WELCHE ZUKUNFT FÜR DIE PFLEGE IN EUROPA? INHALT 02 05 07 10 16 20 Pflege für die Zukunft: eine Vision für Europa Politische Plattform: die Zukunft des Pflegesektors Soziale Investitionen statt Sparpolitik Hochwertige Arbeitsplätze für hochwertige Pflege Befähigung von Einwanderern Förderung von Qualifikationen und Innovation PFLEGE FÜR DIE ZUKUNFT: EINE VISION FÜR EUROPA Die Arbeit im Pflegesektor unterliegt derzeit einem rasanten Wandel. Zunehmend alternde Bevölkerungen, finanzielle Anforderungen an arbeitende Familien, das Vertrauen der Regierungen in die privaten und gemeinnützigen Sektoren, die in dieser Branche eine zunehmend wichtige Rolle spielen sollen, sowie das Auftreten gewinnorientierter Anbieter von Pflegedienstleistungen (einschließlich multinationaler Dienstleister) haben allesamt weitreichende Auswirkungen. Das Zusammenspiel dieser Faktoren schafft neue Märkte und neue Arbeitsplätze und fördert ein nie zuvor da gewesenes Wachstum im Bereich der privaten Pflege, der derzeit ein zentraler und entscheidend wichtiger Sektor der Dienstleistungswirtschaft ist. Alle europäischen Bürger haben ein Grundrecht auf Zugang zu hochwertiger Pflege. Ganz besonders wichtig ist dieser Zugang für die schutzbedürftigsten Mitglieder unserer Gemeinschaften, nämlich die älteren Mitbürger, kleine Kinder und die Bedürftigen. Letztendlich liegen Gesundheit und Wohlergehen unserer Familien in den Händen jener, die unermüdlich arbeiten, um diese grundlegend wichtigen Dienstleistungen zu erbringen und dafür zu sorgen, dass jene, die Pflege brauchen, sie auch bekommen. Doch diese Arbeit ist geprägt von niedrigen Löhnen und Gehältern, unzureichender Ausbildung und schlechten Arbeitsbedingungen. Kostenorientierte Entscheidungen erweisen sich als schlecht für die Arbeitnehmer und unsere Gemeinschaften. Gewerkschaften, die Arbeitnehmer in den privaten und in den gemeinnützigen Sektoren vertreten, arbeiten zusammen, um dafür zu sorgen, dass auch die Meinungen und Anliegen der Arbeitnehmer gehört werden, wenn es darum geht, die Zukunft des europäischen Pflegesektors zu gestalten. WARUM UNS DIES WICHTIG SEIN SOLLTE DIE PLATTFORM FÜR DIE ZUKUNFT DER PFLEGE Europa als Ganzes ist derzeit besonders im Bereich der Langzeitpflege mit einem langfristigen strukturellen Mangel an Nachwuchskräften im Gesundheitswesen konfrontiert. Im Jahr 2010, zu der Zeit, zu der die Europa 2020-Strategie lanciert wurde, warnte die Europäische Kommission davor, dass bis 2020 zwei Millionen Pflegekräfte fehlen würden, wenn keine Gegenmaßnahmen ergriffen würden. Eine Million davon, so prognostizierte sie, würde im Langzeitpflegesektor fehlen.1 In ganz Europa müssen Entscheidungen zur Gestaltung unserer kollektiven Zukunft getroffen werden. Die europäischen Entscheidungsträger sind für die Schaffung einer fairen und gleichberechtigten Gesellschaft zuständig, in der unsere älteren Mitbürger, unsere Kinder, unsere behinderten Menschen und die Bedürftigen entsprechend gepflegt und betreut werden. Doch wenn nicht rasch gehandelt wird, könnte Europa zu einer Gemeinschaft werden, in der Pflege und Betreuung nur für die wenigen Wohlhabenden verfügbar ist und in der die Pflegestandards aufgrund halbherziger Ansätze nach unten gedrückt und unsere Bürger Risiken ausgesetzt werden. Europas Entscheidungsträger stehen vor wichtigen Beschlüssen über die Art der zu tätigenden Investitionen und der Richtlinien, die zum Schutz und zur Unterstützung unserer Gemeinschaften eingeführt werden. Die Zukunft unserer eigenen Pflege und der Pflege unserer Familien steht auf dem Spiel. Diese Plattform legt unsere Vision für einen europaweiten Pflege- und Betreuungsrahmen basierend auf der Sicherstellung eines höheren Grads an Investitionen dar, um hochwertige Arbeitsplätze gewährleisten zu können, während gleichzeitig hohe Pflegestandards und gleichberechtigter Zugang zu Pflege aufrechterhalten werden. Die Plattform für die Zukunft des Pflegesektors fordert vier Schwerpunktbereiche für ein gezieltes Handeln: Europäisches Gesundheitsforum Gastein (2010), Pressemitteilung: Possible shortage of up to two million health care workers by2020,<http://pr.euractiv.com/pr/possible-shortage-two-million-health-care-workers-2020-eu-taking-action-preventimpending-crisis> 1 2 1) Soziale Investitionen statt Sparpolitik – Europa ist mit einer Personalkrise im Pflegesektor konfrontiert. Werden die dringend erforderlichen Investitionen nicht getätigt, so werden allein im Bereich der Langzeitpflege laut Prognose der Europäischen Kommission bis 2020 eine Million Arbeitskräfte fehlen. Im Pflegesektor werden umfangreiche Investitionen benötigt, um Arbeitsplätze zu schaffen und weiterzuentwickeln und einer steigenden Nachfrage nach Pflegediensten in Europa entsprechen zu können. Der Pflegesektor wird als Schlüsselbereich für Beschäftigungswachstum anerkannt. Zielt dieses Beschäftigungswachstum auf die am stärksten betroffenen und schutzbedürftigsten Gruppen ab, so können Investitionen in Pflege dazu beitragen, dass der Teufelskreis von Sparpolitik, Desinvestition und anhaltender Krise in Europa durchbrochen wird. 2) Hochwertige Arbeitsplätze für hochwertige Pflege – Pflege ist eine grundsätzlich wichtige Dienstleistung, deren Qualität von Arbeitskräften abhängt, die über entsprechende Ausbildung und Arbeitsbedingungen sowie auch über ein Arbeitsentgelt, das ihren Fähigkeiten und Kompetenzen entspricht, verfügen. Doch Pflegekräfte gehören zu den am schlechtesten bezahlten Arbeitnehmern in Europa. Die Integration und Konvergenz des europäischen Markts für Pflegearbeit müssen so vonstatten gehen, dass die Arbeitnehmerrechte und Tarifverträge in ganz Europa gestärkt werden. Zur Unterstützung breiter gefasster sozialer Zielsetzungen muss Pflegepolitik auf europäischer Ebene mit einer Verpflichtung zu hoher Qualität, einem professionellen Pflegesektor mit übereinstimmenden und fairen regulatorischen Richtlinien umgesetzt werden. 3) Befähigung von Einwanderern – Pflegearbeit bietet Zuwanderern eine berufliche Laufbahn und die Arbeitskraft von Migranten hat das Potenzial dazu, ein Kernelement im erfolgreichen Übergang zu einem hochwertigen Pflegesystem, das auf hochwertigen Arbeitsplätzen basiert, zu sein. Um dies erreichen zu können sind Schutz vor Ausbeutung, klare Trennung zwischen Arbeits- und Einwanderungskontrollen, die Aufrechterhaltung von Menschen- und Arbeitnehmerrechten und Zugang zu Sozial- und Gesundheitssystemen für Zuwanderer erforderlich. 