WAS UNS BEWEGT. Das Magazin 2014 der HARTMANN GRUPPE + EIN VIRUS AUF WELTREISE Die Geschichte der Schweinegrippe DER FABELHAFTE MR. TOILET Jack Sim und das Toilettentabu IM EINSATZ GEGEN DIE KEIME Zu Besuch im BODE SCIENCE CENTER HERAUSFORDERUNG Hygiene Vom Alltagsritual bis zum Infektionsschutz in der Klinik: Hygiene ist mehr als Sauberkeit EDITORIAL WAS UNS BEWEGT. Das Magazin der HARTMANN GRUPPE 1 Liebe Leserin, lieber Leser, Hygiene ist ein facettenreiches Thema. Sie beschäftigt uns als Individuum, etwa wenn wir morgens unter der Dusche stehen. Sie beschäftigt uns im Beruf, wenn man wie viele unserer Kunden – und auch ich zu Beginn meines Berufslebens – im Krankenhaus oder Pflegeheim tätig ist. Und sie beschäftigt Unternehmen wie HARTMANN, die Hygieneprodukte entwickeln und Kunden im Hygienemanagement unterstützen. Ein Nischenthema? Keinesfalls: Hygiene ist gesellschaftlich hoch relevant. Wo Keime sich ausbreiten können, weil es an der richtigen Ausstattung oder dem nötigen Wissen fehlt, ist die Gesundheit in Gefahr. Noch immer sterben jedes Jahr unzählige Kinder weltweit, weil kein sauberes Wasser zur Verfügung steht. Auch in entwickelten Ländern ist und bleibt Hygiene eine Herausforderung. Erst recht, wenn das Gesundheitswesen finanziell unter Druck steht und es immer mehr antibiotikaresistente Keime gibt. Die gute Nachricht: Hygiene ist machbar, häufig mit einfachen Mitteln. Als ein führender Anbieter von medizinischen und pflegerischen Angeboten sieht HARTMANN sich hier in der Pflicht. Wir haben das Know-how, um einen wesentlichen Beitrag für mehr Hygiene zu leisten: Mit Produkten, die im oft hektischen Klinik- und Heimalltag einfach zu handhaben sind und höchste Qualitätsstandards erfüllen. „HARTMANN entwickelt sich weiter. Auf klare Ziele fokussiert, immer mit Blick auf den Mehrwert für unsere Kunden.“ VARIANTENREICH Escherichia coli Gramnegatives Bakterium, das im menschlichen Dickdarm zum Beispiel die Herstellung von Vitaminen unterstützt. Außerhalb des Darms können die Bakterien unter anderem Harnwegsinfektionen hervorrufen. Einige Stämme lösen Darmerkrankungen aus. Andreas Joehle führt die HARTMANN GRUPPE seit 1. Juli 2013. Mit wissenschaftlich fundierter, praxisorientierter Beratung, wie sie etwa das BODE SCIENCE CENTER bietet. Und mit professionellen Systemlösungen, orientiert an den Prozessen unserer Kunden. Wirtschaftlichkeit und Patientenwohl sind keine Gegensätze – das ist und bleibt stets unser Anspruch. Viele der Geschichten über HARTMANN in dieser Ausgabe sind Ausdruck dieser Haltung. So wie es der Anspruch dieses Magazins ist, blicken wir wieder über den Tellerrand: Unsere Autoren nehmen Sie mit in die Labore der Wissenschaft und berichten über ungewöhnliche Persönlichkeiten. Etwa über den Singapurer Jack Sim, der sich als „Mr. Toilet“ für saubere Toiletten einsetzt, oder die Amerikanerin Sylvia Branzei, die Kindern mithilfe skurriler Experimente Hygieneregeln vermittelt. Wir lassen Hygienefachleute zu Wort kommen, begleiten einen Mann, der seinen Waschzwang überwunden hat, und setzen uns satirisch mit der Frage auseinander, wie sinnvoll es wäre, in der Hygiene ausschließlich auf Mehrwegprodukte zu vertrauen. Wie Sie sehen, gehen wir bei der Gestaltung dieser dritten Ausgabe unseres Konzernmagazins neue Wege. Mit starken Bildern, einer übersichtlichen Leseführung und hoher journalistischer Qualität wollen wir Ihnen noch besser vermitteln, „was uns bewegt“. HARTMANN entwickelt sich weiter, das zeigt auch unser Magazin: Gestalterisch und strategisch, auf klare Ziele fokussiert und immer mit Blick auf den Mehrwert für unsere Kunden. Ich wünsche Ihnen eine interessante Lektüre! Mehr zur Entwicklung der PAUL HARTMANN AG lesen Sie im Geschäftsbericht 2013, www.hartmann.info ANDREAS JOEHLE CEO der HARTMANN GRUPPE THEMEN DER AUSGABE 2014 THEMEN DER AUSGABE 2014 WAS UNS BEWEGT. Das Magazin der HARTMANN GRUPPE 2 3 2 + HERAUSFORDERUNG HELFEN HANDELN Hygiene S. S. 42 HERAUSGEBER PAUL HARTMANN AG, Heidenheim, Deutschland Idee & Konzept Matthias Mietka Projektsteuerung Anja Krey 42 PLANUNG & REALISATION Rat für Ruhm und Ehre GmbH, Düsseldorf Chefredaktion Myrto-Christina Athanassiou MR. TOILETS MISSION Der Singapurer Jack Sim kämpft für mehr Toiletten. S. KREATION Ziegler, Berlin Entwicklung & Kreativ-Direktion Angela Ziegler Gestaltung Bettina Keim, Angela Ziegler Bildredaktion Anne Grobler, Max Miller 48 EINE SAUBERE SACHE Das Qualitätsmanagement von HARTMANN sorgt für einwandfreie Produkte. S. S. S. 1 + S. S. S. 16 IM EINSATZ GEGEN KEIME Vermittler zwischen Wissenschaft und Anwendern: zu Besuch im BODE SCIENCE CENTER. S. S. 30 S. 64 3 SAUBERKEIT ALS OBSESSION Putz- und Waschzwänge sind schwer zu überwinden. Holger Müller hat es geschafft. S. S. 60 KEIME ÜBERALL Internationale Hygieneherausforderungen. 72 S. S. 72 SURVIVAL-KIT FÜR WELTENBUMMLER Was bei Reisen in exotische Länder ins Gepäck gehört. 74 DAS WELTENRETTER-DILEMMA Einweg oder Mehrweg? Einsichten eines Satirikers. 78 VON SCHLEUSEN UND SCHWÄMMEN Worauf es bei der Lebensmittelhygiene ankommt. S. 82 MEHR ALS NUR KEIMFREIHEIT Hygiene im übertragenen Sinn. 36 WIE VIEL IST ZU VIEL? Kann man Hygiene auch übertreiben? Zwei prominente Wissenschaftler nehmen Stellung. S. 38 VORSICHT, FALLE! Eine Auswahl der beliebtesten Hygieneirrtümer. S. LEBEN LEBEN LASSEN LEHRSTUNDE BEI FRAU BRANZEI Eine Amerikanerin begeistert Kinder mit ekligen Experimenten. S. LITHOGRAFIE Atelier am Schloßberg GmbH, Stuttgart + 24 EIN VIRUS AUF WELTREISE Die Schweinegrippe ist der aktuellste Fall einer Pandemie. Eine Chronik der Ereignisse. S. LEKTORAT Textklinik GmbH, Düsseldorf 58 D S. 30 54 SAUBERMÄNNER UND ÜBERSENSIBLE Das individuelle Hygiene-Empfinden kann sehr unterschiedlich sein. Vier typische Charaktere im Porträt. 38 14 WUNDERWERK DER NATUR Wie schützt der Körper sich vor Krankheitserregern? Ein Überblick. AUTOREN Myrto-Christina Athanassiou, Dr. Werner Bartens, Dietmar Bittrich, Simone Flattich, Prof. Dr. Detlev Ganten, Stefan Grönke, Sepideh Honarbacht, Brigitte Lohmanns, Sophie Mühlmann, Prof. John Oxford, Melanie Rübartsch, Kerstin Zilm ANGST VORM VOLLBAD Statt aufs Waschen setzte man zu Casanovas Zeiten auf Rauch und Leinenhemden. ENTDECKEN ERFORSCHEN S. 50 „DIE HAUSSPITZE MUSS MIT INS BOOT“ Ein Expertengespräch über Hygienestandards in Heimen und Kliniken. 24 S. 16 S. 78 IMPRESSUM 84 WIR WOLLEN GEGNER! Dr. Werner Bartens findet, dass die Menschheit es den Keimen zu leicht macht. DRUCK frey+mareis - druck+medien GmbH, Ulm BILDNACHWEISE Titelseite: David Maupilé, S. 2: Getty Images, S. 3: KD Busch, S. 4 – 5: Corbis, Sabine Hecher, Jim Ingraham, Samuel Zuder, laif, Getty Images, S. 6 – 13: imagebroker/ Frank Bienewald, Martin Langer/ Agentur Focus, Boisvieux/ hemis.fr/ laif, Melvyn Longhurst/ Corbis, S. 14 – 15: akg-images (2), keystone, Interfoto (2), Quagga Illustrations, S. 26 – 27: Science Faction/ Masterfile, S. 30 – 31: Science Faction/ Masterfile, blickwinkel, S. 40 – 41: Getty Images (2), Gallerystock, S. 42 – 43: F1online, Getty Images (4), bpk, GlowImages, S. 44 – 49: Jim Orca, Getty Images (3), Corbis, privat, S. 62 – 63: F1online, Okapia, laif, S. 64 – 65: F1online, Getty Images, dpa (2), Dave King, Interfoto (2), S. 74 – 75: PR (8), Mauritius, S.80 – 83: Mauritius, Gallerystock, Glow Images, Getty Images, S. 84 – 85: Plainpicture, Getty Images (2), S. 86: Intertopics Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird an mehreren Stellen im Text nur die männliche Sprachform verwendet. Selbstverständlich werden damit beide Geschlechter gleichermaßen angesprochen. RITUALE DER HYGIENE WAS UNS BEWEGT. Das Magazin der HARTMANN GRUPPE 4 Das spirituelle Bad der Hindus L aut der hinduistischen Mythologie stritten sich die Götter und Dämonen einst um einen Krug Nektar. Dabei fielen einige Tropfen dort auf die Erde, wo heute die indischen Städte Allahabad, Nashik, Ujjain und Haridwar liegen. Alle paar Jahre, wenn Sonne, Mond und Jupiter in einem bestimmten Winkel zueinander stehen, pilgern Millionen Menschen in eine der vier Städte, um die größte religiöse Feier der Welt zu begehen: das Fest des Kruges, die Maha Kumbh Mela. Höhepunkt ist das große Bad Snan parva, ein spirituelles Hygieneritual. Am Zusammenfluss von Ganges, Yamuna und dem mythischen Strom Sarasvati steigen tausende in die Fluten, um sich von allen weltlichen Sünden zu reinigen. Dass das Wasser der Flüsse stark verschmutzt ist, stört die Gläubigen nicht. 34 Millionen Menschen kamen 2013 zur Maha Kumbh Mela nach Allahabad. Jeden Tag aufs Neue K örperhygiene ist für viele ein tägliches Ritual. Die meisten Europäer verbringen jeden Tag eine halbe Stunde damit, sich zu duschen, zu rasieren, ihr Gesicht zu reinigen oder sich einzucremen. Zwei Drittel greifen zudem mindestens morgens und abends zur Zahnbürste. Eltern und Kindertagesstätten legen viel Wert darauf, schon den Kleinsten die richtigen Abläufe beim Zähneputzen beizubringen. Den Zeitaufwand für Körperhygiene empfindet die Mehrheit als gut investiert: Über die Hälfte der Europäer sagen, dass sie sich gerne mit der Pflege ihres Äußeren zu beschäftigen. Seit Jahren steigen weltweit auch die Ausgaben für entsprechende Produkte: Die Deutschen zum Beispiel gaben 2013 fast 1,4 Milliarden Euro allein für Zahn- und Mundpflegemittel aus. Fast überall investieren Frauen im Schnitt mehr Geld in Körperhygiene als Männer. Wellness auf Japanisch W eil Japan auf vulkanisch aktivem Gebiet liegt, finden sich fast überall im Land so genannte Onsen: Kurorte mit zahlreichen Thermalquellen, in denen Geschäftspartner, Paare, Familien und Freundesgruppen sich ganz der Reinigung und Entspannung hingeben. Allein die Onsen-Hochburg Beppu auf der Insel Kyūshū zählt über 2.000 Thermalquellen und 170 öffentliche Bäder. Bereits die Samurai stiegen hier nach dem Kampf ins heiße Wasser, um sich symbolisch von den Spuren ihrer Kämpfe zu reinigen und ihre Wunden zu pflegen. Noch heute sind außerdem Sand- oder Schlammbäder beliebt. Vor dem Eintauchen ins Onsen-Becken schreibt das Ritual eine gründliche Körperreinigung vor, die im Sitzen auf einer kleinen Bank absolviert wird. Das Bad selbst genießen Männer und Frauen getrennt – und möglichst in absoluter Ruhe. Fegen fürs Karma D en öffentlichen Raum sauber zu halten, gilt in vielen Kulturen als Zeichen des Respekts vor Umwelt und Mitmenschen. Auch ihre Götter stimmen Gläubige in diversen Religionen gnädig, wenn sie gemeinschaftlich genutzte Orte von Schmutz und Unrat befreien. In Myanmar zum Beispiel, auf dem Platz vor der berühmten Shwedagon-Pagode in Yangon, versammeln sich tagtäglich Bürger zur ehrenamtlichen, rituellen Straßenreinigung: Kurz vor Sonnenuntergang sieht man dort lange Reihen von Burmesen den Staub des vergangenen Tages beseitigen. Wer den Platz vor Myanmars berühmtem buddhistischem Wahrzeichen fegt, vollbringt der Überlieferung nach eine gute Tat, die sich positiv auf die spirituelle Entfaltung auswirkt. Er verbessert sein Karma und darf darauf hoffen, im nächsten Leben viel Glück zu haben. WAS UNS BEWEGT. Das Magazin der HARTMANN GRUPPE W ENTDECKEN + ERFORSCHEN WAS UNS BEWEGT. Das Magazin der HARTMANN GRUPPE ENTDECKEN + ERFORSCHEN 12 13 „Möge im Kriege gegen die kleinsten, aber gefährlichsten Feinde des Menschen eine Nation die andere überflügeln.“ ROBERT KOCH Wegbereiter der Infektionslehre — Robert Koch (1843 bis 1910) Der deutsche Mediziner und Mikrobiologe gilt als Mitbegründer der Bakteriologie. Er hat die Infektionslehre und den Aufbau der Tropenmedizin geprägt. ENTDECKEN + ERFORSCHEN Ohne die Fortschritte der Wissenschaft wüsste die Menschheit noch heute nicht, warum Hygiene überlebenswichtig ist. Medizin und Mikrobiologie, akribische Laborarbeit und Experimente weisen den Weg in eine Welt mit weniger Infektionen. BACILLUS ANTHRACIS + MYCOBACTERIUM TUBERCULOSIS Koch hat sowohl den Erreger von Milzbrand als auch den von Tuberkulose entdeckt. ROBERT-KOCH-INSTITUT Grundlagenforschung 1891 wird die Einrichtung als Königlich Preußisches Institut für Infektionskrankheiten eröffnet. Hier entwickelt Koch etwa Nährböden zur Züchtung von Bakterien und führt die Mikrofotografie ein. 24. MÄRZ WeltTuberkuloseTag 1905 Nobelpreis für Medizin Insekten können Erreger von Infektionen wie Malaria oder Schlafkrankheit übertragen. Das Nobelpreiskomitee zeichnet den Wissenschaftler für seine Entdeckungen zur Tuberkulose aus. 1882 gibt Robert Koch an diesem Tag offiziell die Entdeckung des Tuberkelbazillus bekannt. 1883 Reise nach Ägypten und Indien Der Tropenmediziner unternimmt regelmäßig Expeditionen. Er isoliert als Erster den Cholera-Erreger und treibt die Erforschung der Schlafkrankheit voran. WAS UNS BEWEGT. Das Magazin der HARTMANN GRUPPE ENTDECKEN + ERFORSCHEN ENTDECKEN + ERFORSCHEN 14 15 Auge Lid und Wimpern verhindern, dass Fremdkörper ins Innere des Auges gelangen. Zudem enthält die Tränenflüssigkeit ein Enzym, das Bakterien abtötet. Mandeln Ein Wunderwerk der Natur Luftröhre Speiseröhre Nase Bauchspeicheldrüse Dickdarm Dünndarm Lymphknoten Text: Melanie Rübartsch — Infografik: Sabine Hecher Die Haut – unser großer Schutzmantel Bronchien Leber Milz Magen Unser Körper hat einen vielschichtigen Schutz gegen Angriffe von Keimen aufgebaut. Anatomische Barrieren, die natürliche Bakterienflora und Abwehrmechanismen der Zellen halten Krankheitserreger unter Kontrolle. Fremdkörper aus der Atemluft bleiben an der Nasenschleimhaut hängen. Die Nasenflimmerhärchen der Schleimhaut bewegen sich konstant in Richtung Rachen. Dort wird ein Teil der Partikel wieder hinausgehustet. Lunge D ie Haut ist mit 20 Prozent des Körpergewichts und zwei Quadratmetern Fläche das größte und vielseitigste Organ des Menschen – und zugleich die größte äußere Barriere gegen Keime. Zum Schutz verfügt sie über ein ausgeklügeltes biochemisches Abwehrsystem: Ihre Oberfläche ist von einem Säureschutzmantel und hauteigenen Lipiden umgeben. Gemeinsam mit den Hornzellen wirken sie in der Oberhaut so robust wie ein Backstein-Zement-Modell: Die Lipide setzen sich wie Mörtel zwischen die Hornzellverbände und machen sie undurchlässig. So geht weniger körpereigene Flüssigkeit verloren und der Organismus wird vor Austrocknung geschützt. Dringen trotzdem Erreger in die Haut ein, werden die so genannten Langerhans-Zellen aktiv. Bis zu 800 dieser Abwehr- zellen siedeln sich netzförmig auf einem Quadratzentimeter Haut an. Sie wecken die Wächterzellen und stoßen damit die Immunreaktion auf fremde Zellen an. Dafür wandern sie von der Oberhaut ins Lymphsystem zu einem Lymphknoten. Nur gesunde Haut hält den täglichen Belastungen stand. Die Pflege mit schützenden und regenerierenden Produkten ist daher unerlässlich. Unser Speichel enthält spezielle Eiweißstoffe, so genannte Muzine, die sich als schützende Schicht über Mundschleimhaut, Zunge und Zähne legen und den Angriff etwa von Säuremolekülen abpuffern. Außerdem befinden sich im Speichel Enzyme, Moleküle und Proteine, die antibakteriell wirken. Hornschicht Oberhaut Epidermis Lymphgefäße Lederhaut Dermis Unterhaut Subcutis Blutgefäße Haarwurzel Muskel Fettgewebe Atmung Beim Atmen bleiben Mikroorganismen an winzigen Härchen in der Luftröhre hängen. Schleim und Flimmerhärchen, die so genannten Zilien, transportieren Keime wie eine Art Kehrmaschine aus den Bronchien heraus. Lymphen In Lymphknoten und Milz sammeln sich B-Lymphozyten und bilden Antikörper gegen Erreger. In den Lymphknoten sind außerdem Fresszellen aktiv. Diese so genannten Makrophagen reinigen die Gewebeflüssigkeit und leiten Partikel der Fremdkörper an die T-Lymphozyten weiter, die Killerzellen, die Erreger unschädlich machen können. Eine wichtige Rolle in der Immunabwehr spielen zudem die Wächterzellen, die durchs gesamte Gewebe patrouillieren und bei Fremdkörpern Alarm schlagen. Mund Füße Hält der Druck auf die Haut länger an, verdickt sich die tiefer liegende Hornschicht. Die Fußsohlen sind daher mit einer gleichmäßigen Hornhaut geschützt. Die natürliche Abwehr durch die Haut wird jedoch häufig im Fußbereich gestört, zum Beispiel durch zu enge oder luftundurchlässige Schuhe, in denen der Fuß zu schwitzen beginnt. Blut Verdauung Hände Können Erreger die anatomischen Barrieren überwinden, greifen die nächsten Stufen des Immunsystems. Alle Zellen, die der Körper für die Abwehr braucht, transportiert das Blut – etwa die Killer-, Wächter- und Fresszellen. Gelangen fremde Erreger in den Magen, greift die Magensäure sie an. Nächste Station ist der Darm: Mehr als tausend Arten und bis zu eine Billion Bakterien tummeln sich in einem Gramm Darminhalt. Die Mikroben bilden einen Schutzfilm, der gefährliche Keime in Schach hält. Die Haut ist an den Handinnenflächen besonders dick und verfügt damit über eine starke Keimbarriere. Amerikanische Forscher haben 2008 allein über 4.700 Bakterienarten identifiziert, die die Handinnenflächen besiedeln. ENTDECKEN + ERFORSCHEN WAS UNS BEWEGT. Das Magazin der HARTMANN GRUPPE 17 Im Einsatz gegen die Keime Immer mehr Menschen infizieren sich gerade dort, wo sie es nicht erwarten – im Krankenhaus. Die Zahl multiresistenter Keime, gegen die Antibiotika nicht mehr wirken, nimmt weltweit zu. Aufzuhalten ist dieser Trend nicht mehr, bessere Hygienemaßnahmen können ihn jedoch verlangsamen. Text: Brigitte Lohmanns — Foto: Samuel Zuder I m Hamburger Stadtteil Stellingen, im Nordwesten der Hansestadt, befi ndet sich das 2011 von HARTMANN und seinem Tochterunternehmen BODE gegründete BODE SCIENCE CENTER, ein Kompetenzzentrum innerhalb der HARTMANN GRUPPE. Das 11-köpfige Team aus Wissenschaftlern, Laborkräften, Beratern sowie Kommunikations- und Marketingexperten arbeitet dort gemeinsam daran, Menschen besser vor Infektionen zu schützen. Ein Besuch vor Ort. hilft meinen Kolleginnen und mir sehr. Wir können dadurch viel gezielter nachfragen und helfen.