“ abhalten würde. Als wir allerdings dann beim Hühnerstall
ankamen, empfing uns eine merkwürdige Stille.
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Normalerweise war um diese Zeit schon lautstarkes Gackern
angesagt. Als wir dann verwundert die Tür öffneten, stoben
einige Hühner in wilder Panik zwischen unseren Füßen hindurch ins Freie.
Dann traf uns fast der Schlag! Im ganzen Stall waren blutige
Federn verstreut. Dazwischen lagen überall tote Hühner mit
durchgebissenen Kehlen herum. Wir waren zunächst einmal
geschockt. Langsam inspizierten wir den Stall und sahen uns
die Bescherung an. Hier hatten einmal über zweihundertfünfzig
Tiere ihre Eier gelegt – wie viele waren davon wohl noch übrig?
Ich schickte Rosa zu Franziskus um ihn zu informieren.
Außerdem sollte sie Samson mitbringen, weil er der beste Spurenleser war. Wir mussten schließlich unbedingt wissen, was für
ein Raubtier hier eingedrungen war, um eine Wiederholung zu
verhindern.
Vorsichtig darauf bedacht, keine Spuren zu verwischen,
durchschritt ich den Ort des Massakers. Die überlebenden
Hühner hielten sich größtenteils in abgelegenen Ecken auf und
gackerten kläglich vor sich hin. Ich zählte über sechzig tote
Tiere. Nur etwa zwanzig davon hatten Bisswunden. Der überwiegende Teil der getöteten Hühner hatten keine erkennbaren
Verletzungen, sie waren vermutlich vor Aufregung verendet.
Als erster möglicher Täter kam mir natürlich ein Fuchs in den
Sinn. Aber konnte ein Fuchs so eine Verwüstung anrichten? Ja,
er konnte. Aus Erzählungen meiner Großeltern wusste ich, dass
so etwas möglich war. Der Fuchs geriet dabei in einen regelrechten Blutrausch und biss dann alles tot, was sich in seiner
Reichweite bewegte.
Ich hörte Schritte und drehte mich um. Franziskus und
Samson standen in der Tür. Sie betrachteten zunächst erschüttert das blutige Chaos.
Erst nach einer Weile ergriff der Bürgermeister das Wort:
„Lasst uns die überlebenden Tiere behutsam aus dem Stall treiben, damit wir uns umsehen können.“
Nachdem wir die völlig verstörten Hühner auf die Wiese
getrieben hatten, begannen wir mit zu dritt mit der Spurensuche.
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Wir teilten uns auf und untersuchten getrennt die Außenwände
nach einer Einbruchstelle.
„Hier“, rief Franziskus, „hier ist er rein gekommen!“
Samson und ich traten hinzu. Das Tier hatte sich tatsächlich
unter den Brettern der Wand hindurch gegraben. Der Riese
kniete nieder und tastete vorsichtig die umgebenden Hölzer ab.
Nach kurzer Zeit hielt er ein winziges Büschel Fell zwischen den
Fingern.
Er schaute es sich genau an und roch daran. „Das war ein
Pinselohr! Ganz eindeutig! Normalerweise sind das besonders
scheue Tiere, die menschliche Ansiedlungen meiden. Der hier
muss entweder aus der Art geschlagen sein, oder er ist verletzt
und kann nicht mehr in freier Wildbahn jagen.“
Samson hatte den Namen „Pinselohr“ genannt. So wurde
auch schon früher in unserer ersten Lebensphase der Luchs
wegen seiner charakteristischen Ohren genannt. Mein Freund
betastete nochmals die Bretter.
„Das Holz ist teilweise angefault und morsch. Er hat sich den
einfachsten Weg ausgesucht. Wir müssen rundherum neue
Balken in den Boden rammen. Früher oder später kommen
sonst auch Füchse oder Wiesel hier herein. Das Pinselohr ist
ein sehr guter Kletterer und hat eine enorme Sprungkraft. Es
wird über einen Baum hierher gelangt sein. Füchse und Wiesel
kann unsere Hecke sowieso nicht abhalten, die finden immer
einen Weg in unser Dorf und damit auch in den Stall – wenn es
Schlupflöcher gibt!“
Mittlerweile war Rosa mit einigen Helfern herbeigeeilt.
Gemeinsam machten wir uns daran, den Stall wieder einigermaßen herzurichten. Die Kadaver wurden verbrannt, da niemand wissen konnte, ob der Luchs nicht auch Krankheiten eingeschleppt hatte.
Die Bilanz: 76 tote- oder so schwer verletzte Tiere, dass sie
getötet werden mussten. Das war rund ein Drittel der gesamten
Hühneranzahl. In den nächsten Wochen und Monaten würde
es nur selten Hühnerfleisch und Eier geben, bis sich der Tierbestand wieder einigermaßen erholt hatte.
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Franziskus beauftragte einige Männer, rund um den Stall neue
Balken in die Erde zu treiben, während Samson und ich uns auf
die Luchsjagd vorbereiteten. Mit Speeren sowie Pfeil und Bogen
bewaffnet, verfolgten wir vom Hühnerstall aus die Spuren des
Pinselohrs.
Diese Spuren waren allerdings nicht leicht zu finden. Die
letzte Regenzeit lag schon eine Weile zurück. Es gab daher
kaum weichen Boden, wo man klare Abdrücke der Luchspfoten
entdecken konnte.
Außerdem lagen rund um das eigentliche Dorfzentrum nur
Wiesen, Weideland oder Äcker – nicht gerade ideal für die
Spurensuche.
Samson blickte forschend in die Runde. „Wir können das
Weideland mit den Kühen und Schweinen größtenteils ausschließen. Die Tiere wären immer noch beunruhigt, wenn Pinselohr dort etwas versucht hätte.“ Dann bückte er sich und hob
eine kleine Feder auf.
„Er hat ein Beutetier mitgeschleppt, das erleichtert uns
die Suche. Schau nach Federn, kleinen Blutstropfen oder
Schleifspuren.“
Mein Freund überließ mir die Führung. Eine ganze Weile
lang konnte ich auch der Spur des Luchses folgen, ohne das der
geschickte Riese eingreifen musste. Hin und wieder schien sich
das Tier in Luft aufgelöst zu haben. Ich zog dann größere Kreise
um die vermutete Fluchtrichtung des Hühnerdiebs und fand
immer wieder kleine Anhaltspunkte.
Erst als wir hinter den Äckern etwa 250 Meter vor unserer Dornenhecke standen, verlor ich die Spur endgültig. Auch
Samson hatte große Mühe. Seine Nase berührte auf der Suche
beinahe den Boden, aber so fand er die Spur schließlich wieder.
Wir folgten ihr bis an die Schutzhecke. Auch wenn sie hier
an dieser Stelle nicht breiter als etwa acht Meter war, reichte
es doch, um die Jagd erst einmal zu beenden. Ich schaute den
Freund an: „Hier müssen wir wohl aufgeben. Durch die Hecke
können wir Pinselohr nicht folgen.“
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„Du hast recht. Lass uns schauen, ob wir vielleicht eine Lücke
finden, durch die er eingedrungen ist. Sie wird ganz in der Nähe
sein.“
Wir suchten einige Zeit sehr gewissenhaft und entdeckten
schließlich auch die Schwachstelle, die der Eindringling genutzt
hatte. Das Tier hatte sich seinen Weg nicht durch den dichten
Bewuchs gebahnt, sondern es war von oben über unsere Einfriedung gelangt. Auf der Außenseite der Hecke lag der abgeknickte Ast eines Baumes auf dem Buschwerk. Für Pinselohr
musste es ein leichtes gewesen sein, draußen den Baum zu
erklimmen, über den Ast zu balancieren und die noch verbliebenen zwei Meter bis zum Boden zu springen, auch wenn er
vielleicht durch eine frühere Verletzung behindert war.
„Verdammt!“, rief ich ärgerlich, „jetzt müssen wir mindestens drei Kilometer zurück bis zum nächsten Ausgang und noch
einmal genauso weit draußen hinter der Hecke entlang laufen,
um dort den verflixten Ast abzusägen.“
„Nicht so hastig, mein Freund. Ich denke, Pinselohr ist noch
hier. Bevor wir den Ast absägen, sollten wir versuchen, ihn aus
der Hecke heraus zu treiben und ihn über den Stamm zurück in
den Wald zu jagen.“
Ich schaute Samson skeptisch an. „Und wie willst du das
machen?“
„Wir werden jetzt das Gebiet verlassen und in einem großen
Bogen zurückkehren. Wenn wir Glück haben, wird er in der
Dämmerung seine Zuflucht verlassen und wieder auf die Jagd
gehen wollen. Dann können wir ihn entweder abschießen oder
versuchen, ihn über den abgeknickten Baum zu verjagen.“
„Okay, Samson. Ich bin für ‘s Verjagen. Versuchen wir es.“
Gesagt, getan. Wir zogen uns zurück. Samson überprüfte ständig die Windrichtung, damit wir bei unserer Rückkehr nicht
so leicht gewittert werden konnten. Nach etwa einer Stunde
waren wir wieder in der Nähe des Zufluchtsorts von Pinselohr
und versteckten uns dort im nahe gelegenen Gebüsch. Jetzt
hieß es warten, bis zur Dämmerung würde uns wohl ungefähr
noch eine Stunde bleiben.
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Und wir hatten Glück! Wie Samson es vorausgesagt hatte,
erschien der Luchs, als es zu dämmern begann. Ein ausgewachsenes Tier von beeindruckender Gestalt!
Unverwechselbar die langen Haare an den Ohren und der
Stummelschwanz. Auch die Größe war noch etwa so wie früher.
Der Luchs schien sich, im Gegensatz zu vielen anderen Tierarten, kaum verändert zu haben.
Vorsichtig verließ das Tier seine Zuflucht. Es zog seinen
linken Hinterlauf etwas nach. Wie wir vermuteten, hatte es sich
irgendwann früher verletzt. Als der Luchs sich weit genug entfernt hatte, sprangen wir auf und trieben ihn schreiend in Richtung Baum.
Der Trick klappte. Wie von Furien gehetzt sprintete Pinselohr davon, direkt in Richtung auf seinen Zugangs-Baum. Trotz
seiner Behinderung erreichte er mit einem Sprung den rettenden Ast, um im gleichen Tempo hinüber zu dem Stamm auf der
anderen Seite der Hecke zu hetzen und schließlich dort herunter zu springen. Dann war er verschwunden.
„Lass uns zurück ins Dorf gehen. Den Ast können wir auch
noch Morgen absägen. Heute Nacht wird Pinselohr auf keinen
Fall zurückkommen.“
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Salz
Unser Dorf mit seinen weit über vierhundert Einwohnern war
zwar in der Lage, die Grundbedürfnisse der Gemeinschaft selbst
herzustellen oder anzubauen, aber einige wichtige Dinge gab es
einfach nicht, wie zum Beispiel Salz.
Ich lernte bald in der Küche, dass man damit äußerst sparsam umging und stattdessen jede Menge Kräuter aus Wald und
Feld zur Zubereitung der Mahlzeiten verwendete. Salz war eine
absolute Kostbarkeit und musste bei einem anderen Stamm
eingetauscht werden. So hatte Franziskus uns vier Freunde
eines Tages zusammen gerufen:
„Unsere Salzvorräte gehen wieder einmal zur Neige. Es gibt
nur ein Dorf, bei dem wir Salz eintauschen können. Es liegt
zwei Tagesreisen von hier entfernt. Der Weg ist nicht schwer zu
finden, es führen viele Pfade dorthin, da alle Stämme im weiten
Umkreis auf Salz angewiesen sind. Es gibt da allerdings ein Problem: Ihr wisst ja, das viele Stämme ihre Diebe und Mörder
aus der Dorfgemeinschaft ausstoßen. Einige sammeln sich auf
den Salzrouten und bilden Banden, um die Tauschtrupps auszurauben. Wir könnten eine größere Zahl Bewaffneter hinschicken, um einen relativ sicheren Weg zu haben, oder wir schicken einen kleinen Trupp, der unauffälliger ist. Wahrscheinlich
denken die Diebe auch, dass es bei weniger Leuten auch nicht
viel zu holen gibt, wenn diese überhaupt entdeckt werden. Was
meint ihr, wollt ihr lieber mit einer größeren Gruppe losziehen,
oder schafft ihr das alleine?“
Wir entschieden uns für die zweite Variante, hatten wir doch
zu viert schon wesentlich gefährlichere Abenteuer erlebt. Wenn
ich allerdings gewusst hätte, was wir als Tauschmaterial mitschleppen würden, hätte ich auf ein paar Träger bestanden!
Aus irgendeinem Grund waren die Salzhändler verrückt nach
unseren getrockneten Apfel- und Birnenringen. Wahrscheinlich
lag es an der geheimen Zutat, die unser Stamm beim Handel
mit ihnen immer erwähnte. Bloß – es gab gar keine geheime
Zutat! Wahrscheinlich lag der besondere Geschmack nur an der
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jeweiligen Apfel- oder Birnensorte. Doch die Menschen sind
wohl fast überall gleich, sobald es etwas Geheimnisumwittertes gibt, ist das Interesse groß. Uns Bewohnern von Neu-Siegen
konnte das nur recht sein. Noch freute ich mich auf den kleinen
Ausflug. Als wir aber die Tauschware aus einem unserer Lagerhäuser abholten, änderte sich meine gute Laune schlagartig.
Berti, der Lagerverwalter, grinste schon schadenfroh, als wir
nach der Tauschware fragten.
„Kommt mit. Die Körbe stehen in der Halle.“ Wir betraten
den Lagerraum. Ein unglaublich intensiver Duft wehte uns entgegen. Alles, was man an Obst und Gemüse über eine gewisse
Zeit aufheben konnte, wurde hier auf luftigen Regalen gelagert.
Neben Äpfeln und Birnen waren das auch Zwetschgen, Kürbisse,
Berge von Kartoffeln und diverse Kohlsorten. Die Dorfbewohner mussten ja versorgt werden. Auch wenn es praktisch keinen
Sommer und Winter mehr gab, Vorratshaltung war immer noch
angesagt.
Berti zeigte auf vier gleich große Weidenkörbe, die auf einem
Tisch standen. Sie waren nicht wie üblich rund, sondern eckig,
in Form eines großen Schulranzens geflochten. Je zwei Trageriemen hatte man eingearbeitet.
„Der letzte Korb ist für Sally!“
Beim Anblick der Körbe schwante mir nichts Gutes. Meine
Vorahnung bestätigte sich, als ich mir einen davon auf den
Rücken schnallte. Das mussten fast fünfzig Kilogramm sein!
Sofort setzte ich das schwere Ding wieder ab.
„Das kann doch nicht wahr sein!“, moserte ich, „das schwere
Zeug kann doch kein Mensch schleppen! Außerdem ist dann
auch kein Platz mehr für unsere Ausrüstung!“
Berti war auf meine Meckerei vorbereitet. Er holte vier aufgerollte Decken hervor. „Hier ist alles Notwendige drin. Wasser
und ein wenig Nahrung. Für eure Waffen habt ihr ja noch eure
Gürtel und die Hände. Viel Vergnügen und eine schöne Wanderung!“ Sein schadenfrohes Grinsen wurde noch breiter, bevor
er den Lagerraum verließ.
22
Ich wog eine der Decken in der Hand – nochmal zusätzliche zwei
bis drei Kilogramm.
Bevor ich zu fluchen beginnen konnte, nahm Samson mir die
Decke aus der Hand und verschnürte sie zusammen mit den der
Anderen auf seinem Korb. Wortlos schnallte er sich alles auf
den Rücken und verließ den Raum.
Sally folgte seinem Beispiel. Als Pierre seinen Korb schulterte,
murmelte er auf Französisch so etwas wie: „Merde …“ und einiges, was ich nicht verstand in seinen nicht vorhandenen Bart.
Wohl oder übel folgte ich dem Beispiel meiner Kameraden und
wir verließen den Lagerraum und begannen unseren Marsch.
Nach zwei Stunden legten wir die erste Rast ein. Meine
Schultern schmerzten höllisch, obwohl die Tragegurte gepolstert waren. Sally und ich massierten uns gegenseitig die Schultern, anschließend ging sie zu Samson und Pierre. Steif wie ein
Brett marschierte ich etwas umher und lockerte meine Muskulatur. Neugierig ging ich zu den anderen Körben und hob sie
kurz hoch. Pierres Korb war genauso schwer wie meiner, Sallys
etwas leichter und Samsons, wegen unserer Decken, gut 10 kg
schwerer. Sally schaute mir zu und schüttelte missbilligend den
Kopf.
„Was denn“, konterte ich, „man wird doch wohl mal schauen
dürfen!“
Ich war immer noch stinksauer, weil Franziskus uns nach
meiner Meinung so richtig hereingelegt hatte. Wahrscheinlich
konnte er zur Zeit niemanden entbehren und hatte uns so die
kleine Reise alleine aufgehalst.
Im Laufe des Tages verrauchte mein Zorn und ich dachte nur
noch daran, das Salzdorf möglichst schnell zu erreichen, um
meinen schmerzenden Schultern und dem geplagten Rücken
ein heißes Bad zu gönnen.
Kurz nachdem wir unsere erste Rast beendet hatten, stießen
wir auf einen der Hauptwege zu unserem Ziel. Dieser Weg war
wirklich ein richtige schmale Straße. Sonst gab es ja üblicherweise nur noch kleine Pfade. Das zeugte von der Wichtigkeit
des Salzdorfes. Wahrscheinlich kamen Tauschwillige aus allen
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Dörfern im weiten Umkreis hierher. Ich war gespannt darauf, ob
es sich um die erste Metropole der neuen Zeit handeln könnte.
Bisher hatten wir nur Dörfer mit maximal 400 bis 500 Einwohnern gesehen. Wenn aber praktisch jeder Stamm hier seinen
Salzvorrat auffüllte, konnte sich vielleicht eine kleine Stadt entwickelt haben.
Den Rest des Tages verbrachten wir mit stummer Schlepperei. Zu unserer Überraschung gab es alle paar Kilometer kleine
Plätze, auf denen man sein Lager aufschlagen konnte. Dennoch
trafen wir bis zum Abend auf niemanden. Erst als wir auf einem
der Plätze unser Nachtlager aufschlugen, gesellte sich ein
schwer bewaffneter Trupp von ungefähr zwanzig Leuten zu uns.
Wie unschwer an ihren Salzsäckchen zu erkennen war, kamen
sie von unserem Ziel.
Die Unterhaltung mit ihnen gestaltete sich zuerst schwierig,
da sie voller Misstrauen uns gegenüber waren. Erst als sie feststellten, dass unsere Gruppe nur aus vier Personen bestand und
keine weiteren folgten, waren sie etwas aufgeschlossener.
Auf dem letzten Lagerplatz hatten sie einige Leichen gefunden, die vollkommen ausgeplündert worden waren. Sie selbst
waren bisher ungeschoren davon gekommen, was sicherlich an
ihren Waffen-starrenden Begleitern lag. Außerdem erzählten
sie, der Salzpreis wäre zurzeit wegen der vielen Überfälle nicht
so hoch. Das war es aber auch schon mit den Gesprächen.
Die Nacht verlief friedlich. Als wir uns am nächsten Morgen
verabschiedeten, trafen uns mitleidige Blicke. Mir kam es so
vor, als rechneten sie auf jeden Fall mit dem Ableben unserer
kleinen Gruppe. Daraufhin rumorte es in meinem Magen und
das war nicht der Hunger! Den ganzen Tag über hatte ich ein
komisches Gefühl und schaute mich immer wieder um. Mein
Gefühl hatte mich wohl getäuscht, denn wir erreichten gegen
Abend das Salzdorf ohne jeden Zwischenfall.
Sofort als wir eintrafen, tauschten wir unser getrocknetes
Obst gegen einige Säckchen Salz. Außerdem wies man uns
eine Hütte zur Übernachtung zu. Ich war enttäuscht von der
Größe des Dorfes. Gewiss, die Holzhütten waren etwas größer
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als üblich, die Töpfe und Pfannen sahen besser aus als bei den
anderen Stämmen und auch Essen gab es reichlich.
Das alles zeugte schon von einem gewissen Wohlstand. Aber
aus mehr als vielleicht 500 Einwohnern bestand auch diese
Ansiedlung nicht.
Wir hatten noch einige Zeit bis zum Einbruch der Dunkelheit
und sahen uns den Ort etwas genauer an. Ich war gespannt, wie
die Bewohner das Salz herstellten.
In meiner Kindheit hatte ich mit meinen Eltern mal eine
Woche Urlaub in Berchtesgaden verbracht und bei einem unserer Ausflüge ein Salzbergwerk besichtigt. Es hatte riesige Ausmaße gehabt. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es hier so
etwas geben konnte.
Wir schlenderten durch das Dorf. Überall standen Wachposten – vielleicht hatte es sogar hier schon Überfälle gegeben.
Erst als wir die Randbezirke erreichten, wurde mir klar, wie hier
Salz gewonnen wurde. Überall brannten kleine Feuer und große
Kessel aus Kupfer oder Eisen hingen darüber. Es musste hier
eine Solequelle geben. Das salzhaltige Wasser wurde über den
Feuern verdampft und das zurückgebliebene Salz ausgekratzt.
Eine ziemlich langwierige und aufwendige Prozedur.
Hinter dem Bereich mit den Töpfen tat sich eine riesige freie
Fläche auf. Hier mussten die Bewohner des Dorfes den Wald
gerodet und das Holz für ihre vielen Feuer verwendet haben.
Es sah trostlos aus und zuerst dachte ich an die Sünden vieler
Nationen aus der alten Zeit.
Beim genaueren Hinsehen allerdings bemerkte ich viele
frisch angepflanzte kleine Sprösslinge. Die Dörfler forsteten
ihren verbrauchten Wald wieder auf. Sie hatten damit vor noch
nicht allzu langer Zeit begonnen, aber eine kluge Person hatte
hier vorausschauend gehandelt. Respekt! Die Dämmerung war
nun schon weit fortgeschritten und wir verzogen uns in unser
Quartier bis zum nächsten Morgen.
Wir bekamen von den Salzdörflern noch ein üppiges Frühstück serviert. Das gehörte wohl zum Service. Unsere knapp
zweihundert Kilogramm getrocknete Früchte wurden gegen
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vierzig Kilo Salz eingetauscht, was uns den Transport für den
Rückweg natürlich immens erleichterte.
Ich hatte Samson von meinem „komischen Gefühl“ auf
dem Hinweg erzählt. Ihm war es nicht anders ergangen. Auch
wenn er niemanden gesehen hatte – das Gefühl beobachtet zu
werden, war stark gewesen.
Darum beschlossen wir aus Sicherheitsgründen die Heimreise etwas abseits der Handelsstraße anzutreten. Dreihundert
Meter Abstand zum Handelsweg sollten reichen, um eventuellen Dieben in den Rücken zu gelangen. Bis wir außer Sichtweite
des Dorfes waren, blieben wir auf dem Weg, dann schlugen wir
uns in die Büsche. Man wusste ja nie, ob sich vielleicht ein Spion
im Dorf aufhielt. Natürlich war der Weg beschwerlicher, auch
wenn Samson als unser Führer schwierige Passagen umging.
„Lieber langsam vorankommen – dafür aber möglichst
geräuschlos und sicher!“, lautete unsere Devise.
Es dämmerte schon. Gerade als wir einen Rastplatz für die
Nacht gefunden hatten, hob der Riese als Zeichen der Gefahr
den rechten Arm. Sofort hörten wir damit auf, unser Lager herzurichten. Samsons ausgezeichnetes Gehör hatte verdächtige
Geräusche erkannt. Er nahm seine riesige Keule von der Schulter und schlich los. Wir ließen Salz und Ausrüstung zurück, griffen unsere Waffen und folgten ihm.
Doch auch unsere Gegner hatten aufgepasst. Es handelte
sich ausschließlich um Großköpfe. Vielleicht hatten sie uns ja
auch gespürt, so wie es Franziskus konnte. Wir wussten, dass
zwar nur wenige der Großköpfe diese Fähigkeit besaßen, aber
einer reichte ja auch schon.
Sofort stürmten sie mit mehreren Angreifern auf unseren
Freund zu. Der ließ die gewaltige Keule kreisen und mähte die
ersten drei Angreifer regelrecht nieder. Die zweite Welle bestand
aus sieben Personen. Von Samsons Keule abgeschreckt, verteilten sie sich diesmal und wollten uns von allen Seiten angreifen.
Doch mittlerweile hatten wir unseren Freund erreicht und
bildeten gemeinsam einen Kreis. Wir standen mit unseren
Lanzen abwehrbereit vor ihnen. Vier gegen sieben. Alle waren
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mit großen Buschmessern bewaffnet, das zeugte von einem
gewissen Wohlstand, den sie durch ihre Überfälle erreicht
hatten. Buschmesser waren nämlich sehr teuer und kosteten ausgezeichnete Tauschware. Dennoch zögerten sie, als
sie in unsere entschlossenen Gesichter sahen. Samson hatte
das Zögern bemerkt, ging seinerseits mit einem Schrei auf die
ersten beiden Gegner los und streckte auch sie mit einem einzigen Hieb seiner Keule nieder.
Sally, Pierre und ich schrien nun auch los und stürmten vor.
Durch Samsons erneuten Streich und unsere wilden Schreie
verloren die verbliebenen Gegner den Mut und gaben Fersengeld. Wir verfolgten sie nur wenige Meter, eilten dann zurück zu
unserem Gepäck und verließen die Gegend auf dem normalen
Handelsweg.
Erst eine Stunde später, bei fast völliger Dunkelheit, lagerten
wir erneut. Der Überfall war glimpflich verlaufen, niemand von
uns hatte sich verletzt. Die fünf Gegner aber, die Samson mit
seiner Keule niedergestreckt hatte, würden einige Zeit größere
Schmerzen haben – falls sie überhaupt je wieder aufstanden!
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Treibjagd
Die Zeit stand nicht still in Neu-Siegen. Überall wurde gewerkelt und angebaut. Trotz der vielen Arbeit kam keine Hektik
oder Frust bei mir auf. Ich liebte diese ehrliche Beschäftigung.
Manchmal fragte ich mich, warum ich damals Biologie studiert und später den ganzen Stress bei unserer Firma Galaxis
auf mich genommen hatte. Doch das war Schnee von gestern.
Franziskus war ein sehr guter Bürgermeister. Dadurch, dass
jeder Dorfbewohner mal eine andere Arbeit bekam, entstand
keine Langeweile. Er hatte jederzeit sein großes Ohr am Puls
der Dorfgemeinschaft. Nun ja, seine emphatischen Fähigkeiten
halfen wohl auch dabei.
Doch diesmal war es etwas anderes. Es gab mehrere Feste
im Jahr. Eines davon war eine große Treibjagd mit anschließendem üppigem Festschmaus und Tanz. Bis vor ein paar Jahren
veranstalteten die Dorfbewohner keine Treibjagden. Zumindest
keine, um größere Mengen Fleisch zu beschaffen. Franziskus
hatte sich diese Veranstaltung ausgedacht, um die Moral der
Dorfbewohner zu stärken. Schließlich lag Neu-Siegen mit seinen
riesigen Hecken sehr isoliert in der Landschaft. Kontakte mit
anderen Dörfern gab es nur zu wichtigen Anlässen. Hier ging
es neben der Moral darum, die Geschicklichkeit der Einwohner
zu verbessern – und natürlich um den anschließenden Spaß.
Darum wurden auch nur die Tiere gejagt, die es massenweise in
der Umgebung gab. Es gab immer Dorfbewohner, die der Jagd
nichts abgewinnen konnten. Das war aber kein Problem. Sie
sicherten das Dorf oder bereiteten die anschließende Feier vor,
während alle anderen sich zur Treibjagd versammelten. Jedes
Jahr wurde dabei eine andere Tierart gejagt.
Dieses Jahr war das Jahr des Hasen. Auch wenn die Hasen
heute anders aussahen als zu unseren alten Zeiten, schmeckten sie immer noch ausgezeichnet. Es gab bestimmte Regeln
bei dieser Jagd. Wer ein anderes Tier als einen Hasen erlegte,
musste sich am Morgen nach dem Festschmaus um den
Abwasch kümmern.
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Das kam gar nicht mal so selten vor, da die Tiere aus dem Unterholz gehetzt wurden. Manchmal erkannte man eben erst nach
dem Schuss mit dem Bogen, um was für ein Tier es sich handelte. Sieger war natürlich der- oder diejenige mit der größten
Anzahl erlegter Tiere. Er oder sie wurden dann zum Jagdkönig
beziehungsweise zur Jagdkönigin gekrönt. Nach dem Festessen
spielte man auf zum Tanz. Dem Sieger oder der Siegerin durfte
dann niemand den Tanz verweigern. Er oder sie hatte bis Mitternacht die freie Auswahl an Tanzpartnern.
Der Titel war sehr begehrt, gab es doch auch den etwas
schüchternen Personen die Gelegenheit, mit seiner Traumfrau
oder seinem Traummann ins Gespräch (und vielleicht auch zu
mehr) zu kommen. Außerdem durfte der Sieger oder die Siegerin im nächsten Jahr wieder Jäger sein. Es war ein harmloses
Vergnügen, der Spaß stand eindeutig im Vordergrund.
Natürlich wollte niemand immer nur Treiber sein und so
wurde jedes Jahr gewechselt. Da wir bisher noch an keiner
dieser Treibjagden teilgenommen hatten, wurden wir gefragt.
Sally, Pierre und ich entschieden uns für die Jagd, während sich
Samson, etwas überraschend, für den Treiber entschied. Mir
sollte es Recht sein, damit war der wohl beste Jäger nicht dabei.
Die Treibjagd wurde in zwei Abschnitte unterteilt. Vormittags
und nachmittags. Dazwischen gab es Eintopf. Die zehn besten
Jäger traten zum Nachmittags-Wettbewerb in einem anderen
Waldstück an. Sie machten die Entscheidung unter sich aus.
Mittlerweile hatte ich so ziemlich alle Dorfbewohner kennen
gelernt und wusste, ob ihnen die Jagd lag oder nicht. Doch darüber wollte ich mir erst einmal keine Gedanken machen, wichtig war, in die zweite Runde zu kommen.
Wir hatten Aufstellung genommen. Wir, das waren die Jäger
auf der einen und die Treiber auf der anderen Seite eines Wäldchens. Es war kurz nach Sonnenaufgang und letzte Nebelschwaden verflüchtigten sich langsam. Links und Rechts neben mir, im
Abstand von jeweils ungefähr fünfzig Metern, standen Lisa und
Marga. Ich kannte beide ganz gut und wusste, dass sie keine
besonders guten Jägerinnen waren. Keine Konkurrenz für mich.
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Pierres und Sallys Positionen lagen außerhalb meiner Sichtweite. Insgesamt beteiligten sich 80 Dorfbewohner an dem
Jagdspektakel. Je 40 auf beiden Seiten.
In der Ferne ertönte ein Jagdhorn und die Treibjagd begann.
Ich legte einen Pfeil auf die Sehne meines Bogens und wartete
gespannt. Lautes Rufen und Trommelschläge näherten sich
langsam meinem Standort.
Gleich mussten die ersten Tiere aus dem Unterholz hervorbrechen. Ich zog die Sehne meines Bogens bis zum Anschlag
auf. Urplötzlich sprang ein Tier aus dem Gebüsch. Ich schoss.
Obwohl ich darauf gewartet hatte, verfehlte mein Pfeil ganz
knapp das Ziel. Und das war gut so, das kleine Reh hätte mir den
Abwasch eingebracht. Während ich einen neuen Pfeil aus dem
Köcher holte, hörte ich das Kichern von Lisa, meiner Nachbarin
auf der linken Seite. Ich schaute zu ihr herüber.
„Na, Frank. Nervös geworden?“
Ich versuchte ein lässiges Grinsen, doch es wurde nur ein
verbissenes Zähnefletschen daraus. Ich drehte meinen Kopf
wieder in die Jagdrichtung und musste mit ansehen, wie auf
meiner anderen Seite Marga mit ihrem ersten Pfeil einen Hasen
erlegte. Verdammt! Der wäre genau in meine Schusslinie gelaufen, ich hatte mich ablenken lassen. Da, der nächste Hase! Ich
zielte, schoss und … Volltreffer.
Den nächsten Pfeil aus dem Köcher holen, auf die Sehne
legen und den Bogen spannen war eine einzige fließende Bewegung. Immer mehr Tiere rannten auf uns zu. Die größeren wie
Wildschweine, Rehe und Hirsche beachtete ich nicht. Auf die
kleineren musste ich aufpassen.
Links von mir ertönte ein Fluch. Aus den Augenwinkeln
sah ich, dass Lisas Pfeil eine Art Dachs durchbohrt hatte. „Das
geschieht ihr recht“, dachte ich. Gerade als ich meinen Pfeil auf
ein neues Ziel abfeuern wollte, durchbohrte ein weiterer Pfeil
Margas den Hasen. Ich hatte mich wohl in ihren Schießkünsten
gewaltig getäuscht.
Da, mein nächster Hase. Ich schoss und traf. Nummer zwei.
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Die Rufe und das Trommeln der Treiber rückte immer näher,
gleich würde die Jagd beendet werden. „Noch nicht“, schoss es
mir durch den Kopf, „noch nicht! Einen noch, nur einen!“
Weitere Tiere stoben nur so an mir vorbei. Endlich, noch
ein Hase. Ich schoss, doch er schien weiterzulaufen und verschwand im hohen Gras. Das Horn ertönte. Die Jagd war vorbei.
Hatte ich den Hasen noch erwischt? Während das Horn immer
wieder erklang, kamen die Treiber laut rufend und winkend aus
dem Wald. Schließlich wollte niemand von einem übereifrigen
Jäger erschossen werden.
Ihre Aufgabe war es nun, die geschossenen Tiere zu zählen
und den Schützen zuzuordnen. Die Pfeile waren markiert und so
gab es keine Missverständnisse. Ich schaute hinüber zu Marga.
Sie hob ihre rechte Hand und zeigte mir drei Finger und freute
sich. Sie hatte wohl drei Hasen erlegt. Ich war unsicher, hatte
ich den dritten Hasen noch erwischt? Wir verließen das kleine
Wäldchen und trafen uns alle am Dorfplatz. Der Eintopf stand
schon bereit.
Ich traf meine Freunde am Mittagstisch. Während Pierre
komplett leer ausgegangen war, hatte Sally viermal getroffen.
Pierre nahm es mit Humor und war sich sicher, auch ohne den
ersten Platz genügend Tanzpartnerinnen zu bekommen.
Als Sally mich nach meinem Ergebnis fragte, antwortete ich:
„Zweieinhalb.“
„Zweieinhalb? Was heißt denn das? Hast du einen in zwei
Teile zerlegt?“
Ich erklärte es ihr. Dann wurde das Ergebnis bekannt gegeben. Alle Teilnehmer, die 3 Hasen und mehr geschossen hatten,
waren in der Endrunde. Unschlüssig schaute ich herum. Hier
und da sah ich einige Jäger jubeln. Dann wurden die Namen
aufgerufen. Meiner kam gleich nach Margas! Ich war dabei. Aus
zweieinhalb waren doch noch drei Treffer geworden.
Zwei Stunden später standen die elf Auserwählten an einem
anderen Wäldchen und warteten. Elf deshalb, weil ein Jäger
fünf Tiere, eine Jägerin vier Tiere und neun weitere je drei
Tiere erlegt hatten. Insgesamt nahmen vier Männer und sieben
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Frauen an unserem Finale teil. Das weibliche Geschlecht konnte
eindeutig besser mit Pfeil und Bogen umgehen als die Männerwelt. Diana, die Göttin der Jagd, lässt grüßen!
Die besten Schützen wurden in der Mitte platziert. Sally
mit ihren vier Treffern und Wilhelm, der Vorjahressieger, mit
fünf Treffern. Die anderen Positionen wurden ausgelost. Ich
erwischte den Platz ganz links außen, neben mir stand ein weiteres Mal wieder Marga.
Sie hatte mir zu meiner Überraschung nach dem Essen Glück
gewünscht und mir einen Kuss auf die Wange gehaucht. Marga
mochte so um die zwanzig sein und war eine lebenslustige Blondine mit draller Figur.
Pierre hatte nach dem Kuss albern herum gejohlt und Samson
konnte sich ein breites Grinsen nicht verkneifen. Sally hingegen
schien das völlig egal zu sein, obwohl ich meinte, ein kurzes
Aufblitzen in ihren Augen gesehen zu haben … Wahrscheinlich
aber waren das nur die Sonnenstrahlen.
Um es kurz zu machen, diese Jagd ging vollkommen an mir
vorbei. Ich konnte keinen einzigen Hasen erlegen. Hatte aber
Glück, auch kein anderes Tier getroffen zu haben. So blieb
mir wenigstens der Abwasch erspart! Auch Marga neben mir
ging leer aus. Wie es mit den anderen Teilnehmern des Finales aussah – ich hatte keine Ahnung. Niemand machte auf dem
Weg zum Dorfplatz auch nur die geringste Andeutung.
Gespannt warteten alle Final-Teilnehmer und die übrige
Dorfgemeinschaft auf die Ergebnisse. Endlich wurden die
Namen vorgelesen. Mein Name wurde mit vier anderen zuerst
genannt. Alle mit null Treffern. Sally war nicht dabei.
Dann gab es vier Teilnehmer mit je einem Treffer, auch hier
war Sally nicht dabei. Blieben noch zwei übrig. Sally und der
Vorjahressieger Wilhelm. Ich drückte Sally die Daumen. Dann
wäre mein Tanzabend gesichert!
Aber Franziskus sagte nur ein Wort: Entscheidungs-Schießen!
Die Menge johlte. Dann wurde auf dem Dorfplatz eine Schießscheibe aufgestellt. Auf ein einfaches Tuch hatte man mehrere
Kreise um einen Mittelpunkt gezogen.
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Das Tuch wurde in Gesichtshöhe auf einen Strohballen gespannt.
Die Regel war einfach. Nur ein Pfeil für jede Person, wer dem
Mittelpunkt am nächsten kam, hatte gewonnen.
Die Entfernung betrug ungefähr fünfzig Meter. Wilhelm
begann. Sein Schuss landete etwa zehn Zentimeter links vom
Mittelpunkt entfernt. Ein sehr guter Schuss! Wilhelm hob die
Arme und ließ sich schon mal feiern.
Sally schaute mit angespanntem Gesicht zu. Sie ging zur
Abschusslinie, atmete tief durch, spannte den Bogen und hielt
den Atem an. Der Pfeil sirrte durch die Luft und traf fast genau
ins Zentrum.
Gewonnen! Applaus und anerkennende Rufe schallten über
den Platz. Irgendwie schien sich ein fünfhundert Jahre altes
Ritual erhalten zu haben. Wie bei vielen Schützenfesten in der
Vergangenheit wurde auch hier die Siegerin mit einem Haarkranz aus Eichenlaub gekrönt. Dann begann der gemütliche Teil.
Überall wurden Fleischstücke auf die Grills geworfen, Salate,
Kartoffeln und Obst auf die Tische gestellt. Fruchtwein servierte
man in großen Kannen. Samson, Pierre und ich saßen an einem
Tisch, während Sally sich durch die Reihen der Dorfbewohner kämpfte. Überall wurde ihr gratuliert und sie sollte einen
Schluck Wein mittrinken. Ich verlor sie aus den Augen. Plötzlich
stand Marga mit zwei Bechern Wein neben mir.
„Na, wie geht es dir?“, begann sie. „Lass uns einen Schluck
Wein zusammen auf uns Verlierer trinken.“
Ich stand auf. Sie hatte ein sündhaftes Kleid angezogen, ihre
Brüste quollen praktisch aus dem Dekolleté. Mir gingen fast die
Augen über und ich versuchte meinen Blick auf ihr Gesicht zu
richten. Automatisch nahm ich den Becher und leerte ihn auf
einen Zug. Marga hakte sich bei mir ein und schmiegte sich an
meinen Körper.
Doch in diesem Moment wurde das Fleisch an die Tische
gebracht und wir wurden getrennt. Gott sei Dank! Wenn das
Sally gesehen hätte … Ich schaute mich um, konnte sie aber
nirgends entdecken. Eigentlich hatte ich ja gar nichts gemacht,
warum hatte ich dann ein schlechtes Gewissen?
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Als Marga wieder ihre Position an meiner Seite einnehmen
wollte, erklärte ich ihr, leicht stotternd und bemüht, nicht auf
ihre Oberweite zu starren, dass ich mit Sally zusammen wäre.
Um es nicht zu schroff klingen zu lassen, versprach ich ihr einen
Tanz. Sie schien nicht überrascht oder beleidigt zu sein, hauchte
mir noch ein: „Bis nachher beim Tanz!“ in mein linkes Ohr, warf
mir eine Kusshand zu und verschwand.
Ich hatte mich gerade wieder an den Tisch gesetzt, als Sally
sich neben mir auf die Bank fallen ließ. Ihr Gesicht war leicht
gerötet von dem Gratulations-Marathon, der sich über sie
ergossen hatte. Wir umarmten sie und gratulierten ihr herzlich. Sie benahm sich wie immer und erzählte, wie es ihr beim
entscheidenden Schuss ergangen war. Ich war erleichtert, dass
sie nichts von Margas Besuch mitbekommen hatte. Wir langten
kräftig beim Essen zu und leerten auch den einen oder anderen
Becher des leichten Fruchtweins. Dann spielte die Musik auf.
Überrascht vernahm ich auch Geigenklänge. Ich schaute zur
„Band“ hinüber. Wahrhaftig. Zwei Trommler, die auf Blechfässern spielten, zwei weitere, die eine Art Bongos bearbeiteten
und ein Geiger mit einer echten Geige! Dazu gesellten sich noch
eine Sängerin und ein kleiner Chor, bestehend aus fünf Sängern,
die auch verschiedene, selbst gebastelte Blasinstrumente in
den Händen hielten. Eine merkwürdige Zusammenstellung von
Musikern.
Die Musik war schwungvoll und erinnerte ein wenig an
Country - und Western Musik. Zu meiner Überraschung tanzte
jedoch niemand. Sallys Nachbar flüsterte ihr etwas ins Ohr. Sie
nickte, sprang auf, fasste Samsons Hand und zog ihn hinter sich
her. Als Sally und der verdutzte Samson die Tanzfläche erreicht
hatten, füllte sich die Tanzfläche in Sekunden. Der EröffnungsTanz! Na klar!
„Na, mein Freund? Sauer, weil du nicht die erste Wahl bei
Sally bist?“ Pierres unnachahmliche Art, mich zu ärgern, ging
mir manchmal gewaltig auf den Geist. Gerade deswegen ließ
ich mir meine Enttäuschung so wenig wie möglich anmerken.
34
„Du weißt doch, ich bin ein ziemlicher Tanzmuffel und Sally
kennt das. Wir werden sicherlich noch später lange genug das
Tanzbein schwingen!“
Das war noch nicht einmal gelogen, ich war wirklich kein
besonders guter Tänzer und hatte bei früheren Gelegenheiten
immer Ausreden gefunden, um nicht so oft auf die Tanzfläche
zu müssen. Dennoch nagte Pierres Stichelei an mir. Mit dem
ersten Tanz hätte Sally allen zeigen können, dass wir ein Paar
waren. Jeder hatte auf die Tanzfläche geblickt, als sie den Tanz
eröffnete. Versteh einer die Frauen! Als Sally später mit Samson
zurückkam, forderte sie sofort Pierre zum nächsten Tanz auf. Als
Pierre meinen finsteren Blick bemerkte, beugte er sich kurz zu
mir und flüsterte schadenfroh grinsend:
„Das tut mir leid für dich, aber niemand darf die Wünsche
der Jagdkönigin ablehnen!“
So ging es immer weiter. Sally tanzte und tanzte. Sie schien
keinen der Männer auszulassen. Samson und Pierre amüsierten sich prächtig. Sie hatten viele Verehrerinnen, die beide
immer wieder zum Tanz aufforderten oder sich zu uns setzten.
Es ging schon auf Mitternacht zu, als plötzlich Marga neben mir
auftauchte.
„Hallo mein Süßer! Hattest du mir nicht einen Tanz versprochen?“ Eigentlich hatte ich absolut keine Lust, aber versprochen
war nun mal versprochen. Als wir die Tanzfläche erreichten,
spielte die Band gerade langsame Musik und Marga presste
ihren opulenten Busen an meinen Körper. Ihren Kopf legte sie
an meine Schulter und ihre Hände lagen kurz über meinem
Gesäß. Ziemlich anzüglich streichelte sie mich auch noch ab
und an. Ihr Haar roch nach Blüten. Auch wenn ich mit meinen
Gedanken nicht so ganz bei der Sache war, schloss ich die Augen
und versuchte, den Tanz zu genießen.
Es muss wohl kurz vor Mitternacht gewesen sein, als ich
plötzlich ein Tippen auf meiner Schulter bemerkte. Ich öffnete
die Augen und blickte mich um. Sally!
Sie sah Marga an und sagte etwas schnippisch: „Du hast
lange genug mit ihm getanzt – jetzt bin ich auch mal dran!“
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Marga sah mich Widerspruch fordernd an, doch ich sagte mit
gespieltem Bedauern zu ihr: „Tut mir leid, aber es ist noch vor
Mitternacht und ich muss wohl mit Sally tanzen!“
Ich tat so, als würde ich mich nur schweren Herzens von
Marga lösen. Obwohl langsame Musik gespielt wurde, hielt ich
etwas Abstand zu Sally. Gerade so viel, als wäre sie nicht meine
Partnerin, aber auch nah genug, um Offenheit zu demonstrieren. Ich spürte ihre Verärgerung, aber innerlich musste ich grinsen. Jetzt war meine Zeit gekommen! Süffisant sprach ich sie
an: „Nun mein Schatz, hattest du einen schönen Tanzabend mit
all den vielen Männern?“
Sallys Augen schickten kleine Giftpfeile in meine Richtung,
während sie antwortete: „Oh ja! Hatte ich. Aber du warst ja
schon den ganzen Tag mit der kleinen Marga unterwegs und
hast dich auch prächtig amüsiert! Erst lässt du dich von ihr knutschen und dann kannst du deine Augen nicht von ihren üppigen
Quarktaschen nehmen! Und zu guter Letzt fummelt sie auch
noch an deinem Hintern herum!“
Ich hörte die gewaltige Verärgerung in ihrer Stimme – und
freute mich darüber! Sally hatte natürlich wieder alles mitbekommen. Wie machte sie das bloß? Aber eigentlich war es mir
in diesem Moment egal, dieses eine Mal kam ich mir wie der
Gewinner bei unseren ständigen kleinen Scharmützeln vor. Ich
zog Sally an meine Brust und wir tanzten, bis die Band im Morgengrauen aufhörte zu spielen.
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Entführt!
Natürlich gab es in einem wachsenden Dorf wie Neu-Siegen
immer Bedarf an alltäglichen Gütern. Neben Salz, das wir eintauschen konnten, benötigten wir auch allerlei Gefäße, um
unsere Getreideernte lagern zu können. Wir machten es wie
die alten Ägypter und bewahrten unser Korn und das daraus
gewonnene Mehl in großen Tontöpfen auf. Darin blieb es vor
Ratten, Mäusen und anderem Ungeziefer verschont. Große
Tontöpfe waren nicht einfach herzustellen und man ging behutsam damit um. Dennoch passierte es immer wieder, dass der
eine oder andere Topf zu Bruch ging.