4) Unterstützung von Kompetenzen und Innovation – Eine ausgebildete, qualifizierte und gut ausgestattete Arbeitnehmerschaft ist für die Erbringung hochwertiger Pflegedienste grundlegend wichtig. Der beste Weg dazu, dies zu erreichen, führt über die Nutzbarmachung und Verbesserung von Kenntnissen und Kompetenzen durch Zugang zu lebenslangem Lernen, das Aufhalten der hohen Fluktuation von Mitarbeitern und die Einführung innovativer Technologien, von denen die Pflegeempfänger profitieren, statt von Technologien, die lediglich Kosten einsparen sollen. Die im Rahmen dieser Plattform dargelegten Faktoren können eine grundsätzliche Rolle dabei spielen, sicherzustellen, dass der Pflegesektor auch weiterhin sozialen Zusammenhalt und Gerechtigkeit für Gemeinschaften in ganz Europa fördert. Wir müssen uns mit dem Arbeitskräftemangel im europäischen Pflegesektor befassen und die Qualität der Erbringung von Dienstleistungen durch die Förderung höherer Löhne und besserer Bedingungen anheben. Alle profitieren von diesen Reformen – Dienstleistungsempfänger, Familienmitglieder, Arbeitnehmer und unsere Gemeinschaften. Dagegen setzt eine unterbezahlte, überarbeitete, unsichere, ausgebeutete und stark fluktuierende Arbeitnehmerschaft den bereits jetzt schon unterfinanzierten Sektor weiterer Gefahr der Verschlechterung der Qualität von Pflegeleistungen aus. Die Zukunft der Pflege ist für uns alle wichtig. Es ist an der Zeit, in unsere kollektive Zukunft zu investieren, bevor es zu spät ist. 3 GESUNDHEITSPERSONALMANGEL SPARPOLITIK IN DER PFLEGE 2007 Europa droht ein Defizit von 1 Million Arbeitskräften für die Langzeitpflege bis 2020 ALTERNDE AGEING BEVÖLKERUNG Die Zahl der Personen über 80 wird sich bis 2030 um 68% erhöhen 2016 Europa ist der einzige Kontinent, auf dem die Pro-Kopf-Gesundheitsausgaben seit 2007 zurückgegangen sind UNTERSTÜTZUNG DER MIGRANTEN Ohne eine Erhöhung der Zahl der Arbeitsmigranten werden die Pflegebedürfnisse von Millionen älterer Europäerinnen und Europäer nicht erfüllt werden können 4 POLITISCHE PLATTFORM: DIE ZUKUNFT DES PFLEGESEKTORS Die Arbeit in Pflege und Betreuung ist ein wesentlicher Bestandteil der europäischen Gesellschaft. Sie umfasst eine breite Vielfalt an Diensten für Kinder, ältere Menschen, Kranke und Menschen mit Behinderungen, die in ihrer Gesamtheit das Wohlbefinden Einzelner und unserer Gemeinschaften gewährleisten. Die europäische Wirtschaft ist auf angemessene Pflege und Unterstützungsmaßnahmen angewiesen. Externe Pflegedienste helfen dabei, produktive Arbeitskraft von Familienmitgliedern für andere wirtschaftliche Bereiche freizusetzen, indem den einzelnen Familienmitgliedern die hochwertige Langzeitpflege, Kinderbetreuung und Vorschulkonzepte dazu bei, die Geschlechtergleichstellung und Zielsetzungen im Hinblick auf die Verringerung von Armut voranzutreiben. Sie sichern unmittelbar eine erhöhte Beteiligung von Arbeitskräften und fördern gleichzeitig breiter angelegte soziale politische Strategien, die gewährleisten, dass Gesellschaften funktionieren. Hochwertige frühkindliche Lernkonzepte sorgen für ein wichtiges Fundament für die Entwicklung von Kindern in den frühen Jahren, während hochwertige Pflegeprogramme für ältere Menschen einigen der schwächsten und hilfsbedürftigsten Mitgliedern unserer Gemeinschaften Hilfe leisten. Eine unangemessene Politik im Sektor Pflege und Betreuung kann sich dagegen negativ auf den sozialen Zusammenhalt und die wirtschaftlichen Ergebnisse auswirken. Langfristiger demografischer Wandel hin zu einer alternden Bevölkerung in praktisch allen europäischen Ländern bedeutet, dass die Nachfrage nach bezahlten Pflegediensten auch in den nächsten Jahren weiter steigen wird. Politiksachverständige und Ökonomen erkennen sehr wohl an, dass der Sektor Pflege und Betreuung eines der höchsten Potenziale für die Schaffung neuer Arbeitsplätze aufweist. Dieses Bewusstsein der wirtschaftlichen Potenziale des Sektors veranlasste die Europäische Kommission dazu, an Regierungen zu appellieren, sozialen Investitionen Vorrang einzuräumen. Doch der Bedarf an Pflege und Betreuung steigt immer weiter, während sich viele Regierungen gleichzeitig vor ihrer Verantwortung drücken und bei grundlegenden sozialen Pflegediensten drastische Kürzungen vornehmen. Pflegearbeit wird in ganz verschiedenen Umgebungen, einschließlich in Krankenhäusern, Kliniken, Altersheimen und Kinderbetreuungszentren geleistet. Pflegedienste mit guter personeller Ausstattung, die hochwertige Arbeitsplätze für Arbeitnehmer bieten, sind entscheidend wichtig für die Erbringung qualitativ hochwertiger Dienstleistungen. Da die Nachfrage nach Pflege und Betreuung steigt, gewinnen neue von den Verbrauchern vorgegebene Ansätze gegenüber Langzeitpflege an Zugkraft. Und da die erhöhte Nachfrage die Bereitstellung verfügbarer Infrastruktur übersteigt, werden Pflegedienste immer mehr in 5 Privathaushalten außerhalb von formalen Einrichtungen erbracht. Die Zusammensetzung des Pflegesektors ist von Land zu Land zwar ganz unterschiedlich, doch dieser Trend hin zu privater Pflege zu Hause oder ausgelagerten und zum Teil von den Regierungen finanzierten Dienstleistungen ersetzt nach und nach die direkte Erbringung von Dienstleistungen durch öffentliche Einrichtungen. Das bedeutet, dass immer mehr gewinnorientierte Pflegedienste, darunter multinationale Konzerne sowie auch kleine Unternehmen und Agenturen, immer mehr Einfluss auf den Pflegemarkt ausüben. Das geschieht vor einem Hintergrund von Sparmaßnahmen, wobei Pflegedienste zunehmend kommerzialisiert und Gegenstand von Kostendruck sind, da sie allmählich von einer kollektiven öffentlichen Verpflichtung zu einer privaten, von den Nutzern finanzierten Dienstleistung übergehen. Eine Kombination aus dem Wachstum des privaten Pflegesektors und Reformen der Regierungen zur Kosteneinsparung hat zu einem niedrigeren Finanzierungsgrad und mehr Druck auf das oft sowieso schon überlastete Pflegepersonal geführt. Pflegekräfte gehören zu den am schlechtesten bezahlten ArbeitnehmerInnen in Europa und sind in hohem Maße Ausbeutung und Gefahren am Arbeitsplatz ausgesetzt. Viele sind bei kleinen Dienstleistern, wie etwa Leiharbeitsagenturen beschäftigt, wohingegen andere selbstständig sind oder im informellen Sektor arbeiten. Viele Arbeitsplätze im informellen Sektor sind von Ausbeutung geprägt und insbesondere häusliche Pflegekräfte arbeiten zum Teil unter Bedingungen, die an Sklaverei grenzen. MigrantInnen sind ein wesentlicher Teil sowohl von formellen als auch von informellen Beschäftigungsarrangements innerhalb des Sektors, doch sie sind oft extrem ausbeuterischen Bedingungen ausgesetzt und genießen nicht immer dieselben Rechte am Arbeitsplatz. Diese Plattform legt unsere Vision für einen europaweiten Pflege- und Betreuungsrahmen dar, der auf der Gewährleistung eines höheren Grads an Investitionen basiert, um hochwertige Arbeitsplätze zu gewährleisten und gleichzeitig hohe Standards in der Pflege und im Hinblick auf einen gleichberechtigten Zugang aufrechtzuerhalten. Im Rahmen der Plattform für die Zukunft des Pflegesektors werden vier Handlungsschwerpunktbereiche gefordert: Soziale Investitionen statt Sparpolitik Hochwertige Arbeitsplätze für hochwertige Pflege/Betreuung Befähigung (Empowerment) von MigrantInnen Förderung von Qualifikationen und Innovation Europa als Ganzes ist derzeit besonders im Bereich der Langzeitpflege mit einem langfristigen strukturellen Mangel an Nachwuchskräften im Gesundheitswesen konfrontiert. Im Jahr 2010, zu der Zeit, zu der die Europa 2020-Strategie lanciert wurde, warnte die Europäische Kommission davor, dass bis 2020 zwei Millionen Arbeitskräfte fehlen würden, falls keine Gegenmaßnahmen ergriffen würden. Davon, so sagte sie voraus, würden 1 Million Arbeitnehmer im Langzeitpflegesektor, 600.000 in der Krankenpflege und 230.000 Ärzte fehlen.2 Überall in Europa müssen wir den Arbeitskräftemangel im Pflegesektor in Angriff nehmen und die Qualität der Bereitstellung von Dienstleistungen über die Förderung höherer Löhne und besserer Bedingungen anheben. Gleichzeitig müssen die Rechte von MigrantInnen gewahrt werden und der große Bereich der nicht regulären