“ Die promovierte Biologin arbeitet seit zwei Jahren im Beratungsteam des BODE SCIENCE CENTERS. Insgesamt sind sie zu viert, alle haben eine naturwissenschaftliche Ausbildung DIE WISSENSVERMITTLERIN Pilz- und Bakterienkulturen im Labor der Abteilung Mikrobiologie bei BODE. Im Contact Point klingelt das Telefon. Brigitte Hérit nimmt ab. Die Zentralsterilisation eines großen Krankenhauses will wissen, woran es liegen kann, dass in den Reinigungs- und Desinfektionsgeräten braune Verfärbungen auftreten. „Haben Sie möglicherweise das Desinfektionsmittel gewechselt? So etwas passiert, wenn Wirkstoffe nicht miteinander kompatibel sind“, vermutet Hérit. Die Beraterin spricht aus Erfahrung. Vor Kurzem hat sie in einem Krankenhaus hospitiert. „Den Alltag unserer Kunden mitzuerleben, Brigitte Hérit berät Anrufer aus unterschiedlichen Branchen in Hygienefragen. und beraten verschiedene Zielgruppen, wie Krankenhäuser und Ärzte, Pharmaunternehmen, Rettungsdienste oder Wäschereien. Zu den Aufgaben des Teams gehören: telefonieren, E-Mails beantworten sowie Schulungsunterlagen und Informationsmaterial erstellen. Wieder klingelt das Telefon. Diesmal möchte eine schwangere Hygienefachkraft wissen, ab wann die Aldehydkonzentration in der Luft für sie eventuell gefährlich wird. Kurz darauf fragt eine Kindergärtnerin nach einem Desinfektionsmittel, das gegen Noroviren wirkt. Gerade die bunt gemischten Fragen machen die Arbeit im Contact Point so spannend, erklärt Hérit. Manchmal allerdings muss auch die erfahrenste Beraterin zunächst passen. Brigitte Hérit erinnert sich an einen Anrufer, der wissen wollte, wie man ein Glasauge desinfi ziert. „Solche ungewöhnlichen oder besonders kniffl igen Fragen besprechen und diskutieren wir mit unseren Kollegen aus dem Wissenschaftsbereich. Wir setzen uns fast täglich zusammen. Dabei helfen die Ergebnisse aus der Forschung oft, Anfragen zu beantworten.“ ENTDECKEN + ERFORSCHEN 18 DER FORSCHER Leiter des wissenschaftlichen Bereichs im BODE SCIENCE CENTER ist Professor Günter Kampf. Der Facharzt für Hygiene und Umweltmedizin arbeitet seit mehr als 16 Jahren bei BODE und war bis zur Gründung des Centers 2011 für die Abteilung Scientific Affairs verantwortlich. Nach wie vor arbeiten er und sein Team eng mit dem Bereich Forschung und Entwicklung von BODE zusammen. Im Büro des Wissenschaftlers steht ein großer Schrank mit vielen Schubladen. Darin liegen mehr als 160 Publikationen, die Kampf in den letzten Jahren veröffentlicht hat. Sein Wissen zu vermitteln und neue Impulse zu setzen, liegt ihm sehr am Herzen. „Hier haben mich meine ersten Arbeitsjahre in England geprägt“, erzählt Kampf. „In Großbritannien hat das Weitergeben von Gelerntem eine lange Tradition.“ Großen Wert legt Kampf darauf, dass er innerhalb seiner wissenschaftlichen Arbeit viele Freiräume hat. „Natürlich sind wir auch privatwirtschaftlichen Zwängen unterworfen, aber wissenschaftliche Fragen stehen bei uns im Vordergrund“, erklärt der Hygieniker. So haben er und sein Team zum Beispiel nachgewiesen, dass es ausreicht, wenn sich Chirurgen vor einer OP 1,5 Minuten lang die Hände mit alkoholischen Desinfektionsmitteln einreiben. Bisher ging man von 3 Minuten aus. „Die Reduzierung der Einwirkzeit und damit auch des Produktverbrauchs wirkt auf den ersten Blick eher nicht absatzfördernd“, so Kampf. „Aber damit hatten wir für Sterillium noch bessere Verkaufsargumente und der Vorteil gegenüber antimikrobiellen Waschlotionen wurde noch deutlicher.“ Gerade solche Forschungen tragen dazu bei, dass das BODE SCIENCE CENTER in der wissenschaftlichen Fachwelt anerkannt ist und als unabhängige Einrichtung wahrgenommen wird. „Mir ist es wichtig, die medizinische Fachwelt zu überzeugen“, erklärt Kampf. Dass ihm dies gelungen ist, zeigen die Einladungen zu Konferenzen und Fach- Professor Günter Kampf hat in den letzten Jahren mehr als 160 Publikationen veröffentlicht. „Mir ist es wichtig, die medizinische Fachwelt zu überzeugen.“ — Professor Günter Kampf vorträgen auf der ganzen Welt. Darunter in so unterschiedlichen Ländern wie der Elfenbeinküste, Syrien, den USA, Kanada, Indien oder Russland und natürlich in vielen europäischen Staaten. „Eines der größten Probleme in Europa besteht darin, dass das medizinische Personal zwar weiß, wie wichtig Hygienemaßnahmen sind, diese aber nicht immer umsetzt“, erklärt Kampf. Daher entwickelt sein Team Checklisten dazu, wie man Handlungsabläufe bei abgeschlossenen, einfachen Tätigkeiten auf Stationen optimieren kann. Dazu zählen Standardtätigkeiten wie das Legen von Infusionen oder peripheren Die erste Flasche Sterillium verließ am 4. Juni 1965 die Produktion von BODE Chemie. ENTDECKEN + ERFORSCHEN WAS UNS BEWEGT. Das Magazin der HARTMANN GRUPPE 21 Sozialmanagement studierte. Mittlerweile gehört er zum Vorstand des hochmodernen Eppendorfer Klinikums. Das Thema Hygiene vergleicht Prölß gerne mit der Flugsicherheit: „Genau wie sie ist Hygiene eine Führungsaufgabe.“ DIE DATENENTWICKLERIN Im Reich von Christiane Ostermeyer sind sie zu besichtigen, die kleinen Organismen, um die sich hier alles dreht. Fest in Petrischalen verschlossen, zeigen sich die Kulturen in sämtlichen Farben: Gelb, Orange, Rosa, Hellgrün. Gezüchtet werden Keime wie Candida albicans, Escherichia coli oder Staphylococcus aureus. Direkt daneben geht es zu den Brutschränken, wo sich hinter Edelstahltüren die Keime bei Temperaturen zwischen 30 und 37 Grad Celsius vermehren, damit sie für Versuche zur Verfügung stehen. „Keine Angst“, sagt Ostermeyer, Leiterin der Abteilung Mikrobiologie bei BODE, „wir haben nur Christiane Ostermeyer in ihrem Reich, der Abteilung Mikrobiologie von BODE. „Ich wünsche mir ein wirksames Desinfektionsmittel ohne negative Begleiteigenschaften.“ — Christiane Ostermeyer Verweilkathetern und das Wechseln von Verbänden in der Wundversorgung. Wann genau müssen die Hände desinfi ziert werden? Welche Schritte müssen aufeinander aufbauen, damit Krankheitserreger nicht übertragen werden? Die Abläufe müssen wissenschaftlichen Ansprüchen genügen und gleichzeitig in den Arbeitsalltag passen. Daher arbeiten die Forscher eng mit dem Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) zusammen. „Uns stellt sich die Frage, wie wir bei zunehmendem Kostendruck im Gesundheitswesen medizinisches Personal dazu bewegen können, die für den Patientenschutz nötigen Hygienemaßnahmen einzuhalten.“ Erste Ansätze liefern neue Lernmodelle wie das E-Learning-Tool (siehe Kasten) und Ergebnisse aus der Motivationsforschung. „Hier stehen wir noch am Anfang“, so Kampf. „Ich kann mir gut vorstellen, dass man hier mit Psychologen oder Pädagogen spannende neue Modelle entwickeln könnte.“ DER PRAKTIKER Seit 2010 ist Joachim Prölß Direktor für Patienten- und Pflegemanagement am UKE. Gemeinsam mit dem BODE SCIENCE CENTER hat er eine Interventionsstudie in seiner Klinik durchgeführt. „Wir wollten wissen, welche ‚Sicherheitslücken‘ im Arbeitsalltag von Ärzten und Pflegern dazu führen, dass sich Patienten im Krankenhaus Infektionen zuziehen“, erklärt Prölß. Ein Ergebnis der Studie: Alle Beteiligten wissen, dass sie sich die Hände desinfi zieren müssen, aber sie wissen nicht genau, wann. Deshalb hat das Team um Prölß und Kampf Checklisten für das UKE entwickelt. Mit Erfolg: „Arbeitsprozesse zu vereinfachen, erhöht die Compliance, also die Bereitschaft, sich an Regeln zu halten, was im täglichen Arbeitsstress nicht immer einfach ist“, so Prölß. Der Manager weiß, wovon er spricht. Er arbeitete selbst sechs Jahre als Pfleger, bevor er Pflegemanagement und einige Jahre später Gesundheits- und Keime der Risikogruppe 2, die können mit Medikamenten behandelt werden.“ Ihr Team besteht aus insgesamt rund 20 Mitarbeitern, die flexibel in Labor, Nährboden- und Spülküche sowie Dokumentation zum Einsatz kommen. Täglich prüfen sie, ob die Produkte, die die Fertigung verlassen, mit Bakterien, Pilzen oder Sporen verunreinigt sind. Vor fast 20 Jahren musste BODE eine Waschlotion zurückrufen, die mit so genannten adaptierten Keimen belastet war. „Das war die schlimmste Situation, die ich hier erlebt habe“, erzählt Ostermeyer, die 1979 nach ihrer Ausbildung zur Lebensmittelchemikerin bei BODE angefangen hat. „Aus diesem Rückruf haben wir viel gelernt – und die Produktionsbedingungen sowie die betriebsbegleitenden Kontrollen so angepasst, dass seitdem nie wieder etwas Ähnliches passiert ist.“ Ein zweites wichtiges Aufgabenfeld besteht darin, die Wirksamkeit von Produkten nachzuweisen. „Dabei arbeiten wir im Labor eng mit dem BODE SCIENCE CENTER zusammen“, erläutert Ostermeyer. So gab es im November 2012 den Hinweis vom Verbund für Angewandte Hygiene, dass Lösungen in Tuchspendern verkeimen, wenn sie nicht richtig aufbereitet werden. „Gemeinsam mit dem BODE SCIENCE CENTER haben wir ein wirksames manuelles Aufbereitungssystem entwickelt, das sich mittlerweile INFEKTIONSSCHUTZ VERBESSERN E-Learning zur Händehygiene Joachim Prölß im Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Der Direktor für Patienten- und Pflegemanagement arbeitet eng mit dem BODE SCIENCE CENTER zusammen. In dem vom BODE SCIENCE CENTER entwickelten „5-Momente-E-Learning-Tool“ lernen die Nutzer, in welchen Situationen sie sich die Hände desinfizieren müssen. Das Tool spiegelt typische pflegerische und ärztliche Tätigkeiten wider und ist als Fortbildungsmaßnahme anerkannt. Grundlage ist das von der WHO entwickelte Modell „My 5 Moments of Hand Hygiene“, das viele Einzelindikationen in fünf Indikationsgruppen zusammenfasst, in denen eine Übertragung von Krankheitserregern möglich und damit eine Händedesinfektion erforderlich ist. ENTDECKEN + ERFORSCHEN 23 „Wir forschen nicht im Elfenbeinturm, sondern für die Praxis.“ — Claudia James Claudia James, Direktorin des BODE SCIENCE CENTERS, hält die Fäden in der Hand. in Fachkreisen durchgesetzt hat“, so Ostermeyer. „Das war eine sehr schöne Zusammenarbeit, jeder wusste die Arbeit des anderen zu schätzen.“ Was sie sich für die Zukunft wünscht: „Dass es den Kollegen aus der Entwicklung gelingt, eine Art ‚eierlegende Wollmilchsau‘ zu kreieren – ein wirksames Desinfektionsmittel ohne negative Begleiteigenschaften.“ DIE LENKERIN Im BODE SCIENCE CENTER wird Wachstum großgeschrieben. Vor allem, wenn es um wissenschaftliche Erkenntnis geht. Wissenschaftler, Laborkräfte, Berater, Kommunikations- und Marketingexperten: Claudia James, Direktorin des BODE SCIENCE CENTERS und Mitglied der Geschäftsleitung, schätzt gerade das Miteinander der zahlreichen Professionen an der Arbeit hier. Sie selbst ist ursprünglich Literatur- und Musikwissenschaftlerin und hat im Marketing eines Lebensmittelkonzerns gearbeitet, bevor sie zu BODE kam und dort das strategische Marketing leitete. „Das mag sich jetzt moralisch anhören, aber ich empfinde es als unheimlich sinngebend, dass wir hier Produkte empfehlen und Patientenschutzmaßnahmen erarbeiten, die potenziell Leben retten“, so James. Gemeinsam mit ihrem Team sorgt sie dafür, dass die Ergebnisse der Forschungsarbeit sowohl bei den Praktikern als auch in der Öffentlichkeit ankommen. Ihre Mitarbeiter erstellen Medien für den Vertrieb, in denen wichtige Erkenntnisse zu Desinfektion und Hygiene verständlich beschrieben sind. „Wir forschen eben nicht im Elfenbeinturm, sondern für die Praxis“, so James. Das spiegelt sich auch auf der Website des BODE SCIENCE CENTERS wider. Hier fi nden sich praktische Tools wie die Erregersuche von A bis Z, mit Informationen zu Übertragungswegen und Produkten sowie ein E-Learning-Tool zur Händehygiene (siehe Kasten). „In manchen Ländern ist das E-Learning-Tool mit einem Gewinnspiel verbunden, die Erlöse werden an gemeinnützige Einrichtungen gespendet“, erklärt James. „Das kommt bei den Nutzern sehr gut an.“ Um den Austausch mit Fachkollegen aus der Hygieneforschung zu fördern, organisiert das BODE SCIENCE CENTER regelmäßig Experten-Veranstaltungen, zu denen auch Koryphäen wie der deutsche Sepsisexperte Professor Frank Brunkhorst gerne kommen. „Wir sind stolz auf unsere Forschungsarbeit, die Vernetzung in die Fachwelt und die Nähe zur Praxis und zum Vertrieb. Da der Patientenschutz uns leitet, profitieren alle von unserer Arbeit“, so James. In Zukunft will das Kompetenzzentrum verstärkt auch Industriekunden beraten: vom Rettungsdienst über die Großbäckerei bis hin zu Pharmaunternehmen. Es bleibt viel zu tun im Einsatz gegen die Keime. • WAS UNS BEWEGT. Das Magazin der HARTMANN GRUPPE ENTDECKEN + ERFORSCHEN 25 Faszinierende Formen: der Erreger der Schweinegrippe unter dem Mikroskop. Ein Virus geht um die Welt Erst trifft die Krankheit nur wenige. Dann breitet sie sich aus – über das Land, über den Kontinent, über die ganze Welt. Sie wird zur Pandemie und versetzt Nationen und internationale Organisationen in Alarmbereitschaft. Ein ausgeklügeltes Krisenmanagement setzt ein, dirigiert von der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Die Schweinegrippe ist ein aktuelles Beispiel einer Pandemie. Text: Melanie Rübartsch ENTDECKEN + ERFORSCHEN WAS UNS BEWEGT. Das Magazin der HARTMANN GRUPPE ENTDECKEN + ERFORSCHEN WAS UNS BEWEGT. Das Magazin der HARTMANN GRUPPE 26 D ie Schweinegrippe hielt 2009 die Welt in Atem. Auslöser war das Grippevirus A (H1N1): Influenza-Viren von Vögeln, Schweinen und Menschen hatten sich zu einem neuartigen Virus vermischt. Wie verlief die Pandemie, wie reagierte die internationale Staatengemeinschaft? Eine Chronik. MITTE APRIL 2009 Mexikanischen Ärzten fallen ungewöhnliche Grippeerkrankungen auf, die vor allem bei jüngeren Menschen schwer verlaufen. Manche Patienten müssen auf der Intensivstation beatmet werden. Die Fälle verteilen sich auf den Bundesbezirk von Mexiko-Stadt sowie die Bundesstaaten Baja California, San Luis Potosí und Oaxaca. 21. APRIL Die ersten beiden Infektionen in den USA werden gemeldet. Es handelt sich um zwei Kinder in Kalifornien, nahe der mexikanischen Grenze. 23. APRIL US-amerikanische und kanadische Laboratorien bestätigen, dass ein neues Virus verantwortlich für die aktuelle Influenza-Epidemie ist: H1N1. 24. APRIL Mexiko ist schockiert: Die ersten Todesfälle aufgrund von schweren Lungenschäden treten auf. Die Regierung ordnet an, alle Schulen zu schließen. Einen Tag später melden die USA acht Erkrankte, davon sechs im Süden Kaliforniens und zwei in Texas. Die Centers for Disease Control and Prevention (CDC) rüsten die US-Bundesstaaten mit antiviralen Medikamenten aus. 25. APRIL Die WHO in Genf warnt offi ziell vor einer Influenza-Pandemie. Sie teilt solche Pandemien in sechs Phasen ein und legt fest, welche Maßnahmen die einzelnen Nationen zur Bekämpfung 27 umsetzen sollten. Dazu zählt etwa die Produktion von Impfstoffen, das Austeilen von Schutzmasken, die Schließung öffentlicher Gebäude und die Erstellung nationaler Notfallpläne. Jetzt befi ndet sich die Welt in Phase 4: ansteigendes Risiko einer Pandemie. 