Franziskus hatte Sally, Samson und mich ausgewählt, in
einem zwei Stunden entfernten Steinbruch Ton abzubauen.
Pierre war diesmal nicht dabei, er hütete mit einer Erkältung das
Bett. Als Ersatz teilte der Bürgermeister uns einen sechzehnjährigen Burschen namens Harry zu. Er war ortskundig und wusste
auch, auf welche Tonart wir zu achten hatten. Da der Weg in
den Steinbruch nicht besonders weit und auch recht gut ausgebaut war, bekamen wir einen schmalen Karren mit. Ein nettes
kleines Gefährt mit seitlichen Streben und einer Deichsel. Die
Deichsel machte das rangieren in unebenem Gelände recht einfach. Allerdings verzichteten wir darauf, einen Ochsen davor zu
spannen, der hätte uns nur aufgehalten. Andere Zugtiere wie
zum Beispiel Pferde schien es nach der Apokalypse nicht mehr
zu geben, und unsere Esel waren noch nicht alt genug.
Also zogen wir abwechselnd den Karren, wobei Samson den
Großteil dieser Arbeit übernahm. Er trug wie meistens, wenn
wir das Dorf verließen, immer noch das Fell des Löwbären, den
er seinerzeit erlegt hatte. Ein wenig ähnelte er damit dem Halbgott Herkules aus den Mythen und Sagen des griechisch-römischen Altertums.
Unser Trupp hatte im Morgengrauen das Dorf verlassen. Da
die ganze Arbeit bis zum Abend erledigt sein sollte, hatten wir
nur wenig Wasser und Proviant dabei.
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Wir kamen gut voran und erreichten wie geplant nach knapp
zwei Stunden den Steinbruch. Allerdings waren wir dort nicht
alleine.
Ein Trupp von acht Männern lagerte schon an den Tongründen. Wir hatten sie noch nie gesehen und auch Harry waren sie
unbekannt. Wie üblich stellten wir uns gegenseitig vor.
Ihr Anführer erzählte uns, dass sie auf der Jagd seien und
nun auf dem Rückweg in ihr Dorf noch ein wenig Ton mitnehmen wollten. Ich schaute mir die Leute an. Besonders erfolgreich war der Jagdausflug wohl nicht gewesen. Ein mageres Reh
und zwei Hasen waren alles, was sie erlegt hatten. Dennoch
schien die Jagd länger gedauert zu haben, denn sie machten
einen reichlich verwahrlosten Eindruck.
Nach dem kurzen Palaver stachen wir den Ton und beluden unseren Wagen. Die andere Gruppe schien es nicht eilig
zu haben. Sie förderten nur wenig Ton. Wir hatten den Wagen
schnell gefüllt und wollten vor der Rückreise noch eine Mahlzeit
einnehmen. Der Trupp der Acht lagerte schon. Ihr Anführer bot
uns Tee an, den wir aus Höflichkeit dankend annahmen.
Sally wurde von einigen der Männer regelrecht angebaggert
und beinahe mit Blicken verschlungen. Ich kannte das schon
von anderen Begegnungen. Sie hatte das normalerweise im
Griff und manches Mal flirtete sie dabei sogar ein wenig.
Doch aus irgendeinem Grund war sie diesmal ziemlich einsilbig und versuchte den Annäherungsversuchen auf die schroffe
Art zu entgehen. Mir reichte es. Ich stand auf, um die Männer
in ihre Schranken zu weisen, als sich unvermittelt alles um mich
herum drehte. Die Knie wurden mir weich und gaben nach.
Bevor ich zusammensackte, sah ich Harry und Samson ebenfalls
niedersinken. Dann war da nur noch Schwärze.
„Aufwachen! Wach auf Frank!“ Jemand bearbeitete mein
Gesicht mit seinen Händen. Unwillig schlug ich nach den
Händen, ohne die Augen zu öffnen. Schlafen, ich wollte doch
nur schlafen.
„Frank, wach auf! Sie haben Sally!“ Sally? Was bedeutete
das? Sie haben Sally? Plötzlich fiel mir alles wieder ein.
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Der Tee, die Annäherungsversuche, die Ohnmacht. Ich öffnete
die Augen und erhob mich mühsam. Samson half mir dabei.
„Samson, was ist passiert?“
„Sie haben uns betäubt und Sally entführt. Harry ist noch
bewusstlos.“
„Verdammt, wir müssen sofort hinterher. Wie lange war
ich weggetreten?“ Samson schaute in den Himmel nach dem
Sonnenstand.
„Die Sonne steht nicht ganz so hoch. Wir müssen fast einen
Tag und eine Nacht geschlafen haben!“
„Was? Das kann doch nicht sein. Wir müssen sofort los!“
„Beruhige dich, Frank. Wir müssen einen klaren Kopf bewahren. Kümmere du dich um Harry, während ich schon mal die
Spuren verfolge. Ich bin gleich zurück.“
Mir brummte der Schädel. Ja, Harry war ja auch noch da.
Ich beugte mich über ihn und schüttelte ihn so lange, bis er
aus der Bewusstlosigkeit aufwachte. Während er sich langsam
wieder erholte, ließ ich meinen Blick über das Lager schweifen.
Unser Karren mit dem Ton stand noch da, unsere Waffen waren
verschwunden. Verdammt! Wie sollten wir ohne Waffen die
Verfolgung in dieser Wildnis aufnehmen? Egal, ich würde Sally
auch ohne Waffen zurückholen. Wo blieb nur Samson? Wir
hatten schon genug Zeit verloren. In meinem Kopf schossen die
Gedanken nur so durcheinander. Was würden sie Sally antun?
Was, wenn sie vergewaltigt oder getötet wurde, bevor wir sie
fanden? Oder waren das Sklavenhändler und sie wollten Sally
verkaufen? Ich atmete tief durch und versuchte mich zu beruhigen. Eines wusste ich, Sally würde sich sehr gut zu wehren
wissen! So einfach gab meine Sally nicht auf! Aber die Entführer
hatten einen ganzen Tag Vorsprung – wir mussten uns beeilen.
Meine Verzweiflung brach wieder durch.
Dann kam Samson zurück, in seinen Händen zwei einfache
Speere. Einen reichte er mir.
„Ich habe ihre Spur gefunden. Sie haben ein kleines Messer
in meinem Löwbär-Fell übersehen. Ich konnte uns zwei Speere
schneiden. Das muss reichen. Wir schicken Harry zurück.
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Er soll Verstärkung holen. Für ihn ist es sowieso zu gefährlich.
Diese verdammten Bastarde haben nicht nur Sally entführt,
sondern auch meine Keule mitgenommen. Dafür werden sie
bezahlen!“
Als ich Samsons entschlossenen Gesichtsausdruck sah, wich
die Verzweiflung wieder und Zuversicht durchströmte meinen
Geist. Samson liebte Sally wie eine Schwester und seine geliebte
Keule stand nachts sogar neben seinem Bett. Wir würden es
diesen Dreckskerlen zeigen und Sally zurückholen!
Die acht Entführer machten es uns nicht leicht. Sie hatten
ihre Fährte sehr gut verwischt. Doch Samson ließ nicht locker
und fand ihre Spur immer wieder. Hier und da zeigten uns auch
ein kleiner abgebrochener Zweig oder ein paar winzige Stofffasern, dass Sally versuchte, uns so unauffällig wie möglich Hinweise zu hinterlassen. Es handelte sich bei den Fasern um Teile
von Sallys Unterwäsche – das war mir sofort klar. Ein gutes Zeichen – sie lebte also noch und war bei Bewusstsein!
Wir wiederum hinterließen gut sichtbare Zeichen, damit
unsere Verstärkung aus dem Dorf schnell aufholen konnte. Wir
folgten der Spur, bis es in der Dunkelheit unmöglich wurde.
„Was meinst du, Samson. Haben wir etwas aufgeholt?“
„Aus den Fährten lese ich, dass sie zwar nicht allzu schnell
vorwärts kommen, weil sie immer wieder ihre eigenen Spuren
verwischen müssen. Aber sie verwischen sie leider so gut, dass
wir auch nicht aufholen können! Ich hoffe, sie werden demnächst denken, dass wir sie nicht mehr verfolgen, weil wir ihre
Spur verloren haben.
Dann werden wir aufholen! Und zwar sehr schnell. Sie sind
ein Trupp aus acht Leuten und eine Gefangene. Wir sind nur zu
zweit und viel schneller. Leg dich hin und versuch zu schlafen.
Ich rechne Morgen mit einer anstrengenden Suche!“
Samson hatte Recht! Auch wenn es nicht einfach war, ich
versuchte meine Gedanken zu ordnen und mich auf den Schlaf
zu konzentrieren.
*
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Wir waren seit dem Morgengrauen unterwegs, hatten zuvor
unsere letzten Nahrungsvorräte hastig herunter geschlungen
und folgten den Entführern so schnell wie möglich. Zuerst war
die Suche immer noch sehr schwierig gewesen, aber seit etwa
einer Stunde war das Unterholz sehr viel dichter geworden und
es lohnte sich für die Kerle nicht mehr, ihre Spuren zu verwischen. In diesem Gestrüpp war es für sie so gut wie unmöglich,
erfolgreich den Weg zu verbergen, den sie genommen hatten
Irgendwo lag immer ein Steinchen mit der feuchten Seite
nach oben, war ein kleiner Zweig abgebrochen oder altes Laub
von den Sträuchern geschüttelt worden. Alles Hinweise, denen
wir gut folgen konnten. Auch wenn die Entführer ihre Spuren
nun nicht mehr verwischten, kamen sie nicht schneller voran.
Das dichte Unterholz sorgte dafür.
Wir hingegen holten deutlich auf. Samson legte eine höllische Geschwindigkeit vor, sein mächtiger Körper bahnte uns
mit brachialer Wucht den Weg. Sein Leib war mittlerweile übersät mit Kratzern, die Dornen und Zweige hinterlassen hatten.
Vermutlich sah ich wohl nicht viel besser aus. Wir achteten
auch nicht auf den Lärm, den wir bei unserem Gewaltmarsch
verursachten – noch waren wir nicht in Hörweite der Verbrecher. Hier und da stießen wir auf Überreste eines ihrer Lager. Sie
wurden immer sorgloser. Als wir am Abend lagerten, schaute
Samson mich zuversichtlich an.
„Morgen Abend werden wir sie eingeholt haben. Ich hoffe,
sie erreichen bis dahin nicht ihr Dorf, oder was immer ihr Ziel
ist. Es reicht, gegen acht Leute kämpfen zu müssen, wir sollten ohne Verstärkung kein ganzes Dorf angreifen. Aber ich bin
mir sicher, unsere Leute werden uns spätestens übermorgen
eingeholt haben, dann können wir es auch mit einem Dorf
aufnehmen!“
Der nächste Tag wurde noch härter. Samson hatte das Tempo
nochmals erhöht. Obwohl er die ganze Zeit voraus lief und den
Weg freimachte, konnte ich keinerlei Ermüdungserscheinungen
bei meinem Freund feststellen. Mir hingegen rann der Schweiß
aus allen Poren den Körper hinunter.
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Immer wenn ich glaubte, es ginge nicht mehr weiter und gerade
Samson bitten wollte, das Tempo etwas zu verlangsamen, legte
er eine Pause ein. Er schien genau zu wissen, wie leistungsfähig
mein Körper war.
Bei einer unserer Pausen kramte Samson seinen Kräuterbeutel aus dem Löwbär-Fell. Er reichte mir einige Beeren. „Kau sie
langsam. Sie werden dich stärken. Wir müssen nun jederzeit
bereit sein, zu kämpfen. Die Bastarde sind ganz in der Nähe. Ich
kann sie förmlich riechen!“
Ob Samson die Kerle wirklich riechen konnte, war mir ziemlich egal. Aber wenn er sagte, dass sie in der Nähe waren, dann
waren sie auch in der Nähe. Ich kaute langsam auf den Beeren
herum. Neue Kraft und Zuversicht strömten durch meinen
Körper. Was immer das für Beeren waren, sie taten wirklich gut!
Mein starker Freund folgte nun nicht mehr direkt den Spuren
der Entführer, sondern machte kleine Umwege. Kein knackendes Ästchen, kein rollender Stein sollte uns verraten. Immer
wieder hielt er an und streckte wie ein witternder Hund die
Nase in die Luft. Mir war schleierhaft, was er da roch, bis ich
endlich den Rauchgeruch auch selbst bemerkte.
Die Halunken rasteten und hatten ein Feuer angezündet!
Samson zeigte mir an, dass ich zurückbleiben sollte, während er
das Lager näher auskundschaften wollte. Nach ein paar Minuten kam er zurück und berichtete leise.
„Sie sitzen rund um ein Feuer, essen und unterhalten sich.
Sally haben sie an einen Baum gefesselt und geknebelt – ihr
scheint es gut zu gehen. Sie rechnen offensichtlich nicht mit
einer Verfolgung oder einem Angriff. Doch irgendetwas stört
mich, aber ich kann dir nicht sagen, was es ist. Wollen wir versuchen, Sally zu befreien oder warten wir auf unsere Verstärkung?“
Ich stellte eine Gegenfrage: „Können wir denn die acht
Halunken überwältigen?“ Samson nickte, wirkte aber irgendwie
unsicher dabei. Ich schüttelte den Gedanken ab.
„Gut, dann lass uns loslegen. Ich will nicht, dass Sally eine
Sekunde länger als nötig in ihrer Gewalt ist!“
*
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Ich erwachte von einem fürchterlichen Stöhnen. Wer oder was
brachte solche Geräusche hervor? Irgendwie bekam ich meine
Augen nicht auf und versuchte, mich auf die Töne zu konzentrieren. Verdammt, das Geräusch kam von mir – was zum Teufel
war geschehen?
Endlich gelang es mir, die Augen zu öffnen. Balken, ich sah
eine Menge aufgeschichteter Balken! Erst jetzt bemerkte ich die
starken Kopfschmerzen und schloss meine Augen wieder. Tief
atmete ich durch, der Sauerstoff schien die Schmerzen auf ein
erträgliches Maß zu reduzieren.
Wieder öffnete ich die Augen. Die Balken waren immer noch
vorhanden. Nur langsam dämmerte mir, um was es sich handelte. Ich befand mich in einem Blockhaus! Wie war ich hierher
gekommen? Ich versuchte mich aufzurichten, um umherblicken
zu können. Mir wurde schnell klar, dass ich an Händen und
Füßen gefesselt war. Ich war gefangen! Wie ein Blitz aus heiterem Himmel schossen mir plötzlich die Erinnerungen durch
den Kopf. Die Suche nach Sally, die Beobachtung des Lagers und
schließlich unser Angriff!
Verdammt, da war etwas gewaltig schief gelaufen – wir
waren direkt in eine Falle gerannt! Zuerst ging alles nach Plan.
Wir waren auf den Lagerplatz der Entführer gestürmt und
hatten das Überraschungsmoment auf unserer Seite gehabt.
Die ersten vier Männer waren sehr schnell ausgeschaltet. Ich
warf einen kurzen Blick zur geknebelten Sally. Ihre Augen waren
geweitet – Panik stand in ihren Augen. Sie versuchte verzweifelt mit schüttelnden Bewegungen den Knebel loszuwerden.
Gefahr! Meine Instinkte schlugen Alarm, doch es war bereits
zu spät.
Aus dem Gebüsch sprangen sechs Spinnenmenschen hervor.
Alle mit schweren Knüppeln bewaffnet, und alle fast so riesig
wie mein Freund. Einer hielt dessen gewaltige Keule mit seinen
vier Händen fest umklammert und stürmte von hinten auf ihn
los. Samson spürte die Gefahr und wollte sich herumwerfen,
doch es war zu spät. Von seiner eigenen Keule getroffen ging
er in die Knie. Blut schoss aus einer Wunde am Hinterkopf.
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Verzweifelt versuchte er sich wieder aufzurichten, doch ein
weiterer Schlag eines der anderen Angreifer ließ ihn endgültig
zu Boden sinken. Genau in diesem Moment schossen tausend
Blitze durch meinen Kopf und die Lichter gingen aus.
*
Ich hatte meinen Körper mittlerweile mühsam aufrichten
können, lehnte an der Wand des Blockhauses und schaute mich
um. Aus einem mit starken Hölzern vergitterten Fenster drang
schwacher Lichtschein herein. Es schien Abend zu werden. Ich
musste einige Stunden bewusstlos gewesen sein. Sally, Samson!
Wo waren sie? Mein Blick durchstreifte die Hütte. Samson lag
zusammen gekrümmt in einer Ecke. Er war bewusstlos. Mein
Blick wanderte durch den kompletten Raum. Von Sally keine
Spur. Ich schaute zurück zu Samson. Er lag mit dem Rücken zu
mir. Das Blut auf seinem Hinterkopf war verkrustet. Sein Oberkörper bewegte sich in regelmäßigen Abständen. Er atmete!
Erleichterung machte sich in mir breit. Auch er war an Händen
und Füßen gefesselt. Nach den schweren Treffern, die er hatte
einstecken müssen, würde er wohl noch einige Zeit bewusstlos
bleiben.
Meine Gedanken gingen zum Zeitpunkt des Angriffs zurück.
Was hatten wir nur falsch gemacht? Und was übersehen? Sally
ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Sie hatte es gewusst! In Ihren
Augen hatte ich es gesehen, als sie verzweifelt versuchte, den
Knebel aus dem Mund zu spucken. Der Knebel! Das war es!
Meine Gedanken gingen weiter zurück – zu dem Zeitpunkt als
Samson mir von dem Lager berichtete. Er hatte von der gefesselten und geknebelten Sally berichtet. Der Knebel wäre der
Schlüssel gewesen.
Warum sollten die Entführer Sally knebeln, wenn sie sicher
waren, dass sie nicht mehr verfolgt wurden? Natürlich, sie sollte
keine Gelegenheit haben, uns zu warnen. Zu diesem Zeitpunkt
war die Falle schon gestellt und wir waren ahnungslos hinein
getappt. Wie sie uns allerdings entdecken konnten, war mir
schleierhaft.
44
Samsons Stöhnen unterbrach meine Gedankengänge.
„Na, mein Freund, was bin ich froh, dass du wieder wach
wirst. Du hast mächtige Schläge einstecken müssen.“
„Was ist passiert?“, antwortete Samson und richtete sich
mühsam auf.
Ich erzählte ihm von meinen Vermutungen und er nickte.
„Es ist meine Schuld. Ich hatte gleich so ein ungutes Gefühl.
Meine Instinkte haben mich gewarnt. Ich hätte auf sie hören
sollen.“
„Niemand ist Schuld“, entgegnete ich, „wir haben einfach
Pech gehabt.“
Unser kurzes Gespräch erstarb. Wir hingen unseren Gedanken nach und warteten. Irgendwann würden sich unsere Gegner
melden. Was dann geschah und was mit Sally geschehen würde,
konnte ich nur ahnen.
*
Dann war es soweit. Jemand machte sich an der Tür zu schaffen.
Sie öffnete sich. Ich traute meinen Augen kaum. Sally stand vor
uns. Weder gefesselt noch geknebelt. Zwei Begleiter standen
neben ihr, doch es waren keine Aufpasser. Sie nickte den beiden
zu, worauf diese zwei Messer zückten und auf Samson und mich
zugingen. Was zum Teufel war das jetzt schon wieder? Wollten
sie uns massakrieren? Hatten sie Sally unter Drogen gesetzt?
Ich wollte ihr etwas zurufen, brachte aber vor Entsetzen keinen
Ton heraus. Doch es kam ganz anders. Sallys Begleiter schnitten
uns zu unserer grenzenlosen Überraschung die Fesseln durch
und halfen uns sogar beim Aufstehen.
Samson überwand seine Überraschung schneller als ich.
„Sally, was ist hier los? Werden wir wirklich freigelassen?“
„Ja, ich erkläre es euch. Doch zuerst sollten wir nach draußen
gehen. Da sind ein paar Leute, die euch gerne sehen wollen!“
Wir schritten nach draußen und unbeschreiblicher Jubel brandete auf!
Vor uns standen mindestens hundert unserer Freunde aus
Neu-Siegen, bewaffnet mit Bögen, Speeren, Knüppeln, Mistgabeln und allem, was sich irgendwie als Waffe verwenden ließ. In
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ihrer Reihe stand Franziskus und grinste breit. Samson und ich
waren sprachlos. Nachdem der erste Jubel verklungen war, kam
er auf uns zu.
„Nachdem Harry uns von der Entführung berichtet hatte,
haben wir sofort alle verfügbaren Männer und Frauen ausgerüstet und sind aufgebrochen. Ihr habt gute Zeichen hinterlassen und wir sind vor kurzem hier eingetroffen. Angesichts
unserer Entschlossenheit haben die „Unglücklichen“ schnell
aufgegeben.“
Ich schaute Sally fragend an. „Ich erklär euch später, was mit
den Unglücklichen gemeint ist.“
Nachdem wir dankbar jede Menge Hände geschüttelt hatten,
führte meine Freundin uns durch das Dorf der Unglücklichen.
Das hier etwas nicht stimmte, fiel mir sofort auf. Viele ältere
Dorfbewohner wirkten kränklich. Junge Frauen oder Mädchen
waren kaum zu sehen. Überhaupt gab es nur wenige Kinder.
Etliche der Blockhäuser standen leer, obwohl sie noch gar nicht
so alt aussahen.
„Ihr wollt sicherlich wissen, wie es den Entführern gelungen
ist, euch in die Falle zu locken.“ Samson und ich nickten zustimmend. Uns war immer noch schleierhaft, wie ihnen das gelungen war.
„Nun, es war mehr oder weniger Zufall. Die Entführer hatten
sich vor ihrem Jagdausflug in zwei Gruppen aufgeteilt. Da war
die eine, der ich in die Hände gefallen bin und eine zweite, die
euch dann später angegriffen hat. Als Treffpunkt war der letzte
Lagerplatz ausgemacht. Nur wenige Stunden, bevor ihr mich
befreien wolltet, ist die zweite Gruppe aufgetaucht. Sie haben
Samson zufällig beobachtet, als er sich an das Lager anschlich.
Den Rest könnt ihr Euch denken, eine Falle war schnell gestellt
– nur mich musste man knebeln, damit ich euch nicht warnen
konnte.“
So einfach war das! Ein dummer Zufall und man war geliefert. Wer weiß was alles noch geschehen wäre, wenn uns unsere
Freunde aus Neu-Siegen nicht rechtzeitig gefunden hätten.
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„Okay“, fragte ich, „aber was hat es mit der Bezeichnung der
Dorfbewohner als „Die Unglücklichen“ auf sich?“
„Ich konnte mich mit meinen Entführern immer mal wieder
unterhalten. Sie schienen mir so traurig, ja fast depressiv. Zuerst
wollte niemand mit der Sprache herausrücken, doch nach einer
Weile bin ich ihnen wohl so auf die Nerven gegangen, das sich
ihr Anführer erbarmte und mir ihre Geschichte erzählte.“
Sally räusperte sich, während wir die Häuser verlassen
hatten und über ein Gemüsefeld gingen. „Vor etwa 30 Jahren
kam während der Regenperiode ein schwerer Sturm auf, der ihr
Dorf dem Erdboden gleichmachte. Viele Bewohner wurden von
ihren eigenen Häusern begraben und starben.
Als der Sturm vorbei war, wollte man nicht mehr neu an dem
alten Ort aufbauen. Man packte alle noch verbliebenen Habseligkeiten zusammen, zog dreißig Kilometer weiter und gründete hier an dieser Stelle ein neues Dorf. Der Platz schien ideal.
Er war von schützenden Hügelketten umgeben, der Boden sah
fruchtbar aus. Die ersten drei Jahre waren sehr hart, aber man
schaffte es, neue Häuser zu errichten und neue Felder zu bestellen. Alles schien perfekt. Doch mit den Jahren wurden immer
weniger Kinder geboren und wenn, dann fast ausschließlich
Jungen.
Auch war die Zahl der Mutationen ungewöhnlich hoch, weit
höher, als in dieser Zeit üblich. Schließlich wurden viele der
Alten kränklich. Es starben weit mehr Menschen, als geboren
wurden. Ihr habt die leeren Hütten gesehen. Die Dorfbewohner erkannten, das über kurz oder lang die Dorfgemeinschaft
aussterben würde, wussten aber nicht, woran es lag. Ein erneuter Umzug kam für sie erst gar nicht infrage, der Standort des
Dorfes war ideal. Schließlich glaubten die Dorfbewohner, dass
ein Fluch für ihr Unglück verantwortlich war. Sie besorgten
sich aus der Umgebung Schamanen und zahlten viel Geld bzw.
Tauschwaren dafür, um den Fluch aufzuheben. Das verschlimmerte ihr Unglück noch.
Als alles nichts half, beschloss die Dorfgemeinschaft dem Kinderglück nachzuhelfen. Heimlich entführten sie durchreisende
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Frauen und Mädchen und gliederten sie in ihre Dorfgemeinschaft ein. Ab und zu entführten sie auch jemanden aus weiter
entfernten Dörfern – immer so, dass es nicht auffiel. Schließlich
sterben oder verschwinden immer wieder Menschen auf der
Jagd oder auf Reisen. Es ist halt eine gefährliche Zeit.“
Schweigend gingen wir weiter. Ich schaute mich um. Dieser
Ort war ideal für den Anbau von Lebensmitteln, die Lage des
Dorfes geschützt. Hier und da ragte ein dünnes Metallrohr aus
dem Boden. Vermutlich ein Überbleibsel aus der Vergangenheit.
Was also konnte die Ursache für den Geburtenrückgang sein?
Zufall? Inzucht? Nein, das konnte nicht sein. Vor dem Sturm war
alles in Ordnung gewesen. An Flüche glaubte ich sowieso nicht!
Was kam noch infrage? Umweltbedingungen!
In früheren Zeiten waren in der Nähe von Atomkraftwerken
verstärkt Krankheiten vor allem bei Kindern aufgetreten. In der
dritten Welt hatte es so genannte Müllkinder gegeben, die sich
Tag und Nacht auf riesigen Müllkippen aufgehalten hatten und
sich von den Überbleibseln des Wohlstandsmülls ernährten.
Diese Kinder hatten im Allgemeinen nur eine geringe Lebenserwartung. Oder auch nach Chemieunfällen war es – oft erst
Jahre später entdeckt – zu vielen Krankheiten und Todesfällen
gekommen.
Ich schaute zu meinen Freunden hinüber. Ich sah es in ihren
Gesichtern arbeiten – sie überlegten genauso fieberhaft wie
ich, was der Grund für das Problem sein könnte. Sally und ich
waren gelernte Biologen, wir wussten von den Zusammenhängen zwischen Umweltbedingungen und Krankheiten. Unvermittelt blieb ich stehen und schaute mich um.
„Was ist, Frank? Ist dir was aufgefallen?“
Ich stellte eine Gegenfrage: „Wohin hat man Mitte bis Ende
des zwanzigsten Jahrhunderts Müllkippen gebaut?“
„Das war ein wenig vor meiner Zeit, aber ich denke, man hat
kleine Täler voll geschüttet.“
„Richtig! Als dann immer mehr Müllverbrennungsanlagen
aufkamen und auch mehr recycelt wurde, hat man die Müllkippen oftmals einfach mit Erde aufgefüllt.
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Ohne an später zu denken, Jahre danach wurden dann sogar
Häuser darauf gebaut. Manchmal hat man auch Rohre in die
Erde eingelassen, die das Methan, welches sich zwangsläufig im
Abfall bildet, abzuleiten und abzufackeln.“
Ich hob meine rechte Hand und zeigte mitten ins Gemüsefeld. „Siehst du? Solche Rohre wie diese da!“
„Du meinst …?“
„Ja, genau! Wir stehen hier auf einer alten Müllkippe. Wer
weiß schon, was hier alles abgeladen wurde. Sicherlich mehr
als nur Hausabfälle! Lass uns an einem der Rohre graben und
schauen, ob ich recht habe.“
Wir wurden schnell fündig. Nach nicht mal einem Meter kam
uns schon die erste Öldose entgegen. Plastikabfälle und alte
Quecksilberhaltige Batterien fanden wir ebenfalls. Wahrscheinlich war hier ein Giftcocktail entstanden und über das Gemüse
hatten die Menschen ihn zu sich genommen.
Später stellte sich auch noch heraus, dass die Bewohner ihr
Trinkwasser aus einer Quelle in der Nähe bezogen. Das Grundwasser war sicherlich ebenfalls belastet. Es war schwierig, den
Dorfbewohnern den Sachverhalt zu erklären. Wie sollten sie
auch die Zusammenhänge zwischen Umweltverschmutzung vor
fünfhundert Jahren und ihrer Kinderlosigkeit verstehen?
Schließlich kam uns Samson mit einer Idee zu Hilfe. Wir schoben alles auf einen Fluch, den man heute nicht mehr besiegen
konnte, einen Fluch aus der Vergangenheit.
Die „Unglücklichen“ gaben ihre Häuser ein weiteres Mal auf.
Wohin sie ziehen wollten, wussten wir nicht. Nur eines war klar
– sie würden sehr weit reisen, weit genug, um dem „Fluch“ zu
entgehen!
Wir machten uns auf die Rückreise. Samson ging vorher aber
noch einmal zurück ins Dorf.
„Was hat er vor?“ fragte ich Sally.
„Ich habe keine Ahnung.“
Ein schlechtes Gefühl beschlich mich und ich lief hinter ihm
her. Als ich ihn gefunden hatte, konnte ich noch sehen, wie er
sich mit einem der Spinnenmenschen unterhielt.
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Soweit ich mich erinnern konnte, war das jener, der Samson
mit seiner eigenen Keule niedergeschlagen hatte. Mir schwante
nichts Gutes. Der Freund würde doch nicht … Klatsch! Da war es
auch schon passiert.
Samson hatte dem Spinnenmenschen eine kräftige Ohrfeige verpasst. So kräftig, das sich der Kerl beinahe überschlug.
Er hielt sich die schmerzende Wange. Den Schlag würde er
so schnell nicht vergessen! Samson schnappte sich seine alte
Keule, schulterte sie und kam auf mich zu.
„Du hast ihm die Ohrfeige verpasst, weil er dich niedergeschlagen hat?“
„Oh nein!“, antwortete er. „Daran war ich selber schuld – ich
hätte besser aufpassen müssen. Ich hab‘ ihm eine verpasst, weil
er versäumt hat, mir meine Keule zurückzugeben! Niemand
vergreift sich ungestraft an meiner Keule!“
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Hexe
Samsons geniale Heilkräuter-Mischungen hatten sich – neben
den eigenen Mischungen der Dorfheiler – auch in Neu-Siegen
bewährt und bei Verletzungen und Krankheiten aller Art
Anwendung gefunden.
Die Kräutersuche für ein ganzes Dorf war natürlich mit einigem Aufwand verbunden. Mehrere pflanzenkundige Mitbewohner teilten sich diese Aufgabe. Dennoch ließ es sich Samson
nicht nehmen, hin und wieder selbst auf die Suche zu gehen.
Doch niemand verließ allein unseren kleinen Ort – auch
Samson nicht. Da Pierre kein besonders großes Interesse an
Kräutern hatte, ging der Riese meist mit Sally oder mit mir in
die Wälder. Diesmal war ich wieder an der Reihe. Für Samson
waren diese Tage im Wald wie Urlaub und auch ich konnte
dabei mittlerweile herrlich ausspannen. Wir waren nie in Eile,
denn Kräuter zu suchen dauert eben seine Zeit. Auch in dieser
neuen Welt mit ihren riesigen Waldgebieten gab es einige der
Zutaten für die Kräutermischung nicht an jeder Ecke.
Nach zwei Tagen Suche waren wir sehr erfolgreich gewesen. Unsere Rucksäcke waren gut gefüllt. Ein oder zwei Zutaten
noch, dann würden wir uns wieder auf den Rückweg machen.
Obwohl wir in den letzten Monaten sehr oft in die Umgebung
unseres Dorfes gewandert waren, blieb uns dennoch der Wald
wegen seiner gewaltigen Ausmaße weitgehend unbekannt.
Man würde wohl ein ganzes Leben benötigen, um sich nur im
Umkreis von 3 Tagesmärschen einigermaßen auszukennen. Wir
hatten längst schon bekannte Pfade verlassen und kämpften
uns durch den Urwald. Ich denke, man kann Urwald sagen, nach
einem fünfhundertjährigen Wachstum, ohne je von Menschen
angerührt worden zu sein.
„Hier in der Nähe könnte es den Baum geben, den ich suche.
Wir nennen ihn Zitterbaum. Er wächst in lichten Laubwäldern
und mag den Boden ein wenig feucht. Zu dieser Jahreszeit
müsste er austreiben, wir benötigen die Knospen. Sie eignen
sich zusammen mit einigen anderen Kräutern hervorragend als
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Wundsalbe. Wir werden den Baum leicht erkennen können.
Schon bei ganz leichtem Wind bewegen sich die Blätter, man
kann es sogar hören, wenn man leise ist.“
Ich war Biologe, Zitterbaum? Das hörte sich verdammt nach
Zitterpappel an. Manche sagten auch Espe. Die Baumart war
früher ziemlich weit verbreitet gewesen. Bisher war mir noch
keine Zitterpappel aufgefallen. Diese Art schien heutzutage
recht selten zu sein. Schließlich fanden wir tatsächlich einen
derartigen Baum. Er war nur mäßig groß, vielleicht 10 Meter
hoch. Der untere Bereich war frei von Ästen und Blättern, der
Stamm ziemlich glatt.
Samson hob mich mit spielerischer Leichtigkeit in die Höhe.
So erreichte ich die untere Reihe der Äste, klemmte meinen
rechten Fuß in eine Astgabel und begann mit der Knospenernte.
Ich kam mir vor wie der Druide Miraculix aus den Asterix Heften
beim Mistelschneiden. Als Samson meinte, es wäre genug,
schaute ich mich noch einmal um. Der Baum stand ziemlich frei
und so hatte ich einen ganz guten Überblick. Rundherum überall Wald, nichts besonderes. Mit einer Ausnahme: Ich konnte
eine alte Hütte sehen, nicht weit entfernt von unserem Standort. Sie schien ziemlich baufällig und war daher wohl unbewohnt. Es war schon später Nachmittag, vielleicht konnten wir
dort übernachten.
Ich erzählte Samson von der Hütte. Er zuckte mit den Schultern und meinte nur: „Warum nicht? Lass uns unser Lager dort
aufschlagen, vielleicht finden wir in der Nähe die letzte Zutat, die
auf meiner Liste steht. Die Gegend scheint mir dafür geeignet.“
Die Hütte war schnell gefunden, doch als wir uns bis auf
etwa zwanzig Meter genähert hatten, erwartete uns eine große
Überraschung. Die Tür öffnete sich knarrend und eine alte Frau
mit langen, ziemlich verfilzten grauen Haaren trat heraus. Ihr
Gang schien gebeugt, oder hatte sie sogar einen Buckel?
Mir schossen sofort verrückte Gedanken durch den Kopf. Das
war die Hexe aus Grimms Märchen! Hänsel und Gretel. Und das
Haus war das Knusperhaus, wenn auch ohne Lebkuchen und so.
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Bevor ich aber meine Gedanken weiterspinnen konnte, öffnete
die Alte ihren Mund: „Ich habe euch schon erwartet. Kommt
herein.“
Während Samson und ich uns verwundert anschauten,
drehte sich die Alte um und verschwand in ihrem Knusperhaus.
Zögernd folgten wir ihr. Als wir die Türschwelle überschritten,
folgte die nächste Überraschung. Das Haus schien innen viel
größer, als es von außen den Anschein gehabt hatte. Es war
nur ein einziger großer Raum. An drei der vier Wände standen
Regale, gefüllt mit hunderten von dunklen Gläsern, die wiederum mit irgendwelchen Substanzen gefüllt waren.
Alle Gläser waren sorgfältig beschriftet. So viele Gläser in
dieser Zeit? Woher hatte sie die nur bekommen? Die vierte
Wand nahmen ein Bett, ein Schrank und ein großer Kamin ein.
Im Kamin flackerte ein kleines Feuer und erhitzte einen eisernen Topf, der an einem Haken hing.
In der Mitte stand ein prächtig mit geschnitzten Ornamenten
geschmückter Tisch mit ebenso prächtigen Stühlen aus massiver Eiche. Der Raum strömte einen undefinierbaren, aber angenehmen Geruch nach Kräutern aus. Die Alte stand am Kamin
und füllte eine Art Tee aus dem Kessel in drei Tonbecher. „Setzt
euch. Lasst uns einen Tee trinken. Ihr habt sicherlich einige
Fragen.“
Wir nahmen an dem Tisch Platz und die alte Frau stellte die
Tonbecher vor uns hin. Ein Duft nach Minze stieg aus ihnen
empor. Samson beäugte unsere Gastgeberin misstrauisch. Sie
schien das zu spüren, hob den Becher und trank daraus. „Keine
Angst, er ist nicht vergiftet. Es ist nur Minztee.“
Vorsichtig nippten wir an dem Getränk. Der Tee schmeckte
ausgezeichnet und unsere Anspannung wich ein wenig. Ich hob
meine Hand und zeigte auf die Gläser.
„Woher in aller Welt haben sie die vielen Gläser? Und vor
allem: Sie sagten eben, sie hätten uns erwartet. Haben sie uns
beobachtet?“
Die Alte schaute mich durchdringend an – ihre schwarzen
Augen ließen mich innerlich frösteln.
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Schließlich senkte sie ihren Blick, holte tief Luft und begann mit
krächzender Stimme zu erzählen:
„Die Gläser! Die Gläser sind immer das erste, was euch
Besuchern auffällt. Gibt es in dieser Zeit nichts Wichtigeres
als Gläser? Immer stehen nur die materiellen Dinge im Vordergrund! Wie früher, als die Welt noch eine ganz andere war.
Als Geld und Macht alles bedeuteten und dem Gott „Technik“
gehuldigt wurde, obwohl jedermann wusste, das irgendwann
das Ende der Welt kommen würde!“
Mir fiel die Kinnlade runter. Woher wusste sie das? Ich
schaute sie fragend an. „Du fragst dich, woher ich das weiß?
Das tut nichts zur Sache, aber ich bin schon sehr, sehr alt! Aber
wenn ich dich so anschaue, du bist auch gerade nicht mehr der
Jüngste. Nein, nicht körperlich alt, oder doch? Ich weiß dich
nicht richtig zu deuten. Dich umgibt eine besondere Aura! Eine
Aura aus der Zeit vor der großen Katastrophe.“ Sie deutete auf
die Gläser an der Wand.
„Aus der Zeit, als diese Gläser da nichts besonderes waren
und man sie für ein paar Euro kaufen konnte.“
Euro? Das Wort Euro hörte ich zum allerersten Mal in dieser
Zeit! Niemand kannte heute noch den Begriff Euro! Ich schaute
hinüber zu Samson. In seinem Gesicht regte sich kein Muskel. Er
schien vollkommen fasziniert von der alten Frau zu sein.
„Lassen wir mal die Gläser. Woher wissen sie von der alten
Zeit und vom Euro?“
Sie schaute mich wieder mit ihren schwarzen Augen an.
„Wie gesagt, ich bin sehr, sehr alt. Mehr möchte ich dazu nicht
sagen!“
Ihr Gesichtsausdruck ließ keine weiteren Fragen zu diesem
Thema zu, also versuchte ich es wieder mit der alten Frage.
„Okay. Aber woher wussten sie, dass wir kommen?“
Bevor die Alte antworten konnte, meldete sich Samson zu Wort.
„Sie hat das zweite Gesicht. Sie kann in die Vergangenheit und
in die Zukunft blicken.“
Samson wandte sich zu ihr. „Habe ich recht?“
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„Vielleicht“, antwortete sie ausweichend, „auf jeden Fall weiß
ich mehr, als ihr ahnen könnt.“
Die alte Frau erhob sich und damit war die Unterhaltung
beendet. So sehr ich mich auch bemühte, sie wieder in Gang zu
bringen, es war vergebens. Die Alte schritt an der langen Reihe
ihrer Gläser entlang, als suche sie etwas. Schließlich hatte sie
das richtige Glas gefunden, nahm eine Handvoll heraus und
füllte sie in einen Leinenbeutel. Samson und ich schauten uns
an. Da sie keine Anstalten machte, uns weiter zu beachten und
uns auch nicht zum Bleiben aufforderte, erhoben wir uns und
schritten zur Tür. Samson ging als erster hinaus.
Ich wollte die Türe gerade hinter mir schließen, als ich die
knöchrige Hand der Alten auf meiner Schulter spürte. Sie
drückte mir den Leinenbeutel in die Hand und flüsterte mir ins
Ohr: „Hütet euch vor den Fremden in der großen Höhle, sie
wollen euch töten!“
Dann drückte sie mich aus der Tür und verschloss sie. Wortlos gingen Samson und ich wieder in den Wald. Nach einigen
Minuten fragte Samson: „Was hat die Hexe dir gegeben?“
„Ich hab keine Ahnung.“ Ich reichte Samson den Beutel, der
ihn öffnete und sich den Inhalt auf seine Hand schüttete. Es
waren einige kleine schwarze Klumpen. Er wirkte überrascht.
„Was ist das?“, fragte ich.
„Das ist die letzte Zutat, die ich noch besorgen wollte. Es sind
schwarze Tarüffel.“
Ich nahm einen der Klumpen in die Hand und roch daran.
Trüffel! Diese Tarüffel wie Samson sie nannte, waren schwarze
Trüffel!
„Woher wusste sie das?“
Samson zuckte nur hilflos mit seinen mächtigen Schultern. „Sie
hat das zweite Gesicht, ist eine Hexe. Gleich als ich sie aus dem
Haus kommen sah, erinnerte ich mich an eine alte Kindergeschichte namens Hänsel und Gretel.“
„Du auch? Ich wusste nicht, das du dieses Märchen kennst!“
„Meine Mutter erzählte es mir, als ich noch klein war. Sie wollte
uns wohl auf die Gefahren in der Wildnis aufmerksam machen.“
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So konnte man es auch sehen. Hänsel und Gretel als Warnung
vor einer gefährlichen Umwelt. Ich erzählte Samson noch von
der Warnung, die mir die Alte ins Ohr geflüstert hatte, doch
auch Samson konnte sich keinen Reim darauf machen.
Die Dämmerung war mittlerweile hereingebrochen und wir
beeilten uns, einen geeigneten Lagerplatz zu finden. Schließlich
lagerten wir in einer kleinen Mulde und zündeten ein Feuer an.
Wir unterhielten uns noch eine Weile und fragten uns, ob die
Hexe wirklich über fünfhundert Jahre alt war, wie sie angedeutet hatte. Gehörte sie dann zu den Gen – Mutanten? War sie
eine Art Hellseherin? Oder war alles Humbug und sie besaß nur
ein feines Gespür? Mal wieder mehr Fragen als Antworten.
*
Ich hatte eine unruhige Nacht hinter mir. Die Hexe hatte mit
ihren seltsamen Andeutungen für einige verrückte Träume
gesorgt. Wie das so oft am Morgen danach ist, konnte ich mich
kaum noch an die Träume erinnern. Eine Szene war mir aber
noch in Erinnerung geblieben: Ich irrte schweißgebadet durch
ein riesiges Höhlensystem auf der Suche nach einem Ausgang.
Hinter mir eine Horde weißer Mutanten. Links und rechts
neben mir schlugen feine Laserstrahlen in die Höhlenwände
ein. Stalagmiten und Stalaktiten zerplatzten unter dem Dauerfeuer meiner Verfolger. Vor mir tauchte der ersehnte Ausgang
auf. Ich wusste genau – durch diese Tür und ich war gerettet!
Ich erreichte die Tür und atmete auf. Erst als ich den Griff an
der Tür in die Freiheit betätigen wollte, bemerkte ich das riesige Schloss. Verzweifelt rüttelte ich an der Tür – vergebens. Ich
war verloren. Langsam drehte ich mich zu meinen Verfolgern
um. Eine riesige Schar von Mutanten stand da, zielte mit ihren
Strahlwaffen auf mich. Plötzlich tauchte die alte Hexe neben mir
auf. „Ich habe dich gewarnt! Jetzt ist es zu spät!“ Dann drückten
die Mutanten ab …
Schweißgebadet war ich aufgewacht und konnte nur mit
Mühe wieder einschlafen. Dementsprechend fühlte ich mich
wie gerädert. Wir hatten ein kleines Feuer angezündet und
hockten schweigend davor. In Samsons Gesicht konnte ich auch
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keine richtige Erholung sehen, auch er wirkte nicht gerade frisch
und ausgeschlafen.
„Auch schlecht geschlafen?“, rief ich ihm maulfaul zu.
„Verrückte Träume“, murmelte er genauso sparsam.
Er also auch. Wie auf ein geheimes Kommando erhoben wir
uns, packten eilig unsere Ausrüstung zusammen und machten
uns auf den Heimweg. Bloß weg von dieser alten Hexe!
Wie fast immer in den letzten Monaten überließ Samson
einem von uns die Führung, wenn wir auf einer – normalerweise – ungefährlichen Mission waren. Da außer mir niemand
dabei war, führte ich logischerweise unseren Zweimann-Trupp
an. Der Freund war immer noch Lehrer und ich Schüler. Sicherlich, ich hatte eine Menge seit unserem ersten Zusammentreffen in Deuz gelernt, aber seine lebenslange Erfahrung konnte
man einfach nicht aufholen. Hier und da machte er mich auf
einige Dinge aufmerksam, fragte mich nach Spuren oder überprüfte meinen Orientierungssinn. In meiner Jugend hätte ich
mich manchmal bevormundet gefühlt, aber hier und jetzt war
diese Schulung überlebenswichtig.
Waren wir anfangs noch ziemlich still unterwegs gewesen,
blühten wir allmählich wieder auf und unterhielten uns angeregt. Wir hatten wohl den Einfluss der Hexe abgeschüttelt.
Plötzlich hatten wir es auch nicht mehr eilig und legten ein nur
mäßiges Tempo vor. In Neu-Siegen wurden wir sowieso erst am
nächsten Abend erwartet, das würden wir locker schaffen.
Ich bemerkte plötzlich, das meine Gedanken wieder einmal
abschweiften. Mein Albtraum aus der letzten Nacht hielt mich
noch immer gefangen. Wie schon so oft in den letzten Monaten fühlte ich eine unbestimmte innere Anspannung. Meistens
hatte ich diese Gedanken recht schnell aus meinem Kopf verbannen können, heute aber hatten sie sich dort regelrecht fest
gekrallt. Ich dachte zurück an Köln, an den schrecklichen Kampf,
den wir beinahe verloren hätten. Einen dieser Mutanten hatte
Samson mit viel Glück besiegen können.
