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Jenseits aller Vergeltung
Das Gleichnis vom barmherzigen Vater ist ein komplexes Geflecht, das sich entwirrt, wenn man den verschiedenen Erzählfäden folgt, aus denen es besteht. Wir wählen den Faden, der
uns der wichtigste scheint und alles durchzieht: den der Vergeltung, der Be- oder Entlohnung. Von Anfang an thematisiert
Jesus die Thematik der Entlohnung, die zu den natürlichsten
Menschenrechten gehört. Ein Mann hat zwei Söhne. Einer der
beiden erbittet von seinem Vater sein Erbteil, und dieser teilt
das Vermögen auf. In jener Zeit sah das jüdische Gesetz vor,
dass der Erstgeborene zwei Drittel erhalten solle, während dem
jüngeren ein Drittel des Erbes zustand (Dtn 21,17). Der Vater
gibt dem jüngeren Sohn den Teil, der ihm zusteht, ohne sich zu
widersetzen. Während der jüngere seinen Teil des Erbes in einem zügellosen Leben in einem fernen Land verschwendet, ist
der andere Teil des Familienbesitzes in Sicherheit und wird
vom älteren Sohn verwaltet. Nach einer Denkweise, die gerecht ist und alle gleichbehandelt, hätte der jüngere Sohn,
wenn und falls er nach Haus zurückkäme, keinerlei Recht gegenüber dem Vater und dem älteren Bruder. Die schwere
Schuld des jüngeren Sohnes könnte höchstens vergeben werden, aber nicht vergessen! Selbst wenn der Vater diese traurige
Episode vergessen würde, der ältere Sohn würde ihn immer
prompt daran erinnern. So würde das Gesetz der gerechten
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Vergeltung beachtet: der Lohn des Guten für den, der das Gute
tut, und der Lohn des Bösen für den, der Böses tut.
In Wirklichkeit missachtet das Gleichnis komplett das Gesetz der Besitzverteilung und enthüllt die überströmende
Liebe des Vaters. Der Vater bleibt nicht drinnen im Haus, um
dort auf die beiden Söhne zu warten; er überprüft nicht, ob
der jüngere sein Tun wirklich bereut; er fragt nicht, wo sein
Erbteil hingekommen ist, sondern organisiert ein Fest mit
Musik und Tanz. Unvorstellbar ist auch, wie der Vater sich
dem älteren Sohn gegenüber verhält: Er wartet weder darauf,
dass dieser vom Feld zurückkommt, wo er für die Familie arbeitet, noch fragt er nach dessen Meinung, wie man mit dem
jüngeren umgehen solle. Das Gleichnis offenbart das allermenschlichste Antlitz Gottes, zeigt es mit Übertreibung und
nicht mit Untertreibung: Gott fehlt die Menschlichkeit nicht,
er besitzt sie im Übermaß!
Im Kontrast zum Vater, der sich über das Gesetz der Erbverteilung hinwegsetzt, trauen sich die beiden Brüder nicht,
anders als jener Logik entsprechend zu denken, nach der man
geben muss, um etwas zu erhalten. Der jüngere Sohn erhält
den Teil des Erbes, der ihm zusteht, bringt ihn in einem verschwenderischen Leben durch, und als er am Ende seiner
Kräfte angekommen ist, beschließt er, nach Hause zurückzukehren. Der jüngere Sohn kehrt nicht zum Vater zurück, weil
er sein Handeln bereut, sondern weil er keinen anderen Ausweg mehr sieht. Das Höchste, das er sich in dieser Situation
vorzustellen wagt, ist, wie einer der Tagelöhner im Haus des
Vaters behandelt zu werden; und was ihn bewegt, ist nicht die
Reue, sondern der Hunger!