27. APRIL Gouverneur Arnold Schwarzenegger ruft den Notstand in Kalifornien aus. US-Präsident Obama fordert den Kongress auf, 1,5 Milliarden Dollar für die Bekämpfung der Pandemie bereitzustellen. Inzwischen hat die Schweinegrippe Europa erreicht. In Spanien und Großbritannien weisen Mediziner das Virus bei drei kürzlich zurückgekehrten Mexiko-Reisenden nach. Die Briten lassen alle Passagiere, die aus Mexiko einreisen, noch im Flugzeug auf Grippesymptome untersuchen. 28. APRIL Das Virus erreicht weitere Weltregionen: In Neuseeland zum Beispiel wird es bei vierzehn, in Israel bei zwei Menschen nachgewiesen. Alle Erkrankten waren zuvor in Mexiko. Russland, Hongkong und Taiwan verhängen ab jetzt Quarantäne über Durchreisende bei Verdacht auf Schweinegrippe. Kuba stellt den Flugverkehr von und nach Mexiko für 48 Stunden ein. In Mexiko-Stadt bleiben nun auch Fabriken, Kinos, Theater und Universitäten geschlossen. „Bei einer Pandemie ist die ganze Menschheit bedroht.“ — Margaret Chan, Generaldirektorin der WHO 29. APRIL VERBREITUNG DER SCHWEINEGRIPPE BIS AUGUST 2010 Weg vom Tier zum Menschen Die Entstehung von H1N1 Die ersten drei Fälle in Deutschland werden bekannt. Die Patienten haben sich bei einem Mexiko-Besuch angesteckt. Im US-Bundesstaat Texas stirbt ein mexikanisches Kleinkind an dem Virus. Am gleichen Tag titelt die BILDZeitung in Deutschland: „Schweinegrippe-Virus nicht zu stoppen“. InfluenzaA-Viren Mutation des Virus Schwein 30. APRIL Die WHO stuft das Pandemierisiko auf 5 hoch, die zweithöchste Stufe. „Bei einer Pandemie ist die ganze Menschheit bedroht“, mahnt Generaldirektorin Margaret Chan. 236 nachgewiesene Fälle gibt es jetzt laut WHO weltweit, mindestens 27 davon in der EU. 2. MAI Der ägyptische Präsident Hosni Mubarak ordnet an, alle Schweine im Land zu töten. Die WHO betont, das sei unnötig. Im Land kommt es wegen der geplanten Keulung zu Krawallen. Mutation des Virus H1N1-Virus Todesfälle gesamt 1 – 10 11 – 50 51 – 100 101 und mehr betroffene Länder sind rund 3.200 Menschen weltweit erkrankt, 44 gestorben. 16. MAI 4. MAI Vogel In 21 Ländern sind nun rund 1.100 Erkrankungen nachgewiesen, acht davon in Deutschland. Patienten mit Schweinegrippe-Verdacht sollen in Neuseeland Krankenhäuser mit dreimaligem Hupen im Auto vor ihrer Ankunft warnen. In Bangkok und Tokio müssen Reisende thermische Scanner passieren. Am Pariser Flughafen weigern sich Mitarbeiter, das Gepäck aus Maschinen auszuladen, die aus Mexiko oder Spanien kommen. Die Schweinegrippe hat Japan erreicht. Nach wenigen Tagen melden die Behörden mehr als 120 Infektionen. Hunderte Schulen werden geschlossen. Marie-Paule Kieny, Direktorin für Impfstoffe der WHO, fürchtet einen Engpass: „Selbst wenn die Impfstoffproduktion gegen das neuartige Virus bald in Gang kommt, würden bei einer gravierenden Pandemie Milliarden von Impfdosen fehlen. Für arme Länder bliebe nichts übrig.“ 7. MAI 7. JUNI Mexiko kehrt langsam zurück zur Normalität. Nach tagelanger Schließung geben die Behörden Sehenswürdigkeiten wieder zur Besichtigung frei. Nach wie vor soll das Aufsichtspersonal in öffentlichen Einrichtungen aber Schutzmasken tragen und Menschenansammlungen verhindern. Für die Zulassungsprüfungen an Universitäten, die gerade in China stattfi nden, legen die Behörden strenge Sicherheitsvorkehrungen fest: Jedes Prüfungszimmer ist zwei Mal am Tag zu desinfi zieren, jeder der zehn Millionen Prüfl inge muss vor dem Test seine Körpertemperatur messen lassen. 8. MAI 11. JUNI Erstmals hat sich ein deutscher Reisender in den USA angesteckt. Inzwischen Die WHO erklärt die Schweinegrippe zur Pandemie und ruft die höchste Mensch Quellen: WHO, Robert-Koch-Institut Alarmstufe 6 aus. Fast 30.000 Infektionen in insgesamt 74 Ländern sind registriert. Mit mehr als 21.000 Fällen liegt der Schwerpunkt in Nordamerika. Insgesamt sind bereits mehr als 140 Patienten gestorben. 15. SEPTEMBER 16. JUNI 24. OKTOBER Die Markteinführung des ersten Impfstoffs, der speziell vor der Schweinegrippe schützen soll, steht bevor. Ein USPharmakonzern will im Juli mit dem Verkauf des Medikaments beginnen. US-Präsident Obama spricht von einem nationalen Notfall: „Grundlage unserer Antwort auf die H1N1-Grippe ist, auf allen Ebenen vorbereitet zu sein – persönlich, in Unternehmen und in der Regierung“, heißt es aus dem Weißen Haus. Bei der Lieferung der Impfstoffe gibt es unterdessen massive Engpässe. Medien sprechen von Impfchaos. 19. AUGUST Die deutsche Regierung gibt bekannt, dass ab Herbst bis zu 35 Millionen Bundesbürger geimpft werden sollen – als Erste chronisch Kranke, Schwangere, medizinisches Personal, Polizisten und Feuerwehrleute. Die Kosten sollen die Krankenkassen tragen. 28. AUGUST In der südlichen Hemisphäre ist die Zahl der Schweinegrippe-Infektionen nach Angaben der WHO rückläufig. Die nördliche Hemisphäre hingegen müsse sich für eine drohende zweite Welle der Erkrankung wappnen. Die US-Regierung gibt grünes Licht für den Einsatz von Impfstoffen gegen die Schweinegrippe und bestellt 250 Millionen Dosen. Die Impfstoffe werden kostenlos zur Verfügung gestellt. 26. OKTOBER Die Massenimpfung in Deutschland startet. Sie soll zur größten Impfaktion in der Geschichte der Bundesrepublik werden. Doch die Bürger sind skeptisch: Bei einer Krankenkassen-Umfrage schließen 60 Prozent der Befragten aus, sich impfen zu lassen. Grund ist unter anderem eine Debatte um Nebenwirkungen. Anfang November setzt indes eine zweite Welle der Schweinegrippe in Deutschland ein. ENTDECKEN + ERFORSCHEN WAS UNS BEWEGT. Das Magazin der HARTMANN GRUPPE 28 25. NOVEMBER In Saudi-Arabien beginnt der Hadsch, die Pilgerfahrt der Muslime nach Mekka. Drei Millionen Pilger aus 160 Ländern werden erwartet. Bei der Einreise erhalten sie dieses Mal Atemschutzmasken und Desinfektionsmittel. Die tunesische Regierung verbietet ihren Bürgern dennoch vorsorglich, nach Mekka zu reisen. 6. DEZEMBER Im russischen Saratow bricht Panik aus, weil 30 Menschen in der Stadt an der Schweinegrippe gestorben sind. Ein Student kolportiert, dass es sich in Wahrheit um Pesttote handele. Erst Tage später gelingt es den Behörden, die verängstigten Bürger zu beruhigen. 30. DEZEMBER Das Robert-Koch-Institut meldet für Deutschland bereits seit Mitte November stetig sinkende Infektionszahlen. Jetzt gibt auch eine Studie britischer Forscher Anlass zu vorsichtigem Optimismus: Nur 0,02 Prozent der Schweinegrippe-Erkrankungen sind ihr zufolge bislang tödlich verlaufen. 5. MÄRZ 2010 Weltweit ist die Zahl der Schweinegrippe-Fälle stark zurückgegangen. Die deutschen Bundesländer wollen deshalb Millionen übrig gebliebener Dosen des Schweinegrippe-Impfstoffs Pandemrix ins Ausland verkaufen. Doch die Verhandlungen darüber scheitern: 2011 werden 16 Millionen abgelaufene Impfdosen in Deutschland verbrannt. 10. AUGUST Die WHO erklärt die Pandemie offiziell für beendet. Die Bilanz: 18.400 Schweinegrippe-Tote weltweit, 258 davon in Deutschland. Ursprünglich hatte man vor mindestens zwei Millionen Toten gewarnt. Trotzdem ist das Schweinegrippe-Virus nicht ausgerottet: Experten warnen, dass resistente Versionen des Erregers weltweit neue Infektionswellen auslösen könnten. • GEISSELN DER MENSCHHEIT Die Furcht vor Pandemien ist Jahrtausende alt. Bevor die Wissenschaft Ursachen und Heilmittel aufspürte, blieb den Erkrankten meist nur das Beten. Die verheerendsten Seuchen im Überblick SPANISCHE GRIPPE Soldaten als Virenschleudern Zwischen 1918 und 1920 tobte die Spanische Grippe über alle Kontinente. Sie kostete 50 Millionen Menschenleben und gilt als bis dato schlimmste Pandemie der Geschichte. Die Patienten zeigten typische Grippesymptome; in schweren Fällen kam eine Lungenentzündung hinzu. Nach der Pandemie beobachteten Ärzte vermehrt Fälle der Europäischen Schlafkrankheit, einer Art Hirnhautentzündung, die Lähmungen, willkürliche Zuckungen und Psychosen auslösen konnte. Man nimmt an, dass diese Erscheinungen eine Spätfolge der Grippe waren. Der Erreger der spanischen Grippe war aktuellen Analysen zufolge eng mit dem der Schweinegrippe verwandt. Der Ursprung der Spanischen Grippe lag – anders als ihr Name vermuten lässt – in den USA. Im Ersten Weltkrieg verbreiteten infizierte Soldaten sie in Europa. Spanisch nannte man die Grippe, weil vor allem iberische Medien darüber berichteten. In anderen Ländern verhinderte die Zensur ausführliche Nachrichten: Man fürchtete, Pandemie-Schlagzeilen würden die Moral an den Weltkriegsfronten unterlaufen. DIE PEST Der schwarze Tod Zum ersten Mal trat die Pest im 6. Jahrhundert in Ägypten auf, erreichte dann Konstantinopel und verbreitete sich schließlich im gesamten Mittelmeerraum. Im Mittelalter raffte eine weitere Pestwelle, damals schwarzer Tod genannt, etwa ein Drittel der europäischen Bevölkerung dahin. Allein zwischen 1347 und 1352 zählte man etwa 25 Millionen Opfer. Die letzte Pestpandemie brach Ende des 19. Jahrhunderts in Südchina aus und kostete bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs etwa zwölf Millionen Menschenleben. Erreger von Beulen- oder Lungenpest ist ein Bakterium namens Yersinia pestis, benannt nach seinem Entdecker Alexandre Yersin. Ursprünglich ist die Pest eine Nagetier-Erkrankung, die meist vom Rattenfloh auf den Menschen übertragen wird. Menschen untereinander stecken sich durch Tröpfcheninfektion an. Wird die Pest nicht behandelt, steigt die Bakterienkonzentration im Blut derart an, dass die körpereigene Abwehr streikt. Folge ist ein septischer Schock. Heute wird die Erkrankung, die in Afrika und den USA noch in Einzelfällen ausbricht, mit Antibiotika behandelt. Bei frühzeitiger Erkennung bestehen gute Heilungschancen. POCKEN Gefahr inzwischen gebannt Das Pocken- oder auch Blatternvirus kam wohl im Jahr 165 n. Chr. nach Europa, als römische Legionäre von einem Mesopotamien-Feldzug zurückkehrten. Anschließend breitete sich die Krankheit bis zur Donau und zum Rhein hin aus. Die Folge war ein Massensterben über 24 Jahre hinweg. Ab dem 15. Jahrhundert schleppten europäische Eroberer die Pocken in Amerika ein, wo sie Erreger gefährlicher Infektionen lagern heute in geschützten Laboren. unter der indigenen Bevölkerung verheerende Epidemien mit Millionen von Toten auslösten. Noch in den 1950er Jahren gab es in Europa Pockenepidemien, 1958 etwa in Heidelberg. Bei den Erkrankten breiteten sich Pusteln und Bläschen am ganzen Körper aus. In schweren Fällen erblindeten die Patienten, wurden taub oder erlitten Hirnschäden. 30 Prozent der Infizierten starben. 1967 führte die WHO eine Impfpflicht ein. Den vorläufig letzten Ausbruch gab es 1977 in Somalia. CHOLERA Die längste Pandemie Streng genommen sind die Cholera-Wellen des 19. Jahrhunderts keine Pandemie, sondern eine Kette lokaler Epidemien. Im Laufe des Jahrhunderts waren solche Wellen in ganz Europa zu beobachten und forderten zigtausende Menschenleben. Ursprünglich kam die Seuche Ende des 18. Jahrhunderts aus Indien. 1830 brachten russische Truppen sie von Asien nach Europa, wo die Cholera immer wieder ganze Regionen heimsuchte. Das griechische Wort choléra bedeutet Gallenbrechdurchfall. Verursacher ist das Bakterium Vibrio cholerae. Die Ansteckung erfolgt in der Regel über verunreinigtes Trinkwasser oder infizierte Nahrung. Cholera-Kranke bekommen meist extremen Durchfall und müssen sich heftig übergeben, was zu Austrocknung führen kann. Wichtig ist deshalb, ihnen ausreichend Flüssigkeit, Zucker und Salze zuzuführen – in der Regel intravenös. In schweren Fällen brauchen die Patienten zusätzlich Antibiotika. Heute tritt die Krankheit noch in Lateinamerika und Afrika auf. Besonders schlimm wütete sie etwa 2010 nach dem Erdbeben in Haiti. Je nach mikroskopischer Aufnahme variiert die Gestalt des H1N1-Virus. ENTDECKEN + ERFORSCHEN WAS UNS BEWEGT. Das Magazin der HARTMANN GRUPPE 30 Frau Branzeis Gespür fürs Widerliche Ekel ist ein nützliches Gefühl. Es übt eine seltsame Faszination aus – und regt dazu an, Hygieneregeln einzuhalten. Ohne Ekelgefühle wäre die Menschheit wohl längst ausgestorben. Die US-Biologin Sylvia Branzei hat eine eigene Wissenschaft aus dem Reiz des Abstoßenden gemacht. Text: Kerstin Zilm — Foto: Jim Ingraham Schleim selbst herstellen: Damit begeistert Sylvia Branzei die Kinder in ihren Workshops. WAS UNS BEWEGT. Das Magazin der HARTMANN GRUPPE ENTDECKEN + ERFORSCHEN ENTDECKEN + ERFORSCHEN 32 E ine ehemalige Mormonenkirche in einem Dorf im Süden des US-Bundesstaats Oregon. Die Eingangshalle ist zum zweistöckigen Wohnzimmer umgebaut, ein Nebenraum zum Schlafzimmer umfunktioniert. Am Rest des Gebäudes arbeiten Sylvia Branzei und ihr Ehemann Byron noch. Kinder aus der Nachbarschaft sind im Wohnzimmer versammelt. Noch sieht alles harmlos aus. Den einzigen Hinweis auf Branzeis Pläne für den Nachmittag gibt ihr TShirt: GROSSOLOGY steht darauf, zu Deutsch etwa „Wissenschaft des Ekels“. Das O ist als Augapfel gezeichnet, die anderen Buchstaben sind groß, bunt, voller Warzen und Pusteln. Hinter der Hausherrin hängt eine Leinwand, auf dem Klapptisch vor ihr stehen Haushaltsprodukte: Apfelmus, Gelatine, Orangeat und Zitronat, Müsli, eine Rolle Backpapier, Waschmittel, eine Sprühflasche mit blauer Flüssigkeit, eine Herdplatte, ein Teller und eine Pfanne. 33 „Wer will etwas über ekliges Zeug lernen? Meldet euch!“ Hände schnellen in die Höhe. „Was ist das Ekligste, was euer Körper produziert?“ „Kacka!“, „Pipi!“, „Pickel!“, rufen die Kinder und werden von heftigem Kichern geschüttelt. Sylvia Branzei feuert sie an, schüttelt aber auf jede Antwort den Kopf. „Nein! Wissenschaftler haben herausgefunden: Die Nummer eins der Ekelhitparade ist ...“ Sie macht eine Kunstpause. Ihr Publikum hält den Atem an. „Erbrochenes! Erbrochenes fi nden die meisten Menschen am widerlichsten!“ Getöse und ekelverzerrte Gesichter im Zuschauerraum. „Wer von euch musste sich schon mal übergeben?“ Wieder schnellen Hände in die Luft. „Und das war ziemlich grässlich, richtig?“ Große Zustimmung. „Kinder wollen wissen, was in ihrem Körper los ist. Unsere Kultur verbietet ihnen, danach zu fragen. Das ist Quatsch.“ — Sylvia Branzei Die showartige Wissensvermittlung ist das Ergebnis jahrzehntelanger Erfahrung. Schon als Kind trieb Sylvia Branzei ihre Eltern mit ewigem Fragen nach dem „Warum“ halb in den Wahnsinn. In der Schule liebte sie die Naturwissenschaften. Niemand war überrascht, dass sie Mikrobiologie und Pädagogik studierte. Danach brachte die junge Frau Über Achselschweiß und Verdauung sprechen? Für die Pädagogin kein Problem. zunächst Kindern vom Kindergartenalter bis zum Highschool-Abschluss an einer Dorfschule im Norden Kaliforniens Biologie, Physik und Chemie bei. Sie schrieb wissenschaftliche Artikel über Körperkunde und Umweltschutz, entwickelte ein Physik- und Chemieprogramm für Grundschulen und sammelte Erfahrung in diversen Schulformen. Dabei hielt sie sich nie streng an den Lehrplan. Provozierten Teenager mit lautem Aufstoßen und Flatulenzen, nutzte Branzei die Gelegenheit zu einem Ausflug in die Lehre der Körperfunktionen. ÜBELKEIT DURCH ZU VIEL SÜSSES „Kinder sind von Natur aus neugierig. Sie wollen wissen, was in ihrem Körper los ist. In unserer Kultur wird ihnen aber verboten, danach zu fragen. Sie bekommen lauter Unsinn zu hören: ‚Das ist nicht höfl ich! Das ist unerzogen!‘ Ich fi nde, das ist absoluter Quatsch.“ Sie selbst hat keine Hemmungen, beim Abendessen über Achselschweiß oder Verdauung zu sprechen. Verwandte und Freunde haben sich daran gewöhnt, von Branzei nach ihrem Stuhlgang gefragt zu werden. „Das sagt viel darüber aus, ob sie gesund sind. Eigentlich frage ich damit nur, wie es ihnen geht, und erinnere sie daran, wie wichtig es ist, darauf zu achten.“ Den jungen Gästen in ihrem Wohnzimmer zählt sie jetzt auf, wann einem schlecht werden kann: auf dem Jahrmarkt zum Beispiel, wenn man zu viel Süßes isst. „Dann bekommt man ein komisches Gefühl im Bauch. Der Magen würde das Zeug gerne loswerden. Aber er muss ein Zentrum hinten unterm Schädel fragen. Das bestimmt, ob es losgehen kann oder nicht. Es wartet vielleicht, bis dein Hirn in der Achterbahn durchgeschleudert wird.“ Die Showmasterin fragt, welche Tiere sich regelmäßig übergeben – Katze und Eule – und erklärt, warum das wichtig ist und in welchen Situationen es für Menschen lebensrettend sein kann, den Magen zu leeren. Sie betont, wie toll es ist, dass der Körper diese Funktion hat. Die Idee zu ihren Ekelexperimenten kam Sylvia Branzei beim Schneiden ihrer Fußnägel: „Ich fragte mich, was das Zeug ist, das unter den Nägeln steckt.