Was war eigentlich mit den vielen anderen? Sie hatten wohl
Zentraleuropa zwischen sich aufgeteilt, aber würde es nicht
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auffallen, dass einer von ihnen fehlte? Was würde passieren,
wenn sie es merkten? Und – hatten sie es nicht ganz sicher
schon bemerkt? Keiner von uns wollte die umfangreichen Dossiers lesen, die wir mitgebracht hatten. Das musste unbedingt
nachgeholt werden, sobald wir zurück waren!
Auch der Freund hinter mir schien in Gedanken vertieft. An
den Spuren am Boden konnte ich erkennen, dass wir uns auf
einem Wildwechsel bewegten. Die Baumkronen standen nicht
besonders dicht und die Orientierung nach dem Sonnenstand
fiel mir nicht schwer. Eine sehr angenehme Art zu wandern, bis
ich plötzlich ein pfeifendes Geräusch hinter mir wahrnahm. Alle
Alarmglocken schrillten in meinem Gehirn, doch es war zu spät.
Mein Kopf ruckte nach hinten und ich sah, wie Samson
seine Arme ausbreitete als ihn – und gleichzeitig auch mich –
ein gewaltiger, durch die Luft sausender Baumstamm traf. Ich
verlor sofort das Bewusstsein.
Als ich wieder erwachte, standen die Sterne schon am Nachthimmel. Der Vollmond sorgte für ein dämmriges Licht, als ich
mich umsah – noch am Boden liegend.
Wo war Samson? Erst als ich mich aufrichten wollte, durchzuckte mich ein stechender Schmerz im linken Knöchel. Verdammt, der riesige Baumstamm! Er lag genau auf meinem
Unterschenkel. Vorsichtig versuchte ich, meinen Fuß aus dem
Gefängnis zu befreien – keine Chance.
Der Stamm hatte einen Durchmesser von beinahe einem
Meter und war schätzungsweise vier Meter lang. Das Ding wog
bestimmt eine Tonne. Wo zum Teufel war der Riese? Als ich mir
den Vorfall ins Gedächtnis rief, durchfuhr mich nochmals ein
großer Schreck. Mein Freund hatte versucht, den Aufprall durch
die ausgebreiteten Arme abzufangen – für mich!
Er und nicht ich hatte die volle Wucht zu spüren bekommen.
Konnte ein Mensch so einen gewaltigen Aufprall überhaupt
überstehen? Der Stamm war aus der Höhe gekommen. Wenn
ich mich richtig erinnerte, war er mit zwei Seilen befestigt gewesen. Ich schaute mir das mächtige Holztrumm an. Ja, ich konnte
ein Seil ausmachen und es schien gerissen zu sein.
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Wir waren in eine Falle für Großwild geraten! Nach dem schon
ziemlich zerschlissenen Seil zu urteilen, musste sie schon vor
vielen Jahren aufgebaut worden sein. Da würde sicherlich niemand mehr kommen, um danach zu sehen. Warum und wie
sie ausgerechnet jetzt ausgelöst worden war – ich hatte keine
Ahnung. Aber das war im Moment auch nicht wichtig. Ich
schaute mich nochmals um.
Von Samson keine Spur! Halt, da war doch was am oberen
Ende des Stammes. Eine Hand! Sorge und Hoffnung machten
sich gleichzeitig in meinem Inneren bemerkbar. Hatte er den
Aufprall überstanden? War er verletzt oder gar tot? Oder war er
„nur“ bewusstlos! Ich rief nach ihm – keine Antwort. Nicht mal
ein Stöhnen. Ich musste nach ihm schauen. Doch wie kam ich
aus diesem verflixten Gefängnis heraus? Vorsichtig tastete ich
nach meinem Bein. Soweit ich sehen konnte, war nichts gebrochen, der Stamm hatte nur meinen Unterschenkel leicht in den
Boden gedrückt. Vorsichtig versuchte ich die Erde unter dem
Bein mit meinen Händen wegzukratzen. Die Schmerzen hielten
sich in Grenzen, es war kein Blut zu sehen. Vermutlich war wirklich nichts gebrochen.
Aber der Boden war an dieser Stelle knüppelhart. Ich würde
Stunden benötigen, um aus dieser Falle heraus zu kommen!
Dennoch, ich musste es schaffen. Mein Rucksack lag in unerreichbarer Ferne. Die Gurte mussten bei dem Aufprall abgerissen sein. Ich wollte meine Taschen nach einem brauchbaren Gegenstand zum Graben durchwühlen, doch dazu kam ich
nicht mehr. Gerade als ich dachte, es könnte nicht mehr schlimmer kommen, ließ mich ein knurrendes Geräusch hinter mir
zusammenzucken.
Langsam drehte ich meinen Kopf und dachte: „Bloß keine
hastigen Bewegungen!“ Dann blickte ich in das Gesicht eines
Tieres, das ich noch aus meiner Zeit kannte, nur war es hier und
jetzt mindestens doppelt so groß wie ich es gewohnt war. Vor
mir stand mit gefletschten Zähnen – ein übergroßer Dachs.
Ich wusste, dass Dachse mutige und gefährliche Räuber sein
konnten. Doch dieses Vieh war auf Grund seiner Größe und der
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enormen Zähne nicht mit einem solchen alter Art zu vergleichen. Ich spürte, wie sich meine Nackenhaare aufstellten.
Verdammt! Verdammt! Verdammt, was mach ich nur!
Ohne den Dachs gänzlich aus den Augen zu lassen, schielte ich
nach einem Stein oder einem ähnlichen Wurfgeschoss. Nichts
in erreichbarer Nähe. Langsam fuhr ich mit meiner eben erst
begonnenen Suche nach einem brauchbaren Gegenstand in
meinen Taschen fort. Das Raubtier kam allmählich näher, sein
Knurren verwandelte sich langsam in ein wütendes Fauchen.
In meinen Taschen war nichts, womit ich mich verteidigen
konnte. Dann fiel mir mein Reserve-Messer am Unterschenkel
ein. Ja, und da ich Rechtshänder war, trug ich es an meinem
unverletzten rechten Bein. Wieso war mir das nicht eher eingefallen? Egal. Zentimeter für Zentimeter näherte sich meine
rechte Hand dem Messer. Der Dachs war weiter auf dem Vormarsch, er sah so aus, als würde er sich jeden Moment für
einen Angriff entscheiden. Ich erreichte mit den Fingerspitzen
den Griff des Messers. Noch ein kleines Stückchen. Vorsichtig
tastete ich mich tiefer. In diesem Moment gab der Dachs seine
Zurückhaltung auf und griff an. Es war zu spät! Ich konnte den
Messergriff zwar fassen, aber der Räuber sprang schon mit
gefletschten Zähnen los.
Schützend hob ich meinen linken Arm vors Gesicht und
zerrte mit der anderen Hand an dem Messer, als ich einen
dumpfen Schlag hörte. Es folgte ein erbärmliches Quieken. Ich
spürte keinen Aufprall des Tieres, zog mein Messer vollends aus
der Scheide und senkte den linken Arm. Der Dachs lag auf dem
Rücken und strampelte verzweifelt mit den Füßen, ein mehr als
faustgroßer Stein lag neben ihm. Dann kam der Dachs wieder
auf die Beine und verschwand blitzschnell, ohne ein weiters
Geräusch von sich zu geben! Wer hatte den Stein geworfen? Ich
drehte meinen Kopf wieder in die andere Richtung.
Samson! Auf wackligen Beinen und mit Blut-verkrustetem
Gesicht stand er da. Seine Gesichtsfarbe unter dem Blut war
schneeweiß und erinnerte mich unwillkürlich an einen Mozzarella-Käse. „Du lebst, Gott sei Dank!“, schrie ich heraus.
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„Ja“, war die einsilbige Antwort. Er taumelte um den Baumstamm herum und setzte sich schwer atmend neben mich. Er
hielt sich den Kopf, stöhnte leise und fragte: „Was ist eigentlich
passiert?“
Überglücklich, ihn lebend zu sehen, begann ich zu erzählen:
„Wir müssen in eine alte Großwild-Falle geraten sein. Ein riesiger Baumstamm hat uns umgehauen!“ Ich zeigte auf den Stamm
und fuhr fort: „Die Taue waren wohl ziemlich morsch und sind
gerissen. Dabei wurde mein linkes Bein eingeklemmt. Du hast
versucht, den Aufprall für mich abzufedern, sonst befände ich
mich sicherlich nicht mehr unter den Lebenden.“ Ich senkte
erschüttert meine Stimme. „Ich fürchtete, der Baum hätte dich
erschlagen!“
„Ja, jetzt erinnere ich mich. Ich konnte gerade noch die Arme
ausbreiten und meine Muskeln anspannen. Das verdammte
Ding hätte mir sonst das Rückgrat gebrochen.“ Er schaute kopfschüttelnd auf den Baumstamm.
„Ich werde versuchen, den Stamm anzuheben. Aber gib mir
noch einen Moment. Ich muss erst wieder zu Kräften kommen.“
Der Riese legte sich auf den Bauch und stöhnte vor Schmerz.
An einer zerrissenen Stelle seines Löwbär-Fells schimmerte der
Rücken blau.
„Ja, natürlich. Leg dich neben mich und gib mir von deiner
Salbe. Ich werde dir deinen Rücken verarzten und nach deiner
Kopfwunde sehen.“
Ohne Widerspruch legte er sich an meine Seite. Es musste
ihm wirklich dreckig gehen! Ich streifte sein Fell nach unten
und erschrak. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Der halbe
Rücken hatte sich durch den Schlag des Stammes blau verfärbt
und war geschwollen. Vorsichtig trug ich die Salbe auf. Er gab
keinen Laut von sich, aber ich konnte seine zusammengebissenen Zähne knirschen hören. Die Kopfwunde war nicht weiter
schlimm. Er hatte sich beim Sturz auf den Boden einen Riss
zugezogen. Ich reinigte die Wunde und strich ebenfalls etwas
von der Salbe darauf. Als ich alles verarztet hatte, bemerkte ich
seine tiefen Atemzüge – er war eingeschlafen.
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Ich ließ ihn schlafen. Er schlief den Rest der Nacht und weiter
bis etwa gegen Mittag.
Die Nacht war ruhig verlaufen, kleinere Tiere hatten sich
zwar hin und wieder genähert, verschwanden aber wieder,
als sie merkten, dass hier nichts zu holen war. Gegen Morgen
nickte ich ab und zu mal ein, wurde aber durch meinen knurrenden Magen und einen trockenen Mund immer wieder
geweckt. Es war ja schon eine ganze Weile her, dass ich meine
letzte Nahrung zu mir genommen hatte. Als Samson dann endlich aufwachte, hatte sein Gesicht schon eine wesentlich gesündere Farbe angenommen. Sie hatte sich von Mozarella-weiß in
Gouda-gelb geändert. Immerhin! Zunächst blickte sich mein
Freund noch etwas verwirrt um, dann setzte seine Erinnerung
wieder ein.
„Du wirst Hunger und Durst haben. Warum hast du mich
nicht geweckt?“ Ich schüttelte nur den Kopf. Der Freund erhob
sich schwerfällig und suchte unsere Ausrüstung zusammen.
Er gab mir Wasser und etwas getrocknetes Fleisch und nahm
selbst einiges zu sich. Dann suchte er die Umgebung ab, doch
nach kurzer Zeit kam er kopfschüttelnd zurück. „So, es geht mir
wieder gut. Jetzt werden wir uns um dieses kleine Problem da
kümmern. Leider sehe ich weit und breit keinen geeigneten
starken Ast oder dünneren Baum, den ich als Hebel verwenden könnte. Dann muss es halt so gehen.“ Samson schritt auf
den Baumstamm zu und untersuchte zunächst die Lage meines
Beines.
„Du hast unglaubliches Glück gehabt, dein Bein liegt in einer
kleinen Mulde. Ich glaube nicht, dass etwas gebrochen ist.
Sicherlich nur eine starke Prellung. Ich werde den Stamm jetzt
etwas anheben. Sobald du fühlen kannst, dass dein Bein frei
wird, ziehst du es zurück – und zwar schnell! Alles klar?“
Ich nickte ihm zu, zweifelte aber, ob das so einfach gehen
würde. Er war zwar extrem stark, aber solch einen Baum anzuheben – und das in seinem geschwächten Zustand?
Mein riesiger Freund baute sich am Ende des Stammes auf
und sorgte dort für einen sicheren Stand.
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Dann griff er soweit wie möglich hinunter. Ich sah, wie sich seine
gewaltigen Muskeln spannten, aber auch, wie der Schmerz
seinen angeschlagenen Körper peinigte. Er ließ noch einmal los
und schaute mich an:
„Ich werde den Baum nicht lange halten können. Pass also
auf und zieh den Fuß sofort zurück! Wir haben nur einen Versuch. Wenn ich zu früh loslasse, könnte dein Bein doch noch
zerquetscht werden.“
Wieder nickte ich. Samson griff um den Stamm, holte tief
Luft und – schaffte es! Seine Muskeln schienen zum Zerreißen
gespannt, als er den Baumstamm um einige Zentimeter anhob.
Sofort zog ich mein Bein heraus – gerade noch rechtzeitig. Der
Baum krachte zurück auf den Boden. Ich sah in das schmerz-verzerrte Gesicht des Riesen. Er hatte es geschafft, wieder einmal!
Wahrscheinlich hätten sechs Männer nicht ausgereicht, um das
verdammte Ding anzuheben. Aber er, Samson, mein riesiger
Freund, hatte es geschafft! Bevor ich mich bedanken konnte,
winkte er schon ab. Er wusste genau, was in mir vorging und ich
wusste es auch bei ihm!
Am nächsten Morgen erreichten zwei äußerst angeschlagene
Kräutersammler humpelnd Neu-Siegen. Von wegen Urlaub, wie
ich noch zu Beginn unseres Ausflugs gedacht hatte!
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Romantische Gedanken?
Dank Samsons Heilsalbe und der intensiven Pflege Sallys war
ich schon nach drei Tagen wieder auf den Beinen. Ich hatte
wahnsinniges Glück gehabt. Wenn mein Bein nicht zufällig in
einer kleinen Mulde gelegen hätte, als der Baumstamm herunter krachte, wäre es wohl zu Mus zerquetscht worden.
Den Freund hatte es viel schlimmer erwischt. Der gewaltige Kerl war nach unserer Ankunft völlig erschöpft zusammen
gebrochen. Vier Mann waren nötig gewesen, um ihn auf sein
Lager zu betten. Er wurde gründlichst von unserer Dorfheilerin untersucht und behandelt. Sie konnte keine Brüche oder
Wirbelsäulenschäden feststellen – nur enorme Prellungen und
Quetschungen. Auch wenn es keine Röntgengeräte oder Computer-Tomographen mehr gab, hatte ich doch volles Vertrauen
in die Fähigkeiten der Heilerin.
Diese Leute hatten mehr Gefühl in ihren Fingerspitzen, als
ich es je für möglich gehalten hätte. Das durfte ich bei den
schmerzhaften Folgen unserer anstrengenden Abenteuer schon
recht oft feststellen.
Bei meinem letzten Krankenbesuch lag er in einem Bett
aus Heilpflanzen und wurde liebevoll von mehreren hübschen
Frauen umsorgt, worum ich ihn fast beneidete. Er war jedenfalls unzweifelhaft auf dem Wege der Besserung.
Samson war von Anfang an in unserer Dorfgemeinschaft
die wohl beste Partie und viele machten sich Hoffnungen, mit
ihm zusammen zu kommen. Obwohl er hier und da wohl mal
ein kleines Techtelmechtel gehabt hatte, war die Richtige noch
nicht dabei gewesen. Vielleicht würde sich das ja nun durch die
intensive weibliche Betreuung ändern.
Bei Pierre hingegen war ich mir ziemlich sicher, das er es noch
für viel zu früh hielt, sich fest zu binden. Nicht nur im Dorf, sondern auch bei auswärtigen Begegnungen hatte er immer wieder
mal eine kleine Liaison mit der einen oder anderen Schönheit.
Er genoss die wesentlich freizügigere Haltung in Sex- und Liebesdingen dieser neuen Zeit in vollen Zügen.
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Männer und Frauen hatten dazu ein recht lockeres Verhältnis.
Das lag sicherlich auch an der hohen Kindersterblichkeit durch
die Apokalypse vor fünfhundert Jahren. Wurde ein Kind gezeugt,
überlebte die Geburt und das darauf folgende erste Lebensjahr,
war es immer mehr als willkommen. Niemand interessierte es
sonderlich, ob dieses Kind sozusagen ehelich oder unehelich
geboren wurde. Keiner wurde deshalb ausgegrenzt oder schief
angesehen. Bei Pierre war ich mir ziemlich sicher, das hier und
da ein kleiner „Pierre“ oder eine kleine „Pierrine“ herum liefen.
Ich musste innerlich seufzen. Bei meinen besten Freunden
schien alles klar in Liebesdingen zu sein – aber bei mir und Sally
ging es drunter und drüber. Manchmal glaubte ich, es könnte
nicht schöner sein. Eine unglaubliche Harmonie herrschte dann
zwischen uns. Doch im nächsten Augenblick war alles wieder
vorbei und Sallys vernichtender Blick traf mich bis ins Mark. Ich
wurde einfach nicht schlau aus ihr. Oder lag es an mir? War ich
vielleicht ein Gefühlstrottel?
Mehr als einmal hatte ich mich schon in die Nesseln gesetzt
und eine eben noch romantische Stimmung ins Gegenteil verkehrt. Pierre und Samson hatten meine Trotteligkeit meist schon
kommen sehen und ich musste mir manche spitze Bemerkung
meiner besten Freunde anhören.
Ich hatte früher schon die eine oder andere längere Beziehung gehabt, aber so intensiv wie die mit Sally war bei Weitem
keine gewesen. Allerdings war auch keine dieser Beziehungen
so kompliziert gewesen. Dennoch, Sally war meine Nummer
Eins. Und ich würde alles mir mögliche tun, damit auch ich ihre
Nummer Eins werden würde!
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Gefahren aus der Vergangenheit
Die vor einigen Monaten begonnenen Arbeiten zur Vergrößerung
unseres Dorfes liefen immer noch. Die Gemeinschaft hatte für
den zukünftigen Bereich von Neu-Siegen neue Schutzhecken
angelegt und eine große Zahl von Bäumen gefällt. Das Holz
wurde vor allem für den Haus- und Stallbau genutzt.
Nun stand uns der härteste Teil der Aufgabe bevor. Um den
ehemaligen Waldboden als Acker- und Weideland nutzen zu
können, mussten etliche Wurzeln der gefällten Bäume ausgegraben werden. Für neues Weideland war das nicht so tragisch,
man hatte auch einzelne Bäume als Regen- oder Sonnenschutz
für die Tiere stehen gelassen.
Aber um einen Acker mit einem Ochsen zu bestellen, benötigte man möglichst gerade Flächen ohne Hindernisse. In unserem früheren Leben hatte man oftmals Wurzeln mit Dynamit
oder anderen Sprengstoffen einfach herausgesprengt. Oder sie
einfach mit starken Traktoren aus dem Boden gezogen. Hier
und heute hieß es nur: Graben, graben, graben! Eine verdammt
harte und unangenehme Arbeit!
Franziskus hatte drei Trupps zu je vier Leuten zusammengestellt, die sich immer nur einen Wurzelstock vornahmen. Ausnahmsweise waren meine Freunde und ich bei einer innerdörflichen Aufgabe mal ein Team. Auch bei dieser körperlich sehr
schweren Tätigkeit machte Franziskus keinen Unterschied zwischen Männern und Frauen. Nur Kinder, Kranke, Gebrechliche
und hochschwangere Frauen waren ausgenommen.
Unsere Werkzeuge waren halbwegs in Ordnung, die Eisenmenschen verstanden es, ordentliche Geräte herzustellen.
Natürlich waren sie nicht zu vergleichen mit handgeschmiedeten Spaten und Schaufeln aus dem 21. Jahrhundert, aber
es reichte, um die Baumwurzeln auszugraben. Wer noch nie
mit dem Wurzelwerk eines hundert- oder zweihundert- jährigen Baumes zu tun hatte, weiß natürlich nicht, was auf ihn
zukommt. So ging es Sally, Pierre und mir. Anfangs noch gut
gelaunt, änderte sich unsere Stimmung schnell, als wir nach drei
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Stunden harter Arbeit immer noch an der ersten Wurzel herum
gruben. „Merde! Was für eine miese Arbeit! Und ich hatte
gedacht, ein bisschen körperliche Arbeit kann nicht schaden!“
Sally fühlte sich angesprochen: „Mecker nicht dauernd rum,
Pierre! Wir haben ja noch Samson dabei, die anderen nicht!“
Pierre schaute zur Nachbargruppe hinüber.
„Und warum sind die auch ohne Samson genauso weit wie
wir? Wie machen die das bloß?“
Wir drei hielten inne und schauten zu unseren Nachbarn.
Es war keine besondere Technik oder Vorgehensweise zu
erkennen.
„Nun ja“, kommentierte Samson, „erstens nörgeln sie nicht
laufend herum und zweitens sind sie gewohnt, Bäume auszugraben und teilen sich ihre Kräfte vernünftig ein. Das solltet ihr
auch tun.“
Peng! Das saß! Der Riese hatte natürlich recht. Während wir
drei immer wieder über die Knochenarbeit klagten und ständig ein kurzes Päuschen einlegten, gruben die beiden anderen
Trupps zügig und stetig weiter. Beschämt arbeiteten wir zwei
Stunden konzentriert weiter und siehe da – wir hatten Dank
Samsons Kräften einen kleinen Vorsprung herausgearbeitet!
Ich schaute hinüber zur anderen Gruppe. „Lasst uns
Mittag machen. Die anderen sind schon weg. Ich hab einen
Bärenhunger!“
Wie auf Kommando ließen alle ihre Werkzeuge fallen und
kletterten aus der Grube. Nachdem wir den Dorfplatz erreicht
hatten, schlugen wir uns den Magen mit reichlich Essen voll.
Sogar Samson nahm neben seiner üblichen extra großen Portion Fleisch auch reichlich Kartoffeln und Gemüse. So ein riesiger und starker Kerl wie er benötigte jede Menge Kalorien!
Wir unterhielten uns noch mit den anderen über den Stand der
Arbeiten und dann ging es auch schon weiter. Nachdem wir
eine weitere Stunde gegraben hatten, war es endlich so weit.
Wir kappten die größten Wurzelenden.
„Ich werde das Ochsengespann holen, damit wir die Wurzeln
herausziehen können“, schlug Pierre vor.
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„Warte mal, Pierre“, meinte Samson, „ich will mal versuchen, ob
es auch anders geht.“
Wir schauten ihn fragend an. Er trat auf den Baumstumpf zu,
ging in die Knie und umfasste ihn mit seinen gewaltigen Armen.
Seine Arm- und Beinmuskeln schwollen an und mit einem Ruck
stieß er sich in die Höhe.
Die kleineren, noch mit dem Stumpf verbundenen Wurzeln
zerrissen. Samson wuchtete den Baumrest samt anhängender
Wurzeln aus der Grube über den Rand hinaus und setzte ihn
dort ab.
Wahnsinn! Obwohl ich den Freund schon oft in Aktion
gesehen hatte, überraschte mich seine Kraft immer wieder.
Hinter uns klatschten unsere Kollegen begeistert in die Hände.
Samson tat so, als würde er es nicht hören. Nach einer kurzen
Verschnaufpause schaufelten Sally und ich das Loch wieder zu,
während die beiden anderen sich schon dem nächsten Baumstumpf zuwandten. Gerade als wir unseren beiden Freunden
folgen wollten, hörte ich Pierres Aufschrei in seiner Heimatsprache und dann auch noch auf deutsch:
„Verdammt! Verdammt! Verdammt!“ Sally und ich ahnten
Schlimmes und liefen hinüber zu ihm. Er hatte schon einige
Meter Grasnarbe frei geschaufelt. Dann sah ich den Grund für
seinen Aufschrei und mir blieb regelrecht die Luft weg. Samson
trat ebenfalls hinzu.
„Was ist los? Was ist das für ein Metallding?“
Ich ging in die Knie und wollte mir das „Ding“ näher ansehen,
doch Pierre hatte etwas dagegen:
„Nicht anfassen! Ich hab so etwas ähnliches schon mal gesehen. Das ist eine Granate, oder besser gesagt eine Mini-Bombe.
Mein Vater war bei der Legion, daher kenne ich mich ein wenig
aus. Und es ist keine Granate aus dem Zweiten Weltkrieg, sondern …“. Pierre stockte.
Ich hielt erschrocken inne und trat zurück. „Du meinst, es ist
aus der Zeit der Apokalypse? Eine Atombombe?“
„Für eine Atombombe oder ähnliches ist der Sprengkörper
zu klein. Aber es könnte eine bakteriologische oder chemische
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Bombe sein. Und sie ist jedenfalls noch nicht hochgegangen, ist
ein Blindgänger!“
Den Kollegen war unsere Aufregung nicht verborgen geblieben und sie näherten sich neugierig.
„Bleibt zurück! Hört auf zu arbeiten – wir müssen jede
Erschütterung vermeiden. Holt Franziskus, aber ohne den anderen etwas zu sagen. Wir können hier keinen Menschenauflauf
gebrauchen.“ Pierre hatte den Ernst der Lage sofort erkannt
und wandte sich auch zu uns.
„Wir sollten uns auch mindestens 50 Meter zurückziehen,
damit keine Erschütterungen das Ding hochgehen lassen.“
„50 Meter, reicht das aus?“ fragte ich ihn.
„Für die Erschütterungen wohl schon, aber wenn die Bombe
wirklich hochgehen und der Stoff im Inneren noch aktiv sein
sollte, müssten wir – je nach Windrichtung – wohl mehr als
zehn Kilometer Abstand halten.“
Ich fühlte, wie mir das Blut aus dem Gesicht wich. Auch
meine Freunde sahen ziemlich grau um die Nasenspitzen aus.
Nach einer Weile kam unser Dorfoberhaupt. Nach und nach
traten auch immer mehr Mitbewohner dazu. Schlechte Nachrichten verbreiten sich bekanntlich unglaublich schnell! Wir
klärten Franziskus kurz über die Gefährlichkeit unseres Fundes
auf, um die immer größer werdende Menschenmenge loszuwerden. Nur mit Mühe gelang es ihm, die Leute fortzuschicken.
Erst als er die Gefahr immer wieder beschwor und versprach,
die Dorfgemeinschaft in Kürze über alles zu informieren, kehrten die Bewohner ins Dorf zurück.
Pierre informierte den Bürgermeister, so gut er konnte. Ich
sah, wie es in Franziskus Gesicht arbeitete. Er schien es irgendwie nicht glauben zu können. Dann spürte ich einen Hauch von
Neugierde in meinem Gehirn. Das waren Franziskus geistige
Fähigkeiten! Ich hatte noch niemals zuvor so etwas bemerkt, es
fühlte sich an wie ein eisiger Windhauch in meinem Kopf.
Franziskus schaute mich bedauernd an: „Entschuldige Frank,
dass ich versucht habe, deine Gedanken zu lesen. Doch was
Pierre da erzählt hat, war für mich so unglaubwürdig! Nach
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über fünfhundert Jahren! Ich musste einfach eine Bestätigung
haben.“
„Schon gut, Franziskus. Ich kann es ja selbst kaum glauben.
Aber viel wichtiger ist, was wir jetzt tun sollen. Wir können das
verfluchte Ding jedenfalls nicht hier herumliegen lassen!“ Wir
berieten hin und her und kamen schließlich auch gemeinsam zu
einem Entschluss.
Die Bombe konnte nicht einfach wieder zugeschüttet
werden, wir mussten sie ausgraben und an einem weit entfernten Ort möglichst sicher deponieren. Es blieb uns nichts anderes übrig, als das gesamte Dorf zu evakuieren und zwar mindestens zehn Kilometer weit. Natürlich konnten wir nicht den
gesamten Viehbestand mitnehmen. Da wir im schlimmsten Fall
die Gegend für immer verlassen mussten, sollte von allem nur
soviel mitgenommen werden, wie für eine eventuelle Neugründung unbedingt nötig war.
Franziskus begann sofort mit der Evakuierung des Dorfes.
Meine Freunde und ich hielten Wache, damit niemand auch
nur in die Nähe des Fundortes kommen konnte. Solom, einer
der engsten Mitarbeiter unseres Bürgermeisters, hatte die Idee,
die Bombe in einer weit entfernten Höhle zu deponieren und
den Eingang mit großen Felsbrocken zu verschließen.
Solom wurde zum Verbindungsmann zwischen Franziskus
und uns. Er versorgte uns mit Lebensmitteln, berichtete uns
vom Fortgang der Evakuierung und erklärte sich bereit, uns
zur Höhle zu führen. Wir vier hatten uns bereit erklärt, die
Bombe auszugraben und in die Höhle zu transportieren. Nach
zwei Tagen war es soweit. Die fast 500 Einwohner und etwa ein
Zehntel der Tiere und Gerätschaften waren in sicherer Entfernung untergebracht und unsere Arbeit begann.
Solom hatte uns kleine Holzlöffel und Pinsel besorgt. Wir
kamen zur Überzeugung, das Sally und ich die ruhigsten Hände
hatten und daher sollten wir zwei die Bombe vorsichtig ausgraben, während Pierre uns beriet, so gut er konnte. Samson
würde sie dann in die Höhle tragen – wenn alles gut ging.
„Passt auf die Spitze auf, die aus der Erde ragt. Das dürfte
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der Aufschlagzünder sein. Auf keinen Fall berühren! Wir haben
schon unheimliches Glück gehabt, dass sie bei meiner Graberei
nicht explodiert ist.“
Ich nickte Pierre zu und kroch langsam an das Höllending
heran. Sally näherte sich von der anderen Seite. Auf dem Bauch
liegend, gruben wir mit unseren Holzlöffeln vorsichtig um die
Bombe herum und schafften das Erdreich beiseite. Ich war nach
wenigen Minuten komplett durchgeschwitzt – mehr aus Angst,
als vor Anstrengung!
Während Pierre direkt neben uns immer wieder Anweisungen gab, saßen Solom und Samson in einiger Entfernung und
unterhielten sich leise. Aus den Wortfetzen, die zu mir durchdrangen, erkannte ich, dass sie über den Transport in die Höhle
redeten. Als wir uns dem Metallkörper bis auf ein paar Zentimeter genähert hatten, legten Sally und ich eine Pause ein.
Wir wechselten unsere durchgeschwitzte Kleidung, tranken
ein wenig und krochen zurück in den Gefahrenbereich. Jetzt
kamen hauptsächlich die Pinsel zum Einsatz. Als ich damit zum
ersten Mal das Gehäuse berührte, fing meine Hand unwillkürlich an zu zittern. Sally legte ihre Hand auf meine, drückte sie
kurz und schaute mich an.
„Geht`s noch, Frank? Ich kann auch alleine weiter machen!“
„Nein, nein. Ist schon wieder in Ordnung. Mir ist nur ein eisiger Schauer den Rücken herunter gelaufen.“
Sally nickte mir zu, ließ meine Hand los und machte weiter.
Das Zittern hatte aufgehört und ich pinselte weiter Erde von dem
Höllending. Dann dämmerte es und wir unterbrachen unsere
Arbeit. Der ganze Tag war wie im Flug vergangen und trotzdem
hatte ich das Gefühl, eine Woche ohne Unterbrechung durchgearbeitet zu haben.
Am nächsten Tag war nach einer Stunde Arbeit die Bombe
soweit freigelegt, dass Samson sie vorsichtig anheben konnte.
Wir schärften ihm nochmals ein, wie gefährlich die Spitze mit
dem Aufschlagzünder war und dass wir vermutlich alle sterben
würden, wenn er die Bombe fallen ließe.
Samson nickte geduldig – er war kein Dummkopf, er wusste
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nach unseren Beschreibungen, wie gefährlich der Sprengkörper
werden konnte. Er ging langsam auf die Bombe zu, kniete sich
nieder, grub seine Hände vorsichtig unter sie und hob sie sanft
in die Luft.
Erst jetzt konnte ich das Höllending genauer erkennen. Es
war etwa achtzig Zentimeter lang und sah fast wie eine normale
Granate aus dem zweiten Weltkrieg aus. Eine eingefräste Jahreszahl „2015“ belehrte mich eines besseren. Ich schätzte das
Gewicht auf etwa fünfzig Kilogramm – eigentlich keine besondere Last für einen Kerl wie Samson. Dennoch, unser Freund
konnte das Gewicht nicht auf seinen Schultern oder auf dem
Rücken tragen, sondern musste sich zehn Kilometer weit durch
unwegsames Gelände quälen – mit der Bombe vor dem Bauch.
Solom ging voraus, Pierre und ich folgten, dann Samson.
Sally bildete die Nachhut. Solom hatte in der Zwischenzeit
Buschmesser besorgt. Sobald irgendwo auch nur ein Strauch,
ein Ast, ein Stein oder irgendetwas, das nach Hindernis aussah,
in den Weg kam, räumten wir es zur Seite. Nach zwei Stunden
legten wir die erste Rast ein. Der Riese konnte den Blindgänger
dabei nicht ablegen – viel zu gefährlich! Er setzte sich auf einen
großen Stein und lagerte ihn auf seinen Knien, ohne die Arme
wegziehen zu können. Er war schweißgebadet. Die Anspannung
und die einseitige verkrampfte Körperhaltung machten ihm zu
schaffen. Sally wusch ihm vorsichtig das Gesicht ab und gab ihm
zu trinken.
Drei Stunden und zwei Pausen später erreichten wir die
Höhle. Samsons Gesicht war schmerzverzerrt, sein Körper
wurde von Krämpfen geschüttelt – so hatte ich meinen Freund
noch nie gesehen. Ich befürchtete, dass er die letzten Meter zur
Höhle nicht mehr schaffen würde, doch er ertrug die Schmerzen und wir gelangten ins Höhleninnere.
Sie war nicht besonders groß, vielleicht zehn Meter lang, drei
Meter breit und zwei Meter hoch. Die geringe Höhe war für den
riesigen Kerl ein weiteres Hindernis. Gebückt erreichte er den
hinteren Teil der Höhle. Er kniete sich vorsichtig hin, doch er
legte die Bombe nicht ab. Er stöhnte auf.
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„Was ist los? Warum legst du das Ding nicht ab?“ fragte ich.
„Ich kann nicht!“, entgegnete er gequält, „meine Hände, ich
kann sie nicht mehr öffnen. Sie sind total verkrampft!“
Pierre und ich sahen uns besorgt an. „Okay, okay. Kein Problem! Wir werden dir die Bombe vorsichtig aus den Händen
nehmen. Halte nur noch ein wenig durch. Wir schaffen das. Wir
schaffen das zusammen!“
Pierre und ich knieten uns Samson gegenüber auf den Boden
und griffen vorsichtig nach dem gefährlichen Sprengkörper. Ich
schaute erst Samson und dann Pierre an. „Bei drei ergreifen
wir die Bombe und heben sie aus Samsons Händen: Eins, zwei,
drei!“
Wir griffen uns das schwere Ding und hoben es vorsichtig
an. Keine Sekunde zu früh! Sobald Samson spürte, wie ihm das
Gewicht abgenommen wurde, kippte er zur Seite und wurde
ohnmächtig. Unser Freund hatte alles gegeben und unmenschliches geleistet. Vorsichtig legten wir die Bombe auf den Boden.
Alles ging glatt. Zu viert schnappten wir uns den Ohnmächtigen
und zogen ihn aus der Höhle. Geschafft!
Während Sally Samsons total verkrampften Körper massierte, trugen Solom, Pierre und ich schon mal eine Menge
Steine zusammen und verschlossen den Eingang notdürftig.
Später würden dann einige Dorfbewohner ihn vollständig verschließen, Erde anhäufen und giftige Sträucher darauf anpflanzen. Mehr konnten wir nicht tun.
Der gestählte Körper des Freundes erholte sich rasch. Nach
unserer Rückkehr ins Dorf informierte Solom Franziskus und die
Dorfbewohner. Nach zwei weiteren Tagen war alles wieder an
seinem Platz und das Leben ging weiter wie immer.
Dennoch wurden wir drei aus der Vergangenheit noch lange
mit Fragen bombardiert. War dieser immense Aufwand wirklich
nötig gewesen? War das Ding aus schrecklicher Vergangenheit
wirklich so gefährlich? So oder ähnlich lauteten die immer gleichen Fragen. Geduldig erklärten wir unseren Mitbewohnern
immer wieder die Fakten.
Schließlich waren den Menschen dieser neuen Zeit Begriffe
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wie biologische- oder chemische Kampfstoffe, Bakterien, Viren
und ähnliches unbekannt. Einen Vorteil hatte die ganze Angelegenheit jedoch für die Dorfgemeinschaft: In Zukunft würden
die Menschen bei Grabungen viel vorsichtiger sein und sich erst
einmal vergewissern, ob Dinge, die sie ausgruben, aus Stein
oder Metall waren.
Ich hatte eigentlich niemals damit gerechnet, dass in einer
Gegend, die vor fünfhundert Jahren schon ziemlich einsam
gewesen war, auch heute noch Bomben oder andere Gefahren
aus längst vergangenen Zeiten im Boden liegen könnten. So
sehr konnte man sich irren!
Ein weiteres Mal wurde ich daran erinnert, wie hochgefährlich die Hinterlassenschaften unserer alten Zeiten noch heute
werden konnten. Und noch immer gab es auch die Nachfahren
der damaligen Auslöser der Menschheits-Katastophe!
Wieder hatte ich den schon vor einiger Zeit während unserer „Kräutertour“ gefassten Entschluss verdrängt, endlich die
seinerzeit mitgebrachten Dokumente der Gen-Mutanten zu
sichten.
Erneut nahm ich mir vor, das in nächster Zeit unbedingt zu
erledigen, obwohl es mir beinahe körperliches Unbehagen
bereitete. Wir mussten doch unbedingt wissen, wie gefährlich
unser Leben auf dieser noch viel größeren Bombe wirklich war!
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Regenzeit
Kurz nach unserem „Bomben-Abenteuer“ begann die Regenzeit. Mittlerweile hatten wir ja schon mehrere davon erlebt.
Nach meinen bisherigen Erfahrungen dürfte sie diesmal wohl
so um die zwanzig Tage dauern. Die Arbeiten im Freien kamen
jetzt fast gänzlich zum Erliegen. In den Tagen zuvor hatten wir
alle kleinen Kanäle, die sich durch das Dorf zogen, gereinigt.
Wir hatten die Abflüsse kontrolliert und den kleinen See in der
Nähe gesichert. Diese Vorsichtsmaßnahmen waren unbedingt
nötig, denn zwanzig Tage fast ununterbrochener Regen konnten
natürlich auch schwere Schäden verursachen.
Doch unsere Dorfgenossen kannten sich damit ja bestens
aus – schließlich hatten sie ja ihr ganzes Leben in diesem für
uns neuen Klima verbracht. In einem Ort wie Neu-Siegen gab
es natürlich immer etwas zu tun. Man traf sich in den größeren
Räumen des Haupthauses und reparierte gemeinsam alle Dinge,
die übers Jahr ihren Geist aufgegeben hatten. Außerdem wurde
in der Regenzeit die Wolle der Schafe gesponnen und gewebt,
Tierhäute zu Leder verarbeitet und jede Menge Kleidung daraus
geschneidert. Männer und Frauen waren dabei gleichermaßen
beschäftigt. In den Scheunen und Vorratsräumen wurden frisch
geerntetes Obst, Gemüse und Getreide haltbar gemacht und
eingelagert.
Natürlich gingen auch die normalen Wetter-unabhängigen
Arbeiten, wie die Versorgung der Tiere, das Melken, die Butterund Käseherstellung weiter.
Auch wenn eigentlich fast das ganze Jahr über geerntet
werden konnte, fiel die Ernte vor einer Regenzeit meistens
besonders üppig aus. Alle Früchte, die irgendwie durch den
erwarteten Dauerregen geschädigt werden konnten, wurden
daher rechtzeitig in Sicherheit gebracht.
Das betraf zu allererst Kartoffeln und einige Sorten Obst und
Gemüse. Viele Pflanzen hatten sich über die Jahrhunderte den
neuen Begebenheiten angepasst, aber eben doch nicht alle.
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In diesen Tagen wurden daher bei den Mahlzeiten hauptsächlich genau jene Lebensmittel aufgetischt. Tiere wurden kaum
geschlachtet. Samson als typischer Fleischesser wurde von Tag
zu Tag ungenießbarer.
Nach 14 Tagen hielt er es dann nicht mehr aus und wurde
bei unserem Dorfoberhaupt vorstellig. Als ich unseren Riesen
mit Franziskus reden sah, wusste ich genau, worum es ging. Ich
unterbrach meine Arbeit und ging auf die beiden zu, nicht das
ich besonders neugierig war, aber man will ja informiert sein.
Gerade als ich mich ihnen näherte, hörte ich noch die Worte
des Bürgermeisters: „ … niemand geht alleine auf die Jagd, auch
du nicht. Ich kann keine Ausnahme machen.“
Franziskus sah mich herankommen. „Aber wenn du bei
diesem Wetter einen Begleiter findest, kannst du gerne gehen.“
Ruckartig blieb ich stehen. Das konnte nichts Gutes bedeuten. Gerade als ich mich wieder umdrehen und verschwinden
wollte, hatte der Riese mich entdeckt.
„Frank! Mein lieber Freund! Du kommst gerade zur rechten
Zeit.“ Samson fuhr seinen langen Arm aus, legte ihn um meine
Schulter und zog mich zu sich heran. Seine Finger bohrten sich
schmerzhaft in meine Schulter.
„Du hast doch sicher Lust, mit mir auf die Jagd zu gehen.
Diese paar Regentropfen machen dir doch nichts aus, oder?“
Als ich nicht sofort antwortete und sich mein Blick hilfesuchend auf Franziskus richtete, verstärkten Samsons Finger den
Druck auf meine Schulter. Franziskus schien meine verzweifelten Blicke nicht zu bemerken, oder war da ein leichtes Grinsen
um seinen Mundwinkel?
Ich gab mich geschlagen. Obwohl ich nicht die geringste Lust
hatte, bei dem Sauwetter jagen zu gehen, nickte ich. Mit großer
Mühe konnte ich noch schnell einen Einwand anbringen:
„Aber nur einen Tag. Wenn wir abends nichts erlegt haben,
geht’s wieder nach Hause!“
„Aber natürlich, mein Freund. Wir brechen morgen bei Sonnenaufgang auf.“ Samson blickte Franziskus fragend an. Der
nickte kurz und sagte: „Also gut, ich erlaube es.“
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Ich verfluchte insgeheim meine Neugierde! Sally konnte sich
ein schadenfrohes Lächeln nicht verkneifen, als ich ihr von dem
geplanten „Ausflug“ mit Samson erzählte. Der Rest des Tages
war für mich gelaufen.
Am nächsten Morgen stand der Freund pünktlich zum Sonnenaufgang vor unserem Zimmer und klopfte. Ich war noch
nicht ganz fertig und schaute missmutig aus dem Fenster. Von
wegen Sonnenaufgang! Es goss in Strömen. Normalerweise gab
es während einer Regenzeit auch mal ein, zwei Trockenstunden
pro Tag. Seit es jedoch vor nunmehr 15 Tagen zu regnen begonnen hatte, war mir noch nicht eine einzige Regenunterbrechung
aufgefallen. Ich schulterte gerade meinen Rucksack, als Samson
erneut klopfte.
„Ist ja schon gut, ich bin ja fast fertig! Geh schon mal runter
in die Küche, ich bin in einer Minute da.“ Natürlich war Sally
mittlerweile aufgewacht. Ich beugte mich zu ihr ins Bett hinunter und hauchte ihr einen Kuss auf die Wange.
„Ich wünsche euch viel Spaß bei eurem Jagdausflug!“ Hatte
Sally gestern noch versucht, ihre Schadenfreude halbwegs zu
verbergen, grinste sie heute bis über beide Ohren.
„Ja, ja“, sagte ich, „ Wer den Schaden hat ... und so weiter.
Aber du hast recht, ich bin ja selbst Schuld!“ Ich verließ unser
gemeinsames Zimmer und ging hinunter. Der riesige Freund
stand in der Küche und kaute an einem kalten Hähnchenschenkel. Wortlos schnappte ich mir eines der für uns bereit gestellten kleinen Proviantpakete und verstaute es in meinem Rucksack. Nach Frühstück stand mir nicht der Sinn. Ich verließ die
Küche, während Samson sein abgenagtes Hühnerbein zielsicher
in einen Abfalleimer warf. Als ich an ihm vorbei ging, wischte er
sich den Mund ab und grinste mich zufrieden an.
Nach wenigen Minuten im Freien war ich klatschnass bis auf
die Haut. Daran änderte auch der übergroße Hut, den ich mir
aus der Kleiderkammer geholt hatte, fast gar nichts. Wenigstens
lief mir der Regen nicht ununterbrochen in den Nacken.
Nach etwa zwei Stunden rasteten wir unter einer großen
Eiche. Wir hatten unser Jagdgebiet erreicht.
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Das dichte Blätterdach hielt den Regen ein wenig zurück. Mittlerweile hatte sich auch mein Magen gemeldet und ich verzehrte ein belegtes Brot aus meinem Vorrat.
„Ab hier müssen wir uns möglichst geräuschlos fortbewegen. Die meisten Tiere werden sich in ihren Lagern aufhalten.
Am ehesten werden wir wohl auf Wildschweine oder Hirsche
treffen. Denen macht die Regenzeit nicht so viel aus.“
Ich nickte Samson zu, schlang den Rest meiner Mahlzeit
hinunter und los ging’s. Mein Freund hatte für die Jagd einen
relativ dünn bewachsenen Teil des Waldes ausgesucht. In der
Nähe lag eine große Wiesenfläche. Alles in allem gut geeignet
für Rotwild. Die heutigen Hirsche waren nicht nur wesentlich
größer, sie hatten auch ein viel größeres Geweih als noch vor
fünfhundert Jahren. Deshalb bevorzugten die majestätischen
Tiere auch lichte Wälder und Wiesen.
Wir bewegten uns vorsichtig auf den Waldrand zu. Von hier
aus hatten wir den perfekten Überblick sowohl in den Wald
hinein als auch auf die Wiese. Das Gras stand sicherlich einen
Meter fünfzig hoch, was unsere Sicht auf ein liegendes Tier
etwas einschränkte. Nun, so ein ganz perfektes Jagdgebiet war
es wohl doch nicht.
Niemand in meinem Bekanntenkreis konnte so gut Spurenlesen wie Samson, und daher hatte er auch bald eine Fährte
entdeckt. Er hatte mir vorher noch geraten, dass mein übergroßer Hut zu leicht gesehen werden konnte. Ich hatte ihn abgenommen und im Rucksack verstaut. Der unaufhörlich niederprasselnde Regen lief nun ungehindert von meinem Kopf in den
Nacken über den Rücken direkt in meine Hose hinein.