häuslichen Pflegearbeit muss in formelle Beschäftigung überführt Europäisches Gesundheitsforum Gastein (2010), Pressemitteilung: Possible shortage of up to two million health care workers by 2020,<http://pr.euractiv.com/pr/possible-shortage-two-million-health-care-workers-2020-eu-taking-actionprevent-impending-crisis> 2 6 werden, und zwar mit allen damit einhergehenden Rechten und beruflichen Garantien. Zusätzlich spielen diese Faktoren eine grundsätzliche Rolle dabei, sicherzustellen, dass der Sektor auch weiterhin sozialen Zusammenhalt und Ergebnisse im Bereich der sozialen Gerechtigkeit für Gemeinschaften in ganz Europa fördert. Alle profitieren von diesen Reformen - Verbraucher, Familienmitglieder und ArbeitnehmerInnen. Dagegen stellen unterbezahlte, überarbeitete, in unsicheren Arbeitsverhältnissen steckende, ausgebeutete und nur vorübergehend beschäftigte ArbeitnehmerInnen im Hinblick auf die Qualität von Dienstleistungen eine Gefahr für den Sektor dar. SOZIALE INVESTITIONEN STATT SPARPOLITIK In ganz Europa sind die Pflege- und Betreuungsdienste hohen Belastungen ausgesetzt. Gerade jetzt, wo größere Investitionen benötigt werden, um dem Trend einer steigenden Nachfrage nach Langzeitpflege und -betreuung gerecht werden zu können, haben viele europäische Regierungen mit Sparpolitik reagiert. Zu den Reaktionen gehören Kürzungen bei Dienstleistungen und Pflegejobs, personelle Kürzungen und Lohnstopps, Privatisierungen, Auslagerung von Pflegejobs in den Privatsektor und Einführung von Kosten für Pflegeempfänger.3 In Zeiten, in denen genau die entgegengesetzte Reaktion benötigt wird, wird Druck auf bereits überstrapazierte Dienste ausgeübt. Unter dem Vorwand, ganze Pflegesysteme neu auf die rasch alternden Gesellschaften und die rückläufige Zahl an Arbeitskräften auszurichten, haben Regierungen in Europa auf allen Ebenen Versuche dazu gestartet, ihre Dienstleistungssektoren komplett neu aufzustellen. Das führte dazu, dass man auf Bereiche aufmerksam wurde, die bisher vernachlässigt wurden, darunter das Sammeln von Statistiken und die Umsetzung entsprechender Planungsmodelle in Ländern, die bisher auf eine auf familiären Pflegesystemen beruhende Ad-Hoc-Politik vertrauten. Doch diese so genannten Reformen zur Erneuerung und Modernisierung der Pflegedienste wurden vielfach mit dem Ziel umgesetzt, die Pflegedienste einer Politik der Kostenkürzung, Kommerzialisierung und Privatisierung zu unterziehen. In ihrer vor fünf Jahren gestarteten Europa-2020-Strategie hat die Europäische Kommission intensiv darauf verwiesen, dass Sozialausgaben und Investitionen Priorität eingeräumt werden muss, da das sowohl kurz- als auch langfristig Sinn macht und wirtschaftlich von Vorteil ist. Der früher an den Rand gedrängte oder gänzlich von wirtschaftlichen Überlegungen ausgeschlossene Pflegesektor wird nun als zentraler Bereich für Beschäftigungswachstum anerkannt. Mit der Europa 2020-Strategie wurde eine Bewältigung der Wirtschaftskrise mittels Schwerpunktlegung auf integratives Wachstum und Schaffung von Arbeitsplätzen gefordert.4 Als Teil ihres Sozialinvestitionspakets forderte die Kommission die UNI Europa (2014), Impacts on social protection and care: Recent challenges in Europe and a trade union position in favour of quality care and universal social protection, Brüssel: Arbeitsgruppe der UNICARE Europa. Europäische Kommission (2010), Mitteilung der Kommission: Europa 2020, Eine Strategie für intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum, COM(2010) 2020, Brüssel: Europäische Kommission. 3 4 7 Mitgliedstaaten auf, sozialen Investitionen Priorität einzuräumen, ihre Wohlfahrtsstaaten mittels politischer Strategien zur Formalisierung informeller Pflegearbeit zu modernisieren, sich darum zu bemühen, Arbeitskräfte durch verbesserte Beschäftigungsstandards zu binden und Sozialschutzpolitik zu modernisieren, indem ihre Wirksamkeit, Effizienz sowie die Art und Weise ihrer Finanzierung verbessert werden.5 Diese Aussage hätte, falls sie wirklich mit echter Überzeugung ausgesprochen wurde, alle Mitgliedstaaten dazu gebracht, zu handeln, um die Wirksamkeit, Nachhaltigkeit und Bedarfsgerechtheit ihrer Gesundheits-, Kinderbetreuungsund Langzeitpflegesektoren zu verbessern. Doch die Europäische Kommission hat keine Möglichkeit dazu gefunden, den von der Troika auferlegten sparpolitischen wirtschaftlichen Rahmen, der mehr zu wirtschaftlichem Abschwung als zu Entwicklung geführt hat, zu beseitigen. Wie vom Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) angemerkt, klafft eine große Kluft zwischen der Art und Weise, in der die Europäische Kommission die Probleme sieht, und verfügbaren finanziellen Lösungen.6 Trotz starker Gründe, die für die Notwendigkeit von Sozialinvestitionen sprechen, beherrscht die Idee von ‘mehr (und besser) mit weniger Ressourcen’ auch weiterhin das Denken auf einigen Ebenen der Politik der Europäischen Union. Das bestehende System befindet sich derzeit gerade wegen der bestehenden Finanzierungslücken, zu denen diese Haltung geführt hat, in der Krise. Um den künftigen, von der Europäischen Kommission erkannten Herausforderungen gerecht zu werden und hochwertige Pflege zu gewährleisten, wird ein höherer Grad an gesicherter Finanzierung sowohl auf Ebene der EU als auch auf Ebene der Mitgliedstaaten benötigt. Europäische Kommission (2013), Mitteilung der Kommission: Sozialinvestitionen für Wachstum und Zusammenhalt - Einschließlich Durchführung des Europäischen Sozialfonds 2014-2020, COM(2013) 83 final, Brüssel: Europäische Kommission, SS. 2-4 5 8 Ein Engagement für hochwertige Pflege muss hochwertige Arbeitsplätze voraussetzen. Neue Investitionen in Pflegedienste müssen angemessene Arbeitsbedingungen und entsprechende Löhne für qualifizierte und kompetente ArbeitnehmerInnen gewährleisten. Die öffentliche Finanzierung von Pflegeleistungen muss im Hinblick auf die Sicherung hochwertiger Dienste, die allgemein zugänglich und erschwinglich sind, als wichtiger Grundsatz betrachtet werden. Eine angemessene Zuweisung öffentlicher Mittel, sowohl über die allgemeinen Einnahmen als auch über indirekte Wohlfahrts- und Umverteilungsmodelle öffentlicher Finanzierung, ist ganz entscheidend für die Schaffung des Sektors, der für Europas Zukunft benötigt wird. Sparmaßnahmen, die Sozialversicherungs- und Sozialschutzprogramme gefährden, müssen gestoppt werden. Hingegen müssen politische Strategien, die Beschäftigung und Investitionen in diesem Sektor und in den Pflegediensten aktiv unterstützen, umgesetzt werden. Ferner müssen ausreichend Mittel bereitgestellt werden für die Entwicklung und Nachhaltigkeit hochwertiger Rahmen, die alle Bereiche erfassen, wie etwa Zugang zu Pflege, Renten/Pensionen, Politik aktiven Alterns, Familienbeihilfen und Kinderbetreuung. Es wird ein groß angelegtes europaweites Sozialinvestitionsprogramm in Höhe von mindestens 2 % des BIP benötigt, um den Teufelskreis von Sparmaßnahmen und Investitionsabbau durchbrechen zu können. Angesichts der steigenden Nachfrage nach Pflegeleistungen, des bestehenden Arbeitskräftemangels und des großen Beschäftigungspotenzials muss der Pflegesektor zu den wichtigsten Schwerpunktbereichen, in die öffentliche Investitionen fließen, gehören.7 Zusätzlich zur Bereitstellung des Europäischen Sozialfonds in Höhe von €10 Mrd. sollten auch