“ Branzei bittet um eine Freiwillige. Ein Mädchen in gelbem Sweatshirt, etwa zehn Jahre alt, wird zur Assistentin ernannt. Auf der Herdplatte erhitzt die Biologin Apfelmus in der Pfanne, während ihre kleine Helferin fl eißig rührt. Sie fügt Gelatine, Orangeat, Zitronat und eine Hand voll zerkrümeltes Müsli zum Mus, bittet um einen Teller mit Pergamentpapier und lässt die Masse aus der Pfanne vorsichtig darauf fl ießen. Igitt! Das Ergebnis sieht tatsächlich aus wie Erbrochenes. Die Zuschauer kreischen. Die Idee zu Grossology kam der Pädagogin beim Schneiden ihrer Fußnägel. „Ich fragte mich plötzlich, was das Zeug ist, das unter den Nägeln steckt, und dachte: Das würde auch Kinder interessieren. Ich könnte daraus ein Unterrichtsfach machen, vielleicht sogar eine Wissenschaft!“ Beim Abendessen sprach sie mit ihrem Mann Byron und den zwei Stiefkindern Alison und Ian darüber. Alle waren begeistert. Die Familie stellte eine Liste von körperlichen Erscheinungen auf, die dringend erforscht und auf witzige Weise vermittelt ABSCHEU ALS SCHUTZ Die Funktion von Ekelgefühlen Ekel zählt zu den Basisemotionen: Er ist Menschen aus allen Kulturkreisen am Gesicht abzulesen. Laut dem amerikanischen Forscher Joshua Tybur dient er dazu, das Überleben abzusichern. Verfaulte Nahrung, Kot oder Erbrochenes kann gefährliche Keime enthalten und wird deshalb als besonders widerlich empfunden. Dem US-Psychologen Jonathan Haidt zufolge hängt Ekel eng mit dem Moralempfinden zusammen: Konservative Menschen ekeln sich demnach stärker vor körperlichen Phänomenen als liberale Bürger. Wer gerade Ekel fühlt, weil es zum Beispiel stinkt, fällt außerdem strengere moralische Urteile über Verfehlungen seiner Mitmenschen, wie Experimente nachgewiesen haben. werden müssten: Verstopfung, Warzen, Krampfadern, Popel, blaue Flecken und Fußpilz schafften es unter anderem in die Sammlung. Sylvia Branzei schrieb darüber 1995 ihr erstes GrossologyBuch, garniert mit skurrilen Illustrationen des Zeichners Jack Keely. Es wurde ein Bestseller. Branzei kündigte ihren Lehrerjob und schrieb weitere Folgen der Grossology-Serie. Sie entwickelte Ausstellungen und Vorträge, mit denen sie bis heute durch die USA und andere Länder tourt. DR. HATSCHI UND DIE ZAUBERTINTE Im heimischen Wohnzimmer geht die Show weiter. Es folgen weitere Experimente, zum Beispiel zu der Frage, wie weit bei einem heftigen Niesen die Tröpfchen voller Bazillen fl iegen. Ein neuer Freiwilliger, diesmal ein Junge, bekommt Schutzbrille, weißen Kittel und den Namen ‚Dr. Hatschi‘ verpasst. WAS UNS BEWEGT. Das Magazin der HARTMANN GRUPPE ENTDECKEN + ERFORSCHEN 35 Ein Freund besprüht ihn mit blauer Zaubertinte aus der Sprühflasche. Lektion Nummer eins: Tröpfchen haben eine Reichweite von fünf Metern, deshalb in ein Taschentuch oder die Armbeuge niesen! Lektion Nummer zwei: Bazillen überleben lange in den Tröpfchen und haben eine hohe Übertragungsrate, deshalb regelmäßig Hände waschen! Branzei vermittelt Einsichten, die wissenschaftlich abgesichert sind. Schon bald nach Erscheinen ihrer ersten Bücher wurden Hygiene-Experten auf die ungewöhnliche Pädagogin aufmerksam und luden sie zu internationalen Konferenzen ein. Intuitiv hatte Branzei sich eine Erkenntnis der Verhaltensforschung zu Nutze gemacht: Mit witzigen Geschichten kann man Gewohnheiten besser verändern als mit Angstmacherei. „Sagst du jemandem, er soll sich die Hände waschen, weil er sonst krank wird, nutzt das nicht viel“, hat sie beobachtet. „Kochst du mit Kindern künstlichen Schnodder und zeigst, wie der an Klamotten, Händen und Nasen kleben bleibt, vergessen sie das nicht, ändern eher ihr Verhalten und erzählen anderen davon.“ „IHR HABT WENIGER KOMPLEXE“ Eine Rückkehr in den Schuldienst schließt Branzei heute für sich aus. Das Fragen und Begreifen kommt ihr in den Lehrplänen zu kurz. Die Mikrobiologin gewann mit der Zeit immer mehr Ansehen in Expertenkreisen. Unter anderem arbeitete sie an einem Hygiene-Programm für Entwicklungsländer mit. Das Ziel: die hohe Sterberate durch Durchfall mithilfe einer besseren Anleitung zur Händehygiene zu reduzieren. Branzei entwickelte ein humorvolles Schulprojekt, angelehnt an ihre Grossology-Bücher. „Die Schüler sollten das, was sie gelernt hatten, zuhause weitererzählen. Selbst wenn sie bei den Eltern nichts verändern, passen die Kinder selbst garantiert besser auf, wen und was sie anfassen, und waschen sich öfter die Hände.“ Branzeis Grossology-Bücher sind mittlerweile in mehreren Sprachen erschienen. Ihre Reisen und die Zusammenarbeit mit Übersetzern haben sie Sylvia Branzei vermittelt, dass Naturwissenschaften Spaß machen können. „Stelle ich die Frage, wer in der Nase popelt, meldet sich im Mittleren Westen der USA kein Mensch. Dabei bohren alle mal!“ — Sylvia Branzei viel über die Kulturen anderer Länder gelehrt. Auch in Deutschland war sie schon eingeladen, zu einer Fernsehshow für Kinder. „Das war super! Ihr habt weniger Komplexe und Tabus als die Amerikaner. Mit euch kann man leichter über all die Dinge reden, die in uns vorgehen und was das bedeutet.“ Die Amerikaner, so Branzei, seien besonders peinlich berührt bei allem, was unterhalb der Gürtellinie passiert. Bei anderen Themen gebe es regionale Unterschiede. „Stelle ich die Frage, wer in der Nase popelt, meldet sich im Mittleren Westen der USA kein Mensch. In Kalifornien heben fast alle im Publikum die Hand.“ Sie lacht laut auf. „Alle bohren mal in der Nase! Es redet nur keiner drüber. Das schickt sich nicht!“ Immerhin sei die Atmosphäre seit dem Erscheinen ihres ersten Buchs etwas liberaler geworden. „Damals galt das alles als total provokativ. Das ist es heute nicht mehr. Zum Glück!“ Ihre Bücher stehen inzwischen in vielen US-Bibliotheken und sind an manchen Schulen Teil des Lehrmaterials für Biologieunterricht. Trotzdem, so sehr sie die kleinen Shows für Kinder bei sich zuhause liebt, die sie regelmäßig veranstaltet: Branzei kann sich nicht vorstellen, zurück ins Schulsystem zu gehen. „Ich müsste zu früh aufstehen. Und es geht heute zu viel um Testergebnisse und zu wenig ums Fragen und Begreifen!“ Ihr Ziel ist, dass die Kinder ihre Körper verstehen. Und merken, dass Biologie, Chemie und Physik Spaß machen können, „dass diese Fächer mehr bedeuten als Formeln und komplizierte Wörter, die sich keiner merken kann“. Das hat sie auch an diesem Nachmittag in ihrem Wohnzimmer wieder erreicht. Die Zuschauer sind bis zum Schluss mit Eifer und Begeisterung dabei. Branzei fordert sie zum Abschluss dazu auf, hinaus in die Welt zu gehen und andere mit ihrem neuen Wissen anzustecken. „Ihr seid nun offi zielle Grossologen in Ausbildung!“ Das Mädchen im gelben Sweater fragt seine Mutter beim Hinausgehen, ob sie auf dem Weg nach Hause Apfelmus und Orangeat zum Experimentieren kaufen können. „Nur wenn du mir versprichst, dir von nun an öfter die Hände zu waschen!“, antwortet die. Sylvia Branzei grinst, nickt und signalisiert mit zwei nach oben zeigenden Daumen ihre absolute Zustimmung. • BÜCHER von Sylvia Branzei über die spannende Welt des Ekels sind auf Englisch, Französisch, Deutsch und Spanisch erschienen. Außerdem ist eine Bücherserie über Gruselgestalten wie Vampire und Mumien von ihr erhältlich. WAS UNS BEWEGT. Das Magazin der HARTMANN GRUPPE ENTDECKEN + ERFORSCHEN 36 MEINUNG Wie viel ist zu viel? Die Wissenschaft ist sich einig: Ohne Keime gäbe es kein menschliches Leben. Die Frage ist nur, wie man am besten mit ihnen umgeht. Kann es zu viel Hygiene geben? Zwei Positionen. Illustration: Petra Dufkava O hne Frage: Bis ins 19. Jahrhundert herrschten katastrophale hygienische Zustände im Gesundheitswesen. Die Mütter- und Kindersterblichkeit etwa war deshalb inakzeptabel hoch. Forscher wie Robert Koch haben damals Vorbildliches geleistet, um ein neues Hygienebewusstsein zu etablieren. Davon profitieren wir noch heute. Wer völlige Keimfreiheit erreichen will, erweist der menschlichen Gesundheit indes einen Bärendienst. Selbst Neugeborene benötigen Mikroorganismen, um ihr Immunsystem zu aktivieren und zu justieren. Schon wenige Stunden nach der Geburt bewohnen tausende winzige Lebensformen Haut, Magen und Darm des Säuglings. Genetisch gesehen sind sie nicht menschlich, trotzdem aber unentbehrlicher Teil unseres Körpers. Das Immunsystem hat die komplexe Aufgabe, zwischen nützlichen und bösartigen Teilen dieses Mikrobioms – der am und im Menschen lebenden Mikroorganismen – zu unterscheiden. Diese Aufgabe beginnt mit der Geburt, der Kontakt mit den Organismen lenkt und optimiert den Prozess. Um den Menschen in seinem biologischen Gesamtzusammenhang heilen zu können, müssen wir die Interaktion der Mikroorganismen untereinander und mit den menschlichen Zellen verstehen. Erzeugen wir aber eine keimfreie Umgebung, streichen wir wichtige Faktoren aus der Gleichung. Die Folgen sind mannigfaltig: Die Körperabwehr ist weniger robust, die Häufigkeit von Infektionen, Allergien und Autoimmunkrankheiten steigt. Das gibt der „HygieneHypothese“ Aufwind, nach der solche Erkran kungen auf den reduzierten Kontakt zu bestimmten Bakterien zurückzuführen sind. Eine Hypothese, die Beobachtungen in wenig entwickelten Gegenden stützen. Klar ist: Der weitaus größere Teil der mikrobiellen Welt ist für uns nützlich. Diesen dürfen wir nicht durch eine keimfreie Lebensweise oder Desinfektionswut vernichten, denn unsere Immunabwehr ist alt und auf das Leben in Symbiose mit einer natürlich schmutzigen Welt eingerichtet. Auf Hygiene zu verzichten, wäre verantwortungslos. Eine Hygienemanie aber schadet ebenfalls mehr, als sie hilft. • PROF. DR. DETLEV GANTEN, Facharzt für Pharmakologie und Molekulare Medizin, ehemaliger Vorstandsvorsitzender der Charité - Universitätsmedizin Berlin, heute unter anderem Präsident des World Health Summit. M itte der 1940er Jahre hatte die Hygiene ihre Blütezeit. Niemals davor investierten die Menschen so viel Zeit in Krankenhaus- und Haushaltshygiene. Doch dann eroberten Antibiotika die Welt. Großartige Medikamente, allerdings mit einem ungewollten Nebeneffekt: Als sie populär wurden, begannen die Hygienestandards in Privathäusern, am Arbeitsplatz und in Kliniken zu sinken. Jetzt aber merken wir, dass wir uns im postantibiotischen Zeitalter befinden – und es immer mehr resistente Keime gibt. Wir haben die einstigen Wundermittel falsch eingesetzt, in der klinischen Praxis ebenso wie in der Landwirtschaft. Deshalb benötigen wir mehr, nicht weniger Hygiene. Zumal bislang kein einziges Bakterium bekannt ist, das resistent gegen die große Mehrheit der Desinfektionsmittel ist. Einige Wissenschaftler treten dafür ein, mehr Dreck in unserem Leben zuzulassen. Mir leuchtet das nicht ein. Ich weiß zwar, dass zum Beispiel die Zahl der Kinder mit Asthma gestiegen ist. Nur: Warum soll dafür zu viel Hygiene verantwortlich sein, wo sich doch gleichzeitig tausend andere Umweltfaktoren verändert haben? Gefahr droht vor allem, wenn die Händehygiene vernachlässigt wird. Das zeigen beispielsweise die Infektionen mit Escherichia coli, die 2011 in Deutschland grassierten. Sie konnten sich nur deshalb so ausbreiten, weil zu viele Menschen ihre Hände nicht sorgfältig gereinigt hatten. Immer wieder beobachte ich, dass gerade Männer sich nach dem Toilettengang nicht die Hände waschen. Ich sehe Reisende im Zug, die sich gegenseitig anhusten, ins Gesicht niesen oder sich die Nase mit der Hand putzen, ohne diese danach zu waschen. Meine Kollegen und ich haben in den vergangenen acht Jahren Haushalte in 18 Nationen untersucht. Fast überall gab es Probleme: In unserer Erhebung von 2010 etwa waren elf Prozent der Kühlschränke mit Staphylokokken verkeimt. Natürlich sollte Desinfektion sich auf neuralgische Punkte beschränken, zu denen auch Waschbecken, Türgriffe oder Telefone zählen. Dort aber ist sie immens wichtig – und bestimmt nicht schädlich für unser Immunsystem. • PROF. JOHN OXFORD, Virologie-Professor am Blizard Institute of Cell and Molecular Science, Barts and the London School of Medicine and Dentistry sowie an der Queen Mary University of London, wiss. Geschäftsführer von Retroscreen Virology Ltd. und führender Influenza-Experte. Den gesamten Haushalt desinfizieren – oder auch mal im Dreck baden? Experten setzen in dieser Frage unterschiedliche Akzente. WAS UNS BEWEGT. Das Magazin der HARTMANN GRUPPE ENTDECKEN + ERFORSCHEN WAS UNS BEWEGT. Das Magazin der HARTMANN GRUPPE ENTDECKEN + ERFORSCHEN 38 39 VORURTEILE ÜBER HYGIENE 10 JE ÖFTER, DESTO BESSER? Vorsicht, Falle! Ein frisch bezogenes Bett ist topsauber Mehr als drei Millionen Menschen in Deutschland nutzen mehrmals pro Woche Desinfektionsmittel im Haushalt. Überflüssig, sagen Experten. Nur wenn jemand etwa an Durchfall erkrankt ist, sollte zum Beispiel die Toilette desinfiziert werden. Stimmt schon, bis auf die Hausstaubmilben. Auch frische Kissen enthalten noch tausende davon. Für Menschen mit Milbenallergie gilt deshalb: gut lüften, Betten täglich aufschütteln, damit die Milben herausfallen, öfter waschen und ältere Matratzen austauschen. Keine Angaben 0,9 Tausend Täglich 1,2 Mehrmals pro Woche 4,5 Ca. einmal pro Woche 5,6 Insgesamt 70,06 Millionen Personen Trotz aller Aufklärung: Manche Hygieneirrtümer halten sich hartnäckig. Eine kleine Auswahl. Mehrmals pro Monat 6,9 Ca. einmal pro Monat 6,8 Seltener 24,4 BAKTERIENARTEN sind bisher erforscht. Anders als das Vorurteil besagt, ist nur ein Bruchteil davon gefährlich: Bakterien zersetzen Nahrung im Darm oder Abfall auf dem Kompost, schützen die Haut oder werden wie der Lactobacillus helveticus zur Käseherstellung eingesetzt. Nie 49,7 Anteile nach Häufigkeit der Verwendung in Prozent, in Deutschland 2012; deutschsprachige Bevölkerung ab 14 Jahre QUELLE: Verbrauchs- und Medienanalyse 2013; Erhebung durch IFAK Institut, Ipsos, Media Markt Analysen Text: Stefan Grönke — Infografik: Sabine Hecher SEIFE IST ÜBERFLÜSSIG Hand VOR DEN MUND Gut gemeint, aber hygienisch husten geht anders. Denn die auf die Hand geschleuderten Viren verbreiten sich weiter, sobald man einen Mitmenschen oder Gegenstand berührt. Also besser in die Armbeuge husten. 15 Fertiggerichte Von wegen: Wer die Hände nur kurz unter den Wasserhahn hält, entfernt die Keime auf der Haut nicht zuverlässig. „Saubere Hände sind die mächtigste Waffe im Kampf gegen Infektionen.“ Hände unter fließendes Wasser halten KEIMSCHLEUDER Toilettensitz? Stimmt nicht: Spülschwamm, Kühlschrank und Schneidebrettchen tragen in der Regel mehr Bakterien als das heimische WC. Und in der Öffentlichkeit befinden sich vor allem an Türklinken und Haltegriffen viele Keime. Das gilt besonders für gemeinschaftlich genutzte Sanitäranlagen. — Professor Philip M. Tierno, Mikrobiologe an der amerikanischen New York University. Es ist ein weit verbreiteter Irrtum, dass man nur sichtbar dreckige Hände waschen muss. Eine FERTIGGERICHTE sind sicher 14 Leider nicht immer. Übersicht der Lebensmittelkategorien, die in Deutschland am häufigsten Infektionen verursachen (Anzahl der gemeldeten Ausbrüche 2010). Fleisch, Wurst Milliarde 8 Feinkostsalat 5 Backwaren 3 Milch QUELLE: Bundesinstitut für Risikobewertung 2012 2 Milchprodukte 2 Fisch 2 Eier 4 Sonstiges KEIME findet sich durchschnittlich auf 10 Quadratmeter Wischtuch. Wischen ist also nur hygienisch, wenn man Putzlappen regelmäßig wäscht. ERWÄRMEN REICHT AUS Stimmt nicht: Keime sind widerstandsfähig 100 °C 75 °C 60 °C 10 °C 4 °C 0 °C –18 °C Hohe Temperatur, Abtöten von Bakterien und Schimmelpilzen Heißhalten, verhindert Wachstum, manche Bakterien überleben Gefahr: schnelles Wachstum von Bakterien einschließlich Toxinbildung Kühlschrank, langsames Wachstum Tiefgefrieren, manche Bakterien überleben, können sich aber nicht vermehren; zur Sicherheit Temperatur auf –18 °C bis –20 °C einstellen QUELLE: Bayerisches Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit Seife 20 bis 30 Sekunden in den Händen verreiben Auch zwischen den Fingern Dann gründlich abspülen Sorgfältig abtrocknen „Dreißig bis fünfzig Prozent der AntibiotikaVerordnungen sind absolut überflüssig.