Der Kontext von Belohnung oder Vergeltung betrifft auch
den älteren Sohn: Er hat dem Vater jahrelang gedient, hat nie45
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mals auch nur einen seiner Befehle missachtet und hatte eigentlich erwartet, dass der Vater ihm einmal ein Ziegenböckchen geben würde, damit er mit seinen Freunden feiern
könnte. Angesichts des Mitleids des Vaters beschuldigt der
ältere Sohn ihn, den Grundsatz der gerechten Entlohnung
oder Vergeltung zu missachten. Er ringt sich nicht einmal
dazu durch, den anderen Sohn seines Vaters „Bruder“ zu nennen, sondern definiert ihn als „dieser dein Sohn“. Da er den
Vater in diesem Moment nur in der Kategorie der für ihn nicht
erfolgten Vergeltung und Entlohnung sieht, ist es dem Älteren
unmöglich, das Vatersein des einen und das Brudersein des
anderen anzuerkennen.
Manche Ausleger weisen darauf hin, dass im Gleichnis die
Gestalt der Mutter fehlt. Aber der Leitfaden ist die Verteilung
des Familienbesitzes, und dieses Recht oder diese Pflicht fällt
in den Zuständigkeitsbereich des Vaters und nicht der Mutter.
Im Folgenden wollen wir die Betrachtung des überströmenden
Mitleids des Vater in der Beziehung zu seinen Söhne vertiefen.
Der Vater geht zweimal aus dem Haus hinaus
Bei den vielfältigen und unterschiedlichen Konflikten, die innerhalb der häuslichen vier Wänden aufkommen können, ist
es schwierig, wenn nicht unmöglich, sich einen Vater vorzustellen, der die eigene Position verlässt, um einem Sohn zu erreichen, dessen Spuren sich verloren haben. Der übliche Titel,
der für dieses Gleichnis gebraucht wird, also „Der verlorene
Sohn“, ist unangebracht, weil die konkurrenzlose Hauptfigur
der Vater ist, der zu beiden Söhnen in Beziehung tritt und dabei das Erbrecht missachtet.
Zu Beginn der Erzählung beschränkt sich der Vater darauf,
die Bitte des jüngeren Sohnes zu erfüllen. Die Gründe, weshalb
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der Sohn um das bittet, was ihm zusteht, werden nicht erklärt.
Gibt es einen Konflikt mit dem älteren Bruder? Ist er nicht mit
der Art und Weise einverstanden, wie der Vater handelt? Oder
hat er das Bedürfnis nach einem unabhängigen Leben? Welche
Motivation es auch sein mag, sie wird nicht erwähnt, weil der
Erzähler nicht an den Gründen interessiert ist, sondern daran,
wie schnell der Sohn das Vaterhaus verlässt. Nachdem das ungezügelte Leben des jüngeren Sohnes beschrieben worden ist,
kehrt der Vater in die Szene zurück, mit einigen unglaublichen
Gesten: er sieht den Sohn von Weitem (und das zeigt, dass er auf
ihn gewartet hat, seit er von zu Hause weggegangen war), spürt
Mitleid, läuft ihm entgegen, fällt ihm um den Hals und küsst
ihn (V. 20). Ganz kurz gibt er dem Sohn die Gelegenheit, ihm
das zu sagen, was er für diesen Moment der Begegnung vorbereitet hat. Er unterbricht ihn, bevor er die Bitte ausspricht, wie
einer seiner Tagelöhner behandelt zu werden, und befiehlt den
Dienern, das beste Gewand herauszuholen, ihm einen Ring an
die Finger zu stecken und Sandalen an die Füße zu ziehen, das
Mastkalb zu schlachten und ein Fest vorzubereiten. Das Entscheidende all dessen, was der Vater für den jüngeren Sohn tut,
und was den Wendepunkt des Gleichnisnes bezeichnet, wird in
dem Verb „Mitleid haben“ (V. 20) zusammengefasst.
Der Vater liebt den verlorenen Sohn ganz innig, er spürt
eine ganz tiefe menschliche Leidenschaft. Wir sind demselben
Verb schon am Wendepunkt des Gleichnisses vom barmherzigen Samariter begegnet: „Er hatte Mitleid …“ (Lk 10,33; 15,20).
Das Mitleid des barmherzigen Samariters mit dem Sterbenden
ist dasselbe, das der Vater für seinen verlorenen Sohn spürt.