andere Finanzierungsmechanismen auf europäischer Ebene, wie etwa der Europäische Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums und der Europäische Fonds für Regionale Entwicklung mobilisiert werden, um Investitionen in den Pflegesektor anzuregen.8 Um genügend Mittel für die nötigen Reformen bereitstellen zu können, ist ein echtes Engagement im Hinblick auf eine Steuerreform erforderlich, wozu auch der Praxis des Steuerwettbewerbs innerhalb der EU ein Ende gesetzt, Steuerschlupflöcher gestopft und nachhaltigere Maßnahmen gegen Steueroasen ergriffen werden müssen, indem die Unternehmenssteuern für Konzerne auf ein angemessenes Niveau angehoben und Maßnahmen wie Vermögenssteuern und andere progressive Steuern, die die Ungleichheit verringern und für mehr Einnahmen sorgen, eingeführt werden. Oliver Röpke (Berichterstatter) (2013), Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur Mitteilung der Kommission: Hin zu Sozialinvestitionen für Wachstum und Zusammenhalt – Einschließlich der Umsetzung des Europäischen Sozialfonds 2014-2020, SOC/481, Brüssel: Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss, S. 2 7 Wolfgang Greif (Berichterstatter) (2014), Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu den Auswirkungen von Sozialinvestitionen auf die Beschäftigung und die öffentlichen Haushalte (Initiativstellungnahme), SOC/496, Brüssel: Europäischer Wirtschafts - und Sozialausschuss, S. 8. 8 Greif (2014), Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu den Auswirkungen von Sozialinvestitionen auf die Beschäftigung und die öffentlichen Haushalte, S. 9. 6 9 HOCHWERTIGE ARBEITSPLÄTZE FÜR HOCHWERTIGE PFLEGE Der Pflegesektor zeichnet sich durch niedrige Löhne und schlechte Arbeitsbedingungen aus. Pflegearbeit ist, sowohl körperlich als auch geistig, sehr anstrengend und die ArbeitnehmerInnen kämpfen oft damit, Dienstpläne und Schichten miteinander vereinbaren zu müssen. Die Arbeit wird oft unter prekären Bedingungen mit geringer Bezahlung ausgeführt. Ein großer Anteil der Pflegearbeit, insbesondere die Pflege im häuslichen Bereich, findet im informellen Sektor statt, in dem keine Mindestarbeitsstandards eingehalten werden. Unzufriedenheit im Job kann zu geringer Mitarbeiterbindung führen, was sich auf die Qualität der erbrachten Pflegeleistung auswirkt. Der Sektor leidet unter Arbeitskräftemangel, der in erster Linie auf die niedrigen Löhne und schlechten Arbeitsbedingungen im Pflegesektor zurückzuführen ist. Da die Nachfrage nach Pflege weiter steigt, muss diese Kluft schnellstens geschlossen werden. Es muss mit Hochdruck an der Schaffung hochwertiger, gut bezahlter Arbeitsplätze mit angemessenen Arbeitsbedingungen in diesem Sektor gearbeitet werden, um langfristig ein entsprechendes Personalangebot sichern zu können. Die Qualität von Pflegejobs und die Qualität von Pflegedienstleistungen sind eng miteinander verknüpft. Letztendlich liegen die Gesundheit und das Wohlergehen unserer Familien und Eltern zusammen mit der Bildung und dem Schutz unserer Kinder in den Händen jener, die unermüdlich arbeiten und lebensnotwendige Pflege- und Betreuungsdienste erbringen. Da politische Strategien, die auf Kürzungen und Sparmaßnahmen basieren, die soziale Ungleichheit fördern, befinden sich viele Pflegemitarbeiter an vorderster Front einer entstehenden sozialen Krise. Für viele in dem Sektor beschäftigte ArbeitnehmerInnen ist die Arbeit geprägt von unsozialen Arbeitszeiten, Ausschluss aus der Sozialversicherung, unzureichende Unterstützung und schlechte Arbeitsbedingungen. Obwohl die europäische Wirtschaft von einigen der fortschrittlichsten und meist entwickelten Pflegesystemen der Welt profitiert, werden Pflegekräfte in weiten Teilen Europas auch weiterhin unterschätzt, unterbezahlt und unterbewertet. Im Umfeld von Etatkürzungen und Sparmaßnahmen infolge der Finanzkrise von 2008 sind die Pflegesysteme mit beträchtlicher Erosion konfrontiert, da die Regierungen nach Mittel und Wegen zur Kürzung der Ausgaben suchen. Eine der größten Bedrohungen für hochwertige Pflege ist die Kommerzialisierung von Dienstleistungen, wie im Falle Belgiens, dessen hochwertiges gemeinnütziges Pflegesystem infolge des Finanzierungsdrucks langsam abbröckelt, was die Qualität von Pflegeleistungen zunehmend bedroht. In ganz Europa wird man sich auf politischer Ebene immer mehr bewusst, dass die Verschlechterung von Pflegesystemen und Pflegejobs sowohl sozial schädlich als tatsächlich auch kontraproduktiv für die Erreichung der Ziele des wirtschaftlichen Wachstums und der Schaffung von Arbeitsplätzen ist. Als pragmatische Wirtschaftspolitik befürworten wir nachdrücklich, dass die Sparmaßnahmen zurückgenommen und Investitionen in den Sektor getätigt werden. 2012 benannte die Europäische Kommission den Gesundheits- und Sozialdienstsektor als Schlüsselbereich, in dem die Mitgliedstaaten sich ganz besonders um die Schaffung von Arbeitsplätzen bemühen sollten. Der Sektor weist die höchsten Wachstumsraten für neue Arbeitsplätze auf. Neben ‘grünen Jobs’ und der digitalen Wirtschaft werden so genannte ‘weiße Jobs’ im 10 11 Pflegesektor als Bereiche benannt, die gewaltiges Beschäftigungspotenzial aufweisen und die Europäische Kommission ruft Mitgliedstaaten dazu auf, ihre Bemühungen und Initiativen zur Schaffung von Arbeitsplätzen auf diesen Sektor zu konzentrieren. Da es das Vorhandensein umfassender Systeme für Kinderbetreuung und Langzeitpflege Frauen ermöglicht, am Erwerbsleben teilzunehmen, sind neue, im Pflegesektor geschaffene Arbeitsplätze sehr gewinnbringend für die Wirtschaft als Ganzes.9 Die Europäische Kommission befürwortet derzeit auf Druck großer Unternehmensgruppen neue Vereinbarungen, die auf eine ‘Verringerung regulatorischer Hürden’ auf europäischer Ebene abzielen.10 Die Harmonisierung von Regulierungen sollte nicht als Instrument zur Schaffung von Jobs, die unter dem normalen Standard liegen, benutzt werden oder als Vorwand dazu, eine Politik durchzudrücken, die Rechte am Arbeitsplatz unterminiert, indem sie sie auf den kleinsten gemeinsamen Nenner bringt, sondern Harmonisierung sollte die Rechtsvorschriften in ganz Europa stärken und verbessern. Wir brauchen einen ‘Königsweg-’Ansatz für den Pflegesektor, was gemäß unserem Bedarf an hochwertiger Beschäftigung hochwertige Arbeitsplätze für hochwertige Pflege voraussetzt und dazu ist sowohl auf europäischer als auch auf einzelstaatlicher Ebene wirksamere und stärkere Regulierung erforderlich. Die Förderung von Qualität und Professionalität im Pflegesektor erfordert, dass sichergestellt wird, dass ArbeitnehmerInnen Zugang zu Aus-/Weiterbildung und Qualifikation haben, dass das Thema der niedrigen Löhne und der Ausbeutung in Angriff genommen wird und gleichzeitig Kollektivverhandlungen und sozialer Dialog gefördert werden. Da sich bereits jetzt chronischer Arbeitskräftemangel in diesem Sektor abzeichnet und die Nachfrage nach Pflegediensten voraussichtlich weiter steigen wird, besteht dringender Handlungsbedarf zur Schließung dieser Lücke mithilfe umfassender und gut finanzierter Einstellungs- und Bindungsstrategien. Damit diese Strategien greifen können, müssen sie auf der Schaffung gut bezahlter und qualitativ hochwertiger Jobs basieren. Diesbezüglich fordern wir, dass die Europäische Kommission einen umfassenden Aktionsplan zur Verbesserung der Löhne/Gehälter und Bedingungen von Pflegekräften in ganz Europa vorlegt. Die Arbeitsrechte aller Pflegekräfte müssen gewahrt werden und die EU muss diese grundlegenden Rechte fördern und garantieren und auch dafür sorgen, dass die entsprechenden rechtlichen Rahmen, die allen Arbeitnehmern ermöglichen, diese Rechte auszuüben, vorhanden sind. Der Pflegesektor ist Europäische Kommission (2012), Arbeitsunterlage der Kommissionsdienststellen über die Nutzung des Potenzials von personenbezogenen Dienstleistungen und Dienstleistungen im Haushalt, SWD(2012) 95 final, Straßburg: Europäische Kommission, S. 3 10 Europäische Kommission (2015), Arbeitsunterlage der Kommissionsdienststellen: Leitlinien für eine bessere Rechtsetzung, SWD(2015), 111 final, Straßburg: Europäische Kommission, S. 4. 