“ — Dr. Ernst Tabori, Ärztlicher Direktor Deutsches Beratungszentrum für Hygiene, zum Irrglauben, dass Antibiotika gegen alles helfen. QUELLE: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung Infektionen Ärzte sind Hygienevorbilder KOMMEN IMMER VON AUSSEN Das wäre schön. Untersuchungen attestieren dem Pflegepersonal bessere Händehygiene. So liegt die Händehygiene-Compliance von examinierten Pflegern nach einer Erhebung der World Health Organization im Schnitt ca. 15 Prozent höher als bei Ärzten. Falsch: Auch körpereigene Keime lösen Infektionen aus. Zum Beispiel können Escherichia coli-Bakterien aus dem Darm in die Harnblase gelangen und dort zu Blasenentzündungen führen. Keime der Haut können bei tiefen Verletzungen sogar eine Blutvergiftung verursachen. WAS UNS BEWEGT. Das Magazin der HARTMANN GRUPPE HELFEN + HANDELN WAS UNS BEWEGT. Das Magazin der HARTMANN GRUPPE HELFEN + HANDELN 40 41 „Hygiene obliegt nicht allein dem Arzte, sondern auch dem Architekten, dem Ingenieur und der Verwaltung.“ — Max von Pettenkofer (1818 bis 1901) MAX VON PETTENKOFER Wissenschaftler mit Breitenwirkung Der Mediziner, Pharmazeut und Chemiker war der erste deutsche Professor für Hygiene. HELFEN + HANDELN Wie ernst man Hygiene nimmt, zeigt sich in der Praxis. Städteplanung und Gesundheitswesen, mutige Einzelkämpfer und Fachleute sorgen dafür, dass der Mensch im Kampf gegen die Keime erfolgreich ist. GEGEN TYPHUS UND CHOLERA Von Pettenkofer erkennt als einer der Ersten, dass schlechte Wasserver- und -entsorgung mitverantwortlich für wiederkehrende Seuchen ist. SOZIALHYGIENE Mehr als Wasser und Seife Der Professor beschäftigt sich auch damit, wie Luftverschmutzung und mangelhafte Wohnungsbelüftung sich auswirken. 1865 Wie hygienische Bekleidung beschaffen sein sollte, erforscht Max von Pettenkofer im 19. Jahrhundert. Institut für Hygiene Von Pettenkofer wird erster Direktor der neuen Einrichtung an der Ludwig-MaximiliansUniversität in München. 1874 Die Hygienebewegung Nach einer CholeraEpidemie setzt von Pettenkofer in München den Bau einer modernen Kanalisation durch. Viele andere europäische Metropolen ziehen nach. Den Tod besiegt 1854 übersteht von Pettenkofer selbst eine Cholera-Erkrankung. Auf dem Krankenbett schwört er, die Seuche mit allen Mitteln zu bekämpfen. WAS UNS BEWEGT. Das Magazin der HARTMANN GRUPPE HELFEN + HANDELN 42 Ein Kreuzzug fürs Klosett Zweieinhalb Milliarden Menschen weltweit haben keinen Zugang zu hygienischen Toiletten. Dem Singapurer Jack Sim lässt das keine Ruhe. Text: Sophie Mühlmann J eden Morgen, wenn in Mumbai die Sonne aufgeht und über den Wellen an der Küstenlinie glitzert, strömen sie heraus auf die Felsen: Männer und Kinder – die Frauen müssen auf die Dunkelheit warten – lassen sich entspannt in die Hocke sinken und entblößen ihre Hinterteile. Manche kauern hinter den spärlichen Büschen, andere ganz ohne Scham mitten auf dem Stein. In aller Ruhe verrichten sie ihr Geschäft, dann waschen sie sich kurz in einer der Pfützen auf den Felsen ab und beginnen ihr Tagwerk. Sie leben in den Hochhäusern entlang der Küste oder in Slums. Manche besitzen Kühlschränke, Ventilatoren und Farbfernseher, aber eine Toilette haben die wenigsten. Und wenn, dann ist die oft verdreckt, kaputt oder stinkt bestialisch. 626 Millionen Inder erleichtern sich im Freien, ihre stillen Örtchen sind der Straßenrand, ein freies Feld, das Meeresufer. Nur 47 Prozent aller indischen Haushalte haben Zugang zu einem Klosett. Und dies sind nur die Zahlen des asiatischen Subkontinents. Weltweit leben zweieinhalb Milliarden Menschen ohne Toilette. CLOWN MIT GROSSEN AMBITIONEN Fast 4.000 Kilometer entfernt, in Singapur, sitzt Jack Sim in der Kantine eines Pharmaunternehmens. Gleich hat er ein Treffen mit den Geschäftsführern, er will sie von seinen Konzepten überzeugen. Denn Jack hat eine Mission. Er mag sich mit den Statistiken nicht abfinden, nicht in Indien, nicht in Asien, nirgendwo auf der Erde. Für den 56-Jährigen ist das Recht auf eine Toilette für jedermann Millionen Inder verrichten ihr Geschäft im Freien. „Das Design einer Toilette muss ergonomisch sein, damit die Menschen sich anständig benehmen.“ — Jack Sim, Gründer der World Toilet Organization zum höchsten Ziel geworden. Er kämpft und wirbt, er singt und streitet, und alles nur zu einem Zweck: Sanitation – der Einrichtung sanitärer Anlagen. Die Leute kennen ihn hier. Immer wieder bleiben Einzelne an seinem Tisch stehen, grüßen freundlich, stellen Fragen. Er nippt an seinem Limonensaft, antwortet lächelnd, scherzt und spottet. Ein Clown mit großen Ambitionen. „Als ich hier in Singapur aufwuchs, war meine Familie arm“, erinnert Jack sich. „Die Leute denken immer, dieser Stadtstaat war seit jeher so glänzend und modern“, er zeigt auf die Hochhäuser, die in den schwül verhangenen Himmel ragen, „aber in den 50er Jahren war dies ein sehr armes Land.“ Als Jack sechs Jahre alt war, hatte seine Familie in ihrer Wohnung im sozialen Wohnungsbau ihr erstes WC. „Wir fühlten uns richtig wie die Oberklasse!“ DAS KLO ALS SPIEGEL DER KULTUR In jungen Jahren war der agile Mann Händler. Er verkaufte Immobilien, Ziegel, Theatersitze und vieles mehr. „Meine Noten waren nicht gut genug, also machte ich Geschäfte. Business ist so viel leichter als zu studieren!“, sagt er und grinst. Er war sehr erfolgreich, gründete Joint Ventures, hatte seine Finger in insgesamt 16 Firmen. „Aber mit 40 wurde mir bewusst, dass es Jack Sim war erfolgreicher Geschäftsmann, bevor er sich ganz dem Einsatz für mehr Toiletten widmete. WAS UNS BEWEGT. Das Magazin der HARTMANN GRUPPE HELFEN + HANDELN 45 „Es reicht nicht, Toiletten zu bauen. Wir müssen die Menschen dazu bringen, dass sie darüber offen sprechen.“ 46 Rollen Toilettenpapier verbraucht der durchschnittliche Deutsche pro Jahr. Schweden benötigen etwa doppelt so viel, Spanier nur ca. 23 Rollen. — Martin Mogwanja, UNICEF 115 Menschen pro Stunde Sitzen oder hocken? In den meisten westlichen Ländern sind heute Tiefspüler verbreitet. Südeuropäer, Asiaten und arabische Toilettengänger bevorzugen oft die Variante zum Hocken. sterben in Afrika an Krankheiten, die auf unzureichende Sanitäreinrichtungen zurückzuführen sind. Jeder zweite Deutsche liest regelmäßig auf der Toilette. Männer bevorzugen Tageszeitungen, Frauen Romane. 53,8 Milliarden US-Dollar an Kosten verursachen jährlich die gesundheits- und umweltbedingten Folgen der mangelhaften Sanitäreinrichtung in Indien. 40 von 100 Kindern leben auf dieser Welt ohne Zugang zu Toiletten. Q UELLEN: World Health Organization, Industrieverband Körperpflege- und Waschmittel, Gesellschaft für Konsumforschung mehr im Leben gibt, als nur Geld zu scheffeln“, erzählt der humorvolle Mann mit der Brille. In jenen Tagen hörte er eine Rede des damaligen Singapurer Premierministers Goh Chok Tong: „Wir müssen unser Sozialverhalten an der Sauberkeit unserer öffentlichen Toiletten messen“, sagte der. Das Klo als Spiegel der Kultur. Einleuchtend und überzeugend, fand Jack. 1998 gründete er die Restroom Association Singapore und konzentrierte sich auf die drei Schwerpunkte Architektur, Benehmen und Sauberkeit. „Alles, was feucht ist, wird schnell stinkig und schmutzig“, stellt er fest. Umso wichtiger wurde es ihm zu verhindern, dass Putzkräfte mit Wasser herumspritzen und Toilettenbesucher ihre nassen Hände einfach ausschütteln, weil es keine Handtücher in Reichweite gibt. „Wir brauchten besseres Licht und eine ordentliche Lüftung. Das Design einer Toilette muss ergonomisch sein, damit es die Menschen dazu motiviert, sich anständig zu benehmen. Wenn es bequemer ist, sich wie ein Schwein aufzuführen, dann ist das Design schuld. Oder anders gesagt: Wenn die Toilette dich nicht respektiert, dann respektierst du sie auch nicht!“ „FRAUEN BRAUCHEN MEHR PLATZ“ Was als Hobby begonnen hatte, wurde für Jack Sim bald zum Vollzeitjob. 2001 startete der gewitzte Unternehmer die World Toilet Organization (WTO). Zu Beginn noch als One-Man-Show im Einsatz, vernetzte Jack sich bald mit Gleichgesinnten in aller Welt. „Mir wurde schnell klar, dass dieses Projekt so viel bedeutungsvoller ist als meine anderen Geschäfte.“ Er trennte sich von all seinen Unternehmen, um sich ganz der Sanitation widmen zu können. Nur eine Firma behielt der Gründer für sich, „um die Miete bezahlen zu können“, ein Unternehmen, das Toilettentrennwände baut. Die Medien sprangen auf die Ideen des selbst ernannten „VollzeitToilettenmanns“ an, immer schneller In Mumbai sind öffentlich einsehbare Pissoirs schon ein Fortschritt. „Toiletten stellen einen Profit dar. Sind sie nicht ansprechend, verlieren die Geschäftsleute Kunden.“ — Jack Sim wurden seine Konzepte in die Tat umgesetzt. 2005 überzeugte er zum Beispiel die Regierung in Singapur, das Gesetz zu ändern, das für Männer- und Frauentoiletten die gleiche Größe vorschreibt. „Unfug!“, meint Jack, „Frauen brauchen mehr Platz, damit sie nicht Schlange stehen müssen. Schließlich brauchen sie Kabinen, und Männer können Urinale benutzen.“ Jack Sim packt die Menschen dort, wo es wehtut: beim Geld. „Wir müssen den Gebäudebesitzern klarmachen, dass die Toiletten einen Profit darstellen. Dass sie Kunden verlieren, wenn ihre Waschräume nicht ansprechend sind.“ Immerhin machen Impulskäufe 95 Prozent der Geschäfte aus. Dafür müssen sich die Kunden lange in den Einkaufszentren aufhalten. Und das tun sie nur, wenn sie dort ohne Ekelgefühle auf die Toilette gehen können. Auf ein Anreiz-System setzt der WTO-Chef auch im Bildungswesen und in der Arbeitswelt: In Schulen versuchen er und seine Mitarbeiter die Eltern zu überzeugen, dass ihre Kinder bessere Noten bekommen, wenn sie nicht aus Widerwillen vor den Schulklos ihren Harndrang einhalten. Die Schüler selbst dekorieren ihre Toiletten mit Dinosauriern oder Fischen, „und dann erklären wir ihnen: Das sind jetzt eure eigenen Klos. Pflegt sie gut!“ In Fabriken gilt es den Bossen klarzumachen, dass Arbeiter nicht effi zient sind, wenn sie sich Infektionen auf der Betriebstoilette zuziehen. Schuldirektoren, Bauentwickler, Vorstandsvorsitzende: Jack sucht mit allen Entscheidern das Gespräch. Um mehr Sauberkeit zu erreichen, wendet sich die WTO zudem direkt an das Reinigungspersonal. „Diese Menschen wurden in Singapur früher mies bezahlt und schlecht ausgebildet.“ Jack holte deshalb japanische ReinigungsTrainer ins Land, „denn nirgendwo WAS UNS BEWEGT. Das Magazin der HARTMANN GRUPPE HELFEN + HANDELN 46 wird Hygiene so großgeschrieben wie in Japan“. Sie unterweisen die Teilnehmer der WTO-Kurse darin, wie man nachhaltig und gründlich putzt: welche Reinigungsmittel man benutzt und wie viel davon, wie man eine kaputte Klobrille repariert oder eine verstopfte Toilette wieder funktionstüchtig macht. Außerdem bekommen sie Regeln zur Etikette und zu adäquater Kleidung mit auf den Weg. „Wir befördern sie vom schlichten Kloputzer zum ‚Waschraum-Spezialisten‘. Und am Ende müssen sie eine Prüfung ablegen und bekommen ein Zertifi kat des WTO-Colleges“, erklärt die Umweltmanagerin Laura Simei, die seit anderthalb Jahren zu Jacks Team gehört. In Singapur hat sich das Konzept auch für die Reinigungskräfte selbst ausgezahlt: Statt wie früher 260 Euro verdienen sie jetzt im Schnitt rund 400 Euro im Monat. EXPORT NACH INDONESIEN UND CHINA Laura Simei exportiert das in Singapur so erfolgreiche Reinigungstraining gerade für Jacks neues WTO-College nach Übersee. Im Moment sind die Schwerpunktziele Indonesien und China – beide Länder stecken, was die Qualität und Annehmlichkeit ihrer öffentlichen Toiletten betrifft, noch in den Kinderschuhen: Fernab der teuren Hotels und verspiegelten Shoppingcenter findet man dort allzu oft nur ungelüftete Plumpsklos, von Fliegen umschwirrt, mit Glück hin und wieder von einem Schlauch durchgespritzt. In anderen Weltregionen haben Jacks Ideen sich dagegen längst verbreitet. 2008 verlieh ihm das amerikanische Time Magazine den Titel „Held der Umwelt“. Ein Jahr später folgten die USA auf seine Initiative hin dem Singapurer Beispiel und änderten das Gesetz für Damen- und Herren-WC in öffentlichen Gebäuden. Hongkong und große Städte in China sollen folgen. Nicht Spenden und Entwicklungshilfe, so meint Jack, könnten endlich für bessere Sanitation auch in armen Ländern sorgen, sondern die Marktwirt- schaft. „Der Markt wäre Milliarden wert – über mehrere Branchen hinweg. Man stelle sich vor: Privattoiletten, aber auch Schulen, Behörden, Freizeiteinrichtungen, Moscheen … Wenn wir es in ein Geschäft verwandeln, kann der Fortschritt sehr schnell gehen.“ Toilettenpapier und feuchte Tücher allerdings müssten, damit der Markt seine GRÜNE OASE Wasserwirtschaft bei HARTMANN in Indien Die Landschaft um Coimbatore gleicht einer Halbwüste. Dennoch sieht es auf dem Betriebsgelände von KOB Medical Textiles Private Ltd. erfrischend grün aus. Grund ist eine biologische Abwasseraufbereitungsanlage, die dort seit 2010 in Betrieb ist. Sie reinigt direkt auf dem Gelände sämtliche Sozialabwässer der Mitarbeiterwohnungen, etwa aus Toiletten, Duschen oder Spülen. Das aufbereitete Wasser – 40.000 Liter täglich – nutzt das Unternehmen für die Landbewässerung. Zuvor musste das Brauchwasser aufwendig in Tankwagen abgepumpt und gegen Gebühr entsorgt werden. Bei der Bewässerung des Grundstücks war das Unternehmen zudem auf Grundwasserbrunnen angewiesen oder musste Wasser zukaufen. SICKERGRUBEN FÜRS REGENWASSER Zusätzlich hat die Standortleitung Sickergruben geschaffen. Das Regenwasser wird in ihnen aufgefangen und anschließend in natürliche Brunnen weitergeleitet. „Wir schlagen drei Fliegen mit einer Klappe“, resümiert General Manager Dr. Aravamudhan Shanmugavasan. „Wir verbrauchen weniger Trinkwasser pro Mitarbeiter, das Grundwasser wird geschützt und wieder aufgefüllt und wir geben kein Geld für die Abwasserentsorgung aus.“ Seit der Installation der Anlage hat sich am Standort Coimbatore sowohl der Frischwasserverbrauch als auch das Abwasseraufkommen um über zwölf Prozent reduziert. INDIEN Arabisches Meer TAMIL NADU Indischer Ozean Coimbatore 100 km SRI LANKA segensreiche Wirkung entfalten kann, auch für die Armen erschwinglich sein. Jack stellt sich ein Modell nach dem Motto „kauf eins, gib eins“ vor: „Für jede Packung, die in einem reichen Land erworben wird, erhält jemand auf der anderen Seite der Erde auch eine. Einige Pharmaunternehmen hat die WTO bereits für solche Subventionsmodelle gewinnen können. Jack Sims Lieblingsthema aber ist und bleibt das Tabu, das es zu brechen gelte: „Mit den Toiletten“, meint er, „ist es ein bisschen so wie mit der sexuellen Revolution: Früher waren die Leute zu schamhaft, um darüber zu reden. Heute gibt es sogar Songs dazu. Wir sollten es genauso machen: Wir sollten die ‚Poop‘also die Toilettenkultur, in Popkultur verwandeln!“ Er will die Menschen emotional erreichen. Zumal er es schlicht ungerecht fi ndet, dass zwar eine Naturkatastrophe wie der Taifun Haiyan mit 5.000 Todesopfern die ganze Welt aufwühlt. Die Tatsache aber, dass jährlich eine Million Kinder an Durchfall oder anderen Erkrankungen stirbt, weil hygienische Toiletten fehlen, lasse die internationale Gemeinschaft offenbar kalt. „Über den Taifun Haiyan haben die Medien hochemotional berichtet: Die Menschen wurden traurig, wütend, hilfsbereit, sie spendeten Millionen. Doch über die Opfer der Toilettenmisere gibt es keine Wut, keine Trauer, keinerlei Reaktion. Warum? Es ist nur eine platte Statistik. Das ist nicht zu glauben!“ INVESTOREN FÜR BOLLYWOODFILM Neuerdings betätigt er sich sogar als Künstler. Er hat ein Liebeslied zum Valentinstag gedichtet. Adressat ist sein Klosett. Das sei, erklärt Jack Sim, schließlich auch so etwas wie ein Lebenspartner. „Eine Geliebte könnte immer für mich da sein, mein Klo sollte es sein. Und überhaupt: Ich kann nicht ohne dich leben!“ Außerdem hat er das Skript zu einer Komödie verfasst, die im Dezember 2013 in Singapur in die Kinos kam: „Everybody’s Business“ – Der Gründer scheut auch vor Slapstickeinlagen nicht zurück, um Spenden für seine Organisation zu gewinnen. „Jedermanns Geschäft“. Nun sucht er nach Investoren für einen Bollywoodfi lm. Eine Tragödie, gespickt mit Sozialkritik. Auch dafür hat er selbst sechs Songs geschrieben: „Ich versuche mich immer in Dingen, die ich noch nie gemacht habe.“ Sein Traum ist, dass Toiletten zu Statussymbolen werden. „Ein WC muss wie Prada verkauft werden. Wir müssen Drama im Dorf kreieren.