Ohne Mitleid wäre es unmöglich, dem Sohn entgegenzulaufen, ihm um den Hals zu fallen und ihm die verlorene Würde
wiederzugeben. Papst Johannes Paul II. sagt das sehr gut in
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seiner Enzyklika Dives in misericordia, Über das göttliche Erbarmen, deren viertes Kapitel unserem Gleichnis gewidmet
ist: „Die Treue des Vaters zu sich selbst ist voll und ganz auf
das Menschsein, auf die Würde des verlorenen Sohnes ausgerichtet“ (Dives in misericordia, 6). Im Mittelpunkt des Gleichnisses steht die Barmherzigkeit des Vaters und nicht einfach
seine Güte. Während die Güte eine Charaktereigenschaft ist,
ist die Barmherzigkeit eine Dimension von innerster Reife
und konkretisiert sich im Handeln zugunsten des Nächsten.
Die härteste Probe steht dem Vater noch bevor, und sie
kommt zustande, als der ältere Sohn enthüllt, wie er wirklich
denkt. Die Weigerung des Älteren, der beschließt, nicht ins
Haus zu gehen, ist dramatisch: Die Wut lässt ihn versteinert
stehenbleiben vor einer Tür, durch die er schon so oft hindurchgegangen ist. Nun beschließt der Vater, erneut aus dem
Haus hinauszugehen und ihn zu bitten. Diesmal ist der Preis,
den er zahlt, höher als der, den er beim jüngeren Sohn bezahlt
hat: Der Vater muss sich einen Vorwurf anhören, der kein gutes Haar an ihm lässt! Der ältere Sohn beschuldigt ihn sogar,
geizig zu sein, nicht bereit, ihm ein einziges Ziegenböckchen
für ein Fest mit seinen Freunden zu geben. Ein Vater, der im
Widerspruch zu sich selbst steht, einer, der nicht entlohnt, wer
ihm treu dient, der aber das Mastkalb schlachten lässt für einen, der sein Vermögen verschwendet hat. Die Wut bringt den
älteren Sohn dazu, die Wahrheit zu verzerren, die er von Anfang an gekannt hat: Als der Jüngere um den Teil bat, der ihm
zustand, hat sich der Vater dem nicht widersetzt, und die jetzt
noch verbleibenden zwei Drittel des Familienvermögens gehören dem Älteren.
Die Barmherzigkeit des Vaters ist grenzenlos, denn er hätte
antworten können: Wer in meinem Haus das Sagen hat, bin
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ich! Nach dem Besitzrecht kann er, solange er lebt, mit seinen
Gütern machen, was er will! Stattdessen lässt sich der Vater auf
die Situation des älteren Sohnes ein und ermahnt ihn, seine
Haltung zu überdenken. Die Zärtlichkeit, mit der er sich an
den Älteren wendet, ist immens: Während dieser niemals „Vater“ zu ihm sagt, nennt er ihn „Kind“ (griechisch: teknon), und
dieser Ausdruck zeigt eine intime Beziehung an. Der Vater erkennt an, dass der verbliebene Besitz dem Älteren gehört, aber
nicht das ist es, was ihn interessiert. Seine Sorge konzentriert
sich vielmehr auf den Kontrast zwischen dem „dieser dein
Sohn“, mit dem der Ältere ihn getadelt hat, und dem „dieser
dein Bruder“, in das er diesen Ausdruck verwandelt. Die tiefste
Bekehrung, die der Vater sich erwartet, ist nicht die des Jüngeren, der nur deshalb nach Hause zurückgekehrt ist, weil er
sonst verhungert wäre, sondern die des Älteren, der unfähig
ist, seinen Vater und seinen Bruder anzuerkennen.
Bevor es eine Kirche gab, die „hinausgeht …“, gibt es einen
„Vater, der hinausgeht“ – den Vater des Gleichnisses: Aus seinem überströmenden Mitleid für seine beiden Söhne heraus
empfängt er sie nicht am Wohnzimmertisch sitzend, sondern
läuft dem Jüngeren entgegen und geht hinaus zum Älteren,
um sie mit seiner Barmherzigkeit zu überschütten.