9 12 ganz besonders anfällig für Ausbeutung, da viele ArbeitnehmerInnen unter prekären und informellen Bedingungen arbeiten. Eine stärkere Beschäftigungsgesetzgebung ist notwendig, um Mindeststandards auf gutem Niveau zu sichern, einschließlich der Vereitelung von Schlupflöchern, die ausbeuterische Praktiken ermöglichen. Tarifverträge und Statuten müssen verteidigt und ausgeweitet werden, damit alle in diesem Sektor Tätigen erfasst werden, einschließlich im Hause lebendes Personal, das offiziell selbstständig oder von den Personen, die betreut werden, angestellt ist. Kollektivverhandlungsrechte müssen für Pflegekräfte in ganz Europa, einschließlich für jene, die derzeit unter prekären oder informellen Bedingungen arbeiten, gestärkt werden. Dies setzt die vollständige Achtung des Rechts auf Tarifverhandlungen für alle Gewerkschaften auf allen Ebenen und in allen Mitgliedstaaten voraus. Dies muss entgegen den Sparrahmen und -richtlinien, die derzeit von der Troika erlassen werden, geschehen. Zur Unterstützung breit angelegter sozialer Zielsetzungen muss regulierende Politik unter Anwendung bewährter Praktiken als Standard, einschließlich der Arbeitsstandards, mit einer Verpflichtung zu hoher Qualität umgesetzt werden. Beschaffungsprozesse auf einzelstaatlicher Ebene müssen auf Verpflichtungen gegenüber europäischen Standards basieren, insbesondere um sicherzustellen, dass Pflegedienste, die sich um öffentliche Finanzierung bewerben, entsprechende Standards in Bezug auf die Qualität der Pflege und Beschäftigungspraktiken einhalten. UNI Europa wird sich aktiv für den besseren Schutz aller Dienstleistungen von allgemeinem Interesse, einschließlich der Pflegeleistungen, einsetzen. Wir betrachten es als grundlegend wichtig, die Qualität von Pflegeleistungen in Europa zu sichern. Idealerweise sollten Dienstleistungen allgemein von den europäischen Binnenmarktregeln ausgenommen werden. Für UNICARE sind hochwertige Dienstleistungen und hochwertige Jobs zwei Seiten derselben Medaille. Hochwertige Arbeitsplätze mit guten Arbeitsbedingungen führen zu besseren Dienstleistungen, weshalb eine breit angelegte Gestaltung nach den Regeln des Binnenmarkts verhindert werden sollte. Die Verpflichtung zu qualitativ hochwertigen Diensten erfordert, dass man über die Erörterung angemessener Mindestwerte für den Sektor hinausgeht. Um die Verbesserung der Qualität und Innovationen in dem Sektor voranzutreiben, müssen sämtliche Strategien verfolgt werden, um dazu beizutragen, die beruflichen Laufbahnen in diesem Sektor existenzfähiger und attraktiver zu machen, nicht zuletzt auch dadurch, dass die Standards über Mindestwerte hinaus angehoben werden, um dadurch Anreize für die Anwerbung von Arbeitskräften in soziale Dienstleistungen, in denen Arbeitskräftemangel vorherrscht, zu schaffen. Es werden internationale Handelsabkommen benötigt, die Arbeitsbedingungen weltweit verbessern. Handelsabkommen, wie das Transatlantische Handels- und Partnerschaftsabkommen (TTIP) und das Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen (TISA), über die derzeit verhandelt wird, drohen, die Macht von Arbeitgebern und transnationalen Konzernen zulasten von Regierungen und Bürgern zu stärken. Minderwertige Arbeitsstandards werden zu Bedingungen erhöhter Ausbeutung führen, insbesondere in bereits anfälligen Bereichen, wie der häuslichen Pflege. Wenn neue internationale Handelsabkommen zu unterzeichnen sind, müssen sie die Verbesserung und nicht die Verschlechterung von Arbeitsbedingungen erleichtern. 13 HOCHWERTIGE ARBEITSPLÄTZE FÜR HOCHWERTIGE PFLEGE FALLSTUDIE BEATA OLSZEWSKA-SZYBALDIN Beata ist eine Pflegefachfrau aus Polen und seit 21 Jahren im Sektor tätig. Nach ihrem Umzug in die Schweiz im Jahr 2013 musste Beata feststellen, dass ihre langjährige Erfahrung und ihre beruflichen Fähigkeiten in ihrem neuen Land nur wenig zählen und dass sie viel weniger verdient als örtliches Pflegepersonal. “Ich erhielt 30-50% weniger als schweizerisches Personal, das genau die gleiche Arbeit verrichtete.” Dies ist nur ein Beispiel, das veranschaulicht, wie gewisse Arbeitgeber vom System profitieren, erklärt Beata. Um ihre persönliche Situation zu verbessern, erwarb Beata örtliche Qualifikationen. Der Pflegefachberuf ist sehr anspruchsvoll, und Beates Arbeit ist sind sehr anstrengend: ‘Ich beginne meinen Arbeitstag vor 6 Uhr und betreue 4 bis 5 Patienten pro Tag. Obwohl die direkt mit Kunden verbrachte Zeit etwa 6 Stunden pro Tag beträgt, bin ich aufgrund der Entfernung zwischen den einzelnen Kunden oft nicht vor 12 Uhr nachts zu Hause, was bedeutet, dass ich 12 Stunden unterwegs bis. Ich habe keine Zeit, während des Tages nach Hause zu gehen, selbst wenn ich eine zweistündige Pause zwischen den Kunden habe.’ ‘Die Aufgaben sind für die einzelnen Patienten sehr spezifisch und hängen von ihren Bedürfnissen ab. Während sie in bestimmten Fällen medizinischer Art sind, wie Verabreichung von Medikamenten, Blutentnahme oder Injektionen, sind in anderen Fällen Körperpflege-Aufgaben wie Baden oder Duschen oder auch Hausarbeiten wie Reinigung und Kochen gefragt. Das wichtigste ist jedoch unser persönlicher Kontakt mit den Menschen, mit ihnen sprechen und ihnen zuhören. Ich liebe meinen Job – eine harte jedoch auch sehr erfüllende Arbeit, die uns erlaubt, das Leben unserer Patienten zu verbessern.’ ‘Ich kümmerte mich um ein älteres Paar – 87 und 85 Jahr – das seit langer Zeit praktisch mit niemandem mehr Kontakt hatte. Schritt für Schritt gelang es mir, eine wunderbare Beziehung zu diesem Paar aufzubauen. Mittlerweile gewannen die beiden wieder viel Unabhängigkeit und gemeinsam konnten wir erreichen, dass sie wieder viele Arbeiten selbst erledigen können – dies gab ihnen ein Gefühl der Selbstständigkeit, die für sie auch zu einer besseren Lebensqualität beiträgt. Genau aus diesem Grund habe ich meinen Beruf gewählt’. Für Beata spielen Gewerkschaften im Gesundheitsdienst eine entscheidende Rolle bei der Verbesserung der Lebensbedingungen für die älteren Menschen. Beata setzt sich mit der örtlichen Gewerkschaft in diesem Sektor, UNIA, ein, um sicherzustellen dass Überstunden und Fahrzeit vergütet werden und dass sich Pflegekräfte in einem Ausschuss zusammenschließen, um gemeinsam für bessere und gerechtere Bedingungen im Pflegesektor zu kämpfen. 