“ Die Leute sollen sich ein modernes Klosett aus Neid kaufen, für das eigene Ego. „Sie geben das Geld erst einmal für den Status aus, danach werden sie es rational rechtfertigen – nur so kann es laufen, nicht umgekehrt.“ „DAS MACHT MICH GLÜCKLICH!“ Jedes Jahr am 19. November, dem Gründungstag der WTO, ist „World Toilet Day“ – der Welt-Toilettentag. „Dieser Tag wird heute überall auf der Mr. Toilet und Sophie Mühlmann im Gespräch. „Heute sieht man mich als Bereicherung. Das fühlt sich toll an.“ — Jack Sim Welt gefeiert. Und die Vereinten Nationen haben ihn offi ziell übernommen.“ Jack grinst: „Das macht mich glücklich! Früher betrachtete man mich hier in Singapur als Unruhestifter, weil ich sagte, was ich dachte. In den letzten 16 Jahren habe ich darum gerungen, als wohlmeinender Mensch betrachtet zu werden. Heute sieht die Regierung mich als Bereicherung für das Land. Das fühlt sich toll an.“ Wer weiß, was passiert, wenn sein Bollywood-Film eines Tages tatsächlich in den Kinos läuft und die indischen Zuschauer seine Lieder nachsingen. Dann kommt womöglich auch in Mumbai, auf den Felsen, das Sicherleichtern im Freien aus der Mode und es entstehen mehr saubere öffentliche Toiletten in Indien. Der Toilettenmann hätte einen weiteren Sieg errungen in seinem Kampf für Sanitation. • WAS UNS BEWEGT. Das Magazin der HARTMANN GRUPPE HELFEN + HANDELN WAS UNS BEWEGT. Das Magazin der HARTMANN GRUPPE HELFEN + HANDELN 48 49 Eine saubere Sache 1. Am Reißbrett Die Produktentwickler analysieren Risiken, die im Herstellungsprozess, bei Lagerung und Transport sowie beim Anwender auftreten können, und legen Produktbestandteile fest. 2. Kriterien definieren Rohstoffe und Lieferanten müssen strenge Anforderungen erfüllen, damit das Produkt die gewünschten Eigenschaften hat und den Hygienestandards entspricht. Mögliche Partner füllen detaillierte Fragebögen aus und legen alle nötigen Dokumente und Zertifikate (z. B. ISO-Zertifizierung) vor. Bei Bedarf werden sie von HARTMANN auditiert. Medizinische Produkte unterliegen strengsten Hygieneanforderungen. Das HARTMANNQualitätsmanagement sorgt dafür, dass sie im Herstellungsprozess eingehalten werden. Ein Überblick am Beispiel des hydroaktiven Wundkissens HydroClean® plus. 4. Partner wählen Text: Sepideh Honarbacht — Infografik: Sabine Hecher 3. Lieferanten prüfen HARTMANN beauftragt Lieferanten für Produktbestandteile wie Airlaid mit Superabsorber, Ringerlösung mit Polyhexanid, Propylengestrick und Faltschachtel. 15 ml Ringerlösung aktivieren den Superabsorber, der die Wunde reinigt und den Gewebeaufbau fördert. cm beträgt der Durchmesser dieses hydroaktiven Wundkissens. 72 87 Stunden lang kann HydroClean plus maximal auf der Wunde belassen werden. Prozent der Patienten bescheinigen dem Produkt eine gute oder sehr gute Verträglichkeit.* *QUELLE: HARTMANN-Anwendungsbeobachtung 2012 mit 170 Patienten. 576 Stück passen in Kartons verpackt auf eine Europalette. Qualitätskontrolle 8. Mit Ringerlösung tränken 5. Im Reinraum In den Produktionshallen herrscht leichter Überdruck: Außenluft kann nicht unkontrolliert eindringen und die Räume kontaminieren. Das Personal trägt Schutzkleidung und passiert eine Reinraumschleuse. 7. Silikonstreifen aufbringen Sie verhindern zusätzlich das Verkleben der hydroaktiven Auflage mit der Wunde. Ist der Beutel gefüllt? Das wird an der Maschine anhand seines Volumens und des Gewichts automatisch geprüft. Sie aktiviert den superabsorbierenden Saug-Spülkörper. Die Ringerlösung verhindert das Austrocknen der Wunde, antiseptisches Polyhexanid hemmt das Keimwachstum. Qualitätskontrolle 12. An Logistik übergeben 10. Mit Dampf sterilisieren Qualitätskontrolle Stimmt die Saugfähigkeit? 100 cm2 Airlaid mit Superabsorber müssen 65 ml Ringerlösung aufnehmen. 5,5 Jeweils sechs Verkaufseinheiten mit zehn Peelbeuteln werden zu einer Transporteinheit zusammengefasst, palettiert und an das Logistikzentrum geliefert. Der Inhalt der Peelbeutel wird bei einer Temperatur von 121 °C sterilisiert. Die Maschine wird mit Polypropylengestrick, Vlies, Folie und Airlaid mit Superabsorber bestückt, führt die verschiedenen Lagen zusammen und verschweißt sie. Anschließend stanzt sie die Wundkissen aus. 13. Ausliefern 9. Beutel verschweißen 6. Wundauflage produzieren Die feuchte Wundauflage wird von einem wasserdichten Peelbeutel umschlossen. Qualitätskontrolle Halten die Schweißnähte? Zur Überprüfung werden die Kissen in Wasser gelegt und Druck ausgesetzt. 11. Verpacken Jeweils zehn Peelbeutel und ein Packungsbeileger kommen in eine Faltschachtel. Diese wird mit Verfallsdatum und der Chargennummer bedruckt. Welche Erfahrungen machen Anwender mit dem Produkt? Nach Genehmigung der Ethikkommission des Krankenhauses bzw. der kassenärztlichen Vereinigung dokumentiert der Arzt seine Erfahrungen im Rahmen einer Anwendungsbeobachtung während der Behandlung. Die Ergebnisse stellt er HARTMANN zur Verfügung. Qualitätskontrolle Erfüllt das fertige Produkt alle Anforderungen? Die Beutel werden stichprobenartig geöffnet und verschiedenen Tests unterzogen. In Deutschland beliefert HARTMANN Krankenhäuser direkt mit HydroClean plus; Apotheken und Fachhändler beziehen das hydroaktive Wundkissen zum Teil über den Großhandel. WAS UNS BEWEGT. Das Magazin der HARTMANN GRUPPE HELFEN + HANDELN 51 IM GESPRÄCH „Die Hausspitze muss mit ins Boot“ Im normalen Leben wären sie sich eher nicht über den Weg gelaufen. Dabei haben Ulrich Küsters und Anja Citrich einander viel zu erzählen. Ein Austausch über Hygienestandards im deutschen Gesundheitswesen und beliebte Vorurteile. Interview: Myrto-Christina Athanassiou — Foto: Mareike Foecking D as Bethesda-Krankenhaus in Mönchengladbach. Ein modernes Haus, erst 2013 hat eine eigenständige Abteilung für Kardiologie und Internistische Intensivmedizin neu eröffnet. Ulrich Küsters ist seit 20 Jahren als Hygienefachkraft hier beschäftigt. Seine Gesprächspartnerin: Anja Citrich, bei HARTMANN für die fachliche Leitung der Fachberater Pflege und Hygiene zuständig, die Alten- und Pflegeheime betreuen. In Kliniken verschlägt es Citrich nur selten. Zur Freude von Küsters desinfi ziert sie sich am Spender im Eingang erst einmal die Hände. Bald wird gelacht, die beiden finden schnell einen Draht zueinander. Hygieneexperte trifft Fachberaterin: Ulrich Küsters und Anja Citrich diskutieren darüber, worauf es im Hygienemanagement ankommt. Herr Küsters, viele Menschen haben Angst, sich im Krankenhaus mit gefährlichen Erregern anzustecken. Was unternehmen Sie, damit so etwas hier nicht passiert? KÜSTERS: Nur ein Beispiel von vielen: Wir führen schon seit zweieinhalb Jahren ein 100-prozentiges EingangsScreening bei allen stationären Patienten durch. Damit waren wir einer der Vorreiter in Mönchengladbach. Jeder Patient, der aufgenommen wird, wird komplett labortechnisch durchgecheckt. Das Robert-Koch-Institut verlangt eigentlich nur, dass man Risikogruppen wie zum Beispiel chronisch Pflegebedürftige überprüft. Bei bis zu 110 Neuaufnahmen am Tag leisten wir also schon einiges. Wenn wir vorher wissen, dass jemand zum Beispiel mit Noroviren infi ziert ist, isolieren wir direkt. Ergibt die Laboruntersuchung einen kritischen Befund, legen wir auch diese Patienten direkt auf ein Einzelzimmer. Am meisten Angst haben viele ja vor multiresistenten Keimen, MRSA … CITRICH: Das wundert mich nicht. Sie müssen ja nur den Fernseher anschalten, fast wöchentlich gibt es große NOSOKOMIALE INFEKTIONEN Herausforderung für das Gesundheitswesen Vier Millionen Menschen, so das European Centre for Disease Prevention and Control (ECDC), erkranken in Europa jährlich an einer Infektion, die sie sich in einer Einrichtung des Gesundheitswesens zugezogen haben. Der multiresistente Keim Staphylococcus aureus (MRSA) wird in etwa fünf Prozent dieser Fälle als Ursache nachgewiesen. Laut ECDC ließe sich bis zu ein Drittel der nosokomialen Infektionen durch bessere Hygiene vermeiden. Sendungen zu vermeintlichen MRSASkandalen in deutschen Kliniken. Da ist schon viel Panikmache dabei. KÜSTERS: Das sehe ich ähnlich. Viele wissen auch nicht, dass im Schnitt zwei bis drei Prozent aller Menschen in Deutschland MRSA-Keime in sich tragen, ohne irgendwelche Beschwerden zu haben. Die Patienten sind dann oft überrascht, wenn beim Eingangs-Screening eine MRSA-Besiedlung bei ihnen diagnostiziert wird. „Wie, ich bin doch nur von der Tür bis zum Empfang gegangen – und dann habe ich mich schon angesteckt?“ heißt es dann oft. Dabei kann man sich die multiresistenten Keime nicht nur im Krankenhaus einfangen. Ich will aber nichts herunterspielen: Natürlich ist jede MRSA-Infektion im Krankenhaus eine zu viel. In den Medien heißt es immer wieder, dass zum Beispiel die Niederlande MRSA deutlich besser im Griff haben als Deutschland. Wie sehen Sie das? KÜSTERS: Ich denke, hier in Mönchengladbach können wir da gut mithalten. Alle unsere Kliniken, gleich in welcher Trägerschaft, haben sich auf einheitliche MRSA-Standards verständigt und geben gemeinsam Informationsmaterialien dazu heraus. Alle sind außerdem WAS UNS BEWEGT. Das Magazin der HARTMANN GRUPPE HELFEN + HANDELN ULRICH KÜSTERS 52 Von der Notfallambulanz ins Hygienemanagement Bereits seine Krankenpfleger-Ausbildung hat Ulrich Küsters, geboren 1962, in Mönchengladbach absolviert. Später leitete er einige Jahre die Ambulanz am Marienkrankenhaus in Düsseldorf-Kaiserswerth. Nach seiner Weiterbildung zur Hygienefachkraft kehrte Küsters in seine Heimatstadt Mönchengladbach zurück. Am dortigen Bethesda-Krankenhaus ist er seit 1994 beschäftigt. Außerdem berät Küsters Alten- und Pflegeheime sowie Arztpraxen zum Thema Hygiene-management und arbeitet als Fachdozent für Krankenhaushygiene. „Produkte, die einfach zu handhaben sind, verbessern eindeutig die Compliance der Mitarbeiter.“ — Anja Citrich, vor ihrem Start bei HARTMANN selbst in der Pfl ege tätig zertifiziert vom „EurSafety Health-Net“, einem grenzüberschreitenden Netzwerk für Patientensicherheit und Infektionsschutz, in dem auch niederländische Einrichtungen vertreten sind. Ohne Frage sind die Niederländer hervorragend, was das Eingangs-Screening angeht. In anderen Fragen aber können sie auch von uns lernen. Was zum Beispiel? KÜSTERS: Nehmen Sie das Thema Sanierung, die Beseitigung von Keimen. Was macht man mit Patienten, die etwa einen Katheter haben oder Wunden? Befreit man auch sie von den Erregern? Zunächst muss man solche Sanierungshindernisse beseitigen beziehungsweise die Heilung abwarten, bevor eine endgültige MRSA-Sanierung möglich ist. Dennoch kann auch in dieser Phase eine Therapie zur Keimreduktion sinnvoll sein. In den Niederlanden ist das nicht üblich, bei uns sehr wohl. Und die Erfolgsquote ist sehr hoch. Es heißt oft, dass dem Krankenhauspersonal in der Alltagshetze nicht genug Zeit für die Hygiene bleibt … CITRICH: Hygiene kostet Zeit, ganz klar. Aber was passiert, wenn ich nicht nach den Hygieneregeln handele? Dann dauert es viel länger, die entstandenen Probleme in den Griff zu bekommen. Eine große Herausforderung ist der aktuelle Personalmangel, gerade in der Altenpflege. Häufig lassen sich Vakanzen nicht schnell genug besetzen. Und man kann natürlich auch die Bewohner nicht in ihren Zimmern einsperren, wenn sie eine Infektion haben. Oft sind dann die Demenzbereiche als Erste von Infektionswellen betroffen. Trotzdem: Das Personal ist für die Hygiene zuständig, oder? CITRICH: Stimmt. Aber man muss auch berücksichtigen, dass Bewohner von Altenheimen meist verschiedene Das Bethesda-Krankenhaus ist Teil eines grenzüberschreitenden Netzwerks für Patientensicherheit und Infektionsschutz. Ärzte haben. Da kann die Heimleitung nicht einfach Stuhlproben anordnen, das sieht unser Gesundheitssystem nicht vor. Außerdem übernimmt die gesetzliche Krankenversicherung zum Beispiel die Kosten für eine MRSA-Sanierung nicht ohne weiteres. Antibakterielle Waschlotionen müssen die Betroffenen selbst bezahlen. Ein zentraler Punkt ist auch, dass die Hygienemaßnahmen für das Personal praktikabel sein sollten. Wenn ich einen Bewohner versorge und dann zwischendurch aus dem Zimmer laufen muss, um meine Hände zu desinfi zieren, ist das schwer in effi ziente Arbeitsabläufe zu integrieren. KÜSTERS: In den Zimmern dementer Bewohner kann man auch nicht so einfach Desinfektionsmittel bereitstellen, weil manche das versehentlich austrinken. Manche Häuser geben den Pflegekräften deshalb Kittelflaschen mit. Das kostet natürlich Geld … CITRICH: … das aber sinnvoll investiert ist. Produkte, die einfach zu handhaben sind, verbessern eindeutig die Compliance der Mitarbeiter, sie tun sich deutlich leichter in der Umsetzung. Spender mit Desinfektionstüchern sind zum Beispiel sehr hilfreich. Oder zentrale Dosieranlagen für Desinfektionsmittel, damit die Konzentration des Wirkstoffs immer gleichbleibend stark ist. Wer Hygiene vernachlässigt, bekommt zudem schnell ein Imageproblem. Das kann existenzbedrohend sein in Zeiten, in denen viele Altenheime nicht voll ausgelastet sind. Sollten die Heime also am besten niemanden aufnehmen, der nachweislich mit bestimmten Keimen infiziert ist? CITRICH: Das wäre der falsche Weg. Wenn ein Haus ein vernünftiges Hygienemanagement hat, kommt es mit fast jedem Keim zurecht. KÜSTERS: Immerhin wissen viele Heime inzwischen, dass sie Menschen mit MRSA-Besiedlung nicht abweisen müssen. Keime sind beherrschbar, wenn man auf hohem professionellem Niveau arbeitet. Was heißt das konkret? CITRICH: Dass man sich das entsprechende Know-how aneignen muss. Und sich bei konkreten Fragen Hilfe holt, zum Beispiel bei den Beratern des BODE SCIENCE CENTERS. Auch die Fachberater von HARTMANN führen Seminare zu diversen Hygienethemen durch. Man darf nicht vergessen, dass es fest angestellte Hygienefachkräfte wie Herrn Küsters in Altenheimen meist gar nicht gibt. Sondern fast immer Hygienebeauftragte, die das Thema zusätzlich zu ihren Pflegeaufgaben übernommen haben. KÜSTERS: Der Trend geht aber in den Altenheimen dahin, sich das Wissen freiberufl icher Hygienefachkräfte zu sichern. Die nehmen die internen Verantwortlichen an die Hand, schulen sie und überprüfen die Ausstattung. ANJA CITRICH Erst Infektionsstation, dann Fachberatung Als fachliche Leitung ist Anja Citrich bei HARTMANN für die Arbeit von insgesamt zwanzig Fachberatern Pflege und Hygiene im Vertrieb Institutionelle Pflege verantwortlich. Das Team der 1972 geborenen Oberhausenerin ist in dieser Form einzigartig auf dem deutschen Markt: Alle Fachberater sind ausgebildete Gesundheits- und Krankenpfleger oder Altenpfleger. Zudem haben sie eine Zusatzausbildung zur Kontinenzfachkraft und zum Hygienebeauftragten. Vor ihrem Start bei HARTMANN vor sieben Jahren hat Anja Citrich zunächst selbst als Krankenschwester auf einer Infektionsstation gearbeitet und sich später als Lehrerin für Pflegeberufe weiterqualifiziert. Ulrich Küsters wünscht sich flexible, verlässliche Beratung. Anja Citrich und ihr Team wollen Alten- und Pflegeheimen genau das bieten. Entscheidend ist, dass man dabei die Hausspitze mit im Boot hat. Wie handhabt Ihre Klinik das? Gibt es Sanktionen, wenn sich in einer Station Infektionen häufen? KÜSTERS: Die brauchen wir gar nicht, Transparenz reicht. Organisatorischer Rahmen dafür ist unsere Hygienekommission, in der alle Chefärzte, die Geschäftsführung, unser Krankenhaushygieniker, der Krankenhaus-Apotheker und ich vertreten sind. Wir führen natürlich auch eine Infektionsstatistik. Chefarzt A weiß so stets genau, was es bei Chefarzt B für Infektionen gibt. Und falls bei neuen Mitarbeitern Schwierigkeiten mit der Hygiene auftauchen, reicht meist ein kollegiales Gespräch. Dass die niedergelassenen Ärzte ihr Vorgehen daran orientieren, ist aber nicht selbstverständlich … KÜSTERS: Wir haben hier in Mönchengladbach Pilotprojekte, um die Zusammenarbeit in Sachen Hygiene zwischen Niedergelassenen und Kliniken aufeinander abzustimmen. Das funktioniert hervorragend. Auch unsere Standards für die Weiterbehandlung nehmen die Ärzte sehr gut an. Und was die viel kritisierten Antibiotika-Verschreibungen anbelangt: Häufig sind es übrigens die Patienten, die da Druck machen, Eltern etwa, die ihr krankes Kind schnell wieder gesund sehen wollen. Der Umgang mit Antibiotika ist eine Herausforderung für die ganze Gesellschaft. CITRICH: Da haben Sie Recht. Für die Hygiene gilt das genauso. 