„Hoffentlich hole ich mir da unten an meinen wichtigsten
Teilen keine Erkältung“, dachte ich gerade noch, als sich der
Freund zu mir herunter beugte und mir ins Ohr flüsterte: „Siehst
du dort auf der Wiese das zerteilte Gras?“ Samson zeigte mit
dem ausgestreckten Arm darauf. Ich schaute gespannt in die
angegebene Richtung. Es dauerte eine Weile, bis ich die minimale Veränderung in der Wiese erkennen konnte.
„Dort ist vor kurzer Zeit ein größeres Tier, wahrscheinlich
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eine Hirschkuh, in die Wiese gelaufen. Warte du hier und halt
den Speer bereit. Ich werde die Stelle weitläufig umgehen und
versuchen, das Wild in deine Richtung zu treiben. Der Wind
steht günstig, du dürftest nicht gewittert werden.“
„Soll ich nicht den Bogen nehmen? Wer weiß, wo das Tier
hervorbricht und der Bogen hat eine größere Reichweite.“
Der Riese schaute mich an, als überlegte er. „Du kannst den
Bogen bereit legen, aber du bist viel besser mit dem Speer. Ich
werde versuchen, das Tier direkt in deine Richtung zu lenken.“
Während er geräuschlos verschwand, legte ich Pfeil und
Bogen neben mich, für alle Fälle. Ich nahm den Speer in meine
rechte Hand und balancierte solange damit, bis ich den optimalen Schwerpunkt für einen sicheren Wurf gefunden hatte. Der
Hirsch, oder was auch immer, konnte kommen, ich war bereit!
Angespannt lauschte ich und mein Blick schweifte immer wieder
in die vermutete Richtung, aus der das Tier kommen würde.
Plötzlich war es soweit. Etwas sprang in die Höhe und hetzte
in weiten Sprüngen direkt auf mich zu. Es war eine junge Hirschkuh. Ich schleuderte den Speer auf das Tier. Für einen winzigen
Moment sah es so aus, als habe die Kuh den heran fliegenden
Speer entdeckt und wollte ausweichen, aber es war schon zu
spät. Der Speer traf seine Brust und drang tief ein.
Sekunden-Bruchteile später überschlug sich die Hirschkuh
und verschwand im hohen Gras. Ich lief auf die Stelle zu. Es
war ein Volltreffer gewesen. Das Tier lag regungslos im Gras.
Ich stand vor meiner Jagdbeute und schaute hinunter in die
gebrochenen Augen. Aus irgendeinem Grund wollte bei mir
keine große Freude über den Jagderfolg aufkommen. Vielleicht
weil es keine Jagd aus der Notwendigkeit heraus war, sondern
eigentlich nur zum Spaß.
„Ein prächtiger Wurf und ein prächtiges junges Tier!“ Samson
war jedenfalls begeistert. Er machte sich direkt daran, die Beute
auszunehmen. Ich verscheuchte meine trüben Gedanken,
indem ich mir einredete, dass die Hirschkuh hier nicht einfach
nur verwesen würde, sondern zumindest als Nahrung für die
Dorfgemeinschaft diente. Ich zog mein Messer aus dem Gürtel
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und half dem Freund bei seiner blutigen Arbeit.
Nach gut 30 Minuten hatten wir die Hirschkuh ausgenommen, in Stücke geschnitten und in die Rucksäcke verstaut. Wir
suchten und fanden einen kleinen Felsüberhang, der nahezu
den kompletten Regen abhielt. Wie Samson bei diesen Wetter-Verhältnissen ein Feuer anzünden wollte, war mir schleierhaft, aber er schaffte es. Er sammelte aus Baumhöhlen, die als
Nester für Vögel oder kleine Nager gedient hatten, das trockene
Nistmaterial heraus, brach ein paar vertrocknete Zweige von
den Bäumen und zündete ein kleines Feuer an. Mit zwei Astgabeln baute er eine Art Mini-Grill und hängte einige ausgesuchte
Fleischstücke übers Feuer.
Seine Augen strahlten und ich war froh, das mir endlich kein
Regenwasser mehr in die Hose floss. Nachdem wir uns gestärkt
hatten, setzte ich wieder den übergroßen Hut auf und wir machten uns auf den Rückweg. Ich hatte die Nase voll vom Regen
und schlug eine Abkürzung vor.
„Lass uns die Strecke an unserem See entlang nehmen,
dieser Weg ist von hier aus kürzer.“
„Kein Problem. Du hast recht. Es wird Zeit, aus den nassen
Kleidern herauszukommen.“
Die Aussicht auf ein warmes Plätzchen am Kamin trieb mich
an und so erreichten wir den See oberhalb unseres Dorfes schon
nach einer Stunde. Noch ein paar Minuten und wir würden im
Trockenen sein.
„Irgendwie sieht das hier ziemlich gefährlich aus!“ Samson
verzog sorgenvoll das Gesicht.
Ich blickte ihn fragend an: „Was meinst du damit? Was ist
gefährlich?“ Er zeigte auf die Wasserfläche vor uns.
„Der See hat seine Größe vervielfacht. Das Wasser schwappt
über den Damm. Soweit ich das von hier aus sehen kann, ist
vermutlich der Ablauf verstopft. Wir müssen ihn unbedingt
schnellstens wieder frei machen, sonst weicht der ganze Damm
auf und könnte brechen. Bei der Menge an Wasser könnte dann
das ganze Dorf in Gefahr sein. Lass uns schnell zu der anderen
Seite laufen und genauer nachschauen!“
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Ich wünschte mir im Moment eigentlich nichts sehnlicher als
trockene Kleidung, doch er hatte recht. Das Dorf lag unterhalb
des Sees, und wenn bei einem Dammbruch diese Unmengen an
Wasser herunter stürzen würden, wäre das fatal. Wir beschleunigten unsere Schritte und standen kurz darauf an der Einmündung des Abflusses.
Da sah ich die Bescherung! „Verdammt! Der Abfluss ist nicht
verstopft. Es ist einfach zu viel Wasser. Der Kanal kann diese
Mengen an Wasser nicht ableiten.“
Er nickte mir bestätigend zu. „Wir müssen etwas unternehmen. Das Wasser, das über den Damm schwappt, hat schon
tiefe Furchen im Erdreich hinterlassen. Hier kann jeden Moment
alles brechen und unser Dorf überfluten. Lauf ins Dorf, wir brauchen jeden Mann und jede Frau. Und Schubkarren, Hacken und
Schaufeln! Ich versuche in der Zwischenzeit, den Ablauf zu vergrößern. Beeil Dich!“
Bevor der Freund die letzten Worte ausgesprochen hatte,
lief ich schon los. Es waren nur ein paar hundert Meter bis
zum Hauptgebäude. In Rekordzeit erreichte ich es und stürmte
hinein. In der kleinen Eingangshalle hielten sich ungefähr 50
Personen auf, Franziskus war auch darunter.
„Wir brauchen Hilfe! Der Damm bricht. Wir benötigen alle
Dorfbewohner und Werkzeuge! Das Wasser wird sonst das
ganze Dorf überfluten!“
Franziskus hatte den Ernst der Lage sofort erkannt. Er ging
auf die Veranda und schlug mit einem Eisenstab auf eine Glocke
ein. Das Alarmsignal. In wenigen Minuten würde das ganze Dorf
hier versammelt sein. Inzwischen teilte er die 50 in der Halle
versammelten Personen auf. Einen Teil ließ er Werkzeuge holen,
ein Teil schickte er sofort zum Damm. Dann kamen die übrigen
Leute und mit ihnen auch Sally.
Während Franziskus die Dorfgemeinschaft aufteilte und auch
ältere Menschen und Kinder evakuieren ließ, kam sie zu mir.
Ich erklärte ihr alles und gemeinsam, bewaffnet mit Hacke und
Schaufel, liefen wir in den strömenden Regen. Einige hatten den
Damm schon erreicht und versuchten, zusammen mit Samson
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den Abfluss zu erweitern. Andere trugen Steine herbei und
lockerten schon mal Erdreich an einer Böschung. Dann traf das
Gros der Menschen ein und mit ihnen jede Menge Schubkarren
und Werkzeuge. Ich versuchte, die Leute einzuteilen, was mir
leidlich gelang. Dann kam Franziskus und übernahm das Kommando. Männer und Frauen schaufelten in die Schubkarren,
was das Zeug hielt. Steine wurden an besonders aufgeweichten Stellen platziert und mit Erde verfüllt. Der Damm lief immer
noch über.
„Weg da unten!“ rief Samson, „gleich kommt hier jede
Menge Wasser runter!“ Die Arbeiter unten am Damm sprangen
zur Seite – keine Sekunde zu früh! Der Freund und seine Helfer
hatten endlich das zu schmale Abflussrohr herausreißen können
und ein gewaltiger Wasserstrahl schoss mit hohem Druck aus
der breiter gewordenen Öffnung. Einer der Helfer wurde beinahe von den Wassermassen in die Tiefe gerissen, doch Samsons Hand war schneller. Er ergriff den Mann an seiner Jacke
und zerrte ihn aus dem Gefahrenbereich.
Sally und ich hatten uns mittlerweile in eine Kette eingereiht,
die Steine von einem Hang herüber transportierte. Erst nach
etwa einer Stunde ließ endlich der Druck auf den Damm nach
und kein Wasser lief mehr über seine Krone. Wir arbeiteten
den ganzen Abend und die halbe Nacht bis zur vollkommenen
Erschöpfung. Dann erst war die Gefahr vorüber. Der Wasserspiegel im See war stark gesunken und der Damm ausreichend
verstärkt. Das ganze Dorf fiel todmüde ins Bett, bis auf einige,
die Franziskus noch als Wächter aufgestellt hatte.
Wir würden nach der Regenzeit noch eine Menge Arbeit mit
unserem „kleinen“ See haben!
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Einkaufsbummel
Wir waren auf dem Weg zu den Ruinen einer kleinen Stadt südlich von Neu-Siegen, von der niemand mehr wusste, wie sie
geheißen hatte. Wir, das waren meine Freunde und vier weitere
Begleiter, also insgesamt acht Personen. Franziskus hatte uns
den Auftrag gegeben, in der Geisterstadt nach einigen Dingen
zu schauen, die wir in der Dorfgemeinschaft nicht selbst herstellen konnten und für die es auch nur einen winzigen oder gar
keinen Tauschmarkt gab.
An oberster Stelle der Liste stand Papier. Natürlich war es
nach so langer Zeit fast unmöglich, noch echtes Papier zu finden,
der Zahn der Zeit hatte sicherlich alle Reste davon vernichtet.
Aber einige Jahre vor dem großen Knall hatte ein pfiffiger Kopf
eine Art unverwüstliches Papier aus Kunststoff-Resten erfunden, das die Zeiten wohl überdauert haben dürfte. Franziskus
war ein ordentlicher Mensch und kam mir manchmal wie ein
Beamter aus der Vergangenheit vor.
Er versuchte alles, was für den Betrieb in unserem kleinen
Dorf erforderlich war, schriftlich festzuhalten. Er und seine Verwalter schrieben Arbeitspläne, Ernteerträge, Tierbestände, Vorräte und vieles mehr nieder. In den letzten Jahren hatte sich
Franziskus mit selbst geschöpftem Papier über Wasser gehalten.
Das war sehr umständlich und zeitaufwändig in der Herstellung.
Weitere Punkte auf der Liste waren so profane Dinge wie
Teller und Schüsseln aus Porzellan oder Steingut, Essbestecke
aus Metall, Töpfe und Pfannen und jede Menge anderes für den
täglichen Bedarf. Die Zahl der Dorfbewohner stieg in den letzten Jahren stetig an, da die Kindersterblichkeit von über 70%
nach Beginn der Katastrophe auf unter 40 % gefallen war.
Metallwaren konnten wir zwar bei den Eisenmenschen eintauschen, aber kein Tausch ohne Gegenleistungen und nicht
immer war das Dorf in der Lage, die Wünsche der Handelspartner zu erfüllen. Wenn man bedachte, was heute in der neuen
Zeit alles recycelt wurde und dabei über 500 Jahre alt war – was
waren wir doch damals zu unserer so fortschrittlichen Zeit nur
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für schreckliche Stümper gewesen! Wir marschierten also in
Richtung Süden, der uns unbekannten kleinen Stadt entgegen.
Laut Franziskus lag sie ungefähr vierzig Kilometer entfernt
und war erst vor ein paar Jahren zufällig von einem Reisenden
entdeckt worden. Man wusste nicht viel über diese Stadt. Der
einzelne Mann hatte sich nur kurz dort aufgehalten.
Er hatte berichtet, dass noch relativ viele Gebäude intakt
waren. Das ließ auf eine Stadt schließen, in der Bauwerke aus der
Zeit vor dem Zwanzigsten Jahrhundert errichtet worden waren.
Auf unseren Wanderungen hatten wir immer wieder den Verfall
von Betongebäuden festgestellt, während alte Häuser aus Stein
und Lehm die 500 Jahre viel besser überstanden hatten.
Der Informant berichtete weiter, dass er die Gebäude nicht
betreten hatte, da sie aus irgendeinem Grunde unheimlich und
Angst einflößend wirkten. Franziskus erwähnte allerdings, der
Mann hätte nach seiner Rückkehr unter Fieber gelitten. Wahrscheinlich hatte ihn das Fieber schon zur Zeit der Entdeckung
der kleinen Stadt im Griff gehabt.
Wie dem auch sei, wir hatten nur eine ungefähre Wegbeschreibung erhalten. Anfangs kamen wir noch gut voran. Es gab
einige Trampelpfade, die ungefähr in die angegebene Richtung
führten. Doch schon nach etwa fünf Kilometern gabelte sich der
Trampelpfad in eine Ost- und eine Westrichtung auf. Von nun
an arbeiteten wir uns mit Hilfe unserer Buschmesser durch das
Dickicht. Samson führte meist den kleinen Trupp an, während
ich das Schlusslicht bildete. Es war ein mühsames Vorankommen, nur hin und wieder lichtete sich der Wald etwas.
Als wir wieder an so einer lichten Stelle ankamen, beschlossen wir, hier zu übernachten. Wenn es hoch kam, hatten wir
ungefähr zehn Kilometer Wegstrecke zurückgelegt. Alle waren
rechtschaffen müde und so wurde das Lager in kürzester Zeit
eingerichtet.
Nach einer Mahlzeit aus unseren Vorräten legten wir uns
aufs Ohr, nicht ohne zwei Wachposten aufzustellen, die alle
zwei Stunden abgelöst wurden. Die Nacht verlief ereignislos.
Sally und ich legten in den frühen Morgenstunden Brennholz
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nach und weckten unsere Kameraden. Eine kurze Katzenwäsche, eine Tasse Kaffee aus gerösteten, gemahlenen Eicheln
und ein Stück Fladenbrot mit etwas Trockenfleisch stärkte uns
für den weiteren Weg.
Nach einer Wanderung von etwa einer Stunde lichtete sich
plötzlich das Gestrüpp und wir standen in einem dichten Wald
aus Laubbäumen. Das Laub der Baumkronen war so dicht,
das kein Sonnenstrahl den Boden erreichte. Kein Licht – kein
Gestrüpp, so einfach war die Rechnung. Wir kamen zwar nun
wesentlich besser voran, aber wir hatten Schwierigkeiten, den
Weg nach Süden beizubehalten. Selbst die vier Neu-Siegener
Urbürger wurden sich immer unsicherer.
Wie hatte es früher in irgendwelchen Abenteuerfilmen
geheißen: „Orientiert euch am Moos der Bäume, es wächst nur
an der sowieso-Seite“. Ich war zwar Biologe, aber mit Moosen
hatte ich niemals zu tun gehabt, und auf welcher Seite das
Moos wachsen sollte – wie in den Filmen beschrieben – hatte
ich auch vergessen. Abgesehen davon – hier wuchs kein Moos
an den Bäumen, auch sonst gab es keinerlei Vegetation, die uns
helfen konnte.
Selbst Samson, das erfahrenste Mitglied der Expedition, kam
in Schwierigkeiten. Wir bewegten uns in Lichtverhältnissen, die
einer späten abendlichen Dämmerung glichen. Uns blieb nichts
anderes übrig, als hin und wieder einen Mann auf die Bäume zu
schicken, der das Laub beiseite schob und sich nach dem Stand
der Sonne umschaute. Warum Samson dabei ausgerechnet auf
mich kam, war mir zunächst schleierhaft.
„Samson, warum soll ich das machen?“ fragte ich ihn, während
ich hoch zum nicht vorhandenen Himmel schaute, „ich erreiche
doch nicht einmal die unteren Äste dieser Riesenbäume!“
„Kein Problem, Frank. Ich helfe dir.“ Er kam auf mich zu,
umfasste mit seinen riesigen Pranken meine Hüften und schleuderte mich fast drei Meter in die Höhe. Überrascht schrie ich
auf meinem Flug nach oben kurz auf, musste dann allerdings
zusehen, wie ich mich an einem der unteren Äste festhalten
konnte. Mein Schrei verstummte. Leicht zitternd krallte ich
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mich fest und suchte mir einen sicheren Stand. Von nun an
ging es ziemlich einfach. Ich zog mich von Ast zu Ast nach oben
und verstand endlich, warum ich und nicht Samson diesen Weg
machen musste. Man benötigte eine gewisse Menge an Kraft
und durfte nicht zu schwer sein, da die Äste nach oben hin logischerweise immer dünner wurden. Im Wipfel angekommen,
schob ich die Blätter des Baumes zur Seite und berichtete nach
unten, was ich sah.
Der Riese nickte nur und winkte mich herunter. Bevor ich
mich an den Abstieg machte, schaute ich mir die Blätter des
Baumes noch einmal genauer an. Sie waren äußerst ungewöhnlich, sahen nicht wie normale Blätter aus, eher wie übergroße Rhabarber-Blätter! Ich konnte es kaum glauben, sollte
hier Rhabarber zu riesigen Bäumen mutiert sein? Ich musste
es ausprobieren, riss ein Blatt mitsamt dem Stängel ab und biss
zaghaft hinein. Ich hatte den herzhaft sauren Geschmack des
Rhabarbers erwartet, aber nein – dies hier schmeckte einfach
nur bitter – kein Riesen-Rhabarber! Ich beeilte mich mit dem
Abstieg. Samson hatte wieder Anhaltspunkte für unsere Orientierung und es ging weiter. Dank dieser etwas unkonventionellen Idee kamen wir gut voran.
Die nächsten zwei Tage schafften wir annähernd 30 Kilometer. Irgendwo in der Nähe musste also das verlassene Städtchen liegen. Wir übernachteten am Rand eines etwa 500 Meter
breiten Wiesengeländes. Der Streifen Wiese schien einige Kilometer weit zu reichen, es war jedenfalls kein Ende zu sehen.
Warum ausgerechnet hier kein Wald wuchs, war mir schleierhaft. Vielleicht hatte es mal eine Windhose gegeben, die für den
Kahlschlag verantwortlich war.
Es war gegen 10 Uhr vormittags, wenn ich meinen Instinkten
trauen darf, als wir auf einer Hügelkuppe standen und hinunter
in ein kleines Tal blickten. Zwischen den vielen Bäumen konnte
man hier und dort einige Dachspitzen erkennen. Wir hatten es
geschafft!
Der Weg ins Tal war rasch zurückgelegt. Unten angekommen,
hielt Samson witternd seine Nase in den schwachen Wind.
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„Ich glaube, uns droht keine Gefahr. Ich rieche kein Feuer und
auch keine Tiere. Dennoch sollten wir unsere Waffen kampfbereit halten. Man kann ja nie wissen.“ Mit gespannten Bögen
zogen wir langsam in den kleinen Ort ein.
Ja, es war nur ein kleiner Ort – keine Stadt, der Späher
musste wirklich schon hier Fieber gehabt haben. Es standen
vielleicht 25 Häuser um einen kleinen Dorfplatz herum, nicht
mehr. Natürlich war auch hier vieles zugewuchert, aber die
meisten Häuser schienen noch intakt zu sein.
Das war äußerst ungewöhnlich. Es sah aus, als wäre dieser
Ort in der alten Zeit nur noch von älteren Menschen bewohnt
worden, die nicht mehr neu gebaut hatten. Nirgends waren
Überreste von Gebäuden aus dem zwanzigsten Jahrhundert zu
sehen.
„Oh je, das wird nichts“, hörte ich Pierre sagen, „hier hat es
schon vor fünfhundert Jahren keine Geschäfte mehr gegeben.
Wir werden allenfalls noch ein bisschen Geschirr finden. Der
Weg hierher war umsonst!“
Sally ging auf Pierre zu: „Nein, das glaube ich nicht. Pierre,
du bist in Paris geboren und aufgewachsen, du kennst das
Landleben nicht. Es mag hier keine Geschäfte mehr gegeben
haben, aber gerade deshalb schaffte man sich größere Vorräte
an. Niemand wollte hier wegen einer zerbrochenen Schaufel in
die nächste Stadt fahren. Außerdem wurden Geschirr, Besteck
und viele andere Dinge von den Alten immer weiter gegeben,
während sich die junge Generation Neues anschaffte. Wir
werden hier bestimmt eine Menge Nützliches finden. Außerdem sieht es so aus, als sei in den letzten 500 Jahren niemand
hier gewesen!“
Sally hatte recht. Wenn man sich den üppigen Pflanzenbewuchs weg dachte, sah es hier noch so aus, wie in den Dörfern aus dem 18. oder 19. Jahrhundert. Massive, aus Bruchsteinen gebaute Häuser mit stabilen, aus alter Eiche gezimmerten
Dachstühlen. Während Sally, Pierre und ich uns noch über den
wunderschönen Ort unterhielten, hatten sich unsere Gefährten
schon am Dorfbrunnen versammelt und ihr Gepäck abgestellt.
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Samson schritt derweil die Häuserfront ab und verschaffte sich
einen ersten Eindruck. Sally und Pierre hielten auf den Brunnen
zu, während ich zu Samson hinüber ging.
„Was meinst du, Freund? Werden wir hier fündig?“
„Ich denke schon. Ich habe die Argumente von Sally mitbekommen. Sie ist eine kluge Frau und hat bestimmt recht! Lass
uns zu den Anderen gehen. Wir sollten uns ein stabiles Haus
suchen und uns dort einrichten. Wir könnten heute noch alle
Häuser durchsuchen und uns morgen wieder auf den Rückweg
machen.“
Wir wählten eines der größten Häuser aus und richteten uns
dort ein. Wir fühlten uns sofort wohl, nur der Riese schaute
ziemlich missmutig drein. Das lag wohl an den nur etwa zwei
Meter hohen Decken der Zimmer. Er war zwei Köpfe größer
und musste sehr gebückt gehen, wenn er sich hier aufhalten
wollte. Nach einer sehr kurzen Inspektion der Räumlichkeiten
verschwand er wieder nach draußen. Wir teilten uns schließlich
in Zweier-Gruppen auf, um in den Häusern nach Schätzen zu
suchen. Da Samson keine Lust hatte, in den niedrigen Zimmern
herumzulaufen, wollte er die Scheunen durchsuchen. Ich war
dabei sein Partner.
„Wo fangen wir an? Hier scheint fast jedes Haus Scheunen
oder Stallungen zu haben!“ Er schaute sich kurz um. „Lass uns
dort drüben beginnen“, er wies auf einen großen Steinbau mit
Scheunentoren. „Dort werden wir am ehesten Geräte oder
Werkzeuge finden. Die anderen Scheunen bestehen größtenteils aus Holz und sind schon ziemlich baufällig. Außerdem
scheint dieses Haus dem größten Bauern gehört zu haben. Der
hatte natürlich auch die meisten Geräte. Mit acht Personen
können wir sowieso nur eine begrenzte Menge an Gegenständen mitnehmen.“
Wir schritten auf die Scheunentore zu. Im Laufe der Jahrzehnte hatten sich die Torflügel natürlich verzogen und verkantet. Doch Samson spannte nur kurz seine gewaltigen Muskeln
an, hob eines der Tore aus den Angeln und ließ es zu Boden
krachen. Nun hatten wir beides, einen Eingang und einen
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respektablen Lichteinlass. Dennoch mussten sich unsere Augen
erst einen Moment an die im Inneren herrschende Dämmerung
gewöhnen.
Die Zeit schien hier drin keine Bedeutung gehabt zu haben
– mehrere nahezu unversehrte Traktoren, Pflüge, Eggen und
andere Gerätschaften füllten den großen Raum aus. Oberhalb
der Geräte war eine Decke eingezogen, zu der einige Leitern
hinaufführten. Man konnte dort oben noch eine große Anzahl
an Heuballen ausmachen. Meine Blicke wanderten wieder nach
unten. Keine einzige Schaufel, Mistgabel, Hacke oder Spaten
war zu sehen.
Doch bevor meine Enttäuschung gar zu groß wurde, fiel
mein Blick auf eine breite Tür, die zu einem abgetrennten Raum
innerhalb der Scheune gehörte. Ich stieß Samson an und wies
darauf. Als wir an den Traktoren vorbeigingen, berührte ich
einen von ihnen. Sofort brach das Blechteil ab und zerbröselte
regelrecht unter meinen Fingern. Ich schaute genauer hin. Die
Räder mit den Gummireifen sahen noch ziemlich stabil aus,
auch die Kabine schien in Ordnung. Aber dort, wo das Metall
relativ dünn war, hatte der Rost ganze Arbeit geleistet. Man
konnte das Metall einfach in die Hand nehmen und ohne Kraftaufwand zerdrücken.
Samson schaute mir bei meinen Experimenten nur kurz zu,
zuckte mit den Schultern und steuerte weiter auf den Nebenraum zu. Ein kleiner Ruck und die Tür sprang auch hier auf.
Ich folgte ihm in den Raum hinein. Zahlreiche verschlossene
Schränke, eine Bank und ein großer Tisch waren das ganze
Inventar. Wir öffneten einen Schrank nach dem anderen und
uns gingen beinahe die Augen über.
Überall lagerten in den einzelnen Schrankfächern Gartengeräte, die in Ölpapier eingewickelt waren. Fantastisch! In einem
Schrank befanden sich jede Menge Holzstiele für die verschiedensten Geräte. Über die Jahre waren viele regelrecht krumm
geworden. Manche, die nicht aus Hartholz bestanden, hatten
sich langsam aber sicher aufgelöst. Aber Stiele waren sowieso
nicht gefragt. Wenn es in unserem Dorf von etwas genug gab,
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so waren es Holz und Menschen, die dieses vorzüglich bearbeiten konnten.
Aber in Ölpapier eingewickelte Spaten, verschiedenartige
Hacken, Schaufeln, Gabeln und Rechen waren in dieser Zeit ein
sehr großer Schatz! Und all das sah aus wie neu! Selbst Samson,
den sonst so leicht nichts aus der Ruhe bringen konnte, pfiff laut
hörbar anerkennend durch die Zähne.
„Das ist ja wie ein Sechser im Lotto“, stieß ich hervor.
„Was meinst du damit? Ein Sechser im Lotto?“ Samson
schaute mich fragend an. Ich wollte gerade zu einer langwierigen Erklärung über Glücksspiele ansetzen, als mir einfiel:
Wozu? Das war alles Vergangenheit! So sagte ich nur: „Das ist
mal wieder so eine Redewendung aus alten Zeiten. Es bedeutet, dass wir unheimliches Glück gehabt haben.“
Er nickte bestätigend.„Ja, ich kann es kaum glauben. Es ist
wirklich wie Sex im Lotto!“ Ich musste über seinen kleinen Versprecher grinsen. Gerade als ich ihn korrigieren wollte, hörten
wir von draußen kleine Freudenschreie. Sofort vergaß ich mein
Vorhaben wieder. Samson und ich packten einige der Werkzeuge zusammen und eilten hinaus. Rund um den Brunnen
hatten sich unsere Gefährten versammelt und legten ihre Fundsachen ab. Franco, ein kleiner, aber äußerst kräftiger Kerl kam
freudestrahlend auf uns zu:
„Wir haben tolle Sachen gefunden. Jede Menge Geschirr,
Besteck, Töpfe und Pfannen. Und sogar eine Nudelmaschine,
wie Sally uns sagte. Ich weiß zwar nicht, was das ist, aber es
hört sich toll an!“
Franco strahlte über das ganze Gesicht. So eine Freude hatte
ich lange nicht mehr gesehen. Doch nicht nur er strahlte, auch
alle anderen lachten und schlugen sich vor Freude gegenseitig
auf die Schultern. Wie im Rausch trugen wir in der nächsten
Stunde all unsere Schätze zum Brunnen. Es türmten sich am
Ende so viele Dinge auf, dass wir sie nie und nimmer alle transportieren konnten.
Moss, unser Mann für die Versorgung, stoppte schließlich
die Schatzsuche. Es war gerade erst früher Nachmittag und
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alle waren sich einig, das am Abend ein kleines Fest stattfinden sollte. Doch mit Trockenfleisch wollte niemand feiern und
so einigten wir uns auf Samson und mich als Jäger, während die
anderen die gefundenen Schätze nach Wichtigkeit sortieren,
verpacken und für den Transport fertig machen sollten.
Der große Rest sollte in einem Raum versteckt werden, um
ihn irgendwann später holen zu können. Während der Freund
sich mit Bogen, Keule und Messer bewaffnete, reichte bei mir
Speer und ebenfalls ein Messer. Mit dem Bogen war ich ja kaum
Durchschnitt, aber mit dem Speer konnte ich es mittlerweile
mit fast allen anderen aufnehmen. Die Jagd war eröffnet!
Wir zwei schlichen uns durch den angrenzenden Wald. Wir
hatten die Spur eines kleinen Wildschweins entdeckt, gerade
die richtige Größe für ein üppiges Abendessen. In einer Stunde
würde es dunkel werden, wir mussten uns also beeilen.
Plötzlich stoppte Samson und zeigte mit der ausgestreckten
Hand nach vorne. Nur etwa fünfzig Meter vor uns suhlte sich
das Schwein in einer kleinen Pfütze. Für einen gezielten Schuss
mit dem Bogen war es ziemlich weit entfernt, zumindest für
einen normalen Bogenschützen. Nicht für Samson, dennoch
zögerte er.
„Zu viele Bäume“, flüsterte er mir ins Ohr. „Ich werde versuchen, eine bessere Position zu finden. Bleib du hier. Vielleicht
ergibt sich für dich eine Möglichkeit, den Speer einzusetzen.“
Er verschwand lautlos. Ich schaute ihm nach, doch schon
nach wenigen Metern verschwand er aus meinem Blickfeld.
Nach einer viertel Stunde wurde ich langsam unruhig. Nichts
von Samson zu sehen und das Schwein schien genug von
seinem Schlammbad zu haben. Es war mittlerweile dazu übergegangen, sich ausgiebig an einem Baum zu scheuern. Lange
würde es sich nicht mehr hier aufhalten. Doch gerade als ich
beschloss, mich näher heran zu pirschen, hörte ich das Sirren
eines Pfeils und dann sah ich auch den Aufprall. Doch der Pfeil
steckte nicht etwa in dem Schwein, wie ich es erwartet hatte,
sondern knapp daneben in dem Baum. Das Tier musste sich
kurz bewegt haben! Es verharrte für einen Moment verdutzt,
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um dann mit lautem Quieken davon zu stürzen. Ein weiteres
Sirren und ein zweiter Pfeil streifte die hintere Backe des Tieres.
Wieder quiekte es laut, diesmal schmerzvoll, überschlug sich
fast und rannte dann genau auf mich zu.
Ich hob den Speer in meiner Hand und wartete auf den richtigen Augenblick. Gerade als ich die Waffe auf die Reise schicken wollte, wechselte das Tier seine Richtung und lief nun mit
seiner Breitseite etwa fünf Meter an mir vorbei. Mein Speer
flog durch die Luft und traf genau.
Durch seinen enormen Schwung überschlug sich das Wildschwein, blieb dann zuckend liegen und quiekte zum dritten
und letzten Mal. Die Jagd war beendet!
Als wir erfolgreich zurück zum Lager kamen, war schon
alles für unsere kleine Feier vorbereitet. Niemand schien
daran gezweifelt zu haben, dass Samson und ich etwas erlegen würden. Ein großes Feuer brannte, links und rechts daneben steckten schon zwei Astgabeln im Boden, die bereit waren,
einen größeren Braten aufzunehmen. Wir luden das Schwein
ab. Sofort kümmerte sich Rea, die zweite Frau auf unserer Reise,
zusammen mit Franco um die Verarbeitung der Beute.
Nicht mal zwanzig Minuten später drehte sich der Spieß mitsamt dem Schwein über dem Feuer. Moss, unser Versorgungsmann, zauberte zwei Krüge aus seinem Gepäck und reichte sie
herum. Sie waren gefüllt mit einem leichten Fruchtwein. Alle
unterhielten sich, während der Duft des gebratenen Wildscheins durch die Runde zog. Es schmeckte herrlich!
Pierre hatte sich nach dem Essen neben Rea gesetzt und
flirtete angeregt. Etwas verwundert schaute ich mir Rea
genauer an. Rea war blond, etwa mittelgroß und ein wenig
stämmig. Eigentlich passte sie so gar nicht in Pierres sonstiges
Beuteschema.
Pierre war immer sehr diskret, was seine Frauengeschichten
anging, aber aus seinen sparsamen Erzählungen wusste ich,
dass er eher auf zierliche Rothaarige stand. Doch wahrscheinlich faszinierten ihn Reas Augen. Als ich vor einigen Monaten
zum ersten Male in ihre tiefblaue Augen hinein geschaut hatte,
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blieb mir doch glatt die Spucke weg! Ich hatte sie damals so
unverblümt angestarrt, dass Sally mir einen kräftigen Stoß in die
Seite versetzte.
Genau in diesem Moment setzte letztere sich neben mich.
„Na, schon wieder in Reas Augen verliebt?“ Verdammt, wie
machte sie das nur, irgendwie wusste sie immer, was ich dachte!
Bevor ich stotternd zu einer Erklärung ansetzen konnte, legte
sie mir beruhigend ihre Hand auf meinen Unterarm.
„Schon gut, Frank“, sagte sie ausgesprochen milde, „ Appetit
hast du dir ja jetzt geholt, aber gegessen wird heute Nacht bei
mir!“ Es wurde eine fantastische Nacht!
Am nächsten Morgen hatte sich der Himmel zugezogen.
Das war ziemlich untypisch, da die Regenzeit erst vor wenigen
Wochen geendet hatte. Auch Samson und die anderen in dieser
Zeit geborenen schauten besorgt zum Himmel.
Mir war das alles total egal, ich fühlte mich großartig! Auch
Sallys Augen blitzten vor Freude. Moss hatte bei der Verteilung
der Packstücke ganze Arbeit geleistet. Jeder bekam nach seiner
ungefähren Kraft Waren auf seinen Rücken. Die beiden Frauen
bekamen die kleinsten Pakete und Samson das Größte.
Für den ersten Teil des Rückwegs übernahm Franco die Führung. Er sollte hinter dem Wiesengelände abgelöst werden.
Der Riese und ich bildeten das Schlusslicht, als uns Francos Ruf
erreichte. Nebel hatte uns die bisherige Wegstrecke begleitet.
Ich konnte Francos Worte nicht verstehen, aber wir hatten wohl
die Wiesen erreicht. Es wurde auch allmählich Zeit für eine
Pause, denn mein Rücken schmerzte. Vor mir wurde es etwas
heller, die Wiese lag vor uns. Wir alle hatten uns diese Pause
verdient und die Rucksäcke glitten zu Boden.
Plötzlich hörten wir einen dumpfen Knall und unmittelbar
einen lauten Schmerzensschrei, der sofort wieder erstarb.
Alle griffen zu den Waffen und stürmten in Richtung auf das
Geräusch. Doch es war zu spät!
Sally stand ganz vorne, den Bogen noch auf ein Ziel gerichtet.
Sie war nur ein paar Meter hinter Franco hergegangen.
„Sally, was ist los? Was ist passiert?“ Sie brachte kein Wort
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hervor und winkte nur mit dem Bogen. Ich folgte mit meinen
Augen der gewiesenen Richtung. Einige Meter entfernt lagen
ein riesiger Hirsch und Franco, vom Hirschgeweih aufgespießt in
einer großen Blutlache. Schon von ferne konnte ich sehen, dass
hier jede Hilfe zu spät kam! Sallys Pfeil steckte in Herzhöhe in
dem mächtigen Tier – ein perfekter Schuss, doch er war zu spät
gekommen.
Während die anderen zum Unglücksort liefen, nahm ich Sally
in den Arm und drehte sie vom Geschehen weg.
Sie schluchzte: „Er tauchte plötzlich aus dem Nebel auf und
rammte ihm das Geweih in die Brust. Ich war nicht schnell
genug. Ich war einfach zu langsam! Es ist meine Schuld!“ Tränen
flossen aus ihren Augen.
„Es ist nicht deine Schuld. Du konntest es nicht ändern. Du
hast alles versucht, er hatte keine Chance!“
Zwei Stunden später hatten wir uns um Francos Grab versammelt. Ich hatte noch nie an einer Begräbnis-Zeremonie der
Neu-Siegener teilgenommen.
Niemand sprach, alle waren mit ihren eigenen Gedanken
beschäftigt. Ich hielt Sallys Hand, ihre Augen waren gerötet
und in ihrem Gesicht stand immer noch der Schock. Man hatte
Franco in ein tiefes Grab gelegt. Dem Hirsch waren Geweih und
zwei der besten Fleischstücke entnommen worden.
Das Fleisch und einen Krug Wasser für die Reise ins Jenseits
hatte man dem Toten mit ins Grab gegeben. Das war Neu- Siegener Brauch. Den kleinen Erdhügel hatte man mit dem kapitalen Geweih verziert. Der Kadaver war in einiger Entfernung
verbrannt worden. Selbst in dieser Zeit, wo Nahrung immer
willkommen war, wollte das Fleisch dieses Tieres niemand verzehren. Unvermittelt setzte Moss zu einem Lied an. Er sang
von Frieden, der wunderschönen Natur und von Freundschaft.
Es war sehr bewegend. Ich dachte an den Augenblick, als uns
Franco gestern noch freudestrahlend entgegenkam und von den
vielen Funden und der Nudelmaschine berichtete. In diesem
Moment wurde mir bewusst, wie dicht Freude und Tod beieinander liegen konnten. Meine Augen füllten sich mit Tränen.
94
Papier
Das Leben ging weiter. Sally hatte Francos Tod noch nicht überwunden und ihre Selbstvorwürfe nagten an ihr. Auf unserer
Reise hatten wir viel Nützliches gefunden. Irgendwann würde
Franziskus einen Trupp losschicken, um den Rest abzuholen.
Doch eines war nicht dabei gewesen: Papier. Oder vielmehr
dessen Nachfolge-Produkt aus vergangener Zeit. Gut erhaltenes
Papier war natürlich nur noch selten zu finden, aber die Papierfolien, die ein kluger Mann einige Jahre vor der Apokalypse
erfunden hatte, musste es noch geben. Wir waren auf unserem
Weg von Grissenbach nach Neu-Siegen hin und wieder darauf
gestoßen. Es schien überhaupt nicht zu altern. Für Franziskus
wäre ein Paket davon von unschätzbarem Wert, auch wenn es
für die Dorfgemeinschaft nicht unbedingt Lebenswichtig war.
Um Sally auf andere Gedanken zu bringen, schlug ich Franziskus vor, eine kleine Exkursion mit ihr zu unternehmen. Nichts
Aufregendes oder Gefährliches. Franziskus hatte da auch schon
etwas im Sinn. Eine verlassene Burganlage, von der aus man
den Rhein sehen konnte, etwa zwei Tagesreisen entfernt. Da die
Burg kaum jemandem bekannt war, gab es nur schmale Pfade
oder Wildwechsel, die dorthin führten.
Unser Bürgermeister kramte in seinen Archiven herum. „Ich
habe eine ganz gute Wegbeschreibung. Als einer unserer Späher
vor Jahren die Burg entdeckte, hat er sie angefertigt. Ah ja. Hier
ist sie. Ich werde dir die markanten Punkte auf der Karte erklären, dann dürftet ihr keine Schwierigkeiten haben, den Weg zu
finden. Vielleicht gibt es dort sogar wirklich Papier.
Damals hat unser Späher nur festgestellt, dass die Burg
unbewohnt ist und ein paar Metallteile mitgenommen. Er
hielt den Ort für uninteressant. Ich habe dann auch niemanden mehr dorthin geschickt. Der ideale Platz für Sally, um auf
andere Gedanken zu kommen!
Ihr beide werdet allein reisen und ich werde es als offizielle
Mission verkünden. Dann merkt sie sicherlich nicht, dass die
Reise extra für sie arrangiert wurde. Einverstanden?“
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Ich stimmte sofort zu. Zwei Tage später waren wir bereits unterwegs. Wir hatten nur den nötigsten Proviant für etwa fünf Tage
mitgenommen. Außerdem hatte Franziskus uns mit zusammenklappbaren Körben ausgestattet, die man auch auf den Schultern tragen konnte. Für das vermutete Papier natürlich.
Auch wenn weder er noch ich an einen unentdeckten Papiervorrat auf der Burg glaubten, wurde so die Mission für Sally
glaubhafter. Franziskus hatte wirklich an alles gedacht!
Es war ein wunderbarer Tag. Die Sonne schien, der Weg war
nicht sonderlich beschwerlich. Die Wiesen, die wir durchquerten, standen in voller Blüte. Der Wald duftete nach frischen
Kiefernnadeln.
Nach alter Zeitrechnung würde ich sagen: Ein herrlich
warmer Frühlingstag. Zuerst schritten wir schweigend nebeneinander her. Nach ein paar Stunden Wanderung durch die herrliche Landschaft taute Sally langsam auf und wir redeten über
alles, was ihr auf der Seele lag. Wir waren so vertieft in unsere
Unterhaltung, dass wir die heraufziehende Dämmerung erst
spät bemerkten. Doch das war kein Problem.
Sehr schnell fanden wir einen geeigneten Lagerplatz. Nachdem wir ein kleines Feuer angezündet hatten, kuschelte sich
Sally an meinen Körper. Wir waren glücklich. Unsere Unterhaltung hatte mir und vor allem ihr gut getan. Sie schlief in meinen
Armen ein, ein zufriedenes Lächeln im Gesicht. Nach einer Weile
löste ich mich vorsichtig von ihr. Auch wenn ich liebend gerne
so mit ihr die Nacht verbracht hätte, dazu war die Wildnis einfach zu gefährlich. Ich legte Feuerholz nach und drehte meine
Runden um unser kleines Lager. Obwohl ich nicht damit gerechnet hatte, löste mich Sally etwa zwei Stunden nach Mitternacht
ab. Sie hauchte mir einen Kuss auf die Wange und sagte nur ein
Wort: „Danke!“
Wir erreichten unser Ziel zur Mittagszeit des nächsten Tages.
Es lag, wie eigentlich alle Burgen auf einem Berg. Der ehemalige
Burggraben war kaum noch zu sehen, Bäume und Sträucher aller
Art hatten ihn in Besitz genommen und verdeckten auch große
Teile der Burgmauer. Zusätzlich hatten sich Schlingpflanzen
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den Weg über die Gebäude bis in die Spitzen der Burgtürme
gebahnt. Ich kam mir vor wie bei Dornröschen.
Nachdem wir das zerfallene Tor passiert hatten, erwartete
uns eine wildromantische Burganlage. Zwischen den Pflastersteinen der Wege hatten sich über die Jahrhunderte jede Menge
Büsche und Sträucher angesiedelt. Wahrscheinlich hatten Vögel
mit ihrem Kot und der Wind die Samen von wilden Brombeeren, Himbeeren, Lupinen und den verschiedensten Gräsern ins
Innere der Mauern transportiert. Wir hatten Mühe, uns einen
Weg bis zum Eingang zu bahnen.
Die massive Eichenholztür war noch ziemlich gut erhalten, die Scharniere allerdings festgerostet, so konnten wir sie
erst nach mehreren vergeblichen Versuchen aufstemmen. Im
Inneren erwartete uns nicht das, was wir eigentlich vermutet
hatten. Keine dicken Bruchsteinwände, Ritterrüstungen oder
andere mittelalterliche Gegenstände, sondern eine moderne,
weiß gestrichene Empfangshalle.
Schon auf den ersten Blick konnten wir erkennen, dass diese
Burg irgendwann einmal zu einer Tagungsstätte umgebaut
worden war. Ein heruntergefallener Wegweiser, beschriftet mit
Hinweisen zu den verschiedensten Tagungsräumen, bestätigte
unsere Annahme noch. Wir wanderten durch das Gebäude.
Man hatte zwar die grobe Architektur mit Rundbögen, Nischen
und Erkern beibehalten, aber da sämtliche Wände begradigt
und verkleidet worden waren, ging sehr viel vom Charme des
alten Gemäuers verloren.
Auch die ehemals wohl bunten Fenster waren durch moderne
ersetzt worden, aber wenigstens hatten sie noch ein Fensterkreuz. Hier und da war die eine oder andere Scheibe zerborsten
und ein warmer Windhauch zog durch die Gänge. In Fensternähe hatten sich einige Pflanzen angesiedelt, Vögel hatten ihre
Nester darauf gebaut.
Kleiderhaken waren an den Innenwänden zu den Tagungsräumen angebracht worden – hier und dort hing noch eine
längst vergessene Jacke oder der Hut eines der Tagungsteilnehmer. Als ich eine der Jacken anfasste, zerbröselte sie regelrecht
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zwischen meinen Fingern. Wir öffneten einen Raum nach dem
anderen und suchten nach brauchbaren Gegenständen, vor
allem nach Papier.
Doch der Späher aus Neu-Siegen hatte recht gehabt, hier
schien es kaum etwas Brauchbares zu geben. Tageslichtprojektoren, Computer, Tische und Stühle aus Kunststoff, die haufenweise herumstanden, waren für uns uninteressant. Eigentlich
hatte ich damit gerechnet, gerade in den Tagungsräumen Papier
vorzufinden, doch kein einziges Blatt war zu finden. Sogar im
ehemaligen Speisesaal und der angrenzenden Küche fanden
wir nichts Brauchbares. Noch nicht mal eine Gabel oder ein Topf
waren zu sehen.
Vor vielen, vielen Jahren musste hier alles systematisch ausgeräumt worden sein. Sicherlich von Überlebenden der großen
Katastrophe. Nachdem wir die ganze Burg im Erdgeschoss und
den darüber liegenden Etagen untersucht hatten, blieben uns
nur noch die Kellerräume. Es war mittlerweile später Nachmittag und noch hell genug, um uns kurz dort umzuschauen.
Im Eingangsbereich führte eine alte Steintreppe nach unten.
Auf dem Gang herrschten diffuse Sichtverhältnisse, da durch die
Lichtschächte weit weniger Helligkeit hereindrang, als durch die
Fenster eine Etage darüber. Hier unten waren die Wände nicht
verkleidet worden, die Bruchsteine waren überall zu sehen. Wir
hasteten durch die Räume, um der nahenden Dunkelheit zuvor
zu kommen. Schließlich gelangten wir in einen Raum, der als
Archiv ausgewiesen worden war. Überall standen Aktenordner,
einige Schränke sowie ein Computer. Als wir die Aktenordner
in die Hand nahmen, rieselte uns der Inhalt entgegen. Altes
Papier, von Ungeziefer zerfressen und durch den Zahn der Zeit
verwittert. Suchend öffneten wir einige Schränke und wurden
endlich fündig.