14 SAMANTHA BYRNE Samantha ist eine vollzeitlich beschäftigte Pflegerin in Irland, die ältere Personen betreut. ‘Ein typischer Arbeitstag sieht für mich so aus: ich unterstütze Kunden bei der persönlichen Pflege, bei der Nahrungseinnahme oder anderen Aktivitäten, je nach ihren Bedürfnissen. Jedes Betreuungspaket ist den jeweiligen Kunden angepasst. Viele Aspekte unserer Tätigkeit bleiben jedoch verborgen – wir haben auch die Aufgabe, ihre körperliche und psychische Gesundheit zu beobachten, Krankheitszeichen, Hautbeschwerden und viele andere Probleme zu erkennen. Letztlich hilft unsere Arbeit, in der Gesundheitsversorgung Geld zu sparen und trägt dazu bei, größeren Gesundheits¬problemen vorzubeugen.’ ‘Das Gespräch mit unseren Kunden ist von entscheidender Bedeutung. Oft bin ich die einzige, die am Tag der Betreuung oder seit mehreren Tagen mit den jeweiligen Kunden einen persönlichen Kontakt hatte, ich kann auch die einzige Person sein, mit der sie in der Woche meines Besuchs sprechen, ich bin da, um ihnen zuzuhören und ihre Einsamkeit zu lindern. Wir sind mit sehr einsamen Menschen konfrontiert, die oft keine Familie haben und sich nicht mehr hinaus wagen. Einsamkeit kann sehr schmerzhaft sein und dramatische Folgen haben.’ ‘Mein Beruf stellt letztlich sehr hohe fachliche Anforderungen und setzt soziale Kompetenzen voraus – wir müssen mitfühlend, geduldig, fürsorglich und verantwortungsvoll sein.‘ Trotz der Bedeutung der Arbeit, die Samantha für die Gesellschaft leistet, ist ihr Arbeitsverhältnis prekär. ‘Ich habe einen Nullstunden-Vertrag und folglich keine garantierten Arbeitsstunden und bin für meine Arbeitszeit somit vollständig von der Gnade meines Arbeitgebers abhängig. Am Monatsende weiß ich nie, wie viel ich verdienen werde.’ ‘Meine Situation ist nicht stabil, ich kann nichts planen. Ich habe eine Familie, die von mir abhängig ist, und weiß nie, ob ich in der Lage sein werde, Schulbücher oder Schulausflüge zu finanzieren. Diese Unsicherheit und das Fehlen einer garantierten Arbeitszeit sind für mich und meine Familie höchst problematisch.’ Der Personalwechsel im Pflegesektor Irlands ist sehr hoch und viele Pflegekräfte haben das Gefühl, dass die wertvolle Arbeit, die sie leisten, nicht geschätzt wird. Sie haben manchmal den Eindruck, dass Pflegeberufe keine wichtige Rolle spielen, so Samantha. ‘Mit unserer Arbeit leisten wir einen wertvollen und nützlichen Beitrag zu der Gesellschaft, ich liebe meinen Beruf über alles und er gibt mir große Befriedigung. Ich stehe in vollem Einsatz für meine Kunden, aber ganz ehrlich, ich versuche dabei, nicht daran zu denken, wie schlecht ich behandelt und bezahlt werde und wie unfair diese Situation ist, denn wenn ich dies täte, würde ich meinen Beruf vielleicht aufgeben.’ ‘Ich bin eine qualifizierten Pflegefachkraft und kann hochwertige Pflegeleistungen erbringen – dies kommt in meinem Arbeitsvertrag nicht zum Ausdruck. Wir brauchen stabile Verträge und garantierte Arbeitszeit.’ Pflegekräfte werden nicht konsultiert. ’Eine korrekte Politik und angemessene Verfahren und Standards in diesem Sektor sind dringend notwendig. Wir kennen unsere Kunden und ihre Bedürfnisse am besten, doch werden wir nie gefragt, konsultiert oder angehört, wenn wichtige Entscheidungen getroffen werden. Die Aufgaben, die wir im Pflegebereich erfüllen, sind wichtig und helfen oft, Einsparungen zu erzielen, denn wir sehen Möglichkeiten für Verbesserungen des Systems, werden aber ignoriert.’ ‘Pflegekräfte müssen konsultiert und nach ihrer Meinung gefragt werden, damit sie ihre Fachkompetenz in den Dienst des gesamten Gesundheitssystems stellen können’. 15 BEFÄHIGUNG VON EINWANDERERN In ganz Europa sind Millionen von eingewanderten Pflegekräften, ganz gleich ob ihre Einwanderung legal ist oder nicht und ob sie Ergebnis einer reflektierten oder einer De-Facto-Politik ist, ausschlaggebend für den Aufrechterhalt nationaler Sozialfürsorgesysteme. Migranten aus der ganzen Welt sind in sämtlichen Pflegetätigkeiten vorzufinden und stellen in einigen Ländern, wie etwa Deutschland, einen beträchtlichen Teil des Arbeitskräftepotenzials im Bereich der häuslichen Pflege. Überwiegend sind sie im unteren Bereich der Hierarchie der Arbeitnehmerschaft, insbesondere in den am wenigsten regulierten Bereichen der häuslichen Pflege oder der im Haus lebenden Pflegekräfte, vorzufinden. Der soziale und wirtschaftliche Beitrag eingewanderter Pflegekräfte geht oft mit hohen persönlichen Kosten einher und viele sind von grundlegenden Rechten ausgeschlossen. Nur allzu oft wird die Arbeit unter Bedingungen der Ausbeutung, Marginalisierung und im Verborgenen ausgeübt. Eingewanderte Arbeitskräfte enden in diesem Sektor tendenziell in den am wenigsten sichtbaren und am schlechtesten bezahlten Pflegetätigkeiten, bei denen auch am meisten die Gefahr von Ausbeutung und in Extremfällen sogar Versklavung droht. Unsere Gewerkschaften vertreten immer mehr mobile globale Pflegekräfte, die im Zentrum sich weltweit verändernder Arbeits- und Pflegemuster stehen. Migrierte Pflegekräfte sind entscheidend wichtig für die Besetzung zahlreicher freier Stellen im Pflegesektor sowie auch für die Erbringung von Sozial- und Gesundheitsdiensten insgesamt. MigrantInnen von innerhalb und außerhalb der EU machen einen großen Teil der Arbeitskräfte im formellen Pflegesektor im Vereinigten Königreich, in Österreich, Deutschland und in der Schweiz aus, wobei besonders viele migrierte Pflegekräfte in der häuslichen Pflege beschäftigst sind. In Südeuropa, vor allem in Italien, Griechenland und Spanien, sind mehrere Millionen eingewanderte Pflegekräfte privat als im Haus lebende PflegerInnen oder Hausangestellte im informellen oder ‘grauen’ Sektor beschäftigt. Europa ist derzeit von einer eskalierenden humanitären Krise, ausgelöst durch die größte Massenvertreibung von Menschen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, bedroht. Immer mehr Migranten, einschließlich vieler Vertriebener, die vor Gewalt und Krieg fliehen, müssen in Flüchtlingslagern in den Grenzgebieten Europas harte und unmenschliche Bedingungen ertragen. Viele der geschätzten in Europa lebenden 5 bis 8 Millionen Arbeitnehmer ohne Papiere erleben Ausgrenzung und Ausschluss von sozialen Rechten. Grundlegende Sozialleistungen, die Pflege und Integration in die Gemeinschaft erleichtern sollten, Dienstleistungen für Flüchtlinge, vor allem für die hilfsbedürftigsten, wie etwa allein reisende Kinder, sind infolge der Kürzungen von Pflegeleistungen in einigen Fällen am stärksten betroffen. 