100-prozentige Sicherheit vor Krankheitserregern kann es nicht geben. Aber wir erreichen schon viel, wenn alle die wichtigsten Hygieneregeln befolgen! • HELFEN + HANDELN WAS UNS BEWEGT. Das Magazin der HARTMANN GRUPPE HELFEN + HANDELN 54 55 Leinen, Rauch und Vollbadphobie Zwischen Renaissance und Barock hegten die Menschen eine gewisse Skepsis gegenüber Badezeremonien. Lieber täglich das leinene Unterhemd wechseln und tüchtig Parfum versprühen statt waschen, lautete die Devise. Für den Erhalt der Gesundheit hat die frühneuzeitliche Gesellschaft überraschenderweise doch einiges getan. Ein Rückblick. Text: Melanie Rübartsch — Illustration: Tina Berning E In den Schlossgärten sprudelte Wasser aus den Fontänen. Die Haut derer, die dort lustwandelten, erreichte es selten. in heißer Tag im August 1705. Herzogin Elisabeth Charlotte von Orléans, besser bekannt als Lieselotte von der Pfalz, reist in ihrer Kutsche über staubige Straßen zum französischen Jagd- und Sommerschloss Marly-le-Roi. Völlig verschwitzt erreicht die Tochter von Kurfürst Karl I. Ludwig aus dem Hause Pfalz-Simmern und Schwägerin von Sonnenkönig Ludwig XIV. ihr Ziel. Ihr aufwendiges Make-up ist komplett verschmiert. Und dann geschieht es: Lieselotte muss ihr Gesicht mit Wasser säubern. Für damalige Zeiten offenbar eine so außergewöhnliche Handlung, dass die gebürtige Heidelbergerin sie sogleich in einem Brief an ihre deutsche Verwandtschaft dokumentiert: „Ich musste mein Gesicht waschen, es war so staubig.“ Während in den pompösen Hofgärten Fontänen sprudelten, erreichte das kostbare Nass vergleichsweise selten die Haut derjenigen, die dort lustwandelten. Glaubt man Jean Héroard, dem Leibarzt des 1601 geborenen Königs Ludwig XIII., lässt sich dessen hygienische Erziehung in wenigen Worten zusammenfassen: Mit sechs Wochen wurde Ludwigs Kopf massiert, mit sieben Wochen der Milchschorf mit Butter und Mandelöl eingerieben, im Alter von fünf wurden seine Beine erstmals gewaschen, mit knapp sieben nahm er sein erstes Bad gemeinsam mit seiner Schwester. Der Geruch dieser Jahre, so schildert es die kanadische Journalistin Katherine Ashenburg in ihrer Hygienegeschichte „The Dirt on Clean“, war eine olfaktorische Zumutung. An den Höfen waberten eine prekäre Mischung aus Körper- und Mundgeruch sowie Schwaden schweren Parfüms. Aber auch Bürger und Bauern praktizierten Reinigungsrituale nur sporadisch. Kein Wunder: Wer sich waschen oder gar warm baden wollte, musste das Wasser zunächst mühselig vom Dorfbrunnen holen und erhitzen. Zudem war Wasser ein wichtiges Lebensmittel und wurde daher äußerst sparsam eingesetzt. Das wiederum führte dazu, dass vor allem ärmere Haushalte beim Essen sogar auf Geschirr verzichteten. Denn unabhängig vom Preis für Steinzeug oder gar Porzellan hätten Teller ja WAS UNS BEWEGT. Das Magazin der HARTMANN GRUPPE HELFEN + HANDELN HELFEN + HANDELN 56 gespült werden müssen. Also kam der Topf auf den Tisch und alle Bewohner bedienten sich daraus. PASSIONSSPIELE ALS PESTVERHÜTER Eine Ära ohne jegliches Hygienebewusstsein? „Nein, so einfach ist das nicht. Wir dürfen unsere heutigen Vorstellungen nicht einfach dieser Zeit überstülpen“, mahnt Dr. Fritz Dross, Privatdozent am Institut für Geschichte und Ethik der Medizin an der Universität Erlangen. Jede vergangene Epoche müsse man wie eine fremde Kultur betrachten. Mit anderen Worten: Hygiene war damals durchaus wichtig, aber sie sah anders aus. Was die Gesellschaft zur Verhütung von Krankheiten unternahm, hing von den medizinischen Möglichkeiten ab und war geprägt von religiösen Überzeugungen. „In diesem Sinne sind zum Beispiel die Oberammergauer Passionsspiele eine hygienische Maßnahme gewesen“, sagt der Wissenschaftler. „Schließlich sind sie 1634 nach überstandener Pest eingeführt worden, damit Gott die Bewohner künftig von dieser Krankheit verschone.“ In der Tat verzeichnete der bayerische Ort seitdem keinen einzigen Pestfall mehr. Beinahe religiös mutet auch die Vorliebe für Räucherungen an, die in der frühen Neuzeit um sich griff. Das Verbrennen von Weihrauch, Kräutern, Hölzern oder Harzen sollte den Pestbazillus und ähnliche Plagen fernhalten. Luft an sich galt als potenziell gefährlich, ebenso wie Wasser: Man glaubte, dass es durch die Poren in den Körper eindringen könne, um ihn aufzuweichen und somit allen Erregern gegenüber wehrlos zu machen. Öffentliche Badehäuser, noch im Mittelalter fester Bestandteil des Stadtbilds, verschwanden nach und nach aus den Straßen. Ein Bad nahmen die Menschen vermutlich nicht öfter als ein oder zwei Mal im Jahr bei den Badern: Sie waren wie Barbiere und Chirurgen zunftähnlich organisiert und galten als Ärzte der kleinen Leute. Bei ihnen ließ man sich 57 auch scheren und rasieren, ließ kleinere Wunden behandeln oder Zähne ziehen. Um den Körper innerlich zu reinigen, erduldeten selbst Gesunde zudem Schröpfkuren und Aderlässe. „Bader kamen deshalb regelmäßig mit Blut und Eiter in Kontakt“, rekapituliert Medizinhistoriker Dross. „Schon um 1500 vermutete man deshalb, dass in den Baderstuben vor allem durch schlecht gereinigtes Behandlungsbesteck Krankheiten übertragen werden könnten.“ Unverzichtbar für die Grundausstattung jedes Bürgers, der gepflegt erscheinen wollte, waren Leinenhemden. Nach den Recherchen von Katherine Ashenburg nutzten viele sie schlichtweg als Ersatz für Wasser. Direkt auf der Haut getragen, sollten sie Schweiß „Seit der Renaissance entstand eine gewisse Aufmerksamkeit für Fragen, die wir heute unter Hygiene verbuchen.“ — Fritz Dross, Medizinhistoriker und Schmutz absorbieren. Das Leinenhemd galt als Statussymbol, häufiges Wechseln deutete man als Zeichen von Reichtum. So lugt auf den Porträts vornehmer Damen und Herren des 18. Jahrhunderts häufig Leinenunterwäsche unter wollenen Ärmeln hervor. Der Charmeur Giacomo Casanova (1725 bis 1798) wusste genau, wie er der feinen Gesellschaft jemanden anpreisen musste: „Er kann reiten, Flöte spielen, fechten, ein Menuett tanzen, er ist höflich und wechselt sein Leinenhemd jeden Tag“, schrieb er der Pariser Hautevolee über einen jungen Schützling, der Einlass bei Hofe begehrte. Dass Schmutz und Körperflüssigkeiten Auslöser für Krankheiten sein könnten, dämmerte den Herrschenden immerhin. „Zahlreiche Maßnahmen zeigen, dass seit der Renaissance eine gewisse Aufmerksamkeit für Fragen entstand, die wir heute unter Hygiene verbuchen“, formuliert Dross. So wurde die Tierhaltung in Häusern und Städten per Dekret immer mehr eingeschränkt und das Schlachten in Schlachthäuser verlegt, damit Blut und Exkremente nicht länger durch die Straßen flossen. Schmutzintensive Gewerbe wie die Gerberei oder die Färberei verbannte man an den Stadtrand. Friedhöfe waren als öffentliche Treffpunkte bald tabu und wurden schließlich in Gebiete außerhalb der Stadtmauern verlegt. Größere Städte richteten dort Ende des 15. Jahrhunderts außerdem so genannte Pest- und Blatternhäuser ein, um die Kranken zu isolieren. Waren verdächtiger Herkunft hatten Kaufleute in Kontumazhäusern zu deponieren, speziellen Quarantäne-Anstalten, bevor sie in die Stadt hineingebracht werden durften. GEACHTETE GRUBENENTLEERER Ihre Notdurft verrichteten die Menschen lange Zeit auf Plumpsklos in den Höfen. Beim Adel jener Zeit war es nicht besser: Sie ließen die Orte der Verrichtung an die Mauern ihrer Burgen anfügen, mit direkter Verbindung in den darunter liegenden Graben. „Das Leeren der Gruben unterlag seit dem 15. Jahrhundert zunehmend strenger Aufsicht und war oft eigens privilegierten Gewerbebetrieben vorbehalten“, so Fritz Dross. Leerungen waren so teuer, dass manchmal Jahrzehnte dazwischen vergingen. Um Geld zu sparen, wurden die Gruben gerne etwas tiefer ausgehoben. „Noch aus dem 19. Jahrhundert sind Klagen bekannt, dass sie zuweilen bis ins Grundwasser reichten“, erzählt der Medizinhistoriker. „Das gibt wenig Hoffnung für die Wasserqualität der benachbarten Brunnen, wenn man sie nach heutigen Maßstäben beurteilt.“ Die Briten immerhin setzten schon im 16. Jahrhundert auf ausgefeiltere Konzepte: In Houses of Easement, öffentlichen Toilettenanlagen, konnten sich etwa in London bis zu 28 Benutzer gleichzeitig auf zwei Ebenen verteilt Erleichterung verschaffen. Ihre Ausscheidungen landeten in der Themse. SANITÄRE REVOLUTION IN DEN USA Die Bader galten in der frühen Neuzeit als die Ärzte der kleinen Leute. Erst ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts begann ein gründliches Umdenken in Sachen öffentliche Hygiene. Die „medicinische Policey“ entwickelte Ratschläge dazu, wie in deutschen Landen gesunde Verhältnisse und eine arbeitskräftige Bevölkerung zu erreichen wären. Lebenserwartung und Gesundheit, erkannten Wissenschaftler wie Max von Pettenkofer und Rudolf Virchow, sind nicht allein von der individuellen Verfassung abhängig, sondern zum Beispiel auch von Arbeitsbedingungen, Einkommen und dem Zustand der Wohnquartiere. Vor allem in den USA brach eine regelrechte sanitäre Revolution aus: In den Feldlazaretten des Bürgerkriegs von 1861 bis 1865 bemerkten die Amerikaner erstaunt, dass simples Wasser und Seife Verwundete vor dem sicheren Tod retten konnten. Die oft recht verdreckten Europäer, die im 19. und 20. Jahrhundert nach Amerika auswandern wollten und auf Ellis Island vor New York landeten, stellte man zur Begrüßung unter die Dusche. „Wasser ist die einzige zivilisierende Macht, die etwas gegen die unzivilisierten Europäer, die in unsere Städte drängen, ausrichten kann“, konstatierte ein amerikanischer Stadtpolitiker. Lieselotte von der Pfalz, die Adelsdame vom alten Kontinent, hätten die hygienebewussten Amerikaner vermutlich erst einmal in Quarantäne gesteckt. • WAS UNS BEWEGT. Das Magazin der HARTMANN GRUPPE HELFEN + HANDELN WAS UNS BEWEGT. Das Magazin der HARTMANN GRUPPE HELFEN + HANDELN 58 59 Saubermänner und Übersensible Die einen haben immer ein Desinfektionstuch zur Hand, ob unterwegs oder zuhause. Andere halten zu viel Reinlichkeit für ungesund und vertrauen darauf, dass Schmutz die Abwehr stärkt. Im Alltag begegnen uns sehr verschiedene Hygienetypen. Text: Simone Flattich — Infografik: Sabine Hecher DER PERFEKTIONIST Hygiene ist ihm heilig W er sich intensiv mit der Armada an Mikroben beschäftigt, die uns umgeben, kann nie wieder unbekümmert Hände schütteln oder an der Bar Erdnüsse knabbern. Der Hygieneperfektionist hat verinnerlicht, dass der Mensch einem wandelnden Zoo gleicht. Laut dem Deutschen Ärzteblatt dient unser Körper als Lebensraum für bis zu 1,5 Kilogramm Kleinstorganismen. Meist sind sie harmlos, teils nützlich, aber manchmal eben auch bedrohlich. Darum studiert der Perfektionist täglich die Meldungen des Robert-Koch-Instituts, um sich gegen einen möglichen Vormarsch von Vogel-, Schweine- oder Fledermausgrippe zu wappnen. Kratzt es ihn im Hals, legt er aus Rücksicht auf seine Artgenossen in freier Wild- und U-Bahn einen Mundschutz an. Dafür erwartet er auch von anderen penible Sorgfalt. Er predigt Vorsicht, bis auch dem letzten Kollegen das Tiramisu in der Kantine nicht mehr schmeckt. Laut einschlägigen Studien sind Perfektionisten eher beim Pflegepersonal als unter Ärzten zu fi nden. Kein Wunder, denn in der Krankenpflegeausbildung spielt die Hygienelehre eine wichtige Rolle. Die Klassenbesten zelebrieren Sauberkeit: Niemals würden sie vergessen, sich die Hände fachgerecht zu desinfi zieren. In dieser Hinsicht sind sie strahlende Vorbilder für ihre Stationskollegen. DER THEORETIKER Weiß viel, handelt aber nicht konsequent Ä hnlich wie die Perfektionisten befassen sich auch die Theoretiker gern mit der unsichtbaren Welt der Viren und Bakterien. Dank ausführlicher Fachlektüre sind sie bestens informiert über Legionellen im Freibad, Ehec im Bockshornklee und Killerkeime im Krankenhaus. Die selbsternannten Experten fühlen sich ständig schmutzigen Machenschaften ausgeliefert. Wenn sie Angehörige in der Klinik besuchen, begutachten sie argwöhnisch jeden Handgriff der Schwester und vergewissern sich, dass die Verbände auch regelmäßig gewechselt werden. Ihr umfassendes Wissen führt allerdings nicht dazu, dass sie selbst stets die wichtigsten Hygieneregeln einhalten. Wenn sie sich zum Beispiel nach der Toilette die Hände nicht waschen, dient dies in ihren Augen der Seuchenprävention. Denn schließlich würden Seifenspender und Handtuchrollen in Gemeinschaftstoiletten viel zu selten gereinigt, was sie zu Brutstätten für Mikroorganismen mache. Im Übrigen liegt der Verdacht nahe, dass mehr Männer als Frauen Hygiene-Theoretiker sind. Ein Indiz liefert eine Untersuchung aus Großbritannien: Wissenschaftler der London School of Hygiene & Tropical Medicine beobachteten rund 200.000 Toilettenbesucher an Autobahnraststätten. Nur ein Drittel der Männer wusch sich die Hände. Bei den Frauen waren es doppelt so viele, immerhin zwei Drittel von ihnen wuschen sich nach erledigtem Geschäft die Hände. DER PRAGMATIKER Penibel, wo es sein muss W ie in vielen Alltagsfragen ist es auch in Sachen Hygiene nicht einfach, einen gesunden Mittelweg zu fi nden. Die Pragmatiker sind auf dieser Route gut unterwegs. Sie wissen, dass zu viel Reinlichkeit die Abwehrkräfte schwächen und Allergien fördern kann. Darum verzichten sie im Haushalt auf überflüssige Keimkiller – vom Desinfektionsspray im Medizinschrank einmal abgesehen. Das kommt jedoch konsequent zum Einsatz, wenn ein Familienmitglied sich zum Beispiel eine Durchfallerkrankung zugezogen hat. Skeptisch begegnen sie den Überängstlichen in ihrem Bekanntenkreis, die Kochgeschirr, T-Shirts und Babyschnuller antibakteriell behandeln, um ihre Liebsten vor vermeintlichen Krankmachern zu schützen. Die Hygiene-Pragmatiker halten mit sachlichen Argumenten dagegen, ohne missionarisch aufzutreten. Im Klinikbetrieb ist dieser Typus sehr häufig zu fi nden. DER SCHMUTZFINK Unverschämt sorglos Für ihn ist es selbstverständlich, sich vor dem Kontakt mit Patienten die Hände zu reinigen. Allerdings wünscht er sich, dass sich die hygienischen Zwischenstopps am Desinfektionsspender möglichst nahtlos in den oft hektischen Arbeitsablauf der Station einfügen. Sind in der Klinik die Desinfektionsplätze dünn gesät und die Wege entsprechend lang, wird die Zeit für eine lehrbuchgemäße Handreinigung schon einmal knapp. U m die Sensiblen zu beruhigen, sei gleich vorweggeschickt: Der Schmutzfi nk steht vor dem Aussterben. Weder Seh- noch Geruchssinn der Vertreter dieser Gattung sind empfänglich für organische Spuren, die bei anderen Menschen Ekel hervorrufen. Es stört den Schmutzfi nk nicht, wenn es in der Küche nach altem Bratfett riecht und ein klebriger Schmutzfi lm das Waschbecken überzieht. Mühelos fallen ihm hundert Dinge ein, die wichtiger sind als Körperpflege. Seine Mitmenschen sollen bitte nicht so empfi ndlich sein. Fängt sich der Schmutzfi nk eine Grippe ein, schleppt er sich trotzdem zur Arbeit. Seiner Überzeugung nach stimulieren seine Viren das Immunsystem der Kollegen. Unter Medizinern ist der seltene Vogel praktisch ausgestorben. Die Kollegen von Ignaz Semmelweis waren im 19. Jahrhundert zwar noch der Meinung, als Mediziner könnten sie gut aufs Desinfi zieren ihrer Hände verzichten. Heute jedoch ist die Ärzteschaft sich der Tatsache bewusst, dass das ein gefährlicher Irrglaube ist. • WAS UNS BEWEGT. Das Magazin der HARTMANN GRUPPE HELFEN + HANDELN WAS UNS BEWEGT. Das Magazin der HARTMANN GRUPPE HELFEN + HANDELN 60 61 17,6 HYGIENE INTERNATIONAL Ohne Grenzen 14,7 WELTWEITE EUROPÄER Fast die Hälfte der Europäer weiß nicht, dass Antibiotika nicht gegen Viren wirken und ihre Einnahme bei Grippe und Erkältungen, die durch Viren ausgelöst werden, daher völlig sinnlos ist. — Jean-Jacques Rousseau (1712 bis 1778), französisch-schweizerischer Moralphilosoph, Dichter und Musiker. 52% 39 % Keine Wartezeiten, bevor man untersucht und behandelt wird 29 % 10,0 7,8 Clostridium difficile Klebsiella spp. DIE TOP FIVE DER MIKROORGANISMEN, die bei Patienten mit nosokomialen, d. h. im Krankenhaus erworbenen Infektionen in Deutschland isoliert wurden (in Prozent). QUELLE: Marburger Bund Zeitung, Nr. 14 vom 11. Oktober 2013 Resistenzen in Prozent weniger als 1 UND ZERSTÖREN Der Methicillin-resistente Keim Staphylococcus aureus (MRSA) ist gefürchtet. Niederländische Krankenhäuser isolieren deshalb jeden potenziell infizierten Patienten und testen ihn. Mit der Strategie des Aufspürens (search) und Zerstörens (destroy) sowie Zurückhaltung bei der Antibiotika-Verschreibung haben sie es geschafft, dass ihre MRSARate wesentlich niedriger ist als die anderer Länder. 