Intensivmedizin im geriatrischen Kontext Dr. med. D. Wyder Leitender Arzt Anästhesie/IPS Spital Limmattal Demographie des Alters Die Population der über 65-Jährigen Menschen ist die schnellstwachsende demographische Population in den USA und Industrieländern. Bis 2050 50% Bevölkerungswachstum in den USA, aber Bevölkerung über 65 J wächst um 120% 24.02.2016 / 2 Demographie des Alters und IPS • 2030: 25% der westeuropäischen Bevölkerung > 65 J • AUS/NZ: Jährliche Zunahme der IPS-Eintritte bei Patienten > 80 Jahre a Zunahme der benötigten IPS-Betten um 72% über 10 Jahre • Hälfte aller IPS-Betten wird benötigt für Patienten > 65 Jahre • IPS-Kosten bei Patienten > 65 Jahre steigen am Lebensende 24.02.2016 / 3 Verminderte physiologische Reserve • Kardiovaskulär • Pulmonal • Renal • Cerebral • Muskelmasse und funktioneller Status 24.02.2016 / 4 Physiologische Veränderungen (75 Jahre vs. 30 Jahre) • • • • • • • • • 24.02.2016 / 5 Gesamtkörperwasser Muskelmasse Gehirngewicht Grundstoffwechsel Max. Dauerleistung Max. Spitzenleistung Herzschlagvolumen Nierenblutfluss Vitalkapazitat 82% 70% 56% 84% 70% 40% 70% 50% 56% Veränderungen im Alter Ältere Patienten • Haben eine verminderte Lebenserwartung • Leiden häufiger an chronischen Krankheiten • Sind häufig stärker in ihrer Leistungsfähigkeit beeinträchtigt • Zeigen eine erhöhte IPS- und Spitalmortalität • Sind häufiger Langzeitpflegebedürftig 24.02.2016 / 6 IPS und Alter > 80 Jahre • mehr Notfälle, weniger elektive OP • häufiger kardiogener Shock, akut exacerbierte COPD • seltener akutes Asthma, Intoxikationen, Ketoacidose • höheres Risiko für schlechter funktioneller Status und Pflegebedürftigkeit Boumendil A et al, Intensive Care Med (2007) 33:1252–1262 24.02.2016 / 7 Sarkopenie und Gebrechlichkeit Funktioneller Status Gebrechlichkeit Sarkopenie -schwache Muskelkraft -Gewichtsverlust -Verlust von Skelettmuskulatur -langsamer Gang -kognitive Verluste -Schlechte Muskelqualität -Gleichgewichtsstörungen -soziale Isolation -Bewegungsmangel -Ermüdung 24.02.2016 / 8 Sarkopenie und Gebrechlichkeit 24.02.2016 / 9 Sarkopenie • Sarkopenie (Griechisch) – sarx =‚Fleisch‘ und penia = ‚Mangel‘ • Def: mit fortschreitendem Alter zunehmender Muskelabbau und die damit einhergehenden funktionellen Einschränkungen des älteren Menschen. • Häufung von Stürzen und damit verbundenen Verletzungen. • Aufgrund der demografischen Entwicklung in den Industrienationen zunehmende soziologische und ökonomische Rolle 24.02.2016 / 10 Sarkopenie 24.02.2016 / 11 Sarkopenie 24.02.2016 / 12 Sarkopenie 24.02.2016 / 13 Sarkopenie Weniger Muskelmasse Sarkopenie Weniger Muskelmasse Weniger körperliche Aktivität 24.02.2016 / 14 Gefühl vermehrter Anstregung Sarkopenie • Setzt ab einem Alter von etwa 50 Jahren ein • Ab dem 70. Lebensjahr beschleunigt • Der Verlust an Muskelkraft beträgt zwischen dem 50. und 60. Lebensjahr etwa 1,5 % pro Jahr, danach sogar etwa 3 % pro Jahr. 24.02.2016 / 15 Sarkopenie: Ursachen • altersbedingte Verringerung der anabolen (muskelaufbauenden) und ein Überwiegen kataboler (muskelabbauender) Prozesse • Fehlfunktionen zellulärer Prozesse in den Muskelfasern • im Alter häufige