Der Sohn, der tot war
und ins Leben zurückkehrte
Je weiter er sich vom Vater entfernt, desto tiefer fällt er in eine
bodenlose Erniedrigung: Das ist das Drama des jüngeren Sohnes. Nachdem er den Teil des Vermögens erhalten hat, der ihm
zusteht, wandert der Sohn in eine weit entfernte Gegend aus,
wo er sein Vermögen verschwendet und ein zügelloses Leben
führt. Wenn es in dieser entfernten Gegend eine Schweine49
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herde gibt, bedeutet das, dass sie außerhalb des Heiligen Landes liegt, wo es nicht erlaubt war, Schweine zu züchten, weil sie
als unreine Tiere betrachtet werden. Schweine zu hüten ist also
für den jüngeren Sohn der tiefste Grad von Erniedrigung, und
nicht einmal die Futterschoten der Schweine wurden ihm
zum Essen gegeben. Wenn der hl. Augustinus von Hippo sein
Leben vor seiner Bekehrung interpretiert, klingt darin die Situation des jüngeren Sohnes an: „Von dir bin ich gewichen
und in die Irre gegangen, mein Gott, auf Abwegen, allzu fern
von deiner Feste in meiner Jugend, und wurde zu einer Stätte
des Darbens“ (Bekenntnisse 2,10,18).
Die Situation tiefster Armut führt den jungen Mann dazu,
in sich selbst zu gehen und über die Lage nachzudenken, in die
er geraten ist. Mit Sehnsucht denkt er an die Tagelöhner im
Haus seines Vaters: Während er sich nicht einmal von Schweinefutter ernähren kann, haben sie Brot in Hülle und Fülle. So
beschließt er, die Rückkehr anzutreten, um den Vater zu bitten, wie einer der Tagelöhner aufgenommen zu werden, um
nicht vor Hunger zu sterben. Genau betrachtet erkennt der
jüngere Sohn an, gegen den Himmel und gegen den Vater gesündigt zu haben, und es genügt ihm, wie ein Arbeiter behandelt zu werden. Was ihn interessiert, ist endlich Brot zu essen
zu bekommen, und weil er es nicht schafft, eine andere Lösung zu finden, macht er sich auf den Rückweg.
Es muss für den Sohn enorm peinlich gewesen sein, als der
Vater ihm entgegenläuft, ihm um den Hals fällt und ihn küsst.
Das Mitleid des Vaters ist unverdient und fähig, nicht nur den
Hunger des Sohnes zu stillen, sondern ihm auch die verlorene
Würde wiederzugeben. Im Nu, und ohne, dass irgendeine Erklärung verlangt oder eine Berechnung angestellt wird, hat
der Sohn das beste Gewand an, den Ring am Finger und die
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Sandalen an den Füßen. Bevor er den Vater wiedertraf, war er
zu einem Landstreicher heruntergekommen und hatte keine
Sohneswürde mehr, sondern nur die Würdelosigkeit der unreinen Tiere, die man nicht essen darf.
Wenn aus dem väterlichen Haus Musik und Tanz zu hören
sind, bedeutet das, dass der Vater den Sohn wieder in die Familie aufgenommen hat: Er war tot und ist zurückgekehrt ins
Leben, war verloren und ist wiedergefunden worden. Was
dem Toten das Leben wiedergibt, ist nicht die Reue, sondern
das überströmende Mitleid des Vaters für einen Sohn, der ein
neues Geschöpf ist und ein neues Leben beginnt. Das Mitleid
des Vaters besteht nicht nur aus Bewegtheit, sondern verwandelt sich in eine Leidenschaft, die fähig ist, Leben entstehen zu
lassen, wo der Tod herrscht.
„Dieser dein Bruder“
Es mag Zufall sein, aber in der Heiligen Schrift haben die älteren Söhne oder Erstgeborenen nicht viel Glück: Ihre Bestimmung ist es, Söhne der Verheißung und Erben zu sein, aber
ihnen widerfährt oft das Unglück, dass ihnen das natürlichste
ihrer Rechte entzogen wird. Das wissen wir von Kain und
Abel, Esau und Jakob, von den Söhnen Jakobs in Bezug zu Josef und es geht hin bis hin zu den Söhnen Jesses und dem König David. Es ist ein enormes Paradox in der Heilsgeschichte,
dass dieses göttliche Gesetz der Erstgeburt von Gott selbst gebrochen wird, und zwar aus einem überaus wichtigen Grund:
Bei der Entlohnung und beim göttlichen Erbe muss alles im
Bereich der Gnade bleiben und nicht in dem des Rechts. In
unserem Gleichnis erkennt der barmherzige Vater an, dass das
Vermögen dem älteren Sohn gehört, aber den bittet er um eine
Mentalitätsänderung.