Mehrere eingeschweißte Packungen Druckerpapier, hergestellt 2018. Das war genau das, was wir suchten. 2016 hatte
der Erfinder das unverwüstliche Papier aus Kunststoffresten
erfunden und 2018 schon gab es praktisch kein normales Papier
mehr. Sechs Packungen mit jeweils 500 Blatt waren zwar nicht
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besonders viel, das hatte aber andererseits mehrere Vorteile.
Unser Auftrag war erfüllt und wir hatten dennoch nicht allzu
viel zu schleppen. Sally würde die von Franziskus und mir vorgetäuschte Geschichte wohl glauben.
Als ich ihr von unserem Auftrag vor ein paar Tagen erzählt
hatte, war sie ziemlich skeptisch gewesen. Ich hatte in ihren
Augen gesehen, dass sie mir nicht glaubte, aber gesagt hatte sie
nichts. Nachdem wir unseren Fund verstaut hatten, stiegen wir
die Treppe wieder hinauf, suchten uns einen Raum, in dem wir
unser Nachtlager aufschlagen konnten.
Unter dem letzten Tageslicht standen wir dann eng beieinander an einem der Fenster und genossen den weiten Ausblick auf
die dicht bewaldeten Uferberge zu beiden Seiten des Stromes.
Dazwischen zogen die Wasser des Flusses ruhig und majestätisch dahin. Die Schienenstränge und die Straßentrassen an den
Ufern aus unseren alten Zeiten konnte man von hier oben nicht
mehr erkennen. Verstummt war das Rattern der langen Güterzüge und das früher pausenlose Brummen der Motoren.
Stetiges Rauschen des Windes im dichten Blattwerk der
Bäume und der zum Abend abebbende Vogelgesang bildeten
eine friedliche Geräuschkulisse. Ganz entspannt standen wir
da und freuten uns auf eine ruhige Nacht. Da ertönte in der
Ferne ein leises Summen, das allmählich anschwoll und näher
zu kommen schien. Woher kannte ich nur diesen Ton?
Sehr bald wusste ich die Antwort, als am südlichen Horizont
drei helle Lichter auftauchten, die sehr schnell näher kamen.
Die Fluggeräte der Zerstörer unserer alten Welt! Ich hatte die
Wahrscheinlichkeit, das es von ihnen noch viele geben musste,
völlig aus meinem Bewusstsein verdrängt. Aber hier waren sie
wieder und erinnerten deutlich an die noch immer bestehende
Gefahr für unsere neue Welt. Sie zogen hoch über dem Flusslauf entlang und verschwanden so schnell aus unserem Blickfeld, wie sie vorher gekommen waren.
Keiner von uns Vieren hatte sich nach der Zerstörung der
Kölner Zentrale noch große Gedanken um die Gen-Mutanten
gemacht – aber genau das würden wir dringend tun müssen!
99
*
Der nächste Morgen bescherte uns herrliches Wetter. Blauer
Himmel, soweit das Auge reichte. Die Temperatur lag schon bei
gut 20 Grad. Ein Tag wie geschaffen für den Heimweg. Nachdem wir gegen Mittag eine kleine Pause eingelegt hatten, ging
es weiter. Die Temperatur war nochmals gestiegen und dürfte
herrliche 28 Grad erreicht haben. Wir hingen beide unseren
Gedanken nach und wanderten in nicht allzu flotter Gangart
durch eine blühende Wiese. Das Gras hier war bestimmt 1,50
Meter hoch und roch herrlich.
Plötzlich verdunkelte eine Wolke den Himmel und warme
Regentropfen trafen mein Gesicht. Ich blickte nach oben. Eine
einsame kleine, graue Wolke stand direkt über uns und verdeckte die Sonne. Der warme Regen wurde stärker und ich
wollte Sally gerade vorschlagen, uns irgendwo unterzustellen,
als sich mein Blick von der Wolke löste und zu ihr hinüber glitt.
Sie stand splitternackt vor mir, mit geschlossenen Augen nach
oben blickend.
Regentropfen fielen auf ihr Gesicht, liefen den schmalen
Hals herunter über ihre schönen Brüste, sammelten sich kurz
unterhalb und rannen verstärkt über den Bauch und die langen
Beine zu Boden. Ich musste schlucken bei dem atemberaubenden Anblick, der sich mir bot. Sie öffnete die Augen, schaute
mich kurz an, rief: „Fang mich!“, und rannte davon. Ich weiß
nicht, wie sie es geschafft hatte, sich in diesem kurzen Moment
unbemerkt auszuziehen, aber meine Kleidung flog jetzt ebenfalls so schnell ins Gras, dass ich wohl nicht viel langsamer war.
Wir liefen wie spielende Kinder durch den warmen Regen. Das
hohe Gras streichelte unsere feuchten Körper. Wir waren wie
im Rausch. Ich sah alles wie in Zeitlupe. Sallys geschmeidige
Bewegungen, ihre durch die Luft wirbelnden Haare, das Aufund Ab ihrer Brüste.
Dann blieb sie unvermittelt stehen und drehte sich zu mir um.
Ich stoppte ebenfalls und genoss ihren fantastischen Anblick.
Sie schaute mir in die Augen.
„Gefällt dir unsere kleine Jagd?“ Ihre Brust hob und senkte
100
sich in schneller Folge und ihre Augen blitzten vor Vergnügen.
„Oh ja! So etwas habe ich noch nie erlebt!“ antwortete ich
mit heiserer Stimme. Sallys Blick wanderte von meinen Augen
hinunter in Richtung Hüfte. „Das glaube ich dir. Ich sehe nur zu
deutlich, wie sehr es dir gefällt!“
Dann gab es für uns kein Halten mehr. Eng umschlungen
sanken wir ins nasse Gras, der warme Regen streichelte dabei
unsere nackten Körper und die Welt um uns herum hörte auf
zu existieren …
Franziskus
Zwei Wochen waren seitdem vergangen. Das Leben ging seinen
gewohnten Gang. Vor zwei Tagen waren Samson und Pierre mit
einer anderen Gruppe wieder in den kleinen Ort aufgebrochen,
um die versteckten Schätze zu holen.
Sally und ich hatten darauf verzichtet. Sie schien sich wieder
gefangen zu haben. Wir alle versicherten ihr, dass sie nicht versagt hatte und es ein unvorhersehbares Unglück gewesen war,
das zu Francos Tod führte. Am meisten half ihr, neben unserem
wunderschönen Ausflug, wohl ein Gespräch mit Samson.
Er hatte ihr den ganzen Ablauf noch einmal vor Augen
geführt und gemeinsam waren sie zu dem Schluss gekommen,
selbst er mit seinen überragenden Reflexen hätte nicht schneller handeln können. Danach ging es ihr Tag für Tag besser und
so langsam wurde sie wieder zu der, die ich so liebte: positiv,
geistreich mit scharfem Verstand, manchmal undurchsichtig
und auch schon mal zickig.
In Neu-Siegen selbst war der Tod des alten Gefährten mit
kurzer Trauer zur Kenntnis genommen worden, aber der Tod
war hier allgegenwärtig und man fand sich schnell damit ab.
Franco war für Franziskus allerdings ein wichtiger Mitarbeiter
gewesen. Er hatte die Arbeiten innerhalb des Dorfes, Jagdausflüge und Tausch-Expeditionen zu anderen Orten koordiniert.
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Kurz gesagt, Franco hatte das Dorfleben zusammen mit unserem Bürgermeister organisiert. Es war nicht weiter verwunderlich, das Franziskus nach einem Nachfolger Ausschau hielt, aber
das er ausgerechnet mich ansprach, überraschte mich doch
sehr.
„Ich benötige jemanden, der intelligent ist, der auf die Menschen im Dorf eingehen kann und über ein gewisses Organisationstalent verfügt. Ich habe dabei an dich gedacht. Gemüse
schneiden und kochen ist eine ehrbare Arbeit, aber ich glaube,
deine Talente kommen an meiner Seite besser zur Geltung –
zum Wohle von Neu-Siegen. Morgen nach dem Frühstück
kommst du zu mir.“
Das waren seine Worte gewesen. Ich war so perplex – ich
starrte ihn mit offenem Mund an und war zu keiner Antwort
fähig. Ich, ein Organisationstalent? Das hatte mir noch niemand
gesagt! Auf die Menschen im Ort eingehen können? Da hätte er
mal lieber Sally fragen sollen! Die hätte ihm was anderes über
mich erzählt! Nun ja, in einem Punkt hatte Franziskus ja recht:
Dumm war ich sicherlich nicht, auch wenn ich mich manchmal
dumm anstellte.
Als ich Sally am Abend davon erzählte, lachte sie nur kurz
auf und meinte: „Oh Frank! Franziskus ist ein sehr heller Kopf,
er wird sich schon was dabei gedacht haben.“ Damit war das
Thema beendet.
Am nächsten Morgen begann mein neuer Job. Der Bürgermeister war ein guter Lehrer. Den ganzen Tag gingen wir von
einem Arbeitsplatz zum nächsten. Überall gab er mir wichtige
Einblicke in die tägliche, wöchentliche oder monatliche Arbeit.
Gut, das ich mir Notizen machen konnte! Es gab eine Unmenge
an Dingen, die zu beachten waren.
Abends brummte mir der Schädel, doch die nächsten
Tage ging es weiter. Er legte mir Arbeitspläne, Lagerlisten,
Materiallisten, Viehbestandslisten und was weiß ich noch alles
für Listen vor. Ich verzog mich mit dem verdammten Papierkram
in eine ruhige Ecke der Veranda und schaute mir alles an.
Zwischendurch kam Franziskus immer mal wieder aus seinem
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Zimmer und schaute nach mir. Ich hatte eine Menge Fragen,
doch er war sehr geduldig und erklärte mir alles. Zwischendurch
stellte er mir Fragen zu Dingen aus der alten Zeit. Mal technische
Begriffe, mal Ortsangaben, mal fragte er nach der Bedeutung
einzelner Wörter. Mich verwunderten seine Fragen, tat es aber
mit einer gesunden Neugierde ab. Franziskus war brillant. Was
er einmal gehört hatte, vergaß er nie wieder. Auch konnte er
Zusammenhänge aus der Vergangenheit erkennen, die selbst
mir, der in dieser Zeit aufgewachsen war, schleierhaft waren.
Sein riesiger Kopf schien alles wie ein Computer aufnehmen
und verarbeiten zu können. So intensiv hatte ich bisher mit der
Mutationsform der Großköpfe noch nicht zu tun gehabt.
Es war faszinierend! Samson und Pierre waren mittlerweile
von ihrer Tour zurückgekommen. Beide lächelten, als ich ihnen
von meiner neuen Tätigkeit erzählte. Doch Samson brachte es
auf einen Punkt.
„Gefällt dir die Arbeit, obwohl du so viel lernen musst?“
Ich zögerte. Darüber hatte ich mir noch gar keine Gedanken
gemacht. Ich dachte an die letzten Tage zurück. Ja, es machte
Freude, mit Franziskus zusammenarbeiten zu können. Ich nickte
meinen beiden Freunden zu. „Ja, es macht mir großen Spaß!“
Das veranlasste Pierre mal wieder zu einer spöttischen
Bemerkung: „Ihr Deutschen! Je mehr ihr verwalten und organisieren könnt, umso wohler fühlt ihr euch. Das wird sich nie
ändern, selbst nach der Apokalypse nicht!“
Pierres Worte tat ich mit einer verächtlichen Handbewegung
ab, aber insgeheim wurmten mich seine Worte doch sehr. Ja,
wir Deutschen waren immer die Nation mit den meisten Gesetzen, Verordnungen und Vorschriften gewesen. Allein unsere
Steuergesetze waren wahrscheinlich umfangreicher als alle der
restlichen Welt zusammen gewesen!
Auch Franziskus hatte stapelweise Papiere in seinem Zimmer
liegen. Mein Ehrgeiz wurde geweckt und ich schwor, mir ein
einfaches und geniales Verwaltungssystem zu entwickeln. Ich
würde es Pierre schon zeigen!
Die Tage vergingen und so langsam bekam ich einen Überblick
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von den Vorgängen im Dorf. Franziskus und ich unterhielten uns
oft nach getaner Arbeit auf der Veranda. Wir waren viel vertrauter geworden, und so fragte ich ihn eines Tages etwas ziemlich
privates:
„Manchmal kommt es mir so vor, als könntest du Gedanken
lesen. Wie ist das eigentlich so, wenn man in das Gehirn eines
anderen schauen und lesen kann?“
„Oh Frank! Da hast du ganz falsche Vorstellungen von meinen
Fähigkeiten. Ich bin kein Gedankenleser. Ich bin eine Art Emphat,
ich empfange Schwingungen meines Gegenübers. Starke
Gefühle wie Angst, Trauer, Schmerz, aber auch Freude, Liebe
und Hoffnung. Mein Gehirn ist in der Lage, bestimmte Schlüsse
daraus zu ziehen. Meist stimmt es, aber nicht immer. Das ist
ziemlich gefährlich, da man sich leicht überschätzt. Wenn ich
zum Beispiel eine Lüge nicht erkenne, kann das unter Umständen das ganze Dorf gefährden. Daher habe ich bei bestimmten
Anlässen Berater an meiner Seite, die keine Großköpfe sind. Ich
benötige ihren gesunden Menschenverstand und ihre Intuition.
Erinnere dich an unsere erste Begegnung. Auch da hatte ich
zwei Berater an meiner Seite. Während ihr meiner Einladung
gefolgt seid und gegessen habt, habe ich mich unauffällig mit
ihnen beraten. Erst danach habe ich euch unser Dorf gezeigt.
Doch nun genug für heute. Es ist schon dunkel – Sally wird auf
dich warten.“
Als ich unser winziges Zimmer betrat, lag Sally schon im
Bett. Sie schlief tief und fest. Seit sie sich am Häuserbau beteiligte, war sie abends ziemlich geschafft und schlief meist schon,
wenn ich nach Hause kam. Mir war das im Moment ganz recht,
da mich meine neue Aufgabe oft bis in die Nacht auf Trab hielt.
In dieser neuen Zeit gab es keine Wochentage und Wochenenden mehr, aber es gab freie Tage und Franziskus achtete
darauf, dass Partner möglichst oft gemeinsam solche Tage verbringen konnten.
Sally und ich verbrachten die meiste freie Zeit an einem kleinen See und mit Spaziergängen. Sie erzählte nahezu schwärmerisch vom Hausbau, während ich ihr viel von den komplizierten
104
Vorgängen einer Dorfgemeinschaft nahe brachte. Ich verstand
zwar nicht so ganz ihre Begeisterung für den Hausbau, bewunderte aber ihre handwerkliche Geschicklichkeit. Wir waren uns
in den letzten Wochen sehr viel näher gekommen.
Dennoch – irgendwie hatte ich den Eindruck, Sally wolle
mir noch etwas Wichtiges mitteilen. Doch wenn ich sie danach
fragte, meinte sie nur, ich solle mich überraschen lassen.
Zwei Tage später unterhielten Franziskus und ich uns mal
wieder über den Papierkram, als er unvermittelt das Thema
wechselte.
„Frank, ich mache mir Sorgen um die Zukunft unserer
Gemeinschaft. Wir leben hier ziemlich abgeschieden. Es passiert nicht allzu oft, dass wir frisches Blut in unsere Reihen
bekommen. Wir haben zwar Kontakte zu anderen Dörfern und
sobald ich merke, dass sich ein Mann oder eine Frau für ein
Mitglied eines anderen Dorfes interessiert, lasse ich mir Aufgaben einfallen, die sie einander näher bringen könnten. Doch ich
tauge als Verkuppler nicht viel. Hast du vielleicht eine Idee, wie
wir das ändern könnten?“
Dem selben Problem waren wir auf unseren Reisen von
Siegen an den Rhein schon oft begegnet. In Betzdorf, einer
nahen Kolonie bei Siegen, hatten wir den Bewohnern geraten, sich mit den Siegenern zusammenzuschließen. Keine der
beiden Siedlungen hatte voneinander gewusst, obwohl sie nur
etwa zwanzig Kilometern voneinander getrennt lagen. Doch
hier lag der Fall anders, Neu-Siegen hatte durchaus Kontakte zu
anderen Stämmen, wenn es auch nur wenige waren.
„Vielleicht sollten wir ein großes Fest veranstalten und
andere Dörfer dazu einladen.“
Franziskus schaute skeptisch.„Nun, wir haben uns all die
Jahrhunderte darum bemüht, nicht entdeckt zu werden. Du
kennst ja unsere undurchdringliche Hecke. Anfangs kam es
immer wieder zu Kontakten mit anderen Dörfern. Doch seitdem
wir unter meiner und unter der Leitung meines Vorgängers in
den letzten 50 Jahren unsere Hecke immer mehr perfektioniert
haben, werden Partnerschaften mit Bewohnern anderer Dörfer
105
immer seltener. Damals trieben viele Banden ihr Unwesen und
später kamen dann noch die Gerüchte um die Piraten. Damals
habe ich mich für absolute Sicherheit entschieden. Vielleicht
war das ein Fehler.“ Franziskus Stimme war zuletzt immer
leiser geworden. Er machte sich Vorwürfe. Ich versuchte ihn
aufzuheitern:
„Für den Anfang können wir unsere jungen Leute ja ab und
zu in die Nachbardörfer schicken. Unterwegs haben wir gesehen, dass durchaus Feste gefeiert oder zumindest Märkte abgehalten werden. Einige dieser Märkte finden regelmäßig statt.“
Franziskus schaute mich an. „Das ist eine gute Idee, wir
werden unsere jungen Menschen auf Märkte schicken, Tauschware haben wir Dank unseres großen Fundes ja genug. Man
wird uns dann sicherlich auch irgendwann zu Festen einladen.
Vielleicht sollten wir auch unsere Tore für andere öffnen. Dank
euch besteht die Gefahr der Piraten und der Gen-Menschen ja
nicht mehr.“
Als Franziskus die letzteren erwähnte, lief es mir eiskalt den
Rücken herunter. Ich erinnerte mich an die kürzliche Beobachtung in der Burgruine, die ich doch tatsächlich bis zu diesem
Tage wieder erfolgreich verdrängt hatte. Ein ungutes Gefühl
stieg in mir auf und ich schaute zu Franziskus hinüber. An
seinem Gesicht konnte ich ablesen, das er meine Gefühle genau
verstanden hatte.
Ich wusste, dass mit Sicherheit diese Gefahr noch immer
bestand und erzählte ihm von den Fluggeräten.
106
Soziale Kontakte
Es dauerte nicht lange, und Franziskus setzte seine Gedankenspiele zur Blutauffrischung in die Tat um. Etwa einen Tagesmarsch südlich lebte der Stamm der Zeitlosen. Als ich Franziskus nach dem Grund für den doch etwas sonderbaren Namen
fragte, meinte er nur, ich solle mich überraschen lassen. Auf
jeden Fall stellte unser Bürgermeister einen Trupp von zwanzig
Männern und Frauen zusammen, die sich mit Tauschware aus
unserem Dorf auf den Weg machen sollten.
Wir vier waren natürlich wieder dabei, auch wenn Sally und
ich allgemein als Paar galten. Samson und Pierre waren ebenso
Junggesellen wie die anderen Teilnehmer und unser riesiger
Freund war als Beschützer sowieso unentbehrlich auf solchen
Reisen. Sally und ich sollten uns wohl mehr um den Handel kümmern, damit unsere Mitbewohner „soziale Kontakte“ knüpfen
konnten. Doch noch war es nicht soweit. Bis zum Vollmond, an
dem der Markt bei unseren Nachbarn regelmäßig stattfand, war
noch eine Woche Zeit und es galt, Vorbereitungen zu treffen.
Für die Bewohner von Neu-Siegen war es die erste Veranstaltung dieser Art. Normalerweise tauschte man hier und da
Waren, die vorher mit dem Stammes-Oberhaupt des anderen
Ortes abgesprochen waren. Auf einem Markt hingegen kamen
Menschen aus vielen verschiedenen Orten zusammen und
jeder brachte mit, was er entbehren konnte.
Das fing bei lebenden Tieren an, über Felle bis hin zu Werkzeugen aus Metall. Auf einem derartigen Markt versorgten
die Einheimischen die Besucher mit Nahrungsmitteln – gegen
einen kleinen Obolus, versteht sich. Daher mussten alle Teilnehmer des Marktes ihre mitgebrachten Lebensmittel am Ortsrand
abliefern.
Während des zweitägigen Marktes waren nur Speisen vom
Stamm der Zeitlosen erlaubt. Damit dies auch eingehalten
wurde und nachts niemand am Ortsrand versteckte Lebensmittel einschmuggelte, patrouillierten ständig Wachposten rund
um das Dorf. Die Zeitlosen waren wirklich sehr geschäftstüchtig.
107
Niemand bekam einen Marktstand gestellt. Jeder musste, wenn
er seine Waren ordentlich präsentieren wollte, seinen eigenen
Stand mitbringen. Das bedeutete mehr Träger, was gleichzeitig
mehr Esser und größere Einnahmen für das Dorf einbrachte.
Doch viele Händler, auch nicht dumm, präsentierten ihre
Waren einfach auf mitgebrachten Decken und Fellen. Da wir
mit zwanzig Personen anrücken wollten, ließ Franziskus einen
tragbaren Stand von etwa drei Metern Länge und einem Meter
Breite bauen. Auch sollten wir nur einen kleinen Teil der Äxte,
Schaufeln und so weiter aus unserem kürzlichen Fund anbieten.
Diese Teile waren in der heutigen Zeit sehr wertvoll und Neider
gab es überall. Niemand sollte zu einer unüberlegten Tat verführt werden.
Neben den Arbeitsgeräten nahmen wir noch einige Krüge
verschiedenster Fruchtweine mit, die wir als Tauschmittel für
Nahrung und kleinere nützliche Dinge wie Nadeln, Garn und
Knöpfen vorgesehen hatten. Während Samson und die anderen
Begleiter den Verkaufsstand vorbereiteten, stellten Franziskus
und ich eine Liste mit Waren zusammen, die wir für unser Dorfleben dringend benötigten.
Diverse Gewürze, Metallnägel und etwas so profanes wie
Gummiringe für Einmachgläser. Gummi hatte in all den Jahren
so gut wie nie überdauert und war deshalb sehr wertvoll.
Vielleicht gab es ja einen Händler, der derartiges anbot. Auch
Zucker stand ganz oben auf der Liste, war es doch bisher der
Dorfgemeinschaft nicht gelungen, Zucker selbst herzustellen. Es
gab zwar Honig aus den Waben der wilden Bienen, aber der
war sehr begrenzt! Auch sollten wir versuchen, Samen einiger
Gemüsepflanzen zu ergattern. Ich hatte Franziskus von Tomaten
und Kopfsalat erzählt, die es im Dorf nicht gab.
Einen Tag vor Vollmond brachen wir auf. Es hatte hin und
wieder Kontakte zum Stamm der Zeitlosen gegeben und so war
der Weg bekannt und problemlos zu bewältigen. Wir erreichten am späten Nachmittag den Ortsrand. Hier wurden wir und
unsere Waren gründlich nach Nahrungsmitteln durchsucht. Vor
allem unsere Krüge mit den Fruchtweinen wurden argwöhnisch
108
betrachtet und Krug für Krug geschüttelt. Unsere wenigen mitgebrachten Lebensmittel wurden in Verwahrung genommen,
sie konnten nach dem Markt wieder abgeholt werden.
Wir marschierten im Gänsemarsch durch die Ortschaft. Die
ersten Häuser, die wir sahen, waren im Blockhausstil gebaut, sie
schienen recht neu zu sein. Sally stieß mich an und zeigte auf
die Eingangstür eines der Blockhäuser. Nein, nicht die Eingangstür war interessant, sondern das was sich darüber befand: Eine
Uhr ohne Zeiger! Zwar alt und verwittert, aber immer noch als
Uhr zu erkennen. Ich schaute mich um.
Über jeder Eingangstür hing eine große Uhr. Mal verwittert
aus Metall, mal etwas besser erhalten wohl aus Kunststoff, alle
ohne Zeiger. Die Zeitlosen! Das hatte Franziskus also gemeint.
Ich musste schmunzeln. Vielleicht hatte es hier mal eine Uhrenfabrik gegeben oder ein durchfahrender LKW, voll beladen mit
Uhren, hatte zur Zeit der Apokalypse seinen Geist aufgegeben.
Wir gingen weiter in Richtung Ortsmitte.
Hier standen Häuser aus Bruchsteinen, der alte Stadtkern.
Der Ort schien heute größer zu sein, als noch vor fünfhundert
Jahren. Das zeigten die vielen neueren Blockhäuser rund um
den alten Ortskern – eine Seltenheit in dieser Zeit. Vermutlich
hatte der regelmäßige Markt dazu beigetragen, die Einwohnerzahl zu erhöhen. Beeindruckend!
Eine Frau kam auf uns zu, fragte nach der Anzahl der Personen, ob wir ein Zelt dabei hätten und wie groß unser Stand sein
würde. Sie wies uns einen Platz zu, an dem schon einige Zelte
mit Verkaufsständen standen. Ware durfte erst am kommenden Morgen bei Sonnenaufgang ausgelegt werden. Sie vergaß
natürlich auch nicht, auf eine Schänke und diverse Stände mit
den Nahrungs-Angeboten hinzuweisen! Alles war sehr gut
durchorganisiert.
Da Sally und ich die nächsten Tage wohl meist hinter dem
Marktstand stehen würden, schickte uns Samson los, um den
Ort zu erkunden. Für den Aufbau von Zelt und Stand hatten
wir ja genügend Leute. Wir verließen die kleine Zeltstadt der
Händler und steuerten auf die Stände der Einheimischen zu, an
109
denen allerlei Köstlichkeiten angeboten wurden. Überall waren
einfache, aber stabile Tische und Bänke aufgebaut. Viele der
schon angereisten Händler saßen hier, aßen und tranken.
Überall wanderten als Zahlungsmittel kleine Metallstücke
oder irgendwelcher Krimskrams von einer Tasche in die andere.
Dieser Markt erinnerte mich sehr an den in Overath, den wir vor
einiger Zeit auf unserer Reise nach Kölle besucht hatten. Sally
und ich waren überwältigt von der Vielzahl der angebotenen
Lebensmittel. Sicherlich, Fleisch wurde fast überall angeboten,
aber auch Kartoffeln, Brot, Butter, Eier und die verschiedensten Gemüse! Ein Sammelsurium von Düften zog durch unsere
Nasen. Hier würden wir sicherlich auch Samen für unseren
Garten bekommen.
Ich bereute es ein wenig, keine Tauschobjekte in meiner
Tasche zu haben, bei all den tollen Angeboten lief mir das
Wasser im Munde zusammen. So ziemlich am Ende der Bewirtungsstände erlebten wir eine Überraschung. Ein etwa zwei
Meter großer Verkaufsstand handelte mit Gebäck und Obst.
Aber nicht das Gebäck war es, das mich magisch anzog, sondern der süße Duft, den es umgab.
In einem Topf neben dem Verkaufsstand köchelte auf kleiner Flamme ein brauner Sud, der mich an meine Kindheit erinnerte. Das musste Zuckerrübensirup sein! Als Kinder gab es am
Wochenende oft Brötchen mit Zuckerrübensirup auf dem Frühstückstisch. Herrlich! Sally hatte wohl meinen verlangenden
Blick bemerkt.
„Hey, dir läuft ja das Wasser aus dem Mundwinkel. Was
macht dich denn da so an? Die hübsche Verkäuferin oder das
braune Zeug in dem Topf?“
Ich schaute auf und sah die hübsche, mich anlächelnde
Person hinter dem Verkaufstisch. Sally war Engländerin. Ich
weiß nicht, ob es bei ihr Zuckerrübensirup gegeben hatte und
ihre Frage ignorierte ich.
„Das ist Zuckerrübensirup. Der schmeckt köstlich. Als Kind
habe ich ihn …“
„Ja, ja. Ist schon gut, mein kleiner Junge. Ich kauf dir deinen
110
Sirup.“ Sally kramte in ihren Taschen und holte einen kleinen
Metallring heraus, reichte ihn der Verkäuferin und deutete auf
ein Gebäckstück.
„Zweimal, aber bitte mit dem braunen Zeug.“ Die Verkäuferin
schüttelte mit dem Kopf und präsentierte Sally drei ihrer Finger.
Das war ein stolzer Preis. Sally schaute mich an, schaute in mein
sabberndes Gesicht und kramte zwei weitere kleine Metallstücke hervor.
Das Metall verschwand in der Hand des Mädchens. Sie nahm
zwei Gebäckstücke, tunkte sie kurz bis zur Hälfte in den braunen
Sud und reichte sie uns. Sally schaute mich an und stichelte:
„Wehe, dieser Sirup schmeckt nicht, Frank!“
Es schmeckte Ihr.
Der Abend ging schnell vorüber. Am nächsten Morgen
hatten Sally und ich alle Hände voll zu tun. Unsere Garten- und
Feldwerkzeuge waren begehrte Objekte. Obwohl Besucher aus
anderen Dörfern erst nach und nach eintrafen, war unser Stand
stets von Menschen umringt. Das lag daran, dass sich auch
viele Händler mit unseren Dingen bevorrateten, um sie später
gewinnbringend auf anderen Märkten weiter zu verkaufen. Es
wurde gefeilscht was das Zeug hielt, und so konnten wir eine
Menge Dinge auf unserer Einkaufsliste am Abend abhaken.
Wir waren total erschöpft, denn unsere „Freunde“ hatten
sich den ganzen Tag nicht blicken lassen. Anscheinend funktionierte das mit den sozialen Kontakten hervorragend. Nach einer
ausgiebigen Mahlzeit verkrochen wir uns todmüde ins Zelt, um
für den nächsten Tag gerüstet zu sein.
Am Morgen war Lagebesprechung. Ein Teil unserer Leute
sollten Ausschau nach Dingen halten, die wir noch nicht eingetauscht hatten. Die Anderen konnten sich wieder ihren Kontakten widmen. Gegen Mittag trafen wir uns wieder. Unser Stand
hatte außer ein paar Schaufeln und etwas Fruchtwein nichts
mehr zu bieten und wir beschlossen, ihn dicht zu machen.
Wir hatten fast alles bekommen, nur Zucker und einige
Gewürze fehlten noch. Gewürze würden wir hier wohl nicht
mehr in ausreichender Menge bekommen, aber wegen des
111
Zuckers hatte ich eine Idee. Ich drückte Sally zwei Krüge Fruchtwein in die Hand und nahm selbst zwei Schaufeln mit. Sally
schaute mich fragend an.
„Wohin geht’s denn?“
„Zum Zuckerrübensirup“, war meine knappe Antwort.
„Aha, zu der hübschen Blonden!“
Ich verdrehte in gespielter Verzweiflung die Augen, sagte
aber nichts. Sally hatte wohl die Ironie in meinen Augen nicht
bemerkt, biss sich deshalb wegen ihrer Bemerkung auf die
Lippen. Endlich! Endlich hatte ich es geschafft! Sally hatte sich
mit ihren spitzen Bemerkungen mal den Mund verbrannt. Sie
war eifersüchtig! Das ich das noch erleben durfte …
Wir näherten uns dem Stand mit dem Sirup. Großspurig sagte
ich zu Sally: „Überlass das Verhandeln mir, ich werde schon mit
der kleinen Blonden klar kommen!“
Wir verhandelten über eine viertel Stunde und einigten
uns schließlich auf einen Preis, der mir ziemlich hoch erschien.
Beide Schaufeln und einen Krug Fruchtwein gegen vier Krüge
Sirup. Als die hübsche Blondine die Ware aus dem hinter ihrem
Stand stehenden Schuppen holte, sah Sally mich vorwurfsvoll
an. Ich zuckte mit den Schultern und sagte nur: „Ist wohl ziemlich selten, dieser Sirup. Da muss man schon einmal tiefer in die
Tasche greifen.“
In diesem Moment schwang knarrend die Tür des Schuppens
auf und unser Blick fiel hinein. Hunderte von Krügen standen
dort und alle wohl mit Sirup gefüllt! Während die blonde Verkäuferin vier Krüge aus dem Schuppen holte, warf ich einen
verstohlenen Blick auf Sally. Sie konnte sich kaum noch beherrschen. Ihr Grinsen reichte ihr bis zu den Ohren. Auf dem Weg zu
unserem Zelt konnte sie sich nicht mehr beherrschen:
„Ziemlich selten, der Sirup“, äffte sie mich nach und: „überlass das verhandeln mir … ich werde mit der Blonden schon klar
kommen …“ prustete sie heraus.
„Verdammt“, dachte ich, „wieso schaffe ich es immer wieder,
mich vor Sally lächerlich zu machen?“ Sie sah meinen Frust und
hauchte mir zum Trost einen Kuss auf die Wange.
112
Sie konnte in mir lesen wie in einem Buch! Als wir zurück zum
Zelt kamen, erwarteten uns Samson und Pierre schon. Irgendwie
sahen beide nicht mehr so fröhlich aus, wie noch am Morgen.
Bevor ich sie fragen konnte, kam mir Pierre zuvor. „Lasst uns
unter die Leute mischen und einen Trinken gehen. Wir haben
euch was zu erzählen.“
Wir reichten die Krüge mit dem Zuckerrübensirup an einen
unserer anderen Mitbewohner weiter und gingen hinter Samson
und Pierre her. Er steuerte schnurstracks durch das Gedränge
auf einen Stand zu, an dem noch eine Bank und ein Tisch frei
waren. Samson bestellte Bierra, eine Art Gerstenwein, für uns
alle und legte einige Metallstücke auf den Tisch. Ein Metallstück
blinkte irgendwie anders.
„Moment, das ist Gold, das ist viel zu wertvoll“, rief ich aus,
doch Samson zuckte mit den Schultern. „Frank, das ist Metall,
genauso wie jedes andere Metallstück. Es glänzt nur etwas
mehr!“
Ich wurde mir meiner Dummheit bewusst. Ob Gold, Silber
oder Blech, in dieser Zeit war jedes intakte, nicht verrostete
Metall gleich viel Wert. Bisher hatten wir noch niemanden
getroffen, der Metall aus Erz gewinnen konnte, selbst die Eisenmenschen formten ihre Werkzeuge aus altem Schrott!
Nachdem Pierre einen tiefen Schluck aus seinem Krug
genommen hatte, schaute er uns an und begann zu erzählen:
„Ich hatte gerade eine Menge Spaß mit einer hübschen
Rothaarigen. Wir saßen an diesem Tisch, als ich zufällig Zeuge
eines Gesprächs am Nachbartisch wurde. Dort saß ein fahrender Händler, der schon einiges getrunken hatte und von seinen
Reise-Abenteuern prahlte. Ich war so erschrocken über das,
was er erzählte, dass ich meine kleine Begleiterin vom Schoß
stieß und aufsprang. Was mir eine Ohrfeige einbrachte und mir
heute Nacht wohl ein einsames Lager bescheren dürfte.“ Er fuhr
sich mit seiner Hand über die Wange und dachte wohl kurz über
die verpasste Gelegenheit nach.
„Wie dem auch sei. Ich setzte mich zu ihm, bestellte ein paar
Runden Bierra und quetschte ihn aus.“ Wieder machte Pierre
113
eine Pause, nahm einen kräftigen Schluck und fuhr dann fort.
„Er erzählte von einer Reise zu einem Markt, als er unweit von
einem kleinen Örtchens namens „Attadorn“ eine seltsame
Beobachtung machte.
Es war der Abend vor der Sommersonnenwende vor zehn
oder elf Monaten, kurz bevor es dunkel wurde. Der Händler
wollte sich gerade in sein Zelt zurückziehen, als am Himmel
merkwürdige Gebilde erschienen. Sie kamen immer näher und
er beschrieb sie mir als schwarze Flugdrachen. Sie kamen aus
allen Himmelsrichtungen und hatten als Ziel wohl Attadorn,
denn sie flogen alle in diese Richtung. Kurze Zeit später war der
Spuk vorbei.
Er zählte mehr als vierzig Flugdrachen. Er und seine Kollegen
packten daraufhin ihre Sachen zusammen und verschwanden
aus der Gegend. Ich habe ihn noch dazu überreden können, mir
eine Wegbeschreibung nach Attadorn zu geben. Ich habe sie
aufgezeichnet. Das war’s! Was haltet ihr davon?“
Es herrschte betretendes Schweigen am Tisch, jeder hing
seinen Gedanken nach. Mir wurde sofort mein ungutes Gefühl
bewusst, das ich noch vor ein paar Tagen bei diesem Gespräch
mit Franziskus gehabt hatte. Verdammt!
Sally bekam zuerst ihre Gedanken in den Griff: „Er erzählte
vom Abend vor der Sommersonnenwende und von über vierzig
Flugdrachen?“ Pierre nickte kurz.
„Das ist nicht gut“, flüsterte Sally kaum hörbar, „das hört sich
für mich nach einer Versammlung der 48 – nein, es sind ja nur
noch 47 – Gen-Mutanten an.“
114
Neue Pläne
Ich hielt Pierres Karte in der Hand und hatte einen Stapel
Papiere vor mir liegen. Vor einer Woche waren wir von den
Zeitlosen in unser Dorf zurückgekehrt. Die Reise war eigentlich
ein voller Erfolg gewesen. Unsere Begleiter hatten einige Kontakte geknüpft und eine Frau war sogar spontan mit uns gegangen, um ihren neuen Freund und unser Dorf besser kennen
zu lernen. Franziskus war sehr zufrieden – nicht nur mit den
geknüpften Kontakten, sondern auch mit den eingetauschten
Waren.
Dennoch – seitdem hatte ich kaum noch geschlafen. Mir
gingen immer wieder diese Gen-Mutanten durch den Kopf. Der
Stapel Papiere vor mir war unser Mitbringsel aus Kölle. Damals
hatte sie niemand gelesen, wir hatten einfach die Nase voll
gehabt von dem ganzen Thema. Jetzt sah die Sache anders aus.
Mehrfach hatte ich alles durchgearbeitet, um mehr über den
Ort Attadorn und eine eventuelle Versammlung dieser Mutanten herauszufinden.
Ich schaute auf meine Notizen, die ich gemacht hatte – viel
war es nicht. Ich beschloss, heute Abend mit Franziskus und
meinen Freunden darüber zu reden.
*
Wir trafen uns in meinem neuen Büro. Franziskus hatte es mir
vor einigen Tagen einrichten lassen. Mein neuer Job als so
etwas wie ein stellvertretender Bürgermeister hatte dies mit
sich gebracht. Auch bei mir stapelte sich inzwischen schon jede
Menge an Papieren, wenn auch weit weniger als bei Franziskus.
Als sich alle einen Platz gesucht hatten, begann ich sofort mit
meinem Bericht.
„Die Geschichte des fahrenden Händlers bei den Zeitlosen
scheint sich zu bestätigen. In den Unterlagen aus Kölle habe
ich Hinweise darauf gefunden, dass sich die ursprünglich 48
Gen -Menschen einmal im Jahr an einem geheimen Ort bei
Attadorn treffen. Die Mutanten haben Europa praktisch unter
sich aufgeteilt, jeder hat seinen eigenen Wirkungsbereich. Ihr
115
Ziel ist die komplette Ausrottung der überlebenden Menschen.
Wir normalen Menschen verursachen bei ihnen körperliche
und seelische Schmerzen. Daher trug der Gesichtslose Weiße
auch diesen Schutzanzug bei unserer Begegnung. Ohne so
einen Anzug können sie sich nur unter starken Medikamenten
in unserer Nähe aufhalten. Ihre eigenen Nachkommen aus den
vergangenen fünfhundert Jahren sind davon seltsamerweise
nicht betroffen.
Es existieren übrigens auf den britischen Inseln schon ein
paar tausend derartige Mutanten-Nachkommen. Dort lebt
praktisch kein einziger Mensch der alten Rasse mehr. Irgendwann wollen sie wohl später auch das Festland besiedeln. Aber
das spielt für uns ja im Moment noch keine Rolle. Viel mehr
habe ich nicht herausbekommen können.
Wir haben nur folgende Fakten:
1. Einmal im Jahr – vermutlich zur Sommersonnenwende –
treffen sich diese 47 Weltzerstörer irgendwo in der Nähe dieses
Ortes Attadorn.
2. Wir wissen nicht, ob sie dabei Begleiter haben – und wenn
ja, wieviele. Weiterhin wissen wir nicht, wo genau das Treffen
stattfindet.
3. Sollen wir etwas gegen diese Verbrecher unternehmen und
wenn ja, wie könnte das gelingen? Wir sind zu schwach, um sie
im Kampf zu besiegen. Trotz Samsons riesiger Kräfte hat er nur
mit Mühe gerade einen von ihnen erschlagen können. Wir normalen Menschen hätten keine Chance gehabt. Außerdem: Falls
wir wirklich ihren Aufenthaltsort finden können, wie verbergen
wir uns vor ihnen, denn sie spüren ja unsere Annäherung!“
*
Eine Weile sagte keiner von den anderen etwas. Dann warf
Samson die erste Frage in die Runde: „Wohnten früher viele
Menschen in diesem Ort „Attadorn“ und ist es möglich, dass es
dort noch eine Kolonie der Menschen gibt?“
Bevor ich antworten konnte, meldete sich Sally zu Wort: „Ich
bin einmal dort gewesen. Es war ein früher ein kleines Städtchen mit ein paar tausend Einwohnern. Damals hieß es noch
116
Attendorn. Gut möglich, das heute noch eine Siedlung existiert.
Außerdem, Pierre, wenn ich mich recht erinnere, sagtest du
doch, dieser fahrende Händler habe nach Attadorn gewollt?“
Pierre schaute überlegend an die Decke meines Büros.
„Genau, Sally. Du hast recht. Ich habe mir noch einmal den
Wortlaut überlegt – er wollte nach Attadorn! Es muss also dort
eine Siedlung geben. Aber warum sollten diese Gen-Menschen
in der Nähe einer Siedlung ihre Versammlung abhalten? Das ist
doch unlogisch, es würde sie doch stören!“
Franziskus hatte sich bisher zurückgehalten, aber ich sah ihm
an, dass er nun einen Gedanken hatte.
„Franziskus, du hast eine Idee?“
„Nun ja. Ich kenne diese Leute nur aus euren Erzählungen,
doch zwei Dinge sind mir aufgefallen: Vielleicht ist eine gewisse
Entfernung zu den Menschen wichtig, damit sie kein Unwohlsein spüren. Zweitens gibt es ja in Attadorn möglicherweise
einen Ort, der sie von den Menschen abschirmt. Irgendein
Gebäude mit sehr dicken Mauern. Oder eine …“
„Genau, eine Höhle!“, vollendete ich den Satz. „Attadorn ist,
oder vielmehr war früher, weltberühmt für seine Tropfsteinhöhle. Ein kilometerlanges Höhlensystem, unter einem Bergzug
gelegen. Das muss es sein!“
Urplötzlich schoss mir der Satz der Hexe, die Samson und
ich damals während der Jagd-Exkursion getroffen hatten, durch
den Kopf: „Hütet euch vor den Fremden in der großen Höhle,
sie wollen euch töten!“
Meine Nackenhaare stellten sich auf und es kribbelte unangenehm in meinem Genick. Ich schaute Samson an, er schien
den gleichen Gedanken zu haben, sagte aber nichts.
Ein zustimmendes Gemurmel hatte eingesetzt, doch plötzlich stand Pierre auf und aller Augen richteten sich auf ihn.
„Stopp! Hier sollten wir aufhören. Ihr redet so, als wäre es
beschlossene Sache, nach Attadorn zu gehen und die Mutanten
mal eben so im Vorbeigehen zu erledigen. Aber eines ist doch
klar: Wir können dort nicht mit einer Armee von Neu-Siegenern
und anderen Verbündeten auftauchen. Sie würden unsere
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Anwesenheit sofort bemerken. Also kämen nur wir vier infrage.
Bis zur Sommersonnenwende sind es noch drei Wochen. Wir
benötigen für den Weg dorthin vielleicht fünf, sechs Tage. Zeit
genug wäre also noch. Ich kann nur für meine Person sprechen.
Wollen wir denn wirklich dieses Risiko eingehen? Es wäre vielleicht ein Todeskommando, außerdem: Wie sollen wir sie ausschalten? Ich fühle mich hier sehr wohl und möchte vielleicht
eine Familie gründen. Wollen wir das wirklich alles aufgeben?
Lasst uns in einer Woche nochmals hier treffen. Jeder sollte sich
gründlich Gedanken darüber machen.“
Er drehte sich um und verließ den Raum. Wir waren alle sehr
nachdenklich geworden. Nach und nach verließen auch Franziskus, Samson und zuletzt Sally mein Büro.
In den nächsten Tagen gingen wir uns alle irgendwie aus dem
Weg. Auch Sally und ich sprachen nicht über unser Problem. Ich
vergrub mich noch mehr in meine Arbeit als Organisator des
Dorflebens. Wenn es die Zeit zuließ, las ich immer wieder die
alten Papiere aus Kölle durch. Ich hoffte, doch noch irgendetwas zu finden, das uns die Entscheidung erleichtern könnte.
Auch wenn ich schon spät nach Hause kam, Sally kam noch
später in unser kleines Zimmer. Sie arbeitete wie besessen an
ihren Hausprojekten und fiel abends todmüde neben mir ins
Bett.
Franziskus bemerkte natürlich auch, dass wir uns aus dem
Wege gingen. Am fünften Tag nach unserem Gespräch ordnete
er einen kleinen Jagdausflug an. Das Ziel: Vergrößerung unserer kleinen Eselschar. Franziskus betonte die Wichtigkeit des
Unternehmens. Schließlich wolle man Neu-Siegen mehr nach
außen öffnen, um eine Inzucht zu vermeiden. Man würde also
mehr Handel treiben und die Tiere wären für den Transport der
Waren ideal.
Und wenn man genug Esel gezüchtet hätte, könnte man die
Tiere auch gegen Waren eintauschen. Niemand in der näheren
Umgebung besaß Esel. Ich hatte allerdings die leise Ahnung,
dass mehr hinter diesem Auftrag steckte.
Er wollte uns die Entscheidung „Attadorn“ erleichtern. Jeder
118
einzelne hatte genug Zeit gehabt, um darüber nachzudenken,
nun sollten wir gemeinsam entscheiden. So ein kleiner Ausflug
war ideal, um wieder ins Gespräch zu kommen.
Meine liebe Sally war überhaupt nicht begeistert über unser
Vorhaben und murmelte etwas von: „ … noch nicht fertig sein
... “. Franziskus nahm sie beiseite und überredete sie schließlich. Als ich sie danach fragte, winkte sie nur ab. Auch wenn
dies keine Jagd im herkömmlichen Sinne war – wir wollten die
Tiere ja nur fangen, und nicht erlegen – rüsteten wir uns aus wie
immer. Neben den üblichen Waffen nahmen wir eine Menge
starker Seile mit. Wir wussten schließlich, wie störrisch die
wilden Esel sein konnten.