16 Die Absicherung der Grenzen hat den reichsten europäischen Ländern als allumfassende Reaktion auf die Flüchtlingskrise ermöglicht, sich von ihren wichtigsten sozialen Verantwortungen im Hinblick auf Krisenbewältigung und Unterstützung der Flüchtlinge zurückzuziehen. Dennoch sprangen Millionen gewöhnlicher Bürgerinnen und Bürger aus unterschiedlichen Organisationen, Gesellschaftsgruppen, Gewerkschaften, Kirchen, Menschenrechtsaktivisten und anderen Bereichen der Zivilgesellschaft dort ein, wo ihre Regierungen versagt haben und reagierten unmittelbar auf die sich ausbreitende humanitäre Krise. In ganz Europa standen Gewerkschaftsmitglieder verschiedener Organisationen an vorderster Front von Bemühungen der Bevölkerung, den Flüchtlingen grundlegende medizinische und humanitäre Hilfe zu leisten, oftmals trotz der Bemühungen ihrer Regierungen, mit zunehmenden Sicherheitsmaßnahmen auf die Situation zu reagieren. Wir glauben, dass hilfsbedürftige Menschen Pflege und Hilfe erhalten müssen. Europäische Regierungen müssen sich einigen, um mit umfangreichen Mitteln und konsequenten humanitären Notmaßnahmen auf diese vermeidbare Krise zu reagieren. Diese Maßnahmen müssen in erster Linie darauf ausgerichtet sein, Leben zu retten und Menschen, die vor Krieg und Gewalt fliehen, Sicherheit und Unterstützung zu bieten. Die derzeit militarisierten Grenzmaßnahmen sind nicht nur brutal, sondern stehen auch für ein Versagen der Politik auf europäischer Ebene. Die Behandlung von Einwanderern ohne Papiere erscheint noch rauer, wenn wir die grundlegende Rolle anerkennen, die viele bereits jetzt bei der Unterstützung der Pflegesysteme ihrer Gastländer spielen, indem sie sich um ältere Menschen kümmern, während ihr eigener Einwanderungsstatus und ihr Recht auf Arbeit unsicher sind und sie oft von grundlegenden Sozialschutzsystemen ausgeschlossen bleiben. Diese Arbeitnehmer bleiben für Regierungen und die meisten Politikentscheider viel zu lange unsichtbar. Grundlegende Rechte für alle Arbeitnehmer, darunter Zugang zu Sozialschutzsystemen, sichere Arbeitsbedingungen und gerechte Entlohnung, sind Grundsätze, die ausdrücklich durch internationale rechtliche Übereinkommen geschützt sind. Es besteht die Gelegenheit dazu, Millionen von Hausangestellten durch Ratifizierung des IAO-Übereinkommens Nr. 189 in ein modernes Beschäftigungssystem zu überführen. Das Übereinkommen verpflichtet die Unterzeichnerstaaten dazu, häusliche Arbeit zu formalisieren und dafür zu sorgen, dass die Beschäftigungsbedingungen für häusliche Beschäftigte gerecht und jenen aller anderen ArbeitnehmerInnen ebenbürtig sind. Es wird auch angestrebt, die Hürden 17 aufzuheben, die die Ausübung solcher Rechte, darunter Gewerkschaftsrechte und das gesetzlich verbriefte Vereinigungsrecht, verhindern und es soll ein Rechtsrahmen dafür geschaffen werden, dass die von Ausbeutung geprägte Position häuslicher Angestellter umgewandelt wird. Der Erfolg solcher Maßnahmen basiert auf der Legalisierung häuslicher Pflegekräfte ohne Papiere. Wird das ausbeuterische Wesen häuslicher Pflegearbeit durch die Formalisierung des Status migrierter Pflegekräfte in Angriff genommen, so wird dies mehrere weitere Vorteile bringen. Viele eingewanderte Pflegekräfte, insbesondere jene, die in der häuslichen Pflege und in den am meisten marginalisierten Jobs als im Haus lebende Pflegekräfte tätig sind, verfügen über Qualifikationen, die höher sind als jene, die sie für ihre Beschäftigung benötigen. Es gibt einen Trend, nach dem viele ausgebildete Krankenschwestern in Pflegetätigkeiten unter ihrer Qualifikationsstufe arbeiten, wie etwa in nicht angemeldeter häuslicher Pflege, die andererseits Arbeit in formellen Pflege- und Gesundheitssystemen finden könnten, wenn ihre Qualifikationen anerkannt und das Hemmnis ihres nicht geregelten Einwanderungsstatus beseitigt würden. Im weitesten Sinne erkennt die Kommissionspolitik bereits an, dass eine Formalisierung von Pflegearbeit wünschenswert und notwendig ist, dass eine groß angelegte Überführung von irregulären Jobs in den formellen Sektor erforderlich ist, um die Erwerbsquoten zu erhöhen und die Kapazität der Pflegesysteme zu verbessern, sodass sie funktionieren. Für die Überführung informeller Arrangements in formelle Beschäftigungssysteme müssen die ‘bisher verborgen gebliebenen privatisierten Kosten der Langzeitpflege erst einmal sichtbar’ gemacht werden. 11 Politik auf europäischer Ebene muss über eine reine Anerkennung der grundlegend wichtigen Rolle, die jene ausüben, die innerhalb der Arbeitnehmerschaft am stärksten marginalisiert sind, hinausgehen. Sie muss deren prekäre Beschäftigungsbedingungen mit dem Ziel, die Ausbeutung zu beenden, proaktiv in Angriff nehmen und gleichzeitig ArbeitnehmerInnen dazu in die Lage versetzen, ihre Rechte mithilfe ihrer Gewerkschaften auszuüben. Europäische Kommission (2013), Arbeitsunterlage der Kommissionsdienststellen: Langzeitpflege in alternden Gesellschaften – Herausforderungen und politische Optionen, SWD(2013) 41 Final, Brüssel: Europäische Kommission, S. 17. 11 18 Pflegearbeit bietet Arbeitsmigranten eine langfristige berufliche Laufbahn und ihre Arbeit hat das Potenzial dazu, ein Kernelement im Übergang zu einem hochwertigen Pflegesystem, das auf hochwertigen Arbeitsplätzen basiert, zu sein. Alle Pflegekräfte, einschließlich der Arbeitnehmer ohne Papiere, müssen für ihren Beitrag zur europäischen Pflegepolitik anerkannt werden. Die Arbeit muss als zentrales Element in einem europaweiten Übergang zu hochwertigen Pflegesystemen auf der Basis hochwertiger Jobs im Rahmen hochwertiger Pflegesysteme, die auf hochwertiger Beschäftigung basieren, reguliert und formalisiert werden. Beschäftigung muss für eingewanderte Arbeitskräfte gemäß den Grundsätzen der Gleichberechtigung auf dieselbe Art und Weise wie für die Bürger des jeweiligen Landes reguliert und geschützt werden. Personen, die ihre Rechte auf Freizügigkeit ausüben, müssen gleich behandelt werden, vor Ausbeutung am Arbeitsplatz geschützt werden und sie müssen das Recht haben, in ihren Gastländern soziale Dienste in Anspruch nehmen zu können. Das Recht auf Zugang zu Gesundheitsversorgung sollte auf alle Migranten ohne Papiere ausgeweitet werden; eingewanderte Pflegekräfte leisten einen wesentlichen Beitrag zu den Sozial- und Gesundheitssystemen und im Gegenzug sollten ihnen grundlegende Dienste nicht verweigert werden. Bei ihrer Antwort auf die Flüchtlingskrise müssen alle nationalen Regierungen und die Europäische Union die zivilen Such- und Rettungsdienste, medizinische und humanitäre Hilfsbemühungen als vorrangige Angelegenheit zur Rettung von Menschenleben unterstützen und stärken. Alle Regierungen müssen Flüchtlinge würdevoll und gemäß ihren Verpflichtungen behandeln und sie müssen Krisenmaßnahmen und andere soziale Dienstleistungen, bei denen der Schwerpunkt auf der Unterstützung und Integration der hilfsbedürftigsten Menschen in unseren Gemeinschaften liegt, angemessen unterstützen. Für alle ArbeitnehmerInnen, ungeachtet ihres Einwanderungsstatus, müssen deren Menschen- und Arbeitnehmerrechte anerkannt werden. Im Hause lebende Pflegekräfte sind oft besonders anfällig für Ausbeutung, da ihre Arbeit oft auf das Zuhause ihres Arbeitgebers beschränkt ist. Der Großteil der informellen Arbeit im Pflegesektor ist zwar freiwillig, aber das verborgene und nicht regulierte Wesen von Arbeitsplätzen in Haushalten birgt die Gefahr, dass ArbeitnehmerInnen ausgebeutet und regelrecht versklavt werden. Um sofort wirksame Maßnahmen gegen die Ausbeutung von MigrantInnen zu ergreifen, müssen Mitgliedstaaten sowohl im Gesetz als auch in der Praxis eine klare Trennung zwischen Arbeits- und Einwanderungsinspektionsdiensten vornehmen. Arbeitnehmer, die ihre Grundrechte ausüben, sollten nicht mit Folgen im Hinblick auf ihre Einwanderung konfrontiert werden und Arbeitnehmer ohne Papiere sollten keine Bestrafung fürchten müssen, wenn sie ihre Ausbeutung melden oder wenn ihre Arbeitgeber aufgrund eines Verstoßes gegen das Arbeitsrecht sanktioniert werden. Gewerkschaften spielen eine grundsätzlich wichtige Rolle bei der Verteidigung grundlegender Beschäftigungsbedingungen und Regierungen sollten die aktive Beteiligung von Gewerkschaften in Sektoren, in denen Ausbeutung ausländischer Arbeitnehmer vorliegt, erleichtern. 