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Ein Gleichnis im Gleichnis ist es, das im zweiten Teil der
ältere Sohn zum Protagonisten wird. Er kommt vom Feld zurück, wo er für den Vater gearbeitet hat, hört die Musik und
den Tanz, ruft einen Diener und informiert sich über das, was
da geschieht. Der Diener gießt Öl ins Feuer, denn er sagt ihm
mit einer gehörigen Portion Ironie, dass der jüngere Bruder
zurückgekommen ist und sein Vater das Mastkalb hat schlachten lassen.
Der Ältere schafft es nicht, seine Wut zu zügeln: Er beschließt, nicht ins Haus zu gehen, und als der Vater zu ihm
kommt, um ihn zu bitten, schimpft er über alles. Er beschuldigt den Vater, geizig zu sein, weil er ihm noch nie auch nur
ein einziges Ziegenböckchen geschenkt habe, und den jüngeren Bruder, verdorben zu sein, weil er seinen Anteil mit Dirnen durchgebracht habe. Im Zentrum dieses „Gleichnisses im
Gleichnis“ finden wir das Verb „zornig werden“ (V. 28), welches das genaue Gegenteil jenes Verbes ausdrückt, das für den
ersten Teil zentral ist: Während der Vater „Mitleid hat“ oder
„im Innersten bewegt ist“ (V. 20) wegen des verlorenen Sohnes, wird der ältere seinem Vater gegenüber „zornig“. Der
Zorn macht ihn blind und macht es ihm unmöglich, das Gute
zu sehen: Sein Bruder ist heil und gesund heimgekommen; er
war tot, aber jetzt lebt er; er war verloren und ist wiedergefunden geworden. Vor seinen Augen steht nur die vom Bruder
begangene Sünde, die es ihm unmöglich macht, das Gute anzuerkennen, das der Vater ihm zugedacht hat. Die Schuld, die
dem Heimgekehrten vom Vater nicht vorgeworfen worden ist,
wird ihm jetzt von seinem Bruder entgegengeschleudert. Nur
durch den älteren Bruder erfahren wir, dass der jüngere seinen
Anteil mit Dirnen durchgebracht hat. Der Erstgeborene ähnelt
dem Verfasser des Buches Jesus Sirach, der empfiehlt: „Gib
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dich nicht mit einer Dirne ab, damit sie dich nicht um dein
Erbe bringt“ (Sir 9,6).
Das Gleichnis erzählt nicht, wie sich der Ältere schlussendlich entschieden hat und ob er sich vom Vater überzeugen
ließ, am Fest teilzunehmen. Hat er sich entschieden, den ihm
zustehenden Teil zu erbitten und das Vaterhaus zu verlassen?
Oder ist er schließlich doch dem Blick seines jüngeren Bruders
begegnet? Das Gleichnis vom barmherzigen Vater ist ein offenes Gleichnis, das den Hörern die Verantwortung für ihre
Entscheidungen zuweist: ob sie Beziehungen unter dem Vorzeichen von Recht oder Verteilungsgerechtigkeit schaffen oder
sich auf den beschwerlichen Pfad der Gnade und der Barmherzigkeit wagen wollen. Bei der zweiten Option ist man gezwungen, den Vater nicht als undankbar zu betrachten, denn
er erweist einem Sünder Barmherzigkeit, und man muss sich
über jeden Sünder freuen, der vom Tod ins Leben zurückgekehrt.
Während die Gleichnisse vom wiedergefundenen Schaf
und der wiedergefundenen Drachme einen positiven Abschluss haben, endet das vom barmherzigen Vater mit Schweigen. Denjenigen, die Jesus kritisieren, weil er Zöllner und Sünder annimmt und mit ihnen isst, wird die Verantwortung für
die Entscheidung zugewiesen: Wie soll man die Beziehungen
zu Gott, der Vater ist, und zum Nächsten, der Bruder ist, betrachten?