Rückkehr zu den grauen Bestien
Da wir von unserer letzten Esel-Jagd den ungefähren Standort
der Herde kannten, machten wir uns ohne Umwege direkt dorthin auf. Wir waren bisher nur einmal in dieser Region gewesen
und kannten deshalb kaum die Gefahren, die uns möglicherweise erwarten konnten.
Besondere Vorsicht war also angesagt. Samson, nach wie
vor immer darauf bedacht, unsere Instinkte zu schulen, ließ uns
abwechselnd die Führung übernehmen.
Als ich an der Reihe war, bekam ich leichte Schwierigkeiten
mit der Orientierung. Allerdings hatte ich eines gelernt: Es ist
immer besser, zweimal zu überlegen, in welche Richtung man
geht, als sich einmal zu verirren. So dauerte es zwar etwas
länger, aber schließlich stießen wir auf Spuren der Esel. Wir
alle begutachteten sie und wir waren uns schnell einig: Diese
Fährten waren mindestens einen Tag alt, wir würden ihnen also
folgen müssen. Damals war es eine große Herde von ungefähr
achtzig Tieren gewesen, es schien sich hier wieder um dieselbe
zu handeln. Die Verfolgung der Spuren war durch die große
Zahl der Tiere sehr einfach. Schon gegen Abend hatten wir die
119
Esel-Herde gefunden. Wahrscheinlich weideten die Tiere nur
in einem sehr begrenzten Gebiet und waren deshalb noch von
niemandem außer uns entdeckt worden.
Wenn Neu-Siegen eine Eselzucht zustande bringen würden,
war das von sehr großer Bedeutung für das Dorf. Da hatte Franziskus auf jeden Fall recht. Wir beschlossen, in der Nähe der
Weidegründe unser Nachtlager aufzuschlagen, um morgens in
aller Frühe losschlagen zu können. Ein kleines, rauchloses Feuer
war schnell entfacht, natürlich weit genug von der Herde entfernt. Wir wollten schließlich nicht riskieren, dass sich die Esel
über Nacht verzogen. Die Vorgehensweise musste genau überlegt werden.
Beim letzten Mal hatten wir uns alle mehr oder weniger
starke Blessuren zugezogen, die grauen Biester hatten uns ganz
schön zu schaffen gemacht. Diesmal wollten wir es geschickter
anstellen. Die zusätzlich mitgebrachten Seile würden uns dabei
von Nutzen sein. Die Wiese war links und rechts von dichtem
Gebüsch mit dahinter liegendem Wald umgeben. Ein kleiner Vorteil für uns. Die Esel hatten also nur zwei Fluchtmöglichkeiten.
Noch vor Sonnenaufgang brachten wir in einem der Fluchtwege einige Seile trichterförmig an. Am Ende des Trichters
ließen wir einen schmalen Durchgang offen, dahinter wurde
dann ein kleines Areal mit Seilen abgegrenzt, um den Eseln den
Fluchtweg zu versperren. Verstärkt wurde es mit einigen frisch
geschlagenen Ästen.
Unser Plan sah folgendes vor: Mit drei Leuten wollten wir
einen Teil der Herde in Richtung Trichter treiben. Der letzte von
uns sollte versteckt am Trichterende stehen, um ihn mit einem
Seil zu verschließen, wenn genügend Esel in unsere Koppel
eingedrungen waren. Dann würden wir Zeit genug haben, um
die Esel Tier für Tier einzufangen. Wir wollten etwa zehn der
Tiere fangen, mehr konnten wir sowieso nicht zurück nach Neu
-Siegen bringen.
Getarnt hinter einigen Büschen hatte Sally die Position am
Trichterende bezogen. Sobald wir die Esel in das Areal getrieben
hatten, brauchte sie nur ein vorbereitetes Seil hochzuziehen
120
und es mit den anderen Seilen zu verknoten. Die Esel wären in
dem kleinen Areal eingesperrt.
Samson, Pierre und ich schlichen zur anderen Seite der
Herde. Wir hatte kleine Fackeln vorbereitet, um die Herde mit
ein wenig Qualm in die richtige Richtung treiben zu können. Wir
zündeten die Fackeln an und verließen wild schreiend unsere
Deckung. Sofort ging ein Ruck durch die Herde und sie geriet
in Panik. Doch die Tiere rannten nicht wie erhofft auf unser
Trichterende zu, sondern stoben nach allen Seiten davon, ohne
Rücksicht auf uns oder das dichte Buschwerk zu nehmen.
Nur mit Mühe schafften wir es, nicht über den Haufen
gerannt zu werden. Wie die Hasen sprangen wir zur Seite und
wichen ihren nach allen Seiten tretenden Hufen aus. Nachdem
der größte Schwung an Eseln entkommen war, erhoben wir uns
fluchend. Doch wir hatten Glück. Wir erkannten schnell eine
neue Möglichkeit und konzentrierten uns auf eine Gruppe, die
dem Trichter am nächsten stand. Wir breiteten die Arme mit
unseren Fackeln aus, bildeten eine Kette und trieben so eine
kleine Anzahl in das Areal. Sally verschloss es. Geschafft!
„Verdammt! Wir haben einen Fehler gemacht“, rief Samson
ärgerlich, „das hätte böse enden können. Wir wussten nichts
über das Fluchtverhalten der Tiere.“
Während wir uns die Grasbüschel aus den Kleidern schüttelten, kam Sally auf uns zu. „Alles in Ordnung? Das sah gefährlich
aus!“
„Alles okay“, versicherte ich ihr, „wie viele haben wir denn
gefangen?“
„Es sind zwölf, darunter ein Junges. Aber so genau hab ich
sie mir noch nicht angeschaut. Hoffentlich sind nicht zu viele
Hengste darunter.“
Wir schauten uns gemeinsam unseren Fang an. Dabei waren
drei Hengste, einer davon war schon ziemlich alt, einer wohl
gerade geschlechtsreif und der letzte noch relativ jung. Von den
neun übrigen Tieren wurde eines noch gesäugt. Glücklicherweise hatten wir aber Mutter und Kind zusammen erwischt.
Blieben noch sieben Stuten, zwei davon schon ziemlich betagt.
121
Wir beschlossen, sie erst einmal in Ruhe zu lassen, bevor wir
sie endgültig festbinden wollten. Wir aßen und tranken etwas
und überlegten uns, welche der Tiere uns begleiten sollten. Die
beiden älteren Hengste und die beiden älteren Stuten würden
wir wieder in die Freiheit entlassen. Damit hatten wir zwar zwei
Tiere weniger als geplant, aber angesichts unserer nicht besonders gut ausgeklügelten Jagdmethode war das Unternehmen
doch noch als Erfolg zu bezeichnen. Man lernt halt nie aus. Mit
so einem Fluchtverhalten der Esel hatten wir nie und nimmer
gerechnet!
Wir schafften es schließlich ohne größere Probleme, die
vier überzähligen Tiere auszusondern und unseren Fang sicher
anzuleinen. Dennoch hatte uns das so viel Zeit gekostet, dass
es darüber Abend wurde. Nach der Mahlzeit teilten wir unsere
Nachtwache wie üblich ein, Samson begann, gefolgt von Pierre
und schließlich Sally. Die letzte Wache war meine Aufgabe. Als
sie mich kurz vor dem Morgengrauen weckte, legte sie sich
nicht gleich schlafen, sondern ging mit mir auf die Runde. Wir
schritten schweigend nebeneinander her. Sie sah mich immer
wieder prüfend an. Ich wusste, ihr brannte etwas auf den
Lippen. Schließlich überwand sie sich.
„Was denkst du? Hast du dich schon entschieden?“ Obwohl
ich die Frage erwartet hatte, druckste ich herum.
„Ich weiß noch nicht. Es ist sehr gefährlich, wir könnten alle
sterben. Du könntest sterben!“
„Hör bitte auf, Frank! Du hast dich doch bereits von Anfang
an entschieden. Du wirst auf jeden Fall nach Attadorn aufbrechen. Und Samson wird mit dir gehen, egal ob Pierre und ich
dabei sind!“
Ich blieb stehen, schaute sie an und nahm ihr Gesicht in
meine Hände.
„Sally, du weißt, ich liebe dich. Du hast recht, ich werde
gehen. Und ich möchte, dass du in Neu-Siegen bleibst.“
Nun war es heraus. Sie sah mich einen Moment lang an. Es
schimmerte feucht in ihren Augenwinkeln. Dann entwand sie
sich aus meinem Griff und ging zurück zum Lager. Sie schien
122
mich verstanden zu haben, ich wollte nicht, dass sie mit nach
Attadorn ging. Ich war erleichtert.
Kurz darauf ging alles wieder seinen gewohnten Gang. Nach
der Katzenwäsche wurde gefrühstückt. Wir hauten ordentlich
rein. Vom letzten Eseltransport wussten wir ja, wie schwierig er
werden konnte. Das Mittagessen würde wohl ausfallen, wenn
wir heute Abend noch unser Dorf erreichen wollten.
Anfangs gestaltete sich unser Viehtransport noch recht
schwierig. Erst als wir die Eselin mit dem Jungen an die Spitze
unseres Zuges stellten, kamen wir ohne größere Probleme voran
und erreichten Neu-Siegen schon am späten Nachmittag. Die
neue und alte Eselschar wurde neu aufgeteilt. Die beiden trächtigen Tiere, die Mutter mit dem Jungen und der junge Hengst
bekamen eine eigene kleine Weide und ein separates Stallabteil.
Die neuen Eselinnen bekamen eine andere Weide zugeteilt, die
zur Freude unseres alten Hengstes direkt an seinem Stall lag,
wenn auch noch durch einen Balken getrennt. Schließlich sollten sich die Neuankömmlinge erst einmal eingewöhnen, ohne
direkt mit dem Temperament unseres ersten Zuchtesels konfrontiert zu werden. Das gefiel ihm natürlich überhaupt nicht.
Er blökte und jammerte die ganze Nacht hindurch mit einer
Lautstärke, die ganz Neu-Siegen nicht schlafen ließ.
Am nächsten Morgen ging Franziskus kurzerhand zum Stall
unseres jammernden Esels und entfernte den Balken. Das
Geschrei hörte augenblicklich auf und das Tier nahm mit Begeisterung die Arbeit auf, für die es gedacht war: Die Zucht!
Entscheidung
Nach dem Abendessen trafen wir uns im Büro von Franziskus.
Wir setzten uns und unterhielten uns noch kurz über den Eselfang. Nach einer kurzen Pause sprach er uns an und seine Augen
richteten sich auf mich.
123
„Nun, wie habt ihr euch entschieden?“
„Ich werde gehen“, war meine knappe Antwort.
Sein Blick wanderte weiter zu Samson, der nur kurz nickte.
„Und wie sieht es mit dir aus, Pierre?“
Der holte tief Luft und verdrehte die Augen. „Ich kann diese
beiden Anfänger doch nicht alleine auf die Gen-Mutanten loslassen. Ohne mich wären sie ja verloren.“ Ein breites Grinsen
durchzog sein Gesicht.
Ich erhob mich und hielt die Sache für beendet. Sally würde
hier bleiben, so dachte ich. Franziskus aber war da anderer
Meinung.
„Frank, setz dich wieder hin. Wir sind noch nicht fertig“, kam
es ungewöhnlich scharf aus seinem Mund. Etwas verwundert
ließ ich mich wieder auf den Stuhl fallen. Unser Bürgermeister
fuhr fort: „Sally, wir haben von dir noch keine Antwort erhalten.“
Sie schaute zu ihm und dann zu mir. Ihre Augen funkelten
mich an und ich ahnte schon, was kommen würde. „Natürlich bin ich dabei. Auch wenn es hier eine Person gibt, die das
anders sieht!“
Franziskus seufzte: „ Nun gut, ihr hattet Zeit genug, es euch
zu überlegen. Ich hätte es lieber, wenn ihr hier bleiben würdet,
doch ich kann euch auch verstehen. Solange es diese Mutanten gibt, wird es keinen Frieden geben. Versprecht mir nur, vorsichtig zu sein und umzukehren, wenn ihr keine Möglichkeit zur
Lösung des Problems seht. Habt ihr mich verstanden?“
Wir nickten ihm zu.
„In zwei Wochen ist Sommersonnenwende. Eure Reise wird
maximal eine Woche dauern. Ihr solltet Attadorn zwei bis drei
Tage vorher erreichen, um vielleicht vor Ort einen guten Plan
entwickeln zu können. Ihr seid für die nächsten drei Tage von
euren Pflichten freigestellt. Spannt aus, erholt euch oder macht
sonst was. Ihr solltet frisch und ausgeruht an eure Aufgabe
herangehen.“
Damit war alles gesagt.
Die nächsten drei Tage verbrachten Sally und ich fast ununterbrochen gemeinsam. Nur einmal trennten wir uns. Sie wollte
124
noch einmal kurz nach dem Hausprojekt sehen, während ich
mit Franziskus noch einige Dinge Verwaltungs-technischer Art
besprach. Wenn sich meine Befürchtungen bewahrheiteten,
musste er sich wohl oder übel schon wieder nach einem neuen
Mitarbeiter umsehen.
Auch wenn ich von Sallys Entscheidung nicht begeistert war,
so konnte ich ihr doch nicht böse sein. Insgeheim war ich froh,
dass sie bei mir war. Wir vertrieben uns die Zeit bis zum Aufbruch mit langen Spaziergängen, gutem Essen und ausgiebigem
Sex!
Die drei Tage und Nächte vergingen wie im Flug. Franziskus
hatte zusammen mit Samson unsere Ausrüstung zusammengestellt. Wir bekamen die beste Waffen, die Neu-Siegen zu bieten
hatte. Nagelneue Seile, Speere und Bögen mit wunderbar austarierten Pfeilen mit Eisenspitzen, fantastische Messer und Äxte
von den Eisenmenschen und sogar den einzigen Klappspaten
aus unserem jüngsten Fund.
Pierre hatte die Karte, die uns nach Attadorn bringen sollte,
noch einmal überarbeitet. Ein alter Autoatlas aus der Zeit des
Gründers von Neu-Siegen, Franz Gross, war ihm da besonders
hilfreich gewesen. Auch wenn die meisten dort verzeichneten
Orte nicht mehr existieren sollten, so konnten wir doch anhand
der Straßenverläufe unseren Weg finden. Wir waren bestens
ausgerüstet! Noch 10 Tage bis zur Sommersonnenwende!
Bekannte Orte (1.Tag)
Der Abschied von Neu-Siegen fiel schwer. Selbst die größten
Optimisten im Dorf verabschiedeten uns meist stumm und
mit einem leicht verlegenen Blick. Franziskus umarmte uns. Zu
uns allen gewandt, wiederholte er seine Warnung, nicht zuviel
zu riskieren und lieber umzukehren, als einen aussichtslosen
Kampf zu führen.
Eine Weile marschierten wir, ohne ein Wort zu verlieren.
125
Jeder hing seinen Gedanken nach. Der erste Teil der Strecke war
uns bekannt.
In Mühleip war der riesige Stier gewesen, den Samson nur
Dank seiner gewaltigen Kraft besiegen konnte. Auch fiel mir
die VW-Sammlung und der etwas abseits gelegene Hof mit den
niedrigen Decken ein. Diesmal würden wir dort nicht übernachten, er lag zu nah an Neu-Siegen.
Unser heutiges Tagesziel war Eitorf, an diesem Ort waren
wir damals nur vorbeigewandert. Wenn ich mich recht erinnerte, gab es dort zwar keine Menschen, aber einige Gebäude,
die zur Übernachtung taugten. Von da an waren es laut alter
Karte noch ungefähr sechzig Kilometer bis Attadorn, das früher
einmal Attendorn hieß.
Viele kleine Orte würden wir auf dem Weg dorthin passieren.
Allesamt unbekanntes Gebiet mit ebenso unbekannten Gefahren. Pro Tag lag eine Wegstrecke von zehn bis fünfzehn-, vielleicht auch zwanzig Kilometern vor uns. Je mehr unberührter
Urwald, desto langsamer würde es voran gehen. Einige Erfahrungen gab es ja schon von unserem Weg von Grissenbach nach
Neu-Siegen. Auf jeden Fall sollte es uns möglich sein, binnen
einer Woche Attadorn zu erreichen. Dann würden wir noch drei
Tage Zeit haben bis zur Sommersonnenwende.
Eitorf wurde schon am frühen Nachmittag erreicht. Eigentlich hätten wir es bis Sonnenuntergang sogar noch ein paar
Kilometer weiter geschafft, aber unsere ungewohnt schweren
Rucksäcke drückten für den ersten Tag der Reise ganz ordentlich auf unsere Schulterblätter. Morgen würde es besser gehen.
Wir bezogen unser Nachtlager in einem alten Bruchsteingebäude am Ortseingang von Eitorf. Zumindest schien dies der
Ortseingang gewesen zu sein. Nach über fünfhundert Jahren
war so etwas nur schwer einzuschätzen. Überall vor uns lagen
kleine überwucherte Hügel, vermutlich Überreste alter Häuser.
Die alte Straße war nur noch zu vermuten, weil links und rechts
eben diese kleinen Hügel zu sehen waren.
Ein kleiner Bach plätscherte einige Meter neben unserer
Bleibe vor sich hin. Für frisches Trinkwasser war gesorgt.
126
Ich kramte den alten Autoatlas aus meinem Gepäck. Er war
noch erstaunlich gut erhalten, bestand er doch aus dem damals
neuartigen Kunststoff-Papier, das ab 2016 praktisch über Nacht
die übliche Papier-Herstellung überflüssig machte.
Ein Blick auf die ersten Seiten bestätigte meine Vermutung:
Hergestellt 2018. Eitorf wurde mit einigen Zeilen erwähnt. Der
kleine Bach dürfte der Eipbach sein. Weiter war zu lesen: Die
höchste Erhebung ist der „Große Schaden“ mit 388 m über NN.
„Toller Name!“, murmelte ich. Einwohnerzahl: 18.777. „Na, das
hat sich wohl erledigt“. Sehenswürdigkeiten: Kloster Merten,
Burg Merten, Jüdischer Friedhof und die über 260 Jahre alte und
26 m hohe Stieleiche. Ich schaute mich um. Von einem Kloster,
Friedhof oder einer Burg war nichts zu sehen, vielleicht standen
sie etwas abseits. Und eine 26 m hohe Stieleiche würde heute
kaum auffallen, die meisten der Bäume, die uns hier umgaben,
waren höher und viele sicherlich auch älter. Die Natur hatte in
den letzten fünfhundert Jahren gewaltig zugelegt.
Ich lief einige Meter auf der vermeintlichen Straße entlang.
Keine Spur von Leben. Hier schien seit der Apokalypse niemand
mehr gewesen zu sein. Das bereitete mir einige Sorgen über den
Zustand des weiteren Weges. Wenn hier schon kaum ein Weg
zu erkennen war, wie würde es erst aussehen, wenn wir weiter
Richtung Attadorn gingen. Nach Eitorf würden viele kleinere
Ortschaften folgen. Eine Straße würde kaum noch zu erkennen
sein. Nun, wir hatten ja Samson. Er besaß einen fantastischen
Orientierungssinn. Ich schlenderte weiter und stoppte nach
etwa hundert Metern überrascht.
Rechts von mir tat sich ein weitgehend baumloses Gelände
auf. In Reih und Glied standen hier kleine, von Gras überwucherte Hügel. Irgendwie erinnerten mich die kleinen Hügel an
einen englischen Park, in dem hunderte Buchsbäume fein säuberlich zu Figuren zurechtgeschnitten waren. Ich ging näher
heran und schaute genauer hin. Natürlich! Ein altes Einkaufszentrum oder eine Autohandlung! Auf dem Parkplatz mussten
damals rund einhundert Autos gestanden haben, als die Katastrophe eintrat. Mit den Jahren hatte sich Erde auf und an den
127
Autos angesammelt, die wiederum von Gras bewachsen wurde.
Die Natur hatte sich hier ein eigenes Kunstwerk geschaffen.
Wunderschön und doch makaber, wenn man an die Ursache
dachte. Ich beschloss, meine kleine Exkursion zu beenden und
zu meinen Freunden zurückzukehren.
Ein kleines Feuer brannte draußen vor unserer Übernachtungsstätte. Ein am Spieß bruzzelnder Hase oder so etwas ähnliches verbreitete den angenehmen Geruch von gebratenem
Fleisch. Überrascht schaute ich meine Freunde an.
„Er ist mir praktisch vor die Füße gelaufen und hat darum
gebettelt, gebraten zu werden“, war Pierres schnodderige Antwort auf mein fragendes Gesicht. Ich setzte mich dazu.
„Habt ihr euch schon mal darüber Gedanken gemacht,
was wir eigentlich machen wollen, wenn wir den Mutanten
begegnen?“
Es war Samson, der mir antwortete. „Eins ist doch klar.
Wir müssen die Mutanten aufhalten, sonst ist die gesamte
Menschheit in Gefahr. Es wird sich mittlerweile herum gesprochen haben, dass einer von ihnen getötet wurde. Wahrscheinlich wissen sie nicht von wem, aber dass er aus diesem Gebiet
kommen muss, ist klar. Sie werden nach den Tätern suchen. Mit
ihren technischen Möglichkeiten werden sie früher oder später
den Weg nach Neu-Siegen finden. Und wenn sie uns dennoch
nicht finden sollten, werden sie vielleicht einfach eine ihrer
Bomben werfen und alles auslöschen. Nach euren Schilderungen können diese Bomben riesige Gebiete zerstören.“
Sally, Pierre und ich schauten uns erschrocken an. Soweit
hatte bisher keiner von uns gedacht.
Sally fing sich als erste: „Ich glaube nicht, dass die alten
Bomben noch verwendet werden können. Aber bestimmt
haben die auch längst eigene Bomben entwickelt. Wer weiß
das schon. Samson, du hast recht. Wir müssen sie unter allen
Umständen aufhalten. Allerdings können wir von hier aus absolut nichts planen. Wir müssen vor Ort entscheiden!“
Damit war die kurze Diskussion beendet. In aller Frühe verließen wir am nächsten Morgen Eitorf.
128
Formicula (2.Tag)
Meine Befürchtungen, den Weg zu verlieren, bestätigten sich
schon kurz nach dem Aufbruch. Beim besten Willen waren keinerlei Reste einer ehemaligen Straße zu erkennen. Hier schien
500 Jahre lang niemand mehr entlang gekommen zu sein,
Gestrüpp und Bäume bildeten eine harmonische Einheit.
Samson bereitete das allerdings keine Sorgen, er war es
gewohnt, sich nach Sonnenstand und Sternenhimmel zu orientieren. Unser Weg führte durch hügeliges Land und war nicht
immer einfach. Kleine Bäche ließen sich ja noch leicht überwinden, aber manchmal gab es regelrechte Heckenlandschaften,
und zwar immer welche der sehr stacheligen Art. Hier halfen
nur weiträumige Umgehungen.
Diese Umwege verlangsamten unser Reisetempo, doch noch
hatten wir genügend Zeit. Gegen Mittag erreichten wir einen
etwa drei Meter breiten Fluss und beschlossen, zu rasten.
Das Wasser war frisch und klar. Es schmeckte ausgezeichnet.
Samson hatte unterwegs einige Wurzeln und Pilze gesammelt,
die wir in unseren einzigen Topf warfen. Wasser und ein paar
Kräuter dazu und schon ließ mir eine herrlich duftende Gemüsesuppe das Wasser im Mund zusammenlaufen. Der Topf war
ausgesprochener Luxus für uns. Wir hatten ihn überhaupt zum
ersten Mal dabei. Er war ein Fund aus dem verlassenen Dorf
südlich von Neu-Siegen gewesen.
Ich setzte mich auf einen Stein und ließ meine Blicke über
den Fluss auf einen nahe gelegenen Hügel schweifen. Irgendetwas war daran seltsam. Der Hügel schien sich zu bewegen.
Oder war es nur Gras, das im Wind hin und her wogte? Ich kniff
die Augen zusammen. Das war kein Gras! Gras kann nicht den
Hügel herunter laufen! Die wogende Masse schien immer mehr
auf uns zuzukommen. Verdammt, das waren Ameisen! Ein riesiges Heer von Ameisen und sie schienen ziemlich groß zu sein.
„Freunde“, rief ich, „wir müssen hier schleunigst verschwinden. Von dem Hügel da oben kommen Wanderameisen auf
uns zu. Es sind Tausende und jede einzelne ist bestimmt zehn
129
Zentimeter groß! Vielleicht hält sie ja der Fluss auf, aber wir sollten es nicht darauf ankommen lassen.“
Als Biologen wussten wir alle, dass Wanderameisen regelrechte Raubzüge unternahmen. Je nach Art jagten sie meist
die Brut von Wespen und anderen Ameisen, aber auch Larven,
Regenwürmer und kleine Tiere standen auf ihrer Speisekarte.
Die mir bekannten Wanderameisen waren allerdings winzig im
Vergleich zu denen hier! Die waren sicherlich in der Lage, große
Tiere und wohl auch Menschen zu töten.
Ein Blick in Samsons besorgtes Gesicht verriet mir, das auch
er schon mit den Wanderameisen Bekanntschaft gemacht
hatte. So schnell wir konnten, rafften wir unsere Ausrüstung
zusammen und liefen Flussaufwärts. Ich warf einen Blick zurück
und sah unseren Topf über dem Feuer hängen. Verdammt, die
schöne Suppe, der schöne Topf!
Einen kurzen Moment war ich versucht umzudrehen, aber
ein Blick auf die Ameisen belehrte mich sofort eines Besseren.
Am Flussufer angekommen machten sie nicht kehrt, sondern
bauten eine Brücke aus ihren Körpern. Zuerst staute sich der
Tross ein wenig, doch dann begannen einzelne Ameisen ihren
Körper teils am Ufer und teils ins Wasser zu bewegen. Die
nächste ging über den Körper und klammerte sich fest. Die
übernächste tat es ihr gleich und verband sich wiederum mit
der folgenden.
Zuerst waren es nur zwei, drei Reihen und manches der Tiere
wurde durch die Strömung weggetragen. Doch immer mehr
Ameisen bildeten eine Art Brückenkopf und die ganze Konstruktion wurde immer stabiler. Im Nu hatten sie die Mitte des
Flusses erreicht. Hier war die Strömung am stärksten und viele
wurden weggespült. Doch von hinten rückten immer mehr
Tiere nach und so war es nur eine Frage der Zeit, wann die Kolonie das andere Flussufer erreichen würde.
Fasziniert schaute ich auf den Brückenbau. Ich hatte schon
davon gehört, das einige Ameisenarten auf diese Weise Flüsse
überqueren konnten, doch hier sah ich das live und wahrhaftig. In diesem Moment spürte ich Samsons schwere Hand auf
130
meiner Schulter. „Lass uns hier verschwinden. Sie werden in
Kürze den Fluss überquert haben und ich möchte nicht in ihrer
Reichweite sein. Sie sind gefährlich!“
Samson hatte recht. Ich riss mich von dem faszinierenden
Anblick los und folgte ihm. Pierre und Sally waren schon gut
hundert Meter voraus, hatten sich aber auch umgedreht und
verfolgten die Szenerie. Gemeinsam verließen wir schließlich
die Gegend.
Als wir später eine kurze Rast einlegten, waren die Ameisen
natürlich Gesprächsthema Nummer eins. Samson hörte zu,
während wir drei Alt-Biologen über das weitere Schicksal der
Brückenameisen diskutierten. Allgemein waren Ameisen wohl
ordentliche Schwimmer. Doch waren diejenigen, die die Brücke
bildeten, später noch in der Lage, das andere Ufer schwimmend zu erreichen? Würden sie sich überhaupt von den anderen Ameisen lösen können? War es nicht wahrscheinlicher, dass
die meisten vorher ertrinken würden, wenn abertausende ihrer
Artgenossen über sie hinweg stiegen? Fragen über Fragen!
Wir diskutierten uns die Köpfe heiß, bis Samson zum Aufbruch
mahnte.
Als wir wieder unterwegs waren, fiel mir ein Schwarzweißfilm aus den fünfziger Jahren ein. „FORMICULA“. Ich hatte ihn
mal in einem Kino-Special gesehen. Der Film handelte von
etwa 3,5 Meter großen Riesenameisen, die sich auf Grund der
Atombomben-Versuche in der Wüste New Mexicos entwickelt
hatten. Ich erinnere mich nicht mehr an den genauen Verlauf
des Films, aber zum Ende hin wurden die Riesenviecher in Los
Angeles von der Armee mit Flammenwerfern und Bomben vernichtet. Jahre danach hatte man den Film dann als Abbild seiner
Zeit bezeichnet.
Ameisenstaat stand für Kommunismus, Ameisen für Rote
Gefahr, Mutierte Tiere für Angst vor Verstrahlung in einem
Atomkrieg und so weiter. Ob der Filmemacher daran gedacht
hatte, als der Film gedreht wurde? Schließlich war Formicula
der erste Film dieser Art überhaupt. Die Gedanken, die ich mir
über die Ameisen machte, waren eine willkommene Ablenkung.
131
Mit Attadorn wollte ich mich im Moment noch nicht beschäftigen, das war meine Devise!
Unser Weg führte weiter durch die hügelige Landschaft.
Meist ging es durch Wälder, hier und da durch kurze Graslandschafts-Passagen aufgelockert. Keine Menschenseele war weit
und breit auszumachen. Schließlich erreichten wir mal wieder
so ein Gebiet ohne Bewaldung. Samson stoppte plötzlich und
schaute sich witternd um.
„Etwas ist anders. Schaut nur auf diese sechs Kegel vor uns.
Sie passen nicht in diese Landschaft. Was meint ihr? Was könnte
das sein?“
Ich schaute an Samson vorbei. Sechs etwa 50 Meter hohe,
gleichmäßig geformte Kegel waren zu sehen. Erst dachte ich, es
handele sich um riesige Ameisenhügel und mir wurde mulmig
in der Magengegend. Bei näherem Hinsehen erkannte ich allerdings den dichten Pflanzenbewuchs in seinen frischen grünen
Farben. Ameisen bauen ständig an ihren Behausungen, aber
hier war davon nichts zu sehen. Diese Kegel mussten Menschen
aufgetürmt haben. Langsam gingen wir auf die künstlichen
Gebilde zu.
Wir alle waren mehr oder minder sprachlos, niemand hatte
eine Ahnung, was das sein konnte. Ich nahm meinen Speer und
stocherte in der Grasnarbe herum. Die Grasschicht war nicht
besonders dick und ich machte grabende Bewegungen mit dem
Speer. Dann stieß ich auf etwas, das mir sehr bekannt vorkam.
Ich rammte die Waffe in den Gegenstand und zog ihn hinaus.
Es war eine alte Spülmittelflasche. Ich nahm sie von der Speerspitze und reichte sie Sally. Während sie Samson erklärte, um
was es sich hier handelte, grub ich weiter. Immer mehr Plastikflaschen, Plastikbeutel und andere Gegenstände aus Kunststoff
kamen zum Vorschein.
Uns dreien aus der alten Zeit ging sofort ein Licht auf, während Samson uns fragend anschaute. „Wir sind auf einem Recycling-Hof gelandet! Hier wurde wohl der Müll aus den gelben
Säcken bzw. gelben Tonnen sortiert. Vielleicht besteht auch der
eine oder andere Hügel aus Glas, fein säuberlich nach Farben
132
getrennt.“ Ich erklärte Samson den Sinn und Zweck einer solchen Anlage. Eine Bemerkung konnte ich mir allerdings in Richtung der alten Wissenschaftler-Kollegen aus dem 21. Jahrhundert nicht verkneifen.
„Damals hat man gesagt, Plastik wäre nach 500 Jahren vollkommen verrottet. Das ganze Zeug hier sieht aber noch ziemlich frisch aus. Es müssen wohl Wissenschaftler aus der Kunststoff-Industrie gewesen sein, die diese Behauptung aufgestellt
haben. Diese Lobbyisten waren ziemlich überzeugend, ich
jedenfalls habe es geglaubt!“
Pierre schaute mich an: „Das mag für den einen oder anderen Kunststoff auch gegolten haben, aber hast du wirklich
geglaubt, die sagen uns die volle Wahrheit? Wie oft haben uns
denn damals schon Wissenschaftler und Gutachter im Auftrag
der Industrie angelogen? Selbst die Regierungen haben von der
Industrie bezahlte Gutachter herangezogen, die alles andere
als neutral waren. Wenn etwas nicht passte, wurde es passend
gemacht!“
Ja, natürlich wusste ich das. Immer wieder war irgendetwas
Vertuschtes ans Tageslicht gekommen, meistens allerdings erst
dann, wenn der Schaden schon angerichtet war. Doch ab und
zu hatte ich mir über bestimmte Dinge einfach keine Gedanken
gemacht oder es verdrängt … wie wohl die meisten Menschen
in den Gebieten mit hoch entwickelter Wirtschaft.
133
Der Nusswald (3.Tag)
Die Nacht war verhältnismäßig kühl gewesen, Nebelschwaden
hingen in den Tälern. Von unserem erhöhten Standort aus hatte
ich einen herrlichen Blick über das angrenzende Tal, von dem
außer einem weißen Nebelteppich nichts zu sehen war.
Wie immer hatte ich die letzte Nachtwache übernommen
und genoss die Stille. Der Nebel sorgte dafür, dass es heute
noch stiller war als sonst. Die Vögel schienen verschlafen zu
haben, andere Tiere waren auch nicht zu hören. Als Kind hätte
mir diese unwirkliche Ruhe wahrscheinlich Angst gemacht.
In Großstädten wie Köln gab es nie wirkliche Ruhe. Irgendwo
waren immer Autogeräusche, lärmende Nachbarn oder eine
Straßenbahn zu hören.
Ich saß auf einem umgekippten Baumstamm und träumte
vor mich hin, bis Sally auf mich zu kam und mir einen Kuss auf
die Wange gab. Wortlos setzte sie sich neben mich und genoss
mit mir den Ausblick.
Schließlich sagte sie: „Es sieht so aus, als könne man über
den Nebel auf die andere Seite laufen. In der Umgebung von
Sallerfield habe ich manchmal Nachtwanderungen durch die
Wälder unternommen. Da gab es fast immer Nebel. Das hier
erinnert mich stark daran.“
Ich schaute ihr ins Gesicht: „Vermisst du deine Heimat?“
Sie dachte kurz nach. „Eigentlich nicht. Ich habe schon lange
nicht mehr daran gedacht. Wir sind nun schon seit fast zwei
Jahren in dieser neuen Zeit. Meine Heimat ist jetzt hier. Gewiss,
überall lauern Gefahren. Aber es ist auch ein Paradies. Schau
dir nur die Tier- und Pflanzenwelt an – einfach phantastisch! Ich
liebe Neu-Siegen und die Menschen dort und habe sehr viele
Freunde gefunden. Und dich.“
„Hey, ihr Turteltäubchen! Hat denn niemand von euch Holz
aufs Feuer gelegt? Es dürstet mich nach Samsons Tee!“
Natürlich! Wenn jemand eine romantische Stimmung von
einer Sekunde auf die andere zerstören konnte, war es Pierre
mit seinen schnodderigen Kommentaren.
134
Ich seufzte. „Pierre, kannst du nicht einmal jemand anderem
mit deinem Gesülze auf die Nerven gehen? Mich dürstet nach
Samsons Tee … Wir sind doch nicht im Mittelalter!“
Die Träumereien waren beendet und nach einem ausgiebigen Frühstück ging unsere Wanderung weiter. Der Nebel hatte
sich noch nicht ganz verzogen, als wir das Tal erreichten. Ich
hatte gerade die Führung übernommen. Wir betraten hier
einen neuen Wald, wie ich ihn bisher noch nicht gesehen hatte.
Zuerst war mir nichts aufgefallen, die Bäume standen zwar lichter als sonst, aber das war`s auch schon. Einige Nebelschwaden zogen noch durchs Unterholz. Erst, als ich fast wie auf einer
Bananenschale ausrutschte und unsanft auf dem Hintern landete, nahm ich diesen besonderen Wald wahr.
„Verdammt! Wer hat denn hier Murmeln verstreut? Das ist
ja schlimmer als Glatteis!“ Ich zog eine der „Murmeln“ unter
meinem schmerzenden Allerwertesten hervor und staunte
nicht schlecht. Eine Walnuss! Ich erhob mich, um gleich darauf
fast wieder das Gleichgewicht zu verlieren. Ein Meer aus Walnüssen lag vor unserer kleinen Gruppe. Das mussten Millionen
sein! Jeder Baum dieses Waldes hatte seine Früchte zur gleichen Zeit abgeworfen. Die Nüsse hatten ihre grüne Ummantelung verloren und bildeten einen regelrechten Teppich aus
braunen „Murmeln“. Und sie hatten verdammt harte Schalen,
wie mir mein lädiertes Gesäß mitteilte. Ich war ja nicht gerade
ein Fliegengewicht mit meinen achtzig Kilogramm, aber die
Nüsse hatten nicht den geringsten Schaden genommen.
Ich versuchte, ein paar zu knacken, indem ich sie zwischen
den Händen zusammendrückte. Bei den Nüssen aus den alten
Zeiten war dies kein Problem gewesen. Hier aber konnte ich
drücken, soviel und so fest wie ich wollte, nicht mal ein leises
Knirschen war zu hören. Samson schaute meinen vergeblichen
Bemühungen interessiert zu, hob eine Nuss auf … und knackte
sie mit spielerischer Leichtigkeit zwischen zwei Fingern.
Ein kurzes Auflachen zu meiner Linken ließ meinen Kopf zu
Pierre herumfahren. „Was? Versuch du es doch mal!“ rief ich
leicht verärgert. Daraufhin nahm er ebenfalls ein paar Nüsse,
135
legte sie zwischen seine Hände und drückte siegessicher zu.
Kein Knacken! Ungläubig schaute er auf die Nüsse und presste
mit aller Kraft die Hände zusammen. Sein Gesicht verfärbte sich
vor Anstrengung rot, die Adern an seinen Schläfen schwollen
an. Nichts geschah! Nun war ich mit Grinsen dran.
„Na Pierre, keine Kraft in den Fingern? Wohl etwas schwach
auf der Brust!“
Diese kleinen „Nettigkeiten“ gehörten unter Freunden dazu,
zeigten aber auch Samsons unglaubliche Kraft.
„Jeder sollte ein paar Nüsse mitnehmen“, Sally dachte praktisch, „außerdem gibt es hier sicherlich Eichhörnchen. Wir sollten uns frisches Fleisch besorgen!“
Ich nickte zustimmend. Früher hätte ich nicht mal im Traum
daran gedacht, Eichhörnchen zu essen, aber in Neu-Siegen
hatte ich sie schon mehrmals probiert. Sie waren ausgesprochen lecker. Die Eichhörnchen in der heutigen Zeit waren nicht
mit den zierlichen, rotbraunen Tieren von damals zu vergleichen. Erstens waren sie grau oder schwarz, vermutlich Nachkommen der in Deutschland eingeschleppten Art der amerikanischen Grauhörnchen. Zweitens hatten sie kräftig an Gewicht
und Größe zugelegt. Drei bis vier Kilo waren normal, im Gegensatz zu ein paar hundert Gramm von früher. Und drittens waren
sie wegen ihres größeren Gewichts etwas langsamer und somit
leichter zu fangen. Samson blickte skeptisch zu uns herüber und
wunderte sich anscheinend über unseren Jagdeifer.
„Geht ihr Jagen, ich sammele einige Nüsse ein. Eure Ausrüstung könnt ihr hier lassen. Ich nehme sie mit bis ans Ende des
Nusswaldes. Erfahrungsgemäß ist er nicht allzu groß. Wir treffen uns dann dort.“
Samson zeigte in die Richtung, in die er gehen wollte. Ein
leichtes Grinsen spielte um seine Mundwinkel. Was hatte das
denn nun wieder zu bedeuten? Egal. Mit Pfeil, Bogen und Speer
bewaffnet machten wir drei uns auf die Suche nach den Nagern.
Schon nach ein paar Metern waren Schwierigkeiten erkennbar.
Die riesige Anzahl an Nüssen auf dem Boden hinderte uns doch
sehr. Wir bewegten uns wie auf Eiern, immer darauf bedacht,
136
nicht auszurutschen. Eichhörnchen gab es hier genug, doch
wenn gerade eines gesichtet war, kollerten mal wieder einige
Nüsse gegeneinander und das Tier verschwand.
Wir änderten nun unsere Taktik und schlurften mehr als
wir gingen – und das wie in Zeitlupe. Das gab zwar nun weniger Lärm, aber sobald wir zum Speerwurf ausholten, kullerte
wieder irgendeine Nuss gegen eine andere. Es war zum Verzweifeln. Einmal kamen wir in eine gute Schussposition mit Pfeil
und Bogen, doch ausgerechnet jetzt meldete sich ein Vogel mit
einem lauten Warnruf. Am liebsten hätte ich dem Schreihals
buchstäblich den Hals umgedreht, doch er war außer Reichweite. Nach zwei Stunden brachen wir die Jagd ergebnislos ab
und folgten Samsons Spuren.
Unterwegs fiel mir sein Grinsen wieder ein – er hatte genau
gewusst, was passieren würde! Als wir das Ende des Nusswaldes
erreichten, saß der Riese mit unserem Gepäck an einem kleinen
Feuer. Über diesem Feuer lagen zwei Spieße, die Samson hin
und wieder gemütlich wendete. Ein herrlicher Duft von gebratenem Eichhörnchen stieg mir in die Nase. Als wir uns ihm ohne
Beute näherten, schaute er so unschuldig drein wie möglich,
aber seine blitzenden Augen verrieten die Schadenfreude!
„Keinen Erfolg gehabt?“ rieb er uns unter die Nase.
„Genau“, antwortete ich, „aber das wusstest du ja schon
vorher. Nicht war?“
Er zuckte nur amüsiert mit den Schultern, holte die Spieße
vom Feuer und teilte den Braten unter uns auf. Wir hatten
schon viel von ihm gelernt, aber er war uns immer noch meilenweit voraus! Später erklärte er uns dann seine Jagdmethode.
1. Eichhörnchen immer nur vom Waldrand aus jagen – die
Nüsse im Wald machen eine geräuschlose Jagd so gut wie
unmöglich.
2.Möglichst mit Pfeil und Bogen wegen der größeren Reichweite und
3. Auf die Alarmvögel achten.
Da hätten man auch selbst drauf kommen können, doch
wir hatten zwei Stunden Lehrgeld zahlen müssen. Früher hätte
137
man auf Neudeutsch „Learning by doing“ dazu gesagt, Samsons
beliebteste Methode uns etwas beizubringen!
Nach der Mahlzeit erlegten wir noch einige der Nager, brieten sie auf Vorrat und setzten dann unseren Weg fort.
Teufelshöhle (4.Tag)
Der Morgen war ereignislos verlaufen. Wir durchwanderten
einzelne Wälder mit den unterschiedlichsten Baumarten oder
kurze Abschnitte mit Wiesen- oder Buschland. Das hügelige
Gelände war manchmal sehr anstrengend, vor allem, wenn
man sich zusätzlich noch den Weg durchs Gestrüpp mit den
Buschmessern bahnen musste.
Hier und da kreuzten sich unsere Wege mit heimischen
Tieren. Wie wir auch früher schon feststellen konnten, hatte
sich vieles in der Tierwelt geändert. Die meisten noch vorhandenen Gattungen waren größer als früher, viele hatten auch ein
anderes Aussehen und Verhalten angenommen. Manche Arten
schienen sich vollkommen neu entwickelt zu haben, so fremd
sahen sie aus. Ich bezweifle das. In fünfhundert Jahren konnte
sich keine neue Rasse entwickeln, oder etwa doch? Meine Theorie besagte, dass sich durch den Einsatz von atomaren, biologischen und chemischen Waffen ein Cocktail entwickelt hatte,
der Mutationen extrem begünstigte. Da der Einsatz der Waffen
auch regional sehr unterschiedlich war, bildeten sich auch viele
unterschiedliche Mutationen aus. Samson hatte von vielen
unterschiedlichen Tierarten aus Frankenfurt berichtet, die im
Siegerland oder hier im Sauerland nicht oder ganz anders entwickelt vorkamen. So eine Vielfalt an Tieren hatte es wohl seit
Jahrtausenden nicht mehr gegeben.
Unser Anführer war stehen geblieben und schaute besorgt
zum Himmel. „Es wird Regen geben!“
Überrascht sah ich ihn an. „Regen? Aber die Regenzeit dürfte
doch erst in etwa zwei Wochen beginnen!“
138
„Du hast recht, Frank. Aber hin und wieder, wenn auch sehr
selten, gibt uns die Natur einen kleinen Vorgeschmack auf die
kommende Regenzeit. Das kann ein kleiner Schauer sein, aber
es kann auch ein stundenlanger Dauerregen werden. Heute
tippe ich eher auf Dauerregen. Wir sollten uns einen Unterschlupf suchen, eine Höhle vielleicht. Wir sind schon an einigen
vorbeigekommen, es dürfte nicht schwierig sein, eine weitere
zu finden. Wir haben sicherlich noch zwei Stunden Zeit.“
Während wir weiter in Richtung Attadorn gingen, hielten wir
Ausschau nach einer Höhle. Der Himmel hatte sich inzwischen
schon stark verfinstert. Das Licht im Wald wurde immer spärlicher, als wir endlich auf ein Höhlentor stießen. Die ersten Tropfen fielen bereits, als wir uns vorsichtig dem Eingang näherten.
Zögerlich ging Samson auf die Höhle zu. Irgendetwas schien
ihn zu irritieren. Ich bemerkte einen seltsamen Geruch, der zu
uns heraus zog. Plötzlich hörten wir ein lautes kreischendes
Geräusch, das mich an eine Mischung aus Kreissäge und Grunzen erinnerte.
Der Riese schrie plötzlich laut auf: „Lauft! Lauft! Klettert auf
den nächsten Baum!“
Selten hatte ich ihn so aufgeregt eine Warnung herausschreien hören. Was er gesehen hatte, musste äußerst gefährlich sein. Wir drehten uns auf den Absätzen herum und spurteten los. Samson überholte uns alle und steuerte auf einen
kräftigen Baum zu. „Hierher! Schnell hier auf diesen Baum,
bevor es zu spät ist!“
Als wir den Baum erreichten, hob er uns in Windeseile auf
die unteren starken Äste des Baumes in etwa drei Meter Höhe.
Dann zog er sich selbst hinauf.
„Klettert schnell höher, wir sind erst so ab fünf Metern Höhe
in Sicherheit!“
Während wir uns eilig die Äste hinaufzogen, hatten wir
immer noch keine Ahnung, was er in der Höhle gesehen hatte
und ihn so panisch werden ließ. Endlich waren wir hoch genug.
Wir saßen auf dem Baum wie die Hühner auf der Stange.
„Samson, was ist denn bloß los? Und was war das um
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Himmels Willen für ein fürchterliches Geräusch in der Höhle?“
„Ein Stinkteufel! Das ist ein Stinkteufel.“ Samson wurde von
einem weiteren unwirklichen Kreischgeräusch genau unter uns
unterbrochen.