19 FÖRDERUNG VON QUALIFIKATIONEN UND INNOVATION Eine ausgebildete und qualifizierte Arbeitnehmerschaft ist entscheidend für die Erbringung qualitativ hochwertiger Pflegedienste. Hochwertige Arbeitsplätze, die die Kompetenzen der Arbeitnehmer durch Zugang zu lebenslangem Lernen nutzbar machen und verbessern, müssen gefördert werden. Da die Bevölkerung europäischer Länder auch weiterhin altert, wird sich der Wettbewerb um Arbeitskräfte, die für den Pflegesektor zur Verfügung stehen, verschärfen. Im Gesundheitssektor besteht ein allgemeiner Trend zu Weiterqualifizierung, wodurch ein immer größer werdender Anteil künftiger Jobs voraussichtlich in den hochqualifiziertesten Bereichen vorzufinden sein wird. Solange die steigende Nachfrage nach Pflege allerdings die Zahl der Pflegekräfte, die über angemessene Kenntnisse und Fähigkeiten verfügen, übersteigt, wird Arbeitskräftemangel auch weiter zunehmen und der Druck auf die bereits jetzt schon überforderten und unzureichend unterstützten lokalen Arbeitskräfte wird steigen, was zu Bedingungen führen wird, die eine Bindung des Personals erschweren werden. Wir stimmen mit dem Ausschuss für Sozialschutz der Europäischen Kommission darin überein, dass diese Situation eine Bedrohung für hochwertige Standards darstellt. Wir begrüßen Forderungen zur Abschwächung des zunehmenden Arbeitskräftemangels durch Anwerbungs- und Ausbildungsprogramme, die Pflegejobs attraktiver machen und bessere Löhne und Arbeitsbedingungen bieten.12 Da das verfügbare Reservoir an Arbeitskräften, aus dem Pflegekräfte angeworben werden können, schrumpft, bieten technologische Innovationen großes Potenzial für die Verbesserung der Qualität von Pflege, wenn sie zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen und der Pflegeleistungen durch die Pflegekräfte eingesetzt werden. Die Funktion viele dieser aufkommenden Technologien, insbesondere im Bereich differenzierter Diagnosemöglichkeiten, unterstützender Hilfsmittel und Informationstechnologien, ist die Minimierung oder Verringerung der Abhängigkeit von Langzeitpflege, indem älteren Ausschuss für Sozialschutz (2014), Angemessener Sozialschutz für Langzeitpflege in einer alternden Gesellschaft, 10406/14 ADD 1, Brüssel: Rat der Europäischen Union, S. 32 12 20 Menschen dabei geholfen wird, so lange wie möglich ein unabhängiges Leben zu Hause zu führen und die Beteiligung am gesellschaftlichen Leben von Menschen, die ansonsten physisch von Pflegepersonal abhängig wären, erleichtert wird. Solche Ziele überschneiden sich mit anderen Aspekten der Sozialpolitik, insbesondere im Hinblick auf Gesundheitsversorgung, beispielsweise über eine Schwerpunktlegung auf mehr Investitionen in präventive Gesundheitsdienste und Rehabilitation. Innovationen im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologien bieten Möglichkeiten dazu, qualifizierten Arbeitsplätzen Mehrwert zu geben. In den Ländern, in denen Innovationen gemäß bewährter Praxis umgesetzt wurden, wie etwa in skandinavischen Ländern, haben diese Innovationen die Effizienz bei der Erbringung von Pflegeleistungen insgesamt verbessert und gleichzeitig das Arbeitspensum erleichtert und die qualitativen Ergebnisse verbessert. Bisher war ein Großteil der Diskussion rund um die Versprechungen technologischer Entwicklungen im Pflegesektor allerdings hauptsächlich von breit angelegter Sparpolitik beeinflusst und konzentrierte sich auf den verstärkten Einsatz kosteneffizienter Technologien zur Steigerung der Produktivität von Pflegekräften. Pflegearbeit ist sehr arbeitsintensiv und wird es auch bleiben und eine steigende Nachfrage nach Pflege infolge der alternden und schrumpfenden Erwerbsbevölkerung wird erhöhten Druck auf bereits bestehenden Arbeitskräftemangel ausüben. Die Hauptmotivation für die Entwicklung und Implementierung neuer Technologien sollten nicht Kosteneinsparungen sein. Unterstützende Technologien sollten im Rahmen einer breit angelegten Strategie als Mittel dazu eingesetzt werden, den erwarteten Arbeitskräftemangel in dem Sektor bewältigen zu können, die Produktivität der Arbeitskräfte zu erhöhen und vor allem die Qualitätsstandards anzuheben und damit die Mitarbeiterbindung zu verbessern. Der Einsatz von IKT als Mittel dazu, bei der Arbeit mehr mit weniger zu erreichen verstärkt dagegen nur die bestehenden Probleme und wird zu verringerter Bindung führen, was die Bemühungen um eine Stärkung der Arbeitnehmerschaft folglich untergräbt. 21 Arbeitnehmer im Pflegesektor müssen vollständigen Zugang zu Ausbildung und lebenslangen Weiterbildungsmöglichkeiten, darunter auch entsprechende Vereinbarungen für Absenzen zur Wahrnehmung von Weiterbildungsmaßnahmen haben. Kompetenzen im Pflegebereich müssen anerkannt und formell in nationale Berufsbildungssysteme aufgenommen werden. Es muss ein übereinstimmender europäischer Qualifikationsrahmen entwickelt werden, um eine grenzüberschreitende Übertragbarkeit von ompetenzen und ihre Anerkennung und einen Lohn, der ihren Kenntnissen und Aufgaben entspricht, zu ermöglichen. Zu den in diese Richtung gehenden positiven Initiativen, die wir beobachten konnten, gehört der kürzlich erfolgte Start einer Studie zur Analyse der Machbarkeit der Einsetzung eines Europäischen Sektorrats für Beschäftigung und Qualifikation für die Arbeitnehmer im Bereich Pflege- und Betreuung.13 Es bleibt zu sehen, welche Schlussfolgerungen aus dieser Studie gezogen werden, insbesondere was das Niveau von Standards, die diese Studie fördern würde, betrifft. Wird wirklich echtes Engagement dazu übernommen, den Sektor auf einen Weg kontinuierlicher Innovation, Entwicklung und Verbesserung zu bringen, so ist ein höheres Maß an Zusammenarbeit und Austausch von Ideen in ganz Europa erforderlich, einschließlich mehr Einbeziehung von Gewerkschaften und anderen Sozialpartnern, die bei der Ausformulierung hochwertiger Standards und Kompetenzen der Pflegekräfte helfen, um bewährte Praktiken zu definieren und zu auszuwerten. Wir glauben, dass Gewerkschaften als Stimme von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in diesem Sektor über die Instrumente und das Wissen dafür verfügen, sich aktiv für Modelle bewährter Praxis einzusetzen. European Health Management Association (2013), Feasibility Study on the establishment of a European Sector Council on Employment and Skills for the Nursing and Care Workforce (nur in englischer Sprache), <http://www.skillsfornursingandcare.eu/> 13 22 UNI EUROPA, DER EUROPÄISCHE GEWERKSCHAFTSVERBAND FÜR DIENSTLEISTUNGSBESCHÄFTIGTE UND FACHKRÄFTE UNI Europa ist der europäische Gewerkschaftsdachverband für 7 Millionen Dienstleistungsbeschäftigte in Sektoren, die das Rückgrat des wirtschaftlichen und sozialen Lebens in Europa bilden. Die UNI Europa mit Hauptsitz in Brüssel vertritt 272 nationale Gewerkschaften in 50 Ländern u.a. in den Bereichen private Gesundheitsdienste und Sozialversicherung, Handel, Finanzdienstleistungen, Spiele und Wetten, Graphik und Verpackung, Haar- und Schönheitspflege, Informationstechnologien und Kommunikation, Medien, Unterhaltung und Kunst, Postdienstleistungen und Logistik, Gebäudewartungsdienste: Gebäudereinigung und private Sicherheitsdienste, Profi- und Freizeitsport sowie Zeitarbeit. UNI Europa stellt die größte Region innerhalb UNI Global Union dar. www.uni-europa.org
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