Mangelernährung (Malnutrition), insbesondere Proteinmangel • mangelnde Bewegung und Immobilisation (z.B. bei krankheitsassoziierter Bettruhe) 24.02.2016 / 16 Sarkopenie: begünstigende Faktoren 24.02.2016 / 17 Sarkopenie: Diagnose • Bisher selten gestellt. • Häufigkeit der Sarkopenie und ihre Folgen bisher im klinischen Alltag eher unterschätzt werden. • Epidemiologie: 5-13 % aller 60-70-Jährigen bis zu 50 % der über 80-Jährigen • Führt oft zu Gebrechlichkeit, jedoch sind nur etwa die Hälfte der betroffenen Menschen auch als gebrechlich einzustufen. 24.02.2016 / 18 Sarkopenie: Diagnose • Goldstandard: Dual-Röntgen-Absorptiometrie (DEXA) (oft nicht standardmäßig verfügbar) • Bioelektrische Impedanzanalyse (BIA) • Computertomographie (CT) • Magnetresonanztomographie (MRT) 24.02.2016 / 19 Sarkopenie: klinische Bedeutung BMI nicht verwertbar, Messung der Muskelmasse im CT Sarkopenie verschlechtert die Prognose bezgl. • Mortalität • Komplikationsrate • IPS-Aufenthaltsdauer • Aufenthalt nach Austritt 24.02.2016 / 20 Sarkopenie: Prävention & Therapie • Krafttraining • Erhöhung der Proteinaufnahme und vor allem der an den verzweigtkettigen Aminosäuren Leucin, Isoleucin oder Valin. 24.02.2016 / 21 Sarkopenie 24.02.2016 / 22 Sarkopenie 24.02.2016 / 23 Gebrechlichkeit 24.02.2016 / 24 Gebrechlichkeit 24.02.2016 / 25 Gebrechlichkeit: Definition • Frailty-Syndrom (engl. frailty = ‚Gebrechlichkeit‘) • Chronische altersbedingt herabgesetzte Belastbarkeit bei vermindertem Kraftzustand • Komplexes Syndrom, das mit dem Lebensalter eines Patienten assoziiert auftritt, sich aber ursächlich nicht nur mit dem Alter erklären lässt. • Folge des natürlichen Alterungsprozesses, kombiniert mit diagnostizierbaren Organ- und Funktionsstörungen, die in der Summe zu erhöhten diagnostischen, pflegerischen und therapeutischen Maßnahmen 24.02.2016 / 26 Definition der Gebrechlichkeit Drei oder mehr der nachfolgend aufgeführten Faktoren • unfreiwilliger Gewichtsverlust (über 10 % in einem Jahr oder mehr als 5 % in sechs Monaten) • objektivierte Muskelschwäche (beispielsweise durch Handkraftmessung bestimmt) • subjektive Erschöpfung (mental, emotional, physisch) • Immobilität, Instabilität, Gang- und Standunsicherheit mit Sturzneigung • herabgesetzte körperliche Aktivität (hinsichtlich basaler und/oder instrumenteller Alltagsaktivitäten) 24.02.2016 / 27 Charakteristika der Gebrechlichkeit (Frailty) 1. Klinik Multiple Komorbiditäten Polymedikation Häufige Hospitalisationen Wiederholte Stürze Sensorische Defizite Urininkontinenz 2. Funktionelle Kriterien Abhängigkeit in den Aktivitäten des täglichen Lebens 3. Sozioökonomische Faktoren Alleinstehend Kürzlich verwittwet Alter > 80 Jahre Aufenthalt in Institutionen 4. Kognitiv-affektive Kriterien Depression Verschlechterung der kognitiven Funktionen 24.02.2016 / 28 Gebrechlichkeit: Clinical Frailty Scale 24.02.2016 / 29 Gebrechlichkeit und IPS: Prognose 24.02.2016 / 30 Gebrechlichkeit und IPS: Prognose Boumendil A, Intensive Care Med (2004) 30:647–654 24.02.2016 / 31 IPS und Alter 24.02.2016 / 32 S. E. de Rooij, Intensive Care Med (2006) 32:1039–1044 Gebrechlichkeit und IPS 24.02.2016 / 33 Le Maguet