Ich blickte hinunter. Ein etwa 1 Meter langes und 50 cm breites Ding mit schwarzem Fell kratzte unter uns an dem Baumstamm und stieß diese fürchterlichen Geräusche aus. Das Ding
war nur etwa 25 cm hoch und sah aus wie ein laufender Teppich! Auch wenn seine Zähne blitzten und seine Ohren sich rot
färbten, besonders gefährlich sah das Tier eigentlich nicht aus.
Wenn nur nicht diese fürchterlichen Schreie wären.
„Deswegen sind wir auf dem Baum gelandet? Ist er giftig?
Oder tritt er im Rudel auf?“
„Nein, nein Frank. Er ist nicht giftig und er ist ein Einzelgänger.“
„Was hat er dann an sich? Normalerweise erlegen wir ein
Tier in dieser Größe doch ohne Probleme?“
Ich schaute mir unseren Belagerer noch genauer an. Irgendwie sah der schwarze Kerl da unten wie eine Mischung aus
Dachs und Tasmanischem Teufel aus. Aber ein gefährliches Tier?
„Warte, ich zeige es dir.“ Samson schaute nach oben, sah
einige Zapfen und griff danach. Er zielte kurz und warf einen der
Zapfen auf den Schreihals. Das Kreischen wurde noch lauter, als
er getroffen wurde. Wie wild kratzte er an der Tanne, als plötzlich ein Strahl durchsichtiger Flüssigkeit aus seinem Maul auf
uns zuschoss.
Die Flüssigkeit erreichte die unteren Äste des Baumes, auf
denen wir eben noch gesessen hatten. Ich erwartete, dass sich
die Flüssigkeit als Säure entpuppte und sich in das Holz fraß.
Doch nichts dergleichen geschah! Ich wollte schon an Samsons
Verstand zweifeln, als plötzlich ein übler Geruch zu uns heraufstieg. So etwas konnte es doch gar nicht geben! Ich würgte und
spürte den Eichhörnchenbraten von heute Morgen, der sich
einen Weg in Richtung Mund bahnte. Neben mir blieb es nicht
beim Würgen. Gemeinsam ließen Pierre und Sally den Dingen
freien Lauf und spuckten die schon vorverdauten Essensreste
in Richtung Stinkteufel. Ich schloss mich den beiden an und
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übergab mich ebenfalls. Wie ich aus den Augenwinkeln registrierte, hielt unser Anführer – mit grünem Gesicht zwar, aber
doch – noch eine Weile länger durch. Auch er musste allerdings
schließlich den Kampf gegen das Erbrechen aufgeben.
Mittlerweile goss es in Strömen. Der Geruch hatte sich etwas
abgeschwächt, war aber immer noch deutlich wahrzunehmen.
Unsere Mägen waren geleert, der Stinkteufel schob weiterhin
Wache und stieß immer wieder durch Mark und Bein gehende,
Schreie aus. Samson hatte uns zu absolutem Schweigen verdonnert. Jedes kleine Geräusch, egal ob ein Seufzen, ein Scharren
oder eine kleine Positions-Veränderung auf dem unbequemen
Ast, ließ die Wut des schwarzen Kerls wieder aufflackern. Die
Ohren leuchteten dann rot auf und die Schreie verstärkten sich.
Endlich, nach über zwei Stunden hörte die Belagerung auf. Dem
Stinkteufel wurde es wohl zu nass. Er verschwand, sich immer
wieder umdrehend, aus unserem Blickfeld.
Wir warteten noch ungefähr eine Viertelstunde und kletterten dann erst möglichst leise den Baum hinunter. Wie vier
begossene Pudel schlichen wir uns durch den strömenden
Regen davon und hielten erst an, als er nach einer Stunde nachließ. Wir entzündeten auf einer kleinen Lichtung mühevoll ein
Feuer und trockneten unsere Sachen.
Nachdem wir die Reserve-Kleidung angezogen hatten, berichtete uns Samson von seiner ersten Begegnung mit so einem
Stinkteufel. Damals war er von dem Strahl getroffen worden,
wenn auch leicht. Über eine Woche hatte er damals mit dem
Brechreiz zu kämpfen gehabt. Seine Kameraden und auch seine
Familie hatten ihn gemieden. Der Geruch ließ sich einfach nicht
abwaschen. Es war sogar soweit gekommen. das Samson einige
Tage außerhalb seines Dorfes verbringen musste. Man konnte
den Stinkteufel auch nicht töten. Wenn ihn ein Speer oder Pfeil
traf, explodierte er regelrecht und verpestete seine Umgebung
auf gut hundert Metern! Jetzt wurde uns allen klar, warum
Samson lieber die Flucht angetreten hatte.
Es war nun früher Nachmittag. Wir hatten einige Stunden verloren und beschlossen, bis zum Anbruch der Dunkelheit weiter
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zu marschieren. Es wurde ein unruhiger Marsch. Bei jedem
etwas außergewöhnlichem Geräusch zuckten wir zusammen.
Der Stinkteufel spukte immer noch in unseren Köpfen herum.
Gegen Abend erreichten wir einen kleinen See und schlugen
dort unser Nachtlager auf. Ich hatte das Bedürfnis, mich gründlich zu waschen, besser noch zu baden und ging ans Seeufer.
Die Sonne stand noch halb über dem See und schickte ihre letzten Strahlen auf das ruhig daliegende Wasser. Ein herrlicher
Anblick! Ich zog mich nackt aus.
Gerade als ich ins Wasser steigen wollte, tauchte der Riese
auf. „Hier würde ich besser nicht schwimmen gehen!“
Fragend schaute ich ihn an.
„Siehst du die Schildkröten da vorne?“
Ich nickte.
„Das sind Schnappschildkröten. Ein Biss von ihnen und ein
Zeh oder ein Finger sind weg. Ganz besonders gerne mögen
sie den da!“ Er zeigte auf meinen Penis und machte mit seiner
Hand eine schnappende Bewegung.
Unwillkürlich zuckte ich zusammen und mein geliebtes Stück
schrumpfte augenblicklich auf Minimalgröße, als sei ich ins Eiswasser gestiegen. Was für ein Scheiß-Tag! Doch damit noch
nicht genug, erzählte unser Anführer am Lagerfeuer die kleine
Geschichte in allen Einzelheiten. Nach dem schadenfrohen
Gelächter von Pierre und Samson musste Sally natürlich auch
noch ihren Senf dazugeben:
„Schade, dass ich das nicht gesehen habe! Aber für die
Zukunft kenne ich jetzt eine einfache Handbewegung, um dich
im Zaum zu halten!“ Ihre Augen funkelten vor Vergnügen, während ich nur gequält die Augen verdrehen konnte.
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Ein ganz normaler Tag (5.Tag)
Am nächsten Tag ging unser Marsch weiter. Ich dachte noch
länger über die Schnappschildkröten nach. Sicherlich ein
Überbleibsel der Menschen aus meiner Zeit. Hin und wieder
hatte man von Piranhas, Schlangen und kleinen Krokodilen in
der Zeitung gelesen, die irgendein Idiot in einem Weiher entsorgt hatte. Man hatte sogar mal einen Badesee wegen einer
Schildkrötenart leer gepumpt und sie trotzdem nicht gefunden.
Wahrscheinlich hatten das Auspumpen Männer veranlasst. Bei
solchen, unsere Männlichkeit bedrohenden Dingen, waren wir
sehr gründlich! Im Übrigen ging man davon aus, dass diese exotischen Tiere bei uns nicht über den Winter kommen konnten.
Wie man sich täuschen konnte! Fast hätte ich es am eigenen
Leib erfahren. Mich schüttelte es bei dem Gedanken.
Unvermittelt traten wir aus einem dichten Waldgebiet in das
helle Licht einer kaum bewaldeten Fläche. Nein das war nicht
ganz korrekt – es war eine ehemals bewaldete Fläche. Mehrere
hundert Bäume lagen kreuz und quer vor uns. Hier musste ein
schlimmer Sturm gewütet haben. Obwohl Mischwald nicht so
empfindlich gegen Sturmschäden ist, wie die Monokulturen
der Fichtenwälder, hatte es hier die Bäume ordentlich zerlegt.
Wir schauten uns um. Ein Weiterkommen war hier so gut wie
unmöglich, oder nur mit immensem Kraft- und Zeitaufwand.
Uns blieb nichts anderes übrig, als am Rand des zerstörten
Waldstücks entlang zu laufen, bis wir wieder in die ursprüngliche Richtung weiter marschieren konnten.
Merkwürdigerweise gab es neben den meisten umgestürzten Bäumen größere Löcher, die aussahen wir Tierhöhlen. Auch
Samson war dies aufgefallen. Er drehte sich zu uns herum.
„Ratten! Sie haben in diesem Waldstück ihre Jungen großgezogen. Normalerweise ziehen sie durch die Gegend und bleiben
nie lange an einem Ort. Doch einmal im Jahr, zur Paarungszeit,
graben sie sich Höhlen und beschädigen dabei die Baumwurzeln. Sie gebären dort ihre Jungen. Nach etwa 4 Wochen ziehen
sie dann weiter. Diese Höhlen sind schon lange verlassen, ein
143
Sturm hat dann die angeknacksten Bäume umgeblasen.“ Nach
ein paar hundert Metern konnten wir unsere alte Richtung
wieder einschlagen.
Nach einer Weile erreichten wir mal wieder eine große
baumfreie Fläche. Ein Meer aus Gelborange-blühenden Blumen
sprang uns förmlich entgegen. Es schien sich um eine Art von
Sonnenblumen zu handeln. Die Pflanzen hatten eine Größe von
ungefähr zwei Metern, eine Blüte und Blätter wie eine Sonnenblume. Nur der Stängel war nicht grün, sondern bestand aus
braunem Holz – ähnlich wie bei einem Haselnussstrauch. Über
und auf den Blüten schwärmten tausende Bienen. Ihre Flügel
verursachten ein auf- und abschwellendes Summen und Brummen. Wenn wir auch einen weiteren Umweg in Kauf nehmen
mussten – niemand wollte durch das Bienenheer laufen –
schien Samson hocherfreut über den Umweg zu sein. Wir zogen
uns etwa 50 Meter in den Wald zurück und umrundeten das
Sonnenblumenfeld. Samsons Blick richtete sich dabei immer
wieder nach oben.
Dann sah ich, wonach er die ganze Zeit Ausschau gehalten
hatte. Bienennester! Etwa zweihundert Bienenvölker hatten,
Baum an Baum, ihre Nester in etwa fünf Metern Höhe angelegt. Es herrschte ein Kommen und Gehen. Unermüdlich schafften die Bienen ihre Honigausbeute heran und luden ihre süße
Fracht in den Bienenstöcken ab.
„Geht etwa 500 Meter in diese Richtung“, Samson wies uns
den Weg, „ich komme gleich nach. Vielleicht müssen wir noch
einen kleinen Spurt einlegen, bereitet euch darauf vor.“
Uns war natürlich sofort klar, worauf es Samson abgesehen
hatte. Honig war ein begehrtes Gut. Etwas schneller als sonst
rückten Sally, Pierre und ich ab. Pierre und ich mühten uns dabei
mit Samsons Rucksack ab. Bis zu diesem Zeitpunkt war mir
nicht klar gewesen, welche Last Samson diesmal mit sich herumschleppte. Nach zweihundert Metern blickten wir uns um.
Der Riese schien nach einem bestimmten Stück Holz zu suchen.
Er wurde fündig. Es hatte die Form eines Bumerangs. Er holte
sein Messer aus dem Gürtel, schnitzte einige Zeit an dem Holz
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herum und schien schließlich zufrieden. Samson blickte noch
einmal in unsere Richtung und gab ein Zeichen, dass wir uns
noch weiter entfernen sollten. Rückwärts laufend zerrten wir
den Rucksack mit uns. Wir wollten auf keinen Fall verpassen,
wie er den Bienenstock vom Baum holte. Er holte aus, schleuderte den Bumerang und traf mit bemerkenswerter Präzision.
Der Bienenstock stürzte zu Boden und zerbrach in mehrere
Teile. Ein blitzschneller Griff, und die Waben befanden sich in
Samsons Hand.
Die Waben schüttelnd sprintete unser Freund los. Die Bienen
schienen von der Schnelligkeit der Attacke zu verwirrt, um ihm
folgen zu können.
Eine Stunde später labten wir uns an dem vorzüglichen
Honig. Die Suche nach Nahrung war auf all unseren Wanderungen immer ein wesentlicher Teil gewesen. Doch manchmal stolperte man fast über die nächste Mahlzeit. So auch an diesem
Tag. Es war kurz vor Sonnenuntergang. Wir hielten gerade Ausschau nach einem geeigneten Lagerplatz. Ich hatte die Führung
unserer kleinen Gruppe übernommen. Meinen Speer hatte ich
wie immer in der rechten Hand. Ich benutzte die Schaftseite als
Gehstock, als nur einen halben Meter vor mir ein Kaninchen aus
seiner Deckung hervorsprang. Instinktiv änderte sich mein Griff
am Speer von Spazierstock- in Wurfposition. Blitzschnell holte
ich aus und schleuderte den Speer zielsicher in den Körper des
Kaninchens. Ich hatte in den letzten zwei Jahren viel gelernt,
aber das ich hier traf, überraschte mich selbst!
Von Samson und Sally erntete ich ein anerkennendes Nicken.
Pierre murmelte etwas von „Zufall“, klopfte mir aber kameradschaftlich auf die Schulter. Dieses Kaninchen schmeckte mir
besonders gut!
Doch nicht nur die Umwege und Jagden des heutigen Tages,
auch die vergangenen Tage hatten uns immer wieder Zeit gekostet. Insgesamt dürften wir sicherlich wenigstens einen ganzen
Tag verloren haben. Alles noch kein Problem, einen gewissen
Zeitverzug hatten wir ja bei unserer Planung einkalkuliert.
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Erdwürmer (6.Tag)
Sally hatte mich in den frühen Morgenstunden zur Wachablösung geweckt. Wie schon so oft, drehten wir noch eine gemeinsame Runde um unser Lager herum. Diese Minuten gehörten
uns ganz allein. Meist gingen wir wortlos Hand in Hand und
genossen die Stille der Natur. Noch herrschte Dunkelheit um
uns herum. In etwa einer Stunde würde die Sonne am Horizont erscheinen. Wir saßen noch für einige Minuten auf einem
umgestürzten Baumstamm und lauschten den Geräuschen in
unserer Umgebung.
Plötzlich war im Dickicht einige Meter voraus ein leises Knacken zu vernehmen und jedes andere Geräusch erstarb. Sofort
erhöhte sich unsere Aufmerksamkeit – diese Stille war nicht
normal. Vielleicht ein Raubtier auf der Jagd? Vorsichtig standen
wir auf und sondierten die Umgebung. Nichts. Dennoch sträubten sich mir die Nackenhaare, alle meine Sinne schlugen Alarm.
Ich beugte mich zu ihr: „Geh so leise wie möglich zurück in
unser Lager und weck Pierre und Samson. Ich werde mich in die
Büsche schlagen und nachschauen, was los ist.“
Sally nickte mir zu und verschwand in der Dunkelheit. Automatisch fasste ich meinen Speer fester und tastete mit der
Linken nach meinem Messer am Gürtel. So leise wie möglich
schlich ich in der Dunkelheit durch das Gebüsch. Meine Sinne
waren im höchsten Maße angespannt. Gefährliche Raubtiere
gab es überall. Viele machten bei ihren Beutezügen auch vor
Menschen nicht halt. Ich dachte sofort an den riesigen Löwbären, den Samson in Alt-Siegen nur mit Mühe und einigen Verletzungen besiegen konnte.
„Bloß nicht so ein Monstrum“, schoss es mir durch den Kopf.
Auf meiner Suche verließ ich die nähere Umgebung des Lagers
und machte einen Bogen um hinter einen möglichen Gegner
zu gelangen. Und da sah ich ihn. Das gefährlichste Raubtier von
allen: Einen Menschen! Zuerst sah ich nur einen fast weißen
Haarschopf hinter einem Baumstamm hervorschauen. Der Blick
war in Richtung Lager gerichtet. Ich schlich näher heran und sah
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den Körper des Mannes, ebenfalls merkwürdig hellhäutig. Er
war nur mit einem Lendenschurz bekleidet. In den Händen hielt
er einen kurzen Bogen, auf dem ein Pfeil aufgelegt war. Bevor
ich näher heran kam, hob er den Bogen und zielte in Richtung
Lager. Es war keine Zeit mehr zu verlieren. Ich hob meinen Speer
an und lief mit wildem Gebrüll auf den Gegner zu. Vollkommen
überrascht wirbelte der Angreifer herum, den Bogen in der
Hand, nach einem Ziel in der Dunkelheit suchend. Er schoss. Für
einen winzigen Moment spürte ich einen Luftzug an meinem
linken Ohr, dann war ich über ihm. Mein Speer durchbohrte
seine linke Schulter, der Bogen des Angreifers flog davon. Fast
gleichzeitig hörte ich Kampfgeräusche aus dem Lager.
Ich hatte es schon befürchtet, es gab mehrere Angreifer!
Mein Gegner stöhnte schmerzhaft und sank zu Boden. Mit
einem Ruck zog ich die Speerspitze aus seiner Schulter, trat ihm
mit dem rechten Fuß unter die Kinnlade und schickte ihn ins
Reich der Träume. Dann stürzte ich mich durchs Gebüsch in
Richtung der Geräusche.
Ich hörte einen schrillen Schrei. Sally! Wie eine Antilope
übersprang ich den letzten Busch und stand mitten im Kampfgetümmel. Zwei Angreifer hatten sie mit ihren Messern an
einen Baum getrieben. Sie verteidigte sich mit ihrem Speer, traf
schließlich einen der Angreifer mit einem Rundumschlag an der
Schläfe. Er sank zu Boden. Sein Kamerad nutzte die Gelegenheit, um mit dem Messer auf sie zu zielen, verfehlte aber knapp
sein Ziel, da Sally einen Schritt zu Seite machte.
Dann war ich heran und schlug mit der bloßen Faust so fest
ich konnte in den Nacken des Angreifers. Noch während er zu
Boden sank, sprang Sally an meine Seite. Ich wirbelte herum
und gemeinsam nahmen wir den nächsten Gegner ins Visier.
Auch Pierre hatte es mit mehreren Angreifern zu tun. Einem
davon trat Sally mit voller Wucht von hinten in die Beine. Er
knickte ein, ich erledigte mit einem Faustschlag den Rest. Während Sally und ich einen weiteren von Pierres Gegnern mit der
gleichen Taktik aufs Korn nahmen, sah ich aus den Augenwinkeln Samson mit seiner gewaltigen Keule wüten.
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Doch mir blieb keine Zeit für weitere Beobachtungen. Ich
schickte einen weiteren von Sally vorbereiteten Kämpfer in die
Bewusstlosigkeit.
Pierres Speer bohrte sich fast gleichzeitig in den Oberschenkel seines letzten Gegners. Ich wirbelte herum. Zu Samsons Füßen lagen vier der Angreifer, drei weitere hielten inne,
schrien sich etwas zu und liefen davon. Der Kampf war beendet.
Während wir uns um Samson herum sammelten, bereit für die
Abwehr eines weiteren Angriffs, erhoben sich nach und nach
die am Boden liegenden Kämpfer. Sie schauten ängstlich zu uns
herüber. Vorsichtig griffen sie sich ihre verletzten Kameraden
und schleppten sie davon. Wir ließen sie gewähren. Einen der
Angreifer ließen sie liegen. Ich beugte mich zu ihm hinunter und
tatstete nach seinem Puls. Er war tot, Samsons Keulenschlag
hatte er nicht überstanden.
„Er hat es nicht überlebt.“ Ich schaute zu Samson hinauf. In
seinem Gesicht bewegte sich kein Muskel, aber in seinen Augen
sah ich das Bedauern. Er kniete sich neben mich und wir untersuchten den Toten. Schlohweißes Haar, wie das aller seiner
Kameraden, umrahmte sein Gesicht. Die Haut war sehr hell, fast
wie gebleicht. Doch das merkwürdigste waren die Augen des
Angreifers. Die Pupillen waren stark vergrößert und fast weiß.
„Ich habe auf meinen Reisen schon mal von solchen Leuten
gehört“, begann Samson, „man nannte sie Erdwürmer.“
„Erdwürmer?“ fragte Pierre erstaunt, „was für ein seltsamer
Name. Warum nannte man sie so?“
„Nun, sie leben wohl tief unter der Erde in der ewigen Dunkelheit. Sie kommen nur nachts aus ihren Höhlen, um zu Jagen.
Vielleicht sind sie nur zufällig bei einem ihrer Jagdausflüge auf
unser Lager gestoßen. Besonders gut organisiert war der Angriff
nicht. Das war unser Glück, denn es heißt, sie jagen und essen
alles. Damit meine ich, sie essen auch Menschen!“
Kannibalen! Mich schüttelte es. Bisher waren wir in diese
Epoche fast immer nur auf friedliche Menschen gestoßen. Die
Piraten ausgenommen, hatte es nur hin und wieder mal kleine
Scharmützel mit anderen gegeben.
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Aber auf Kannibalen waren wir noch nie gestoßen. Ich erhob
mich. „Vielleicht sollten wir den Spuren folgen und sehen, wo
sie geblieben sind. Die Sonne geht gerade auf, das dürfte nicht
allzu riskant sein, wenn sie das Tageslicht meiden.“
Meine Freunde nickten zustimmend. Wir begruben den
Toten und suchten dann die Spuren seiner Kameraden. Ihrer
Fährte konnte man leicht folgen, hatten sie doch Verwundete
bei sich, die sie mitschleppen mussten. Schließlich gelangten
wir an den Rand einer größeren Lichtung. Um einen besseren
Überblick zu haben, kletterte ich einige Meter hoch auf einen
Baum. Schon nach kurzer Zeit stieg ich leise wieder nach unten.
„Lasst uns hier verschwinden“, flüsterte ich den anderen zu,
„ich erzähle euch alles nachher.“
Nachdem wir etwa eine Stunde Weg hinter uns gelassen
hatten, legten wir eine kleine Rast ein. Ich begann meinen
Bericht. „Ich habe zwei Wachposten gesehen, daher der Abgang.
Doch der Reihe nach. Auf der Lichtung sah ich die Trümmer
eines sehr großen Anwesens. Hier muss wohl früher ein stinkreicher Typ seine Villa hingestellt haben. Nicht weit vom ehemaligen Haus entfernt gibt es einen unterirdischen Zugang. Ich
konnte extrem dicke Betonwände im Eingangsbereich und eine
Stahltür ausmachen. Im Schatten der Betonwände sah ich zwei
Wachposten stehen. Sie hatten Tücher vor den Augen, wohl um
sich vor der Helligkeit zu schützen. Außerdem habe ich mehrere
kleine Schornsteine aus dem Boden ragen sehen, auf einer sehr
großen Fläche verteilt. Ich denke, es handelt sich um die Lüftungsschächte eines Atombunkers. Das Ding muss verdammt
groß sein.“
In den Gesichtern meiner Freunde arbeitete es. „Die Bewohner des Bunkers müssen sehr lange nach dem großen Knall in
dem Bunker gelebt haben“, kommentierte Sally. „Irgendwann
ist ihnen der Diesel für die Generatoren ausgegangen und sie
haben dort weiter in der Dunkelheit gelebt.“
„Ja, das glaube ich auch. Nach einigen Jahren in der Dunkelheit konnten sie sich wohl nicht mehr an das Tageslicht gewöhnen. Über die Generationen hinweg haben sich dann die großen
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Pupillen und die helle Haut entwickelt. Verkürzte Evolution.“
„Evolution? Was ist das, Pierre?“
Pierre erklärte es Samson.
Kurze Zeit später brachen wir dann wieder auf. Es war noch
nicht einmal Mittag und wir hatten hier schon mehr erlebt als
sonst in Neu-Siegen in einem Monat.
„Wer weiß schon, was der Tag uns sonst noch bringen wird“,
ging mir durch den Kopf.
Am späten Nachmittag erreichten wir einen kleinen See, der
von einem etwa drei Meter hohen Wasserfall gespeist wurde.
Da wir in den letzten Stunden eine beachtliche Wegstrecke
zurückgelegt hatten, beschlossen wir, hier unser Nachtlager
aufzuschlagen. Es war ein herrlicher Ort. Das Wasser war klar,
Laubbäume säumten das Ufer. Die Sonne würde wohl genau
über dem Wasserfall untergehen. Während Pierre auf Brennholzsuche ging, zog es Sally hin zum Wasserfall. Samson und ich
bereiteten unser Lager vor. Wir hatten schon ein kleines Feuer
angezündet. Wir warteten auf Pierre, während meine Freundin
sich unter dem Wasserfall aufhielt. Die Sonne stand direkt darüber und schien uns direkt ins Gesicht. Wir konnten Sally daher
nur schemenhaft im Gegenlicht erkennen.
„Weißt du, Frank“, begann Samson, „du hast unglaubliches
Glück mit Sally. Sie ist wunderschön, klug und ausgesprochen
mutig. Und wenn du es nicht versaust, wird sie dir eine treue
Partnerin bis ans Lebensende sein.“
„Ja, ich weiß! Ich hätte es früher nicht einmal gewagt, an so
etwas zu denken. Es waren erst eine Apokalypse und 500 Jahre
Schlaf notwendig, um mich meinen Gefühlen zu stellen.“
Ich schaute zu Samson. „Aber was ist mit dir? Deine Frau ist
nun schon vor langer Zeit gestorben. Willst du es nicht noch
einmal versuchen, eine Familie gründen und wieder Kinder
haben?“
Ich hatte Samsons wunden Punkt bewusst angesprochen, wenn nicht in dieser Situation, wann denn sonst! Die
Frage geisterte schon lange in meinem Kopf herum. Für einen
Moment sah ich Schmerz in des Freundes Augen, der zu meiner
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Überraschung aber schnell wieder nachzulassen schien.
„Du hast recht! Es wird dir nicht entgangen sein, dass ich
hin und wieder auf unseren Reisen Kontakt mit Frauen gehabt
habe. Doch das war nicht die Art von Frau, die ich suche. Aber
ich bin mir sicher, ich werde sie eines Tages finden, vielleicht
findet sie aber auch mich.“
Samson war immer sehr, sehr diskret in allen Belangen
gewesen, die Frauen angingen. Ich glaube, ich ahnte eher, dass
er was mit einer Frau hatte, als es zu wissen.
Sally war mittlerweile ans Ufer geschwommen, hatte sich
wieder angezogen und kam die kleine Böschung herauf. „Hey,
was ist mit euch los? Ihr seht aus, als hättet ihr schwerwiegende Probleme zu wälzen! Springt ins Wasser und klärt eure
Gedanken!“
Samson und ich sahen uns grinsend an, sprangen auf und
hechteten samt Klamotten in den kleinen See. Kurze Zeit später
gesellte sich Pierre auch noch zu uns. Wir entledigten uns unsere
Kleider und planschten übermutig wie die kleinen Kinder im
See. Es war einfach herrlich! Auch Sally saß entspannt am Ufer,
genoss unsere Kindereien und sicherlich auch den Anblick von
drei ziemlich gut gebauten, splitternackten Männern in allen
Einzelheiten …
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Heika (7.Tag)
Nach einem kurzen Frühstück zogen wir weiter. Samsons Schätzungen zufolge würden wir morgen Mittag Attadorn erreichen.
So langsam stieg die Spannung bei uns allen, was sich in einer
relativ schweigsamen Wanderung bemerkbar machte. Wir
hatten gerade eine kleine Hügelkette erklommen und waren
auf dem Weg in die nachfolgende Senke, als uns eine Überraschung erwartete.
„Schaut mal da vorne! Seht ihr das? Es sieht aus wie … wie
… ein Schiff!“
„Ein Schiff mitten im Wald? Pierre, du hast wohl einen Sonnenstich!“, rief Sally empört. Nach Pierres Worten reckte ich
mich in die Höhe, um einen besseren Überblick zu bekommen. Tatsächlich, unten in der Senke lagen die Überreste eines
großen Schiffes. Auch Sally und Samson hatten es mittlerweile
entdeckt. Erstaunt steuerten wir darauf zu. Wie zum Teufel
kommt ein Schiff mitten in den Wald? Eine verheerende Flut?
Ein Erdbeben? Als wir es erreicht hatten, kamen wir nicht aus
dem Staunen heraus.
Sicher, es war fast nur noch ein Haufen Schrott, aber ein
ziemliche großer Schrotthaufen. Ich schätzte die Länge auf etwa
50 Meter. Die meisten Teile des Schiffes hatten die schmutzigbraune Farbe des Rostes angenommen, hier und da schimmerte
noch etwas weiße Farbe durch. Gemeinsam umrundeten und
bestaunten wir diese Merkwürdigkeit. Doch auf der anderen
Seite angekommen, erklärte sich plötzlich alles. Auf dem mittleren Teil des Rumpfes prangten einige Buchstaben. „WESTFA…“
konnte ich entziffern.
Natürlich! Dieses Schiff war nicht durch Sturm oder Erdbeben hierher gelangt, es war früher hier gefahren! Wir mussten
uns mitten im ehemaligen Biggesee befinden. Die MS Westfalen war eines der Schiffe, die hier verkehrten. Sally, Pierre und
ich hatten hier sogar mal eine Betriebsfeier erlebt. Die beiden
unterhielten sich ein paar Meter weiter mit Samson darüber.
Der Biggesee war verschwunden, kein Wunder nach so langer
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Zeit. Aber dieses Schiff war noch ein Zeitzeuge aus meinem früheren Leben. Es fühlte sich in meinem Inneren seltsam an, vielleicht etwas nostalgisch – mehr nicht.
Das Schiff war die Vergangenheit! Das Stück Wald, in dem es
stand, war das Hier und Jetzt. Ich war wohl endgültig im Hier
und Jetzt angekommen. Wir verzichteten darauf, die MS Westfalen zu durchsuchen. Durch den vielen Rost war es einfach zu
gefährlich. Unser Weg führte aus der Senke wieder hinauf in
den Wald.
Der Eichenwald, durch den wir wanderten, erleichterte uns
den Weg ungemein. Durch den dichten Blätterwald schien nur
hier und da die Sonne und so konnten am Boden kaum Sträucher wachsen, die unseren Weg behinderten. Vor etwa einer
Stunde waren wir sogar auf einen Pfad gestoßen. Wir waren
auf dem richtigen Weg! Ich glaube nicht, dass ich jemals zuvor
durch einen so großflächigen Eichenwald gewandert bin. In den
alten Zeiten gab es höchstens Eichenhaine von geringer Ausdehnung. Es war immer wieder fantastisch zu sehen, was die
Natur ohne die Einflussnahme des Menschen erreichen konnte.
Unter unseren Füßen knirschten die Eicheln. Es schien die Zeit
zu sein, die früher der Herbst gewesen war. Die Natur hatte sich
umgestellt. Hatte es früher vier Jahreszeiten gegeben, schien es
heute nur noch eine zu geben. Abgesehen von den Regenperioden. Irgendwie hatte sich das schon in meiner Jugend abgezeichnet. Immer öfter war der Schneefall im Winter ausgeblieben, die Temperaturen nicht mehr so oft unter Null gegangen.
Mein Vater hatte mir noch von echten Wintern erzählt, in
denen es sogar in Köln wochenlang Schnee gegeben hatte. Im
Siegerland, unserem ehemaligen Arbeitsort, waren die Temperaturen seinerzeit auch oftmals unter 15 Grad Minus gefallen.
Vorbei! Der Mensch hatte, neben der damaligen Umweltverschmutzung, mit dem Einsatz seiner ABC Waffen vor 500 Jahren
für diese völlig veränderten Umweltbedingungen gesorgt.
In grauer Vorzeit waren einige Tausend Jahre für eine Klimaveränderung nötig gewesen, der Mensch hatte es in Zweihundert Jahren plus einen Tag Apokalypse geschafft. Doch die
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Natur hatte sich darauf eingestellt. Zumindest hier in Mitteleuropa. Aus den Unterlagen der Gen-Mutanten wussten wir,
dass sie den zentralen europäischen Raum nur mit wenigen
atomaren Raketen und relativ wenigen Bio- und Chemiewaffen
verseucht hatten. Schließlich hatten sie dieses Gebiet für ihre
eigenen Zwecke auserkoren. Ob es der Natur in den anderen
Teilen der Erde genauso gelungen war, sich zu regenerieren wie
hier, erschien zumindest sehr zweifelhaft.
So verbrachte ich den Morgen mit meinen Gedanken, bis wir
gegen Mittag eine Rast einlegten. Ein kleines Feuer züngelte vor
sich hin und wir bereiteten uns einen Tee aus Samsons Kräutervorrat zu, als Samsons Kopf hoch ruckte:
„Wir bekommen Besuch. Ich glaube nicht, dass es sich um
Angreifer handelt. Sie sind sorglos und machen eine Menge
Lärm. Haltet aber für alle Fälle eure Waffen bereit.“
Unwillkürlich zog ich meinen Speer dichter an den Körper
und überprüfte den Sitz meines Messers. Es dauerte noch ein
wenig, bis auch ich die Geräusche der herannahenden Menschen wahrnehmen konnte. Am Rande unserer kleinen Lichtung blieben die Neuankömmlinge stehen und riefen uns an:
„Hallo Feuer! Wir sind friedliche Wanderer, die nur hier
durchziehen. Dürfen wir ans Feuer kommen?“
Statt einer Antwort erhob sich Samson und winkte sie heran.
Nach und nach versammelten sich etwa 25 Männer, Frauen und
Kinder. Es schien sich nur um Normal-Gestaltete und Spinnenmenschen zu handeln. Sie alle trugen ausschließlich braune
Wildlederkleidung und waren offensichtlich Jäger und keine
Viehzüchter wie die Menschen in unserem Dorf. Wir hatten
schon lange die Kleidung aus dem 21. Jahrhundert verschlissen und trugen schwarze und braune Lederkleidung aus Kuhhäuten, was uns als Viehzüchter auswies. Nur Samson trug wie
immer sein Löwbärfell. Nach einer kurzen Begrüßung verteilten
sich alle auf der Lichtung. Der Anführer kam zu uns ans Feuer.
„Wir sind aus dem Städtchen Attadorn auf dem Weg zu unseren Verwandten, den Drolshagenern.“
Nachdem wir uns als Neu-Siegener zu erkennen gegeben
154
hatten, kamen wir ins Gespräch. Die Wanderer erzählten uns
einige sehr interessante Dinge.
„Wir sind auf unserer alljährlichen Reise zu unseren Verwandten. Jedes Jahr kurz vor der Sommersonnenwende verlassen alle Familien unsere Dorfgemeinschaft Attadorn, um erst
sieben Tage später zurückzukehren.“
Obwohl ich mir natürlich denken konnte, warum gerade zu
dieser Zeit das Dorf verlassen wurde, fragte ich nach.
„Diese Zeit ist seit Generationen tabu! Jeder, der sich um die
Sommersonnenwende dort aufhält, wird von fliegenden Schiffen verfolgt und durch Blitze getötet. Doch was treibt euch in
diese Gegend?“
Ich wollte natürlich nicht sofort mit der Tür ins Haus fallen
und versuchte es daher mit vorsichtigen Worten.
„Wir haben von den Höhlen in Attadorn …“
„Tabuuu!Tabuuu!“ schallte es uns aus 25 Kehlen entgegen.
Und wieder: „Tabuuu!Tabuuu!“ Das Geräusch das sie dabei
erzeugten ging durch Mark und Bein.
Bevor ich nach dem Grund für ihr Tabu fragen konnte, sprach
uns der Anführer mit Nachdruck an. „Niemand darf sich den
Höhlen nähern! So steht es seit Generationen geschrieben! Ich
rate euch, nicht dorthin zu gehen. Schon gar nicht um diese
Zeit! Es würde euren Tod bedeuten!“
„Nun gut. Wir haben eine sehr wichtige Mission zu erledigen.
Könnt ihr uns zumindest den Weg zu den Höhlen beschreiben?“
Der Anführer der kleinen Schar schaute uns missbilligend an.
„Wenn ihr unbedingt sterben wollt? Ich habe euch gewarnt!
Heika ist eine unserer besten Jägerinnen. Sie hat als Kind verbotenerweise oft bei den Höhlen gespielt. Manchmal glaube ich,
dass sie sich auch heute noch gelegentlich dort herumtreibt. Sie
kann euch den Weg am besten erklären. Heika!“
Der Anführer erhob sich und machte Platz für die angesprochene Jägerin. Als sie an dem Anführer vorbei ging, fiel
mir zuerst ihre Größe auf. Sie war um die dreißig und mit rund
1,70 Metern relativ klein in einem Umfeld von Menschen,
deren Körpergröße oft bei zwei Metern lag. Die vierarmigen
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Spinnenmenschen waren sogar in der Regel noch größer. Ich
stellte sie mir neben dem riesigen Samson vor und musste
grinsen. Wie Patt und Pattachon, zwei der unterschiedlichsten
Typen aus der Stummfilmzeit!
Mein Grinsen schien sie irgendwie zu Irritieren. Ihre gerade
noch fragenden Augen veränderten sich plötzlich zu schmalen
Schlitzen, die Blitze in meine Richtung zu schießen schienen.
Meine Güte, was für Augen! Ich versuchte das Grinsen in ein
Lächeln umzuwandeln, was mir wohl leidlich gelang, denn sie
wandte sich an meine Freunde und stellte sich kurz vor. Ich
beobachtete sie dabei.
Sie hatte tiefschwarze, kurze Haare mit einer weiß-gefärbten
Strähne. Auf ihrem sympathischen Gesicht hatten sich ein paar
Sommersprossen verteilt. Um ihre Mund- und Augenwinkel
zeigten sich kleine Lachfältchen, welche ihr Gesicht noch anziehender machten. Ihr Körper war gut durchtrainiert, bis auf ein
kleines süßes Bäuchlein. Sollte sie …?
Heika setzte sich zu uns und begann ohne Umschweife:
„Wenn ich euch schon in den Tod schicken soll, dann müsst
ihr mir alles erzählen. Ich will genau wissen, was ihr vorhabt,
sonst bleiben meine Lippen stumm!“
Wir schauten uns an. Sie konnte für uns wichtige Informationen haben und so begann Samson zu erzählen, was mich etwas
verwunderte. Normalerweise überließ er uns ausführliche Schilderungen. Heika hörte sehr aufmerksam zu. Als Samson geendet hatte, rechneten wir mit der Wegbeschreibung ihrerseits.
„Ich werde euch begleiten. Ohne mich habt ihr keine Aussicht auf Erfolg!“
Heika erhob sich und teilte ihre Entscheidung dem Anführer
mit. Sofort erhob sich dieser, schaute Heika noch einmal bedauernd an und gab dann das Zeichen zum Aufbruch. Während
sich die kleine Lichtung leerte, waren wir immer noch perplex.
Schließlich trat Samson vor und ging auf Heika zu.
„Heika, so sehr ich deine Erfahrung auch schätze, du kannst
nicht mit uns kommen. Es ist viel zu gefährlich.“
„Gefährlicher als für euch? Das glaube ich dir nicht!“
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„Du kannst nicht mitkommen“, wiederholte Samson, „nicht in
deinem Zustand!“ Auch er hatte das Bäuchlein gesehen und
zeigte darauf. Für eine Sekunde stutzte Heika, schaute hinunter
auf ihren Bauch und fing schallend an zu lachen.
„Ihr denkt, ich sei schwanger? Nein, nein. Das sieht nur so
aus. Wir haben jedes Jahr vor der Sommersonnenwende ein
drei-tägiges Fest mit allem, was die Speisekammern zu bieten
haben. Da hab ich es wohl etwas mit dem Essen übertrieben“,
und etwas leiser fügte sie hinzu: „Mein Gefährte ist vor fast
genau zwei Jahren gestorben. Ich kann nicht schwanger sein.“
Damit war die Sache für sie erledigt. Zehn Minuten später
hatten wir unser Lager abgebrochen und wir marschierten
weiter. Heika voran. Bis zum Abend folgten wir dem Weg, den
unsere neue Gefährtin und ihre Familie zuvor gegangen waren.
Wir lagerten direkt an einem kleinen See. Mein Appetit war
nicht sonderlich groß. Mir schwirrten allerlei Gedanken durch
den Kopf und ich entschloss mich zu einem Rundgang um den
See. Als ich gut 300 Meter von unserem Lagerplatz entfernt war,
hörte ich ein plätscherndes Geräusch.
Neugierig schaute ich durch die Bäume des Seeufers und
erkannte Heika splitternackt durch den See schwimmen. Sie
schien das Bad zu genießen, kraulte, tauchte und ging dann in
die Rückenlage über. Ihre Brüste hoben und senkten sich im Takt
der Kraulschläge. Ein sehr ästhetischer Anblick. Ein kurzer Blick
auf ihre Schamgegend bestätigte meine Vermutung. Ihr schwarzes Haar war nicht überall schwarz! Wieder einmal musste ich
grinsen. Die Frauen in allen Zeiten hatten eines gemeinsam: Den
Spaß, ihren Körper zu schmücken, egal ob es Schmuck, Tatoos
oder gefärbte Haare waren. Gerade als ich mich wieder auf den
Weg machen wollte, spürte ich jemanden hinter mir. Natürlich,
das konnte nur Sally sein.
„Na mein Lieber? Gefällt dir, was du siehst?“ Langsam drehte
ich mich um.
„Ich, äh, ja, äh, nein … Ich wollte gerade …“
„Ganz ruhig Frank. Ja, sie ist eine schöne Frau. Aber ich weiß,
das sie nicht auf dich steht.“ Während sie dies sagte, umarmte
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sie mich mit beiden Armen und zog mich an ihren Körper. Wir
liebten uns im weichen Gras, als wäre es das letzte Mal und
vielleicht sollte das ja sogar stimmen …
Attadorn (8.Tag)
Heika hatte uns am nächsten Tag noch vor Mittag nach Attadorn geführt. Wir standen in dichtem Gebüsch und beobachteten seit geraumer Zeit den Eingang der Höhle. Er lag etwas
höher als unser Standort, ein breiter Weg schien einen Berghang hinauf dorthin zu führen. Wenn wir es von hier aus richtig
erkennen konnten, verschloss ein großes Tor den Eingang.
„Soweit ich mich an die Besichtigung der Tropfsteinhöhle
erinnern kann, war der Weg zur Höhle damals nicht so breit
ausgebaut und das Eingangs-Portal wesentlich kleiner“, erinnerte sich Sally. „Vielleicht haben die Mutanten die Höhle für
ihre Zwecke ausgebaut. Da war sicherlich schweres Arbeitsgerät erforderlich.“
„Wie dem auch sei. Wir hocken hier seit fast zwei Stunden“,
warf Pierre ungeduldig ein. „Nichts und niemand scheint den
Eingang zu bewachen. Kameras sind auch keine zu entdecken.
Wir sollten endlich aufbrechen und schauen, ob wir überhaupt
in die Höhle hineinkommen!“
Ich wandte mich an Heika. „Du hast uns sicher hierher
gebracht, du musst nicht weiter mitkommen.“
„Ich muss nicht – aber ich will! Seit Kindertagen werde ich
von dieser Höhle angezogen, trotz unseres Tabus. Ich will endlich wissen, wie es da drinnen aussieht!“
Ich sah Samson Hilfe suchend an, doch der zuckte nur mit
den Schultern. Wir brachen auf. Vorsichtig, immer wieder nach
Kameras oder Wachen spähend, näherten wir uns über die
breite Auffahrt dem Eingang. Schließlich standen wir vor dem
riesigen Tor. Es war aus Stahl und bestimmt 5 x 5 Meter groß.
Kein Griff, kein Schloss, nur eine riesige Stahlplatte! Samson mit
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all seiner Kraft oder auch Sally mit ihren Schlossknacker-Fähigkeiten konnten hier absolut nichts ausrichten.
Vermutlich wurde die Stahlwand über ein Funksignal von
den Mutanten gesteuert. War das schon das Ende unseres Vorhabens? Ich sah in die enttäuschten Gesichter meiner Freunde.
Mein Blick wanderte zu Heika. Sie schien nicht besonders überrascht zu sein. Irgendetwas hatte sie noch in Petto! „Was ist?
Hast du noch eine Idee?“, fragte ich etwas unwirsch.
„Wenn du es genau wissen willst, ich hab da noch eine Idee.
Kommt mit.“ Sie führte uns zurück und um den kleinen Berg
herum. Schließlich stoppte sie, als suche sie etwas. Sie räumte
einige Äste und Büsche beiseite und grub mit ihren Händen
oberflächlich in der Erde herum. Schließlich hatte sie das Objekt
ihrer Begierde gefunden. Neugierig ging ich auf sie zu. Ein alter
Grenzstein!
„Hier müssen wir hoch. Oben auf dem Berg gibt es eine
alte Tür. Vielleicht kommen wir dort hinein. Ich hab sie als Kind
gefunden und immer davon geträumt, sie irgendwie aufzubekommen. Vielleicht schaffen wir es ja gemeinsam!“
Heika kletterte voran. Die Wand war ziemlich steil, Sträucher
und Bäume versperrten immer wieder den Weg. Oben angekommen, wandte sie sich erst nach links, danach wieder nach
rechts, um dann endlich noch ein kleines Stück hinunter zu
klettern. Sie musste sehr oft hier gewesen sein, denn sie schien
jeden Felsen und jeden Baum zu kennen. Ich schaute Sally fragend an.
„Frank, ich habe keine Ahnung, wie weit die Höhle wirklich
reicht. Damals gab es eine Führung über etwa 800 Meter, die
fast nur aus ausgebauten Wegen und Stegen bestand. Wie
viele Seitenarme die Höhle außerdem noch hat, weiß ich auch
nicht. Jedenfalls sagte der Führer, sie sei noch nicht vollständig erschlossen und hätte wahrscheinlich eine Ausdehnung von
mehr als sechs Kilometern.“
Wir kraxelten mühevoll weiter. Schließlich hielt Heika an,
räumte einen kleinen Busch beiseite und da war er dann: Ein
etwa ein mal ein Meter breiter Eingang, verschlossen mit einer
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Tür aus Stahlblech. Diese Tür stammte auf jeden Fall noch aus
der Zeit vor der Katastrophe. Die alte grüne Farbe war an vielen
Stellen abgeplatzt und von borkigem Rost unterwandert. Oberhalb eines Schlüssellochs gab es einen ehemals schwarzen,
eisernen Griff. Ich fasste danach und hatte ihn gleich darauf in
der Hand. Durchgerostet, abgerissen.
Die Tür an sich machte allerdings noch einen relativ stabilen
Eindruck. Das Schloss von Sally knacken zu lassen, würde sinnlos sein. Wind und Wetter hatten es festrosten lassen. Hier half
nur noch rohe Gewalt. Ich machte Platz für Samson. Er erledigte
es dann mit Köpfchen und Kraft. Seine Finger tasteten zunächst
rund um die Tür, dann um den Rahmen.