Diener und nicht Richter der Barmherzigkeit
Ein Kunstwerk kann man aus verschiedenen Perspektiven betrachten, und jedes Mal erscheinen andere und neue Bedeutungen. Wenige Ausleger unseres Gleichnisses machen sich
die Mühe, die Rolle der Diener zu vertiefen und sie als absicht53
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lich zu betrachten. In Wirklichkeit besteht eine offensichtliche
Spannung zwischen den zwei Teilen des Gleichnisses: Im ersten Teil nehmen die Diener an der festlichen Begegnung des
Vaters mit dem jüngeren Sohn teil, während im zweiten einer
von ihnen dem älteren, der vom Feld zurückkommt, mitteilt,
was im Haus geschieht. Alle Diener haben Teil an der Begegnung zwischen dem Vater und dem jüngeren Sohn und führen
die erhaltenen Befehle aus: das beste Gewand herauszuholen,
es dem Sohn anzuziehen, ihm den Ring an den Finger zu stecken und Sandalen an die Füße zu legen, das Mastkalb zu
schlachten und das Fest vorzubereiten. Die Diener haben auch
die wichtigsten Begründungen gehört, die den Vater dazu gebracht haben, all das zu befehlen: Der Sohn war tot und ist ins
Leben zurückgekehrt. Die Diener stehen im Dienst der Barmherzigkeit, und es ist ihnen kein Einwand gegen das überströmende Mitleid des Vaters erlaubt. Sie haben nur die Funktion,
dem jüngeren Sohn die verlorene Würde wiederzugeben und
das Fest zu organisieren. Es hat seine Bedeutung, dass der Vater dem Sohn die verlorene Würde nicht allein zurückgibt,
sondern die Diener an dieser gemeinsamen Barmherzigkeit
beteiligt.
Im zweiten Teil wird einer der Diener vom älteren Sohn
um Auskunft gebeten und beschränkt sich darauf zu sagen:
„Dein Bruder ist gekommen, und dein Vater hat das Mastkalb
schlachten lassen, weil er ihn heil und gesund wiederbekommen hat“ (Lk 15,27). Der Kontrast zwischen den Dienern im
ersten Teil und dem Diener im zweiten Teil ist dezidiert und
zeigt, dass der letztere die Barmherzigkeit seines Herrn zu einer Ungerechtigkeit gegen den älteren Sohn herabwürdigt.
Der Diener beschränkt sich darauf, die Schlachtung des Kalbes und den körperlichen Zustand des jüngeren Sohnes mit54
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zuteilen. Er erwähnt weder das Mitleid, das der Vater mit dem
Sohn hat, noch die Handlungen, an denen er beteiligt war,
sondern nur den Befehl, das Kalb zu schlachten. Auch sein
Denken folgt einer Logik von Entlohnung und Vergeltung, die
auf Verdiensten basiert und nicht auf der Gnade. Der Diener
weiß sehr wohl, dass für den jüngeren Sohn das beste Kalb
geschlachtet worden ist, während der ältere noch nie auch nur
ein Ziegenböckchen bekommen hat, um mit seinen Freunden
zu feiern. Mit anderen Worten, der Diener scheint dem älteren
Sohn zu sagen: Schau mal, was für ein Typ dein Vater ist! Dein
treuer Gehorsam war ihm bislang nicht einmal ein Böckchen
wert, aber die Zügellosigkeit deines Bruders verdient das beste
Kalb. Und es ist genau die Erwähnung des Kalbes, welche die
Wut des älteren Bruders entflammt.
In seiner grenzenlosen Barmherzigkeit bleibt der Vater allein gegenüber dem älteren Sohn und in den Augen jenes Dieners, der sein Mitleid auf Berechnungen von Belohnung und
Vergeltung reduziert. So spielen die Diener in der Barmherzigkeitsbeziehung zwischen dem Vater und den beiden Söhnen zwei kontrastierende Rollen: Diener der Barmherzigkeit
zu sein für die Wiedergewinnung einer verlorenen Würde und
dabei die Freude des Herrn zu teilen oder das überströmende
Mitleid des Vaters mit dem wiedergefundenen Sohn als ungerecht zu verurteilen.
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