P, Intensive Care Med (2014) 40:674–682 Gebrechlichkeit und IPS 24.02.2016 / 34 Le Maguet P, Intensive Care Med (2014) 40:674–682 Alter und Herzinsuffizienz 24.02.2016 / 35 Biston P; Intensive Care Med (2014) 40:50–56 Herzinsuffizienz und IPS Survival rate as a function of time after inclusion in the three age groups Not old (<75 years) n = 1,157 Old Very old (75–84 years) (≥85 years) n = 410 n = 84 p value ICU discharge 667 (58) 164 (40) 28 (33) <0.001 28 days 649 (56) 146 (36) 21 (25) <0.001 Hospital discharge 546 (48) 121 (30) 19 (23) <0.001 6-month survival 439 (41) 80 (21) 6 (8) <0.001 12-month survival 311 (34) 57 (16) 2 (3) <0.001 24.02.2016 / 36 Alter und Herzinsuffizienz 24.02.2016 / 37 Biston P; Intensive Care Med (2014) 40:50–56 IPS und Gebrechlichkeit 24.02.2016 / 38 IPS und Gebrechlichkeit 24.02.2016 / 39 IPS und Gebrechlichkeit 24.02.2016 / 40 IPS und Gebrechlichkeit: Lebensqualität 24.02.2016 / 41 Allokation von IPS-Betten • Aufgrund von Alter, rassischer und ethnischer Zugehörigkeit, Religion, sozialem Status, sexueller oder politischer Orientierung sollte Intensivbehandlung keinem Patienten verwehrt werden, der dafür qualifiziert. American Thoracic Society, AMJRCCM 1997; 156; 1290 24.02.2016 / 42 Allokation von IPS-Betten • Bedarf übersteigt häufig das Angebot -> Rationierung häufig • Obwohl Intensivmediziner und Ethiker befürworten, den Mensch im hohen Alter auf der Intensivstation zu behandeln, zeigen Studien,dass IPS-Behandlung häufiger abgelehnt wird als bei jüngeren Individuen • Mehrzahl der Ärzte favorisiert Priorisierung der IPSBehandlung für jüngere Patienten 24.02.2016 / 43 Definition des Nutzens der Intensivbehandlung • Verbesserung des Überlebens auf der IPS und im Spital • Verzögerung des Todes • Verbesserte körperliche und mentale Funktionsfähigkeit • Verbesserte Lebensqualität SCCM Ethics Committee, JAMA 1994; 271;1200 24.02.2016 / 44 IPS und Alter: relevante Faktoren • Lebensqualität aus der Sicht des Patienten • Wahrscheinlichkeit den Spitalaufenthalt zu überleben • Reversibilität der akuten Erkrankung • Natürlicher Verlauf der chronischen Erkrankung(en) SCCM Ethics Committee, JAMA 1994; 271;1200 24.02.2016 / 45 Kriterien für IPS-Eintritt im Alter • Priorität für Patienten welche von der Intensivbehandlung profitieren • Priorität sollte korrelieren mit der Wahrscheinlichkeit, dass der Nutzen der IPS-Behandlung substantiell grösser ist als die Behandlung auf einer Normalstation • Patienten mit schlechter Prognose und geringem erwartetem Nutzen sollten nicht auf die Intensivstation aufgenommen werden SCCM Ethics Committee, JAMA 1994; 271;1200 Sprung CL, Intensive Care Medicine 2013; 39; 1916 24.02.2016 / 46 Kriterien zur Ablehung der Intensivbehandlung Kann von Intensivbehandlung ausgeschlossen werden: • Irreversible Hirnschädigung • Multiorganversagen • Metastasierendes Malignom mit fehlendem Ansprechen auf Therapie Soll von Intensivbehandlung ausgeschlossen werden: • Persistierender vegetativer Zustand • Hirntod mit Verweigerung der Organsspende • Patienten, die eine Intensivbehandlung ablehnen 24.02.2016 / 47 24.02.2016 / 48
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