Schließlich fand er eine Lücke, die groß genug war, um mit
seinen Fingern hineinzugreifen. Unsere Führerin schaute mit
skeptischem Blick zu. Sie glaubte wohl nicht, dass Samson diese
Tür aufbrechen könnte. Samsons Arme und Schultern spannten
sich, seine gewaltigen Muskeln traten hervor. Die Tür knirschte,
gab aber nicht nach. Er veränderte seinen Stand, um seine
Kräfte besser einsetzen zu können. Ein gewaltiger Ruck, Steine
brachen aus dem Fels hervor und unser Freund hatte die Tür
mitsamt der Angel herausgerissen. Ich hielt den Atem an. Insgeheim hatte ich mit heulenden Alarmsirenen gerechnet, doch
es blieb still. Während Samson die Tür beiseite schob, schaute
ich nach verborgenen Drähten. Nichts. Die Mutanten schienen
diesen Eingang nicht zu kennen.
Samson hatte es besonders schwer, sich durch den Eingang
zu quetschen. Seine riesige Körpergröße und seine extrem
breiten Schultern waren hier von Nachteil. Wir hatten einige
Fackeln aus unseren Rucksäcken geholt, zündeten sie an und
schauten uns um.
Eine kleine Höhle tat sich vor uns auf, hier und da gab es
einige Tropfsteingebilde, manche davon waren beschädigt.
Vielleicht war dieser Eingang der ursprüngliche Einstieg gewesen und man hatte später erst das jetzige große Tor angelegt.
Hoffentlich gab es eine Verbindung zu den anderen Teilen der
Höhle. Am Ende gab es zumindest einen kleinen Gang.
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Im Gänsemarsch steuerten wir darauf zu. Wir kamen nur sehr
langsam voran, immer wieder gab es enge Spalten, durch die
wir kriechen mussten. Hier und da konnte man die Schönheit
der Höhle ahnen.
Nicht nur Stalagmiten und Stalaktiten, sondern auch gardinenartige Fächer und regelrechte Skulpturen säumten unseren
Weg. Nach einiger Zeit gelangten wir in einen größeren Raum
des Höhlensystems. Es reichte ein Blick und die aufkommende
Begeisterung für die wunderbare Tropfsteinwelt war vergessen.
Diese Halle hatte sicherlich eine Größe von 250 Quadratmetern.
Auf der gegenüberliegenden Seite unseres Standortes schien
eine Betonwand zu verlaufen. Seitlich waren einige Gitter angebracht, die jeweils mannshohe Röhren verschlossen. Sie schienen in die Betonwand zu führen.
Doch nicht dieser Stilbruch schockierte uns, sondern die Skelette, die überall auf dem Boden herumlagen. Es mussten Hunderte sein, Stofffetzen hingen hier und dort an den Knochen.
Einige hatten schwarze Anzüge an, die wir sehr gut kannten.
Zuletzt hatten wir sie in dem Gebäude am Kölner Dom gesehen, als Samson den weißen Gen-Mutanten besiegt hatte. Fassungslos wateten wir durch das Knochenmeer. Wir erreichten
die Betonwand mit den Gittern.
„Was hier wohl geschehen ist?“ Pierres Stimme hatte unwillkürlich einen gedämpften Tonfall angenommen.
Samson war sonst nicht so leicht aus der Ruhe zu bekommen, aber als er jetzt sprach, zitterte seine Stimme vor unterdrückter Wut.
„Das ist gar nicht so schwer zu erraten. Die Mutanten haben
dieses Gebilde hier bauen lassen“, er wies auf die Betonwand.
„Als die Arbeiten erledigt waren, haben sie die Arbeiter umgebracht und einfach weggeworfen. Und ihre Schwarz-gekleideten Aufpasser gleich mit. Niemand sollte hiervon erfahren.“
Ja, das klang logisch. Trotz des Ekels über die Tat, schoss mir
ein Gedanke durch den Kopf.
Irgendwie mussten diese Menschen ja hier hineingekommen
sein, sei es schon tot oder auch noch lebendig.
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In der Nähe musste es es also einen Zugang geben! Ich hob
meine Fackel in Augenhöhe und suchte die Betonwand nach
Lücken ab. Mit der rechten Hand fuhr ich immer wieder über
die raue Oberfläche der Wand. Ein schmaler Ritz, ein kleines
Schlüsselloch oder ein versteckter Türgriff musste doch zu
finden sein. Meine Freunde hatten sofort verstanden, was ich
mit meiner Suche erreichen wollte. Auch ihre Hände tasteten
Zentimeter für Zentimeter den Beton ab. Am Ende der Wand
wurde Sally schließlich fündig. Ein kleines Schlüsselloch war
ihrer Aufmerksamkeit nicht entgangen.
„Hierher! Ich hab den Eingang gefunden!“
Wir schauten uns diesen möglichen Eingang genau an. Das
Schlüsselloch war sehr klein und die Umrisse der Tür waren nur
aus nächster Nähe auszumachen, so geschickt war sie in der
Wand eingelassen.
„Was machen wir nun? Brechen wir die Tür auf?“
„Nein Pierre, lass es erst einmal Sally versuchen. Schließlich
hat sie schon einmal eine Tür geknackt. Wir sollten so wenig
Spuren wie möglich hinterlassen.“
Samson hatte recht. Ein gewaltsamer Einbruch dürfte auch
hinter der Betonwand Spuren hinterlassen. Wenn unsere Vermutung richtig war, befand sich hinter der Tür ein Gang, der
zum Versammlungsort der Gen-Menschen führte. Sally kramte
in ihrem Rucksack, holte zwei Drahtstücke hervor und begann
in dem kleinen Schloss herumzustochern. Schon nach kurzer
Zeit machte es „klick“ und die schwere Tür schwang geräuschlos
nach innen auf. Fantastisch!
Wir schauten erwartungsvoll in den Gang hinein, doch nichts
als absolute Dunkelheit erwartete uns hier. Samson nahm seine
Fackel und machte den ersten Schritt hinein. Kaum hatte er den
Boden des Ganges berührt, flammte auch schon ein Licht auf.
Ich bemerkte, wie der Riese kurz zusammenzuckte, dann aber
unbekümmert weiter hineinging. Wir folgten ihm und schauten
uns um. Das Licht reichte etwa 20 Meter vor und hinter den
jeweiligen Standort. Wahrscheinlich handelte es sich um im
Fußboden eingelassene Sensoren, die das Licht immer nur in
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einem begrenzten Bereich an- und ausschalteten.
„Hier brauchen wir keine Fackeln“, war Pierres Kommentar.
Wir gingen zurück in die Höhle, löschten alle Fackeln und deponierten sie so, dass man sie nicht sofort bemerkte, aber dass
sie dennoch für uns schnell zu erreichen waren. Als wir wieder
in den Gang traten, bemerkten wir auch unsere Fußspuren, die
wir als Kalkablagerungen aus der Höhle hineingetragen hatten.
Also wieder in die Höhle hinein, alle Spuren im Gang beseitigen und unsere Schuhe gründlich reinigen. Endlich waren
wir alle im Gang versammelt, die Tür fiel hinter uns zu. Erst in
diesem Augenblick erkannte ich die Schienen, die an der anderen Seite des Ganges entlangliefen. Hier musste wohl früher
schweres Material transportiert worden sein, vermutlich für
den Bau der Anlage. Die Schienen waren in sehr gutem Zustand
und relativ blank. Das zeigte uns, das zumindest hin und wieder
immer noch Dinge darauf transportiert wurden.
Wir machten uns auf, den Versammlungsort der Gen-Mutanten zu erkunden. Da wir keine Ahnung hatten, in welchem Teil
der ehemaligen Tropfsteinhöhle wir uns befanden, war es egal,
in welche Richtung wir gingen. Wir entschlossen uns für den
Gang, der nach links führte.
Das Licht sprang vor uns lautlos an und erlosch hinter uns
wieder. Wir hatten ungefähr einen Weg von 200 Metern zurückgelegt, als wir eine Wand erreichten. Bisher waren wir an keiner
Abzweigung oder Tür vorbeigekommen. Wir näherten uns dem
Hindernis. Ich befühlte die Wand und tastete sie forschend ab.
„Stahl! Von der Größe her würde ich sagen, es handelt sich
um das Eingangstor. Wir sollten nach einem Mechanismus
suchen, der es uns ermöglicht sie von innen zu öffnen – falls wir
später schnell verschwinden müssen.“
Lange Suche war nicht notwendig. Rechts neben dem Stahltor befand sich ein Hebel. Wir waren uns sicher, mit ihm das Tor
öffnen zu können. Wir unterließen es jedoch, ihn zu betätigen.
Niemand konnte wissen, ob er nicht irgendwo ein verstecktes
Alarmsignal auslösen würde. Etwas erleichtert, eine zweite
eventuelle Möglichkeit zur Flucht gefunden zu haben, machten
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wir kehrt. Seitlich neben dem Eingangstor setzte sich der Gang
in etlichen Windungen fort. Vermutlich folgte er dem ursprünglichen Verlauf der Höhle. Nach der letzten Biegung gabelte sich
der Gang. Kurz hinter der Gabelung zeigte sich die erste Tür im
linken Abzweig. Sie war nummeriert. Die Zahl 48 stand dort. Die
Tür war unverschlossen und wir gingen hinein. Licht flutete auf
und vor uns tat sich ein etwa 40 Quadratmeter großes Appartement auf. Es sah aus wie in einer auf gehobenem Standard eingerichteten Hotelsuite. Alles, was man zum Wohnen braucht,
war vorhanden, es hatte einen geradlinigen, nüchternen Stil.
Das Bett maß etwa 2,50 Meter im Quadrat und schien wie
frisch bezogen. Kein Fältchen war zu sehen. Dusche, Toilette,
Waschbecken, Spiegel, alles von hervorragender Qualität. Mehrere Bildschirme über einer Sitzgelegenheit rundeten das Bild
ab. Wahrscheinlich dienten sie der internen Kommunikation.
Warum sie diese Einrichtung benötigten, war mir allerdings
schleierhaft. Hatte doch der getötete Mutant ausgiebig mit den
telepathischen Fähigkeiten seiner Gruppe geprahlt.
Heika hatte noch kein einziges Wort gesagt, seitdem wir in
den Gang eingedrungen waren. Jetzt stand sie staunend vor
dem Bett und wollte nach dem Stoff greifen.
„Nichts anfassen! Die Mutanten haben ein ausgezeichnetes
Gedächtnis. Vielleicht sogar ein fotografisches.“
„Was meinst du mit ,fotografisch‘?“
Ich überlegte kurz. „Das bedeutet, dass sie sich sehr genau
an alles erinnern, was sie jemals gesehen haben. Wenn wir
hier also etwas in Unordnung bringen würden, könnten sie es
bemerken!“
Heika nickte verstehend. Für sie musste es sehr schwer sein,
so viele neue Eindrücke zu verarbeiten. Das fing wohl bei der
Bettwäsche an und hörte bei der Toilette auf. Wir verließen den
Raum und achteten sorgfältig darauf, keine Spuren hinterlassen
zu haben. Von nun an reihte sich ein Raum an den anderen.
Zwei weitere schauten wir uns noch an. Die Nummern 47 und
46. Alles gleich! Je tiefer wir in die Anlage vordrangen, umso
niedriger wurden die Zahlen. Wie ich erwartet hatte, gab es 48
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Apartments, genau jeweils eines für die uns bekannte Zahl der
Gen-Mutanten. Nun ja, es waren ja nur noch 47, seit unserem
Abenteuer in Köln.
Wir warfen noch einen kurzen Blick in den Raum von
Nummer Eins. Alles war gleich, nur war hier der Bildschirm
wesentlich größer – hier liefen wohl die Fäden zusammen. Nun
wurde es interessant. Gab es noch weitere Räume und wenn ja,
wozu dienten sie? Einen Konferenzraum gab es sicherlich auch
noch. Wohin führten die Schienen? Ihr gepflegter Zustand wies
darauf hin, dass sie auch heute noch einem bestimmten Zweck
dienten.
Wir verließen Raum Nummer Eins. Etwa 50 Meter weiter
wurden wir erneut fündig. Die Ziffer „0“ stand an der Tür. Als wir
sie öffneten, war uns sofort klar: Dies musste der Konferenzraum sein. Es war der bisher größte Saal. In der Mitte stand ein
riesiger, runder Tisch mit 48 Stühlen. Im ersten Moment dachte
ich an König Artus und die Tafelrunde. Der Gedanke verbot sich
mir aber sofort.
Dies war keine Runde, die sich mit Gerechtigkeit und Ritterlichkeit beschäftigte, sondern mit Massenmord und Größenwahn, eine wahre Teufelsrunde. Wir verließen den Raum.
„Sally, kannst du dich noch ungefähr daran erinnern, wie
groß die Höhle war?“
„Nach meiner Schätzung dürfte das ursprüngliche Höhlenende fast erreicht sein. Die Mutanten haben sie aber ausgebaut, sonst könnten nicht so viele Seitenräume existieren. Von
der ursprünglichen Schönheit dürfte wegen des Ausbaus nichts
mehr übrig sein. Die wenigen Tropfstein-Formationen, die wir
bei unserem Einstieg gesehen haben, sind sicherlich der kärgliche Rest.“
Wir folgten weiter dem gewundenen Gang. Etwa zweihundert
Meter schlängelte er sich ohne irgendeinen Einlass dahin. Vermutlich waren die Felsen hier zu hart gewesen, um Platz für
Räumlichkeiten zu schaffen.
Dann endete der Stollen, Weg und Schienen gabelten sich ein
weiteres Mal und es tat sich vor uns jeweils eine lange Gerade
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mit zahlreichen Türen auf. Wir entschieden uns wiederum für
den linken Weg. Die Türen waren hier mit römischen Ziffern
gekennzeichnet. Die ersten beiden Räume waren Kühlkammern, hier wurden große Mengen von Lebensmitteln tiefgefroren gelagert. Man hörte das leise Summen der Kühlaggregate.
Dass die Mutanten über beträchtliche technische Möglichkeiten verfügten, war uns spätestens nach der Sichtung ihrer
Fluggeräte klar geworden. Eine dauerhafte Energieversorgung
für diese Höhlen herzustellen, dürfte kein Problem für sie gewesen sein.
Nach den Kühlkammern folgte eine Küche mit Speisesaal.
Weitere Räume beinhalteten Werkzeuge, elektronische Bauteile, Kleidung, allerlei Möbel und was man sonst noch so für
ein angenehmes Leben benötigte. Am Ende des Ganges ging
es nach rechts. Hier gab es eine große Zahl von Laborräumen,
ich zählte zwanzig davon. Aber der riesige Komplex ging noch
weiter. Wir passierten mehrere Gabelungen, die jedoch nicht
mit Schienen ausgestattet waren. Wir hielten uns an die Schienen, um uns nicht zu verirren.
Schließlich meinte Samson: „Wir sind auf dem Weg zurück.
Zur ersten Gabelung. Wir müssen einen Ort finden, der weit
genug entfernt von den Wohnräumen der Mutanten ist. Sie
dürfen uns nicht spüren. Irgendwo müssen wir ja auch die Nacht
verbringen, es ist nämlich schon spät.“
Plötzlich fiel mir etwas ein. „Freunde, sucht weiter, ich gehe
noch einmal zurück. Ich habe da eine Idee, wie wir es den
Mutanten schwerer machen können, uns aufzuspüren. Lasst
einfach eine Tür offen stehen, ich finde euch dann. Es dauert
nicht lange.“
Ehe jemand eine Frage stellen konnte, spurtete ich los. Ich
wusste genau, wo ich hinwollte. Ich lief an den Laborräumen
vorbei und kam wieder in den Gang mit den verschiedensten
Artikeln. Ich suchte Raum Römisch-Zehn, den zehnten Raum.
Da war er endlich. Ich öffnete die Tür und trat ein.
Sofort flammte das Licht auf und ich sah etwa 200 Quadratmeter vor mir, die mit Kleidung gefüllt waren. Ich kam mir
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vor wie in der Textilabteilung bei Karstadt. Rundherum hingen –
fein säuberlich aufgereiht – die verschiedensten Kleidungsstücke. Doch ich interessierte mich nur für eine bestimmte Farbe:
Weiß! Da waren sie, an der hintersten Wand.
Zuerst Laborkittel, dann die Schutzanzüge. Ich suchte nach
bestimmten Schutzanzügen. Ja, auch die hatte ich gefunden.
Schutzanzüge, wie der getötete Mutant sie getragen hatte.
Mehrere hundert Stück in verschiedenen Größen. Ich bediente
mich. Zwei Anzüge in meiner Größe für Pierre und mich. Einen
kleinen und einen etwas größeren für Heika und Sally. Dann den
größten für Samson. Von seiner Größe gab es die meisten, viele
der Mutanten mussten eine enorme Größe haben.
Nachdem ich die alte Ordnung bei den Schutzanzügen möglichst genau wieder hergestellt hatte, verschwand ich aus dem
„Kaufhaus“. Nun ja, bezahlt hatte ich nicht, aber es gab auch
niemanden, der kassieren wollte. Voll gepackt machte ich mich
auf die Suche nach meinen Freunden. Als ich die Stelle erreicht
hatte, an der ich sie verlassen hatte, stand Sally immer noch
dort.
„Was ist los? Warum seid ihr nicht weitergegangen?“
Sie fasste mich am Arm und zog mich in Richtung des ersten
Raumes. Erst jetzt fiel mir auf, dass die Schienen hier eine
Abzweigung in diesen Raum hatten.
„Schau selbst. Wir sind fündig geworden.“
Ich trat in die Halle, sie war ebenso groß wie die Kleiderkammer. Ich staunte nicht schlecht. Kisten über Kisten – voll mit
Munition! Einige davon waren offen, sie waren bis oben hin voll
gepackt. Munition für Gewehre und Pistolen, sowie Handgranaten. Das mussten eine Million- oder mehr Schuss sein! Eine
kleine Lore stand am Ende des Raumes auf den Schienen.
„Die dazu passenden Waffen gibt es in dann den nächsten
drei Hallen. Aber das Beste kommt noch!“ Sally führte mich ans
hintere Ende der Halle.
Zu meiner Überraschung gab es hier eine weitere Tür, die
offen stand. Samson und Pierre standen in der etwa fünfzig Quadratmeter großen Halle. Sprengstoff! Der komplette
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Raum war mit den verschiedensten Sprengstoffen und Zubehör gefüllt. Große Mengen Dynamit, zahlreiche Kisten mit dem
Plastiksprengstoff C4, noch größere Behälter mit TNT und was
es sonst noch so an hochexplosiven Stoffen gab. Dazu Zünder,
Sprengkapseln und Zündschnüre.
Soeben waren unsere Chancen, die Mutanten auszuschalten, enorm gestiegen! Jetzt brauchten wir nur noch einen
durchführbaren Plan.
Nachdem sich die Begeisterung über unseren Fund gelegt
hatte, richteten wir uns in dem Munitionsdepot häuslich ein.
Samsons Zeitgefühl sagte uns, das es kurz vor Mitternacht sein
dürfte. Wir alle waren müde und so beschlossen wir, unseren
Plan am Morgen zu entwickeln – frisch ausgeruht nach ein paar
Stunden Schlaf.
Mutanten (9.Tag)
Sally weckte mich zur letzten Wache. Ich hatte keine Ahnung,
wie spät es sein konnte. Die Nacht war jedenfalls sehr kurz
gewesen. Geschlafen hatte ich auch nicht lange – zu viele
Gedanken schwirrten in meinem Kopf herum. Sally legte ihren
rechten Zeigefinger an ihre Lippen und zog mich aus dem Munitionsdepot auf den Gang.
„Wir sollten uns einige Waffen aus dem anderen Raum
besorgen. Wir müssen uns verteidigen können, falls wir auf
die Mutanten stoßen sollten. Komm mit, hilf mir tragen. Jeder
sollte mindestens zwei Pistolen bei sich tragen.“
Ich nickte. Normalerweise hielt ich nichts von Schusswaffen,
aber hier waren sie wohl leider angebracht. Als wir den Waffenraum betraten, ging Sally suchend von einer Kiste zur nächsten. Sie wurde fündig, öffnete eine Kiste und reichte mir einige
in Ölpapier eingewickelte Pistolen. Als wir zurück in unseren
Schlafraum gingen, regten sich die anderen schon. Niemand
schien besonders gut geschlafen zu haben. Während wir eine
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kleine Mahlzeit vorbereiteten, durchstöberte meine Freundin
die Munitionskisten.
„Was macht Sally da?“
„Sie hat einige Pistolen geholt und sucht die passende Munition. Es könnte uns helfen, einige Waffen zu haben.“
Pierre nickte zustimmend. „Ich hab zwar keine Ahnung von
Pistolen, aber Sally kennt sich da ja ein wenig aus.“
Die kam soeben zurück mit einer Kiste voll Munition. Während wir noch frühstückten, lud sie jede Pistole sorgfältig auf.
Da ich wusste, was auf uns zukommen würde, erklärte ich
Heika erst einmal, was eine Pistole ist. Obwohl Samson schon
Schusswaffen kannte, gesellte er sich zu uns und hörte aufmerksam zu.
Schließlich hatte Sally alle Pistolen geladen und begann mit
ihren Erklärungen. Wie viele Schuss im Magazin waren, wo man
entsichern musste und so weiter. Anschließend führte sie Heika
und Samson noch einmal alles vor.
Für den Notfall musste das reichen. Nachdem der Unterricht an
den Waffen beendet war, setzten wir uns zusammen.
„Hat jemand eine Idee, wie wir vorgehen könnten?“ begann
ich die Runde.
Samson rieb sich seinen Drei-Tage-Bart. „Wenn dieser
Sprengstoff so mächtig ist, wie ihr sagt, könnten wir überall welchen deponieren und alles in die Luft jagen, sobald die Mutanten alle versammelt sind.“
„Das können wir nicht, Samson“, widersprach Sally. „Wenn
auch nur einer von ihnen den Sprengstoff zufällig entdecken
würde, wäre unser Plan gescheitert. Außerdem spüren sie
unsere Anwesenheit. Wahrscheinlich werden sie dann erst gar
nicht tief genug in die Anlage hereinkommen, damit wir sie in
die Luft sprengen können.“
Da fielen mir endlich wieder die Anzüge ein, die ich gestern
besorgt hatte! Ich sprang auf und lief zu dem Ort, an dem ich sie
abgelegt hatte. Ich nahm die Overalls und verteilte sie.
„Was sollen wir mit diesen Anzügen, Frank?“ Pierre schaute
mich verständnislos an.
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„Das sind genau die Overalls, die der Mutant in Köln getragen
hat, um sich vor den Gedanken der normalen Menschen zu
schützen.“
Ich erklärte auch Heika den Sachverhalt. „Vielleicht schützt
er ja auch umgekehrt und wir werden nicht so schnell entdeckt.
Wir sollten nur vermeiden, näher als zehn- oder zwanzig Meter
an die Kerle heran zu kommen. Wie wir wissen, war der Anzug
kein hundertprozentiger Schutz für diesen Mutanten. Er fühlte
sich in unmittelbarer Nähe von uns immer noch unwohl.
Doch da gibt es noch ein weiteres Problem. Morgen ist Sommersonnenwende. Wir wissen aber nicht genau, wann die Verbrecher ankommen werden.“
Heika hatte bisher nur aufmerksam zugehört und meldete
sich nun zu Wort. „Da kann ich helfen. Ich habe die fliegenden
Dinger immer beobachtet. Die meisten werden heute Abend
kommen, kurz vor Sonnenuntergang. Morgen früh kommen
dann noch ein paar Nachzügler.“
„Das heißt, wir müssen bis heute Abend unsere Falle fertig
gestellt haben, uns dann möglichst bis zum nächsten Tag
unsichtbar machen und den geeigneten Augenblick abwarten
bis wir hier alles in die Luft jagen. Aber natürlich kennt sich niemand von uns mit Sprengstoff aus, wir jagen uns wahrscheinlich
schon vorher selbst in die Luft! Falls es uns doch gelingt, den
Sprengstoff zu handhaben, gibt’s noch andere Probleme.
Ach ja, die Mutanten sollten auch alle hier in der Anlage und
wenn möglich an einem Ort versammelt sein. Allerdings wissen
wir noch nicht einmal, wie die Falle aussehen soll. Und wenn
es möglich ist, möchte ich natürlich auch noch mit heiler Haut
entkommen!“
Pierre hatte recht. Wir wussten nun schon einige wichtige
Fakten, aber wie wir vorgehen sollten, war immer noch unklar.
Wir redeten noch eine Weile durcheinander. Heika schien sehr
besorgt. Ihr Gesicht war schon ganz grau. Zu meiner Überraschung gesellte sich nicht Pierre zu ihr, sondern Samson. Er
nahm sie behutsam in seine starken Arme und redete mit ihr.
Ich stand auf und ging in den Sprengstoffraum.
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Mir kam da so eine Idee … Diesmal durchsuchte ich die Kisten.
Sally stand hinter mir und schaute zu. Endlich, hier waren die
Zündschnüre. Wenn das deutsche Erzeugnisse waren, gab es
auch eine ausführliche Bedienungsanleitung. Richtig. Hier stand
genau, wie man die Zündschnüre handhabte, mit welchem
Sprengstoff sie kompatibel waren und wie lange sie pro Meter
brannten. Es ging doch nichts über deutsche Gründlichkeit!
Schnell suchte ich noch den passenden Sprengstoff heraus.
Ich hatte meinen Plan, und wenn er gelang, kamen wir sogar mit
dem Leben davon. Als ich ihn dann vorgetragen hatte, herrschte
für einige Sekunden rundherum Schweigen. Samson fasste sich
als Erster.
„Frank, da sind ziemlich viele Wenn und Aber. Bist du sicher,
das es so funktionieren könnte?“
„Ich denke schon. Und mir fällt vor allem auch nichts Besseres ein. Habt ihr vielleicht noch eine andere Idee?“
Alle schauten betreten zu Boden. Keiner meiner Freunde
hatte eine Idee, die uns mehr Sicherheit geben konnte.
Schließlich fragte Heika: „Wer soll denn den Sprengstoff vorbereiten und auch zünden?“
Wie auf Kommando schauten mich alle an. So hatte ich mir
das eigentlich nicht vorgestellt.
„Ich helfe dir, Frank“, stand Sally mir bei, um dann resolut zu
ergänzen: „Und versuch bloß nicht, es mir auszureden!“
Ich versuchte es tatsächlich nicht. Insgeheim war ich froh,
dass Sally mir beistand. Sie würde im entscheidenden Augenblick den kühleren Kopf behalten.
„Gut, das ist nun geklärt. Wir sollten aber eines bedenken:
Der Sprengstoff wird hoffentlich den ganzen Berg in die Luft
jagen. Aber der besteht schließlich aus ziemlich viel Fels. Man
weiß ja nie“, Pierre holte Luft. „Vielleicht stürzt die ganze Anlage
aber auch erst nach und nach ein. Oder ein Teil bleibt stehen.
Die Mutanten sind ja nicht blöd. Sie werden für alle Fälle den
einen oder anderen Notausgang eingebaut haben. Danach
sollten wir zunächst noch suchen. Vielleicht können wir sie ja
verschließen, ohne das man es merkt. Wir wissen doch nicht
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einmal genau, wie groß die Anlage ist. Wir sollten sofort mit der
Suche anfangen, damit wir fertig sind, bevor die ersten Gleiter
hier ankommen.“
Alle erhoben sich, die Aufgaben waren verteilt. „Frank, Sally!
Wir fangen im Konferenzraum an und gehen dann in Richtung
der Räume, die wir noch nicht gesehen haben. Wir sind in einigen Stunden rechtzeitig zurück.“
Samson klopfte uns auf die Schultern. Sally und ich waren
nun allein mit meinem Plan. Sally und ich lasen uns noch einmal
die Anleitung für die Zündschnüre durch und suchten uns den
passenden Sprengstoff dazu. Wir leerten eine der Holzkisten und drehten sie um. Auf der Holzkiste platzierten wir den
Sprengstoff. Vorsichtig legte ich die Zündschnur an. Ich hatte
keine Ahnung, ob der Sprengstoff Erschütterungen ertrug oder
nicht und behandelte ihn deshalb wie rohe Eier. Ich hatte während der ganzen Prozedur seltsamerweise immer das Bild eines
alten Western im Kopf. Da wurde Nitroglyzerin transportiert
und bei einer starken Bodenwelle flog der ganze Wagen samt
Besatzung in die Luft.
Schließlich hatte ich die Zündschnur wie beschrieben angebracht. Schweiß tropfte von meiner Stirn. Um sicher zu gehen,
dass später auch der gesamte Vorrat hochgehen würde, platzierte ich rund um meine Bombe Teile von den anderen Sprengstoffen. Diese sollten wiederum das im gesamten Raum gelagerten Explosiv-Material hochjagen. So der Plan.
„Was meinst du, Sally: Wie lange benötigen wir von hier bis
zur Betontür, dann bis zum Bergausgang und haben dann noch
genug Zeit, um den Berg zu verlassen?“
„Wir sollten nicht zu knapp kalkulieren, uns allerdings auch
nicht zu viel Zeit lassen. Wer weiß denn schon, ob und wie lange
diese Verbrecher an einen Ort bleiben. Ich denke, dreißig Minuten dürften reichen. Wir kennen ja jetzt den Weg.“
Ich schaute noch einmal in die Beschreibung hinein. Dreißig Minuten bedeuteten fünfundvierzig Meter Zündschnur. Ich
wickelte die benötigte Länge ab und verteilte die Schnur spiralig im Raum. Sie durfte sich nirgendwo überschneiden, sonst
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könnte es vielleicht schon vorher knallen. Vorsichtig und sehr
darauf bedacht, die Lage der Zündschnur nicht mehr zu verändern, verließen wir den Raum. Gedankenverloren blickte ich
auf die Lore, die immer noch im Waffenraum herum stand. Mir
gingen die Bilder des Westerns nicht mehr aus dem Kopf.
„Was ist los, Frank? Was überlegst du?“
„Wir sollten noch eine zweite Bombe bauen. Für alle Fälle.
Wir legen sie in die Lore hinein und nehmen sie mit bis zur ersten
Gabelung. Dahinter befinden sich alle Räumlichkeiten der der
Mutanten. Wir könnten, wenn es nötig sein sollte, diesen Teil
sprengen und uns damit den Rücken freihalten. Außerdem
wäre auf jeden Fall der Haupteingang blockiert – eine Fluchtmöglichkeit weniger für die Kerle.“
Sally war einverstanden. Wir bauten eine zweite Bombe nach
dem gleichen Prinzip wie die erste, nur fahrbar und kleiner. Die
Zündschnur wickelte ich auf und legte sie mit in den Wagen.
Nach einigen Stunden trafen auch Heika, Pierre und Samson
wieder bei uns ein. Sie hatten einen Notausgang in einem der
hinteren Räume entdeckt und das Schloss von außen unsichtbar
mit einem Metallstück blockiert. Allerdings waren sie sich nicht
sicher, ob es der einzige Notausstieg war. Die Zeit hatte einfach
nicht gereicht, um jeden Raum gründlich zu untersuchen.
Wir mussten jetzt jederzeit mit der Ankunft der Gen-Mutanten rechnen und beschlossen, die Overalls anzulegen. Da wir
nicht wussten, wie lange wir sie tragen würden, erledigte jeder
von uns vorher noch seine natürlichen Bedürfnisse. Essen und
Trinken waren tabu. Ich hatte vorher noch einige Zweifel gehabt
wegen der Atmung im geschlossenem Anzug, aber es gab keine
Probleme. Der Stoff war luftdurchlässig. Auch das Sichtfenster
beschlug nicht.
Einen positiven Nebeneffekt hatte die weiße Farbe der Kleidung auch noch, sie hoben sich farblich nicht von den weißen
Wänden- und Fußböden der Gänge ab. Es war sicher eine technische Meisterleistung der Mutanten, solch einen Anzug herzustellen. Aber das interessierte mich wenig. Hauptsache, sie
konnten unsere Ausstrahlung nicht wahrnehmen, oder unsere
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Gedanken auffangen. Oder was auch immer sie an uns gewöhnlichen Sterblichen störte.
Das lange Warten begann.
Wir beschlossen, einen Wachposten an der ersten Gabelung
am Zugang zu den Quartieren der Mutanten aufzustellen. Von
dort aus musste es möglich sein, die Öffnung des Haupteinganges oder zumindest ihre herannahenden Schritte zu hören.
Sally, Heika, Samson und ich saßen in einem kleinen Kreis
zusammen, während Pierre Wache hielt. Wir unterhielten uns
mit gedämpfter Stimme und spielten alle möglichen Szenarien
durch, kamen aber immer wieder zum gleichen Ergebnis.
Die größten Möglichkeiten zur Ausschaltung aller Mutanten
ergaben sich, wenn alle versammelt waren, oder zumindest sich
in ihren Zimmern aufhielten. Natürlich wäre eine Sprengung
während der Nachtruhe die für uns sicherste Lösung gewesen,
aber durch Heika wussten wir ja, dass einige erst am nächsten
Morgen ankommen würden.
Also hieß das für uns, dass wir frühestens Morgen zur Sommersonnenwende im wahrsten Sinne des Wortes die Bombe
platzen lassen würden.
Samson bot sich an, die Zündung alleine durchzuführen,
doch niemand ging darauf ein. Schließlich kam Pierre zurück
und berichtete, dass das Tor geöffnet worden war. Wie abgesprochen, hatte er beim ersten Geräusch seinen Horchposten
verlassen und uns informiert. Soweit waren unsere Kalkulationen aufgegangen. Nun warteten wir auf den nächsten Tag und
hofften nicht entdeckt zu werden.
Sommersonnenwende (10.Tag)
In der Nacht zogen mir einige Gedanken durch den Kopf. Das
war ja auch nicht verwunderlich, bei dem, was morgen noch vor
uns lag. Meine Gedanken drehten sich aber kaum um die nahe
Zukunft, sondern um die Vergangenheit. Und das auch fast
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ausschließlich um die letzten zwei Jahre, von unserer „Ankunft“
bis zum gestrigen Tag.
Trotz aller Gefahren, Kämpfe und der fremden Umgebung
war es die schönste und aufregendste Zeit meines Lebens
gewesen! Und das sollte auch so bleiben!
Die Nacht verlief ausgesprochen ruhig. Obwohl wir jederzeit
mit unserer Enttarnung rechneten, schienen uns die Anzüge der
Mutanten vor ihren eigenen geistigen Fähigkeiten abzuschirmen. Daran hatten die „allwissenden“ Verbrecher wohl nicht
gedacht, dass man ihre eigenen Errungenschaften gegen sie
verwenden konnte. Obwohl sie sicherlich allen noch existierenden Menschen in fast jeder Hinsicht überlegen waren, hatten
wir offensichtlich eine Schwachstelle gefunden.
Um diesen Vorteil nicht zu verspielen, verzichteten wir
darauf, sie weiter zu beobachten. Wir konnten uns natürlich
nicht sicher sein, ob mittlerweile alle eingetroffen waren.
Trotzdem beschlossen wir aber, den Angriff nun endlich
durchzuführen. Ursprünglich wollten wir erst gegen Mittag
zuschlagen, aber in uns allen herrschte eine große Unruhe und
so entschlossen wir uns schon am Vormittag dazu.
Ein letztes Mal überprüfte ich die beiden Sprengladungen,
rechnete noch einmal nach, ob die Zündschnur für den großen
Raum auch wirklich 30 Minuten brennen würde. Für die Sprengladung in der kleinen Lore berechnete ich maximal 10 Minuten
Zündschnur. Kürzer war kein Problem, man konnte sie ja auch
mittendrin anzünden. Ich überprüfte die fünfhundert Jahre
alten Zündhölzer, die wir immer dabei hatten. Fünfzehn Stück
waren in der Schachtel noch übrig. Genug, auch wenn ein paar
nicht mehr funktionieren sollten. Sally, Pierre und Heika gingen
voraus. Samson und ich folgten mit der Lore, nachdem wir die
Zündschnur im Sprengraum angezündet hatten.
Ab jetzt lief die Zeit! Meine Befürchtungen, dass die Räder
der Lore quietschen könnten, bewahrheiteten sich Gott sei
Dank nicht. Das Fahrzeug schien des Öfteren bewegt worden zu
sein, schließlich waren die Piraten damals wohl von hier aus mit
Waffen versorgt worden.
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Wir bewegten uns sehr vorsichtig und leise. Hin und wieder
kamen wir an einer Abzweigung vorbei, aber Pierre gab uns
jedes Mal das „Alles Okay“ Zeichen.
Schließlich gelangten wir an die letzte Kreuzung. Hier wollten wir die Lorenbombe zünden. Nur noch wenige Meter bis
zu unserem Ausgang. Allerdings auch nur wenige Meter bis
zum ersten Zimmer der Mutanten um die Ecke. Ich wickelte
die Zündschnur ab, während Pierre um die Ecke spähte. Pierre
drehte sich um und kam die paar Meter zu uns zurück gelaufen.
„Alles klar. Keine Bewegung auf dem Gang. Lass uns das Ding
anzünden und dann nichts wie weg hier. Zehn Minuten sind
nicht gerade viel, um aus dem Berg herauszukommen!“
Gerade wollte ich die Lunte anzünden, doch es kam anders.
Wir hatten einen Fehler gemacht, Pierre hätte seine Position
nicht verlassen dürfen. Ob uns die Mutanten gespürt hatten,
oder ob es einfach purer Zufall war, ich weiß es nicht.
Plötzlich kamen jedenfalls vier von ihnen um die Ecke und
steuerten mit wild entschlossenen Gesichtern auf uns zu.
Heika stieß einen spitzen Warnschrei aus, unsere Köpfe
ruckten herum. Sally und Samson reagierten sofort, letzterer
jedoch anders als erwartet. Während Sally ihre Pistole zog und
sofort abdrückte, griff Samson zu seiner Keule und schleuderte
sie dem vordersten Angreifer mit all seiner Kraft ins Gesicht.
Ein dumpfer Aufprall, ein kurzes Knacken und der Mutant
fiel mit gebrochenem Genick zu Boden. Sally hatte ihr gesamtes Magazin verschossen und zwei der Angreifer getötet. Auch
Pierre und Heika zogen ihre Waffen, konnten aber nicht schießen, da Samson mit dem letzten Angreifer rang.
Wir wussten ja, welche gewaltige Kraft diese Kerle besaßen.
Samson und sein Gegner hatten sich regelrecht ineinander verkeilt und drückten sich gegenseitig die Kehlen zu.
Ein gespenstischer, fast lautloser Kampf. Pierre eilte Samson
zu Hilfe und stieß seinen Speer mit voller Wucht in den Rücken
des Gegners. Sofort lockerte sich der Griff um den Hals de s
Freundes, während dieser unvermindert zudrückte. Der Mutant
brach zusammen. Während Samson sich erschöpft den Hals
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rieb, rief Sally mir zu: „Die anderen kommen! Zünde die Sprengladung. Dreißig Sekunden!“
Ich riss mit zitternden Händen das Streichholz an und
schätzte die Länge der Zündschnur, die ich benötigte.
„Lauft! Schnell weg hier!“, schrie ich noch und die Lunte
begann zu glimmen.
Doch meine Warnung war überflüssig. Meine Freunde rannten schon, so schnell sie konnten, und ich natürlich hinterher.
Hinter meinem Rücken wurden Stimmen laut, die anderen
Mutanten waren wohl durch die Schüsse aufgeschreckt worden.
Ich blickte nicht zurück, sondern nur nach vorn. Endlich! Die
Tür! Samson stand daneben, schob gerade Pierre hindurch und
rief: „Schneller, Frank! Sie kommen gleich!“
Gerade als ich die Tür erreichte und Samson mich hindurchschob, explodierte unsere Lorenbombe.
Der Druck der ohrenbetäubenden Explosion schleuderte mich
weit in das alte Leichenfeld hinein. Für einen kurzen Moment
musste ich das Bewusstsein verloren haben. Ich spürte Hände,
die auf mein Gesicht einschlugen, öffnete verwirrt die Augen
und sah Sally und Pierre über mich gebeugt. Sie sagten etwas
zu mir, doch ich verstand kein Wort. Ich schüttelte verwirrt den
Kopf, während meine Freunde mich aufrichteten. Noch immer
konnte ich kein Wort verstehen.
Ich blickte mich um, sah Heika mit schneeweißem Gesicht
wie sie in Richtung Tür zeigte und für mich unhörbar etwas
rief. An ihren Mundbewegungen konnte ich ein Wort ablesen:
SAMSON! Wir drehten uns um zur Tür, besser gesagt, dorthin,
wo die Tür eigentlich hätte sein sollen.
Nicht nur die Tür, sondern auch mehrere Meter der Wand
waren verschwunden. Während ich mich so langsam wieder
aufrappelte, lief Heika auf das Loch in der Wand zu. Wir folgten ihr. Von Samson keine Spur, ihn musste die Explosion voll
erwischt haben. Wir erreichten den Gang. Rechts von uns war
die Decke mitsamt einigen Felsen herunter gekommen und der
Weg zu den Mutanten versperrt. Eine gute Nachricht! Doch wo
nur war Samson?
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Auch links von uns lagen etliche Felsbrocken. Mein Gehör
setzte langsam wieder ein, denn ich hörte Heika verzweifelt
nach Samson rufen. Sie kletterte über die Felsen und rief immer
wieder seinen Namen. Doch es kam keine Antwort. Sally, Pierre
und ich teilten uns auf und durchsuchten das Trümmerfeld.
Nichts, keine Spur von Samson. Er musste unter den Felsen
begraben sein. Pierre kam auf mich zu.
„Wir müssen schnell hier verschwinden, die Hauptexplosion
wird uns sonst alle töten! Vielleicht können wir noch später
nach ihm suchen!“
Verdammt, Pierre hatte recht. Die große Explosion! Wie viel
Zeit war vergangen? 25, 26 Minuten? Wir hatten die Lorenbombe früher gezündet als vorgesehen.
Genau in diesem Moment hörte ich Heikas Aufschrei: „Hier,
er ist hier. Ich hab ihn gefunden! Helft mir, schnell!“
Jetzt war es egal, ob wir noch Zeit hatten oder nicht. Wir
stürmten zu Heika. Ja, die Tür. Hinter der Tür hatte ich ihn zum
letzten Mal lebend gesehen. Er hatte mir noch einen letzten
Schubs gegeben, bevor es krachte. Unter der Tür sah ich Samsons linkes Bein herausragen. Mit vereinten Kräften schoben
wir einige Felsbrocken zur Seite und hoben vorsichtig die Tür an.
Samson lag vor uns, Blut lief über sein Gesicht. Er sah fürchterlich aus. Heika tastete vorsichtig nach seinem Hals um den Puls
zu fühlen, als ob sie Angst vor dem Ergebnis ihrer Untersuchung
hätte. Atemlos standen wir da und warteten.
„Er lebt! Er lebt!“ stammelte Heika, Tränen der Erleichterung flossen ihr übers Gesicht. Die Tür musste einen Großteil
der Explosion abgemildert und ihn vor den großen Felsbrocken
geschützt haben.
„Schnell, wir müssen hier raus, bevor der ganze Berg in die
Luft fliegt. Heika, Sally, die Füße! Wir nehmen den Oberkörper
und dann nichts wie raus hier.“ Pierres Stimme riss uns aus der
Erstarrung. Wir griffen uns den schweren Körper unseres riesigen Freundes und schleppten ihn durch die Felsengänge, in die
wir vor gerade mal zwei Tagen eingedrungen waren.
Mir kam es vor wie eine Ewigkeit. Doch diese Ewigkeit
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schien nun zu kurz für unsere Rettung zu werden. Wir zogen
und zerrten den bewusstlosen Samson in Richtung Ausgang.
Der Schweiß lief uns in Strömen an unseren Körpern hinunter.
Wir gingen dabei nicht gerade pfleglich mit dem Körper unseres
Freundes um. Doch auf ein paar Schnittwunden und Prellungen
mehr kam es jetzt auch nicht mehr an.
Wie viel Zeit blieb uns noch? Sekunden oder doch noch
Minuten? Ich wusste es nicht. Endlich erreichten wir die alte
Metalltür. Pierre stieß sie auf und kletterte hinaus, während
ich Samsons Oberkörper alleine festhielt, bis Pierre wieder mit
zufasste. Gemeinsam schoben und zerrten wir Samsons Körper
durch den kleinen Eingang an die Oberfläche. Wir hatten es
geschafft! Alle waren draußen. Gerade als wir den Feund den
Hügel hinunter schleiften, erfolgte die Explosion.
Die gesamte Bergspitze wurde gut einen Meter angehoben, um
dann in sich zusammenzufallen. Die Erschütterung riss uns von
den Beinen und wir rollten den Abhang hinunter.
Abgang
Immer wieder kullerten noch einige kleinere und größere Steine
den Berg herunter. Nachdem wir uns der weißen Schutzanzüge
entledigt hatten, schlugen wir unser Lager etwa fünfhundert
Meter entfernt auf.
Heika und Pierre verarzteten den gerade wieder erwachten
Samson. Er hatte etliche Schnittwunden und Prellungen. Der
linke Arm war gebrochen und wurde von den beiden geschient.
Sally und ich standen etwas abseits. Wir schauten zu den dreien
herüber.
„Da scheint sich ja was zwischen Samson und Heika zu entwickeln“, begann Sally, „hast du die Angst in ihren Augen gesehen,
als sie Samson gefunden hat?“
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Ich nickte. „Auch wenn ich vielleicht nicht der sensibelste im
Umgang mit Frauen bin, das habe sogar ich gesehen!“
„Apropos Sensibilität, Frank. Was machen wir zwei, wenn
wir wieder zurück in Neu-Siegen sind?“
Ich verstand nicht ganz, aber Sally schien eine Antwort zu
erwarten.
„Nun ja, ich denke, wir werden uns in unser kleines Zimmer
zurückziehen und erst einmal drei Tage schlafen.“
„Oh nein, mein Freund, ich werde das ganz bestimmt nicht
tun.“
Sally machte eine Pause und mir wurde ganz elend zumute.
„Sally, was meinst du damit?“
„Was glaubst du, warum ich in den letzten Wochen jeden Tag
sechzehn Stunden beim Hausbau gearbeitet habe?“
Ich verstand immer noch nicht.
„Frank, du bist ein Idiot! Du versteht wirklich nichts von Frauen.
Ich habe natürlich jeden Tag für unser Haus geschuftet!“
So langsam dämmerte es mir. Dann nahm mich Sally in den
Arm und flüsterte mir ins Ohr: „Du bist zwar ein Idiot, aber ein
sehr, sehr liebenswerter. Und ich liebe dich!“
Womit hatte ich das nur verdient …
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Der Autor
Winfried Steger
Jahrgang 1957, lebt und arbeitet er in Siegen/Westfalen.
Er schreibt seit einigen Jahren hauptsächlich Science-Fiction
Kurzgeschichten und hat mit „Sams Sohn I und II“ seinen ersten
kompletten Roman veröffentlicht, der jetzt durch den hier vorliegenden dritten Teil vervollständigt wird.
Zur Zeit arbeitet er außerdem an dem zweiten Band eines
illustrierten Vorlesebuchs für Kinder.
www.zibbelchen.de
Außerdem malt er leidenschaftlich gerne Landschaftsbilder
in Öl – zu sehen auf:
https://landschaftsmalereisteger.wordpress.com
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