1 bis 5 5 bis 10 10 bis 25 25 bis 50 mehr als 50 keine oder weniger als zehn Fälle übermittelt nicht erfasst Liechtenstein Luxemburg Malta Oft tödlich NEUE RESISTENZEN AUF DEM VORMARSCH Die besonders häufig in den Tropen auftretenden Erkrankungen Gelb- und Denguefieber sowie Marburgund Ebolafieber gehören zu den schwersten Infektionskrankheiten der Welt. Die Erreger dieser so genannten hämorrhagischen (griechisch haimorragía = Blutfluss) Fieber können lebensbedrohliche innere Blutungen auslösen. Eine Impfung gibt es bisher nur gegen Gelbfieber. Resistenzen von Klebsiella pneumoniae, einem häufigen Erreger von Harn- und Atemwegsinfektionen, gegenüber der dritten Generation von Cephalosporinen, einer Gruppe von Breitband-Antibiotika, zu der unter anderem Penicillin gehört, im Jahr 2011. QUELLE: European Centre for Disease Prevention and Control (ECDC) MEHR ALS Wichtigste Kriterien für eine hochwertige medizinische Versorgung in der EU (Mehrfachnennungen möglich) Wirkungsvolle Behandlung Aufspüren Viele Krankenhausinfektionen ließen sich durch regelmäßige Händedesinfektion vermeiden. Mit der Kampagne Clean Care is Safer Care sensibilisiert die WHO seit 2005 für dieses Thema. 162 Staaten haben sich der Kampagne angeschlossen, darunter Deutschland mit der AKTION Saubere Hände. KURZE WARTEZEITEN SIND WICHTIGER als ein sauberes Krankenhaus Gut ausgebildetes medizinisches Personal Staphylococcus aureus Kampagne Text: Brigitte Lohmanns — Infografik: Sabine Hecher Unwissende Enterococcus spp. 13,3 Welche Keime gibt es heute weltweit, welche Maßnahmen zum Infektionsschutz werden ergriffen? Daten und Fakten im Überblick. „Der einzige nützliche Teil der Arzneikunst ist die Hygiene. Sie ist allerdings weniger eine Wissenschaft als eine Tugend.“ Escherichia coli Moderne medizinische Ausstattung 27 % QUELLE: Europäische Kommission, Eurobarometer-Spezial 327 – Patientensicherheit und Qualität der medizinischen Versorgung Sauberkeit in der Gesundheitseinrichtung 19 % Einladende und freundliche Umgebung 7% ATEMWEGSERKRANKUNGEN LIEGEN VORN Infektionskrankheiten, an denen im 20. Jahrhundert weltweit die meisten Menschen gestorben sind (Todesopfer in Millionen) vier Atemwege MENSCHEN Tuberkulose 100 Masern 97 Millionen infizieren sich jährlich in Europas Krankenhäusern mit einem Krankenhauskeim. 485 Pocken 400 Durchfall 226 Malaria Keuchhusten QUELLE: WHO, OECD 194 38 Die Bakterienfresser Wissenschaftler der britischen Universität Leicester haben Viren isoliert, die nur bestimmte Bakterien angreifen. Die so genannten Bakteriophagen (phagein = fressen) zerstören z. B. den Keim Clostridium difficile. „Hygiene begründet einen Triumph der Menschlichkeit.“ — Raymond Walden (*1945), Kosmopolit, Pazifist und Autor. 300 Tausend FÄLLE VON GONORRHÖ Die US-Seuchenschutzbehörde stuft den Erreger der Gonorrhö als besonders gefährlich ein. Der über die Schleimhäute übertragene Keim ist in den USA inzwischen gegen die meisten Antibiotika resistent. Unbehandelt kann die Geschlechtskrankheit schwere Folgeschäden verursachen. WAS UNS BEWEGT. Das Magazin der HARTMANN GRUPPE LEBEN + LEBEN LASSEN WAS UNS BEWEGT. Das Magazin der HARTMANN GRUPPE LEBEN + LEBEN LASSEN 62 63 „Das größte Verdienst meiner Lehre ist, dass sie dem Arzt eine bewusste, vorbeugende Tätigkeit vorschreibt.“ IGNAZ SEMMELWEIS — Ignaz Philipp Semmelweis (1818 bis 1865) Retter der Mütter Der ungarische Arzt hat als Erster den Zusammenhang zwischen Kindbettfieber und mangelnder Hygiene beim medizinischen Personal erkannt. LEBEN + LEBEN LASSEN Hygiene prägt den Alltag – und kann über Leben und Tod entscheiden. Individuelle Wahrnehmung und öffentliche Meinung, Traditionen und Trends haben Einfluss darauf, was Menschen unter Hygiene verstehen. BAKTERIELLE GEFAHR Übertragung durch die Hände HARMLOSE Semmelweis identifiziert unter anderem Staphylokokken und Streptokokken als Erreger der Infekte. Hebammen Weil Geburtshelferinnen, anders als Ärzte, zu Semmelweis’ Zeit nie mit Leichen in Berührung kommen, verzeichnen ihre Abteilungen wesentlich weniger Todesfälle. LEBENSLANGER STREIT Keiner glaubt ihm 1,8% HÖHE DER Geburten bergen in den Krankenhäusern des 19. Jahrhunderts noch ein hohes Infektionsrisiko. Sterberate Nachdem Semmelweis Händewaschen mit Chlorkalkwasser in seiner Abteilung angeordnet hat, infizieren sich dort deutlich weniger Mütter mit dem gefürchteten Kindbettfieber. In anderen Abteilungen sterben weiterhin bis zu 30 Prozent der Wöchnerinnen daran. 1867 Späte Anerkennung Der Chirurg Joseph Lister führt ein, dass Operationsfelder mit desinfizierendem Karbol eingesprüht werden. Die Mortalitätsrate sinkt. So setzen sich Semmelweis’ Erkenntnisse posthum doch noch durch. Andere Forscher stellen Semmelweis’ Erkenntnisse permanent in Frage. Ein Disput entsteht, es gibt offene Hassbriefe. WAS UNS BEWEGT. Das Magazin der HARTMANN GRUPPE LEBEN + LEBEN LASSEN 65 Der Mann, der zu viel putzte Hygiene war für ihn Obsession. Tag für Tag, Jahr für Jahr verbrachte Holger Müller damit, seine Wohnung zu säubern. Die Geschichte einer Zwangsstörung. Text: Myrto-Christina Athanassiou — Foto: David Maupilé Früher verbrachte Holger Müller Stunden damit, die Fliesen im Bad zu putzen. Heute hat er seine Zwangsimpulse weitgehend im Griff. WAS UNS BEWEGT. Das Magazin der HARTMANN GRUPPE LEBEN + LEBEN LASSEN 67 S Spülbürsten sind für viele Menschen mit Putzzwang ein Greuel: Sie malen sich in den schlimmsten Farben aus, was für gefährliche Keime daran haften könnten. chleichend, sagt er heute, habe das damals angefangen. Erst die Scheidung von seiner ersten Frau, dann die Trennung von der zweiten. Der Umzug von Thüringen nach Franken Ende der 1990er Jahre, die mehrfachen Jobwechsel, zuletzt in eine Firma, wo er das gesamte Qualitätsmanagement allein zu schultern hatte. Das Gefühl der Überforderung, weil die gewohnten Abläufe durcheinanderkamen, als seine 18-jährige Tochter bei ihm einzog. „Sauberkeit war mir schon immer wichtig“, sagt Holger Müller, „aber irgendwann hat sich das verselbstständigt.“ Um seine Anspannung in den Griff zu bekommen, putzte er, stets mit Desinfektionsmittel. Erst die Küche, von oben bis unten, von links nach rechts, dann die übrigen Zimmer, am Ende das Bad. Jede einzelne Fliese, jeden Tag, pro Fliese mindestens fünf Minuten. Ließ niemanden mehr in die Wohnung, aus Angst, sich anzustecken oder andere mit gefährlichen Erregern zu infi zieren. Heute geht es Holger Müller gut. In Hamburg-Wandsbek, in der Geschäftsstelle der Deutschen Gesellschaft Zwangserkrankungen e. V., erzählt er über sein bisheriges Leben. Die Räume wirken wie eine Privatwohnung. Orientteppiche bedecken den Boden, an der Wand hängen historische Grafi ken. Nach dem Interview wird Müller seine dritte Frau treffen, sie unterhalten sich kurz und liebevoll am Telefon. Er ist ein bescheidener Mann, mit ruhiger Stimme, aufmerksam und bisweilen selbstironisch. „Mit meinem Kontrollbedürfnis war ich damals die Idealbesetzung als Qualitätsbeauftragter. Keiner hat so viele Fehler aufgespürt wie ich.“ Sonderbar wirkt er nicht. Und beim Händeschütteln zur Begrüßung hat der 54-Jährige allenfalls eine Zehntelsekunde gezögert. „Früher wäre das gar nicht gegangen“, erzählt er. Früher, als Müller Besucher noch mit Ausflüchten an der Haustür abfertigte, aus Angst, sonst später wieder alles stundenlang putzen zu müssen. Ein immenser Kostenfaktor für Reinigungsfanatiker sind die Unmengen an Putzmitteln, die sie verbrauchen. „Mit meinem Kontrollbedürfnis war ich der ideale Qualitätsbeauftragte.“ — Holger Müller die deutschlandweit als führend in der Therapie von Zwängen gilt. Manche empfi nden den Druck, Gegenstände zu zählen, andere müssen sich die Haare ausreißen, vermeiden es, auf Fugen zu treten oder ordnen die Stifte auf ihrem Schreibtisch nach einem festen Muster an. Waschzwänge, so Osen, beobachte er tendenziell häufiger bei Frauen, Kontrollzwänge eher bei Männern. „Meist sind Menschen betroffen, die zu Perfektionismus neigen und ein eher geringes Selbstwertgefühl haben.“ „ZWÄNGE ERFÜLLEN EINE FUNKTION“ Menschen wie Holger Müller gibt es viele in Deutschland. Zwei Millionen Männer und Frauen sind laut Schätzungen an einer Zwangsstörung erkrankt. Die Dunkelziffer ist hoch, zumal die Betroffenen im Schnitt erst nach sechs Jahren Leidenszeit zum Arzt oder Psychologen gehen. „Mich fasziniert immer wieder, wie vielfältig dieses Störungsbild ist. Die Patienten sind sehr kreativ darin, für sie beruhigende Rituale zu erfi nden“, sagt Dr. Bernhard Osen, Chefarzt in der Schön Klinik in Bad Bramstedt, Auch bei Holger Müller kam zum Putz- ein Kontrollzwang hinzu. Ist das Auto wirklich abgeschlossen? Die Heizung aus, der Wasserhahn zu? Noch immer fällt es ihm in stressigen Zeiten schwer, auf mehrfache Kontrollen zu verzichten. Wie fast allen Betroffenen ist ihm bewusst, dass sein Bemühen um Sauberkeit und Ordnung überzogen ist. „Es wäre aber falsch, Zwänge als irrational abzutun“, erklärt Spezialist Osen. „Sie erfüllen immer eine Funktion. Sie lenken Patienten von Konflikten ab, die sie als unlösbar erle- WAS UNS BEWEGT. Das Magazin der HARTMANN GRUPPE LEBEN + LEBEN LASSEN 69 „Ich bin immer wieder erstaunt, wie lange es Zwangserkrankten gelingt, sich irgendwie durchzuwursteln.“ — Dr. Bernhard Osen, Chefarzt an der Schön Klinik Bad Bramstedt ben – und vermitteln ihnen zumindest für kurze Zeit das Gefühl, dass die unbeherrschbare Welt dort draußen eben doch beherrschbar ist.“ Zu dem Preis allerdings, dass die Zwangshandlungen immer mehr Raum einnehmen. Bis ein normales Leben, erfüllte Beziehungen und ein geregelter Arbeitsalltag unmöglich werden. Und viele Betroffene in tiefe Depression fallen. FLOODING ÜBERFORDERTE IHN Holger Müller engagiert sich heute für andere Zwangserkrankte und wirbt in der Öffentlichkeit für eine bessere ambulante Versorgung. Bei Holger Müller dauerte es lange, bis die Zwangsstörung diagnostiziert wurde. Es gelang ihm über Jahre, seine ausufernden Putz- und Kontrollrituale vor Freunden und Arbeitskollegen zu verbergen. Während seines ersten Aufenthalts in einer psychiatrischen Klinik im Jahr 2000 behandelten die Ärzte nur die Depression, die er zwischenzeitlich entwickelt hatte. Erst 2002 bekam er einen Platz auf der Zwangsstation einer psychosomatischen Spezialklinik. Allerdings überforderte ihn dort der therapeutische Ansatz des Behandlungsteams, das so genannte Flooding. Dabei müssen sich Patienten direkt den für sie bedrohlichen Situationen aussetzen – ohne Gewöhnungsphase. „Ich sollte beispielsweise den Grünspan auf dem Balkon anfassen, ohne mir danach die Hände zu waschen“, erinnert sich Müller. „Das habe ich einfach nicht ausgehalten.“ Bei einem weiteren Klinikaufenthalt gab es Ärger mit Zimmergenossen, die sein permanentes Hantieren mit Küchenrollen und Desinfektionsmitteln unerträglich fanden. „Einer meiner Mitbewohner hat außerdem ständig alles herumliegen lassen. Das war echter Stress für mich.“ Müllers Leben blieb trotz kleiner Fortschritte schwierig. Wieder putzte er viel. Start in der Küche, Ende im Bad, pro Fliese fünf Minuten. Eine weitere Beziehung zerbrach. Er spricht leiser, wenn er sich an diese Zeit erinnert. Auf Anraten der Ärzte verabschiedete er sich davon, wieder als Qualitätsmanager zu arbeiten, „gerade Kontrollaufgaben seien bei meiner Disposition kontraproduktiv“. Also ließ Müller sich zum Bürokaufmann umschulen. Und beschloss, einen Teil seiner Zeit fortan zu nutzen, um die Öffentlichkeit für die Nöte von Zwangserkrankten zu sensibilisieren. Dafür trat er sogar in Talkshows auf. Es tat ihm gut, ich nicht mehr zu verstecken. 2009 schließlich zog er um, von Franken nach Hamburg, um sein altes Leben hinter sich zu lassen. Mut machte ihm, dass er trotz seines Handicaps schnell eine Stelle bei einer Bank bekam. Nur das Sortieren verschmutzter Belege fiel ihm dort schwer. Noch immer saß sie ihm im Nacken, die Angst, sich über womöglich kontaminierte Gegenstände mit Krankheiten anzustecken. HERAUSFORDERUNG TÜRKLINKE Was die Wende brachte? „Hamburg“, sagt Müller. Die große Stadt, die Weite, der Hafen, wo er heute viel spazieren geht, wenn er sich angespannt fühlt. „Und mein Aufenthalt in der Klinik in Bad Bramstedt.“ Diesmal ließen die Therapeuten ihm mehr Zeit. Die Expositionen, die unangenehmen Situationen, denen sich Müller stellen sollte, begannen schrittweise. Er lernte, immer kürzer zu putzen. Sich nur noch die Hände zu waschen, wenn es nötig ist. Sogar Türklinken konnte er nach einer Übungsphase wieder anfassen, ohne in kalten Schweiß auszubrechen. Mithilfe des therapeutischen Teams fand er außerdem heraus, welche Ursachen seine Erkrankung haben könnte, welche wesentlichen Auslöser es gibt und war- Obsessives Putzen kann ablenken, wenn scheinbar unlösbare Konflikte die Psyche belasten. Allerdings nur kurzfristig. WAS UNS BEWEGT. Das Magazin der HARTMANN GRUPPE LEBEN + LEBEN LASSEN 70 Hamburg brachte die Wende für Müller. „Heute gehe ich zum Hafen, wenn ich mich angespannt fühle.“ — Holger Müller um es ihm so schwerfällt, den Zwängen nicht nachzugeben. Heute weiß er, dass er nicht nur sein Verhalten, sondern die Konfl ikte im Hintergrund anpacken muss. „Das ist sonst wie bei einer Distel: Es hilft nicht, sie einfach nur mit der Sense abzusäbeln. Wenn man nicht an die Wurzel kommt, wächst sie immer wieder von neuem nach.“ HILFE VON DER REINIGUNGSKRAFT In der Fachklinik von Bad Bramstedt kennt man solche Patientenbiografien. „Ich bin immer wieder erstaunt, wie lange es Zwangserkrankten gelingt, sich durchzuwursteln“, sagt Bernhard Osen. Oft kommen die Betroffenen erst, wenn Angehörige meutern – und stellen zu Beginn, vom Zwang getrieben, absurde Regeln auf. „Eine Patientin wollte zum Beispiel, dass ihr Mann ins Hotel zieht, während sie bei uns in Behandlung ist, damit er zuhause nichts dreckig macht.“ In einfühlsamen Gesprächen schließen die Therapeuten Kompromisse mit solchen Patienten. Mancher bekommt die ersten paar Tage sein Essen aufs Zimmer, wenn die Panik vor dem ver- meintlich von Keimen besiedelten Buffet zu groß ist. Selbst das Reinigungsteam wird in die Betreuung einbezogen: „Ich erkläre den Leuten mit Putz- oder Waschzwang immer ganz genau, was ich mit welchem Lappen abwische, was ich anfasse in ihrem Zimmer und was nicht“, sagt Reinigungskraft Hanna Sievertsen. Das hilft, um Vertrauen in das Team der Klinik zu fassen. „EIN FIESER NISCHENHOCKER“ Ohne Rückschläge läuft indes kein Heilungsprozess ab. Als in der Einrichtung im vergangenen Jahr einige Patienten ein Norovirus hatten, war das eine besondere Herausforderung für die Zwangserkrankten. Zwar funktionierte das Krisenmanagement reibungslos, die Zahl der Infektionen war schnell eingedämmt. „Aber dass wir überall Desinfektionsspender stehen hatten und sie sich plötzlich doch wieder häufiger die Hände reinigen sollten, war schon schwierig für manche“, erinnert sich Bernhard Osen. Wer sich das zwanghafte Desinfizieren mühsam abtrainiert hat, stellt in solchen Situationen gerne das Erlernte in Frage. Wie dauerhaft es gelingt, die einschränkenden Rituale zu überwinden, ist ohnehin sehr unterschiedlich. Immerhin schaffen es etwa zwei Drittel der Erkrankten nach der Therapie, gut bis sehr gut mit ihren Zwangsimpulsen zurechtzukommen und ein recht normales Leben zu führen. Holger Müller scheint dazuzugehören. Das permanente Putzen, erst in der Küche, am Schluss im Bad, jede Fliese fünf Minuten, ist passé. Er verlässt jetzt lieber die Wohnung, wenn seine Frau sauber macht. Damit gar nicht erst die Versuchung entsteht, ihr perfektionistisch in die Quere zu kommen. Seine derzeitige Arbeit in der Buchhaltung eines Reisebüros macht ihm Spaß. Er hat eine Dauerkarte für den HSV und liebt es, mit Freunden ins Stadion zu gehen. Außerdem engagiert er sich in der Deutschen Gesellschaft Zwangserkrankungen, besucht Kongresse, hält Vorträge sowie Seminare und leitet Selbsthilfegruppen für Betroffene und Angehörige. „Man darf sich nicht gegenseitig herunterziehen“, sagt Müller, jetzt mit Stolz in der Stimme. „Der Zwang ist ein fieser Nischenhocker, der kommt sonst schnell wieder aus seiner Ecke.“ Sein Kontrollzwang ist zwar, anders als der obsessive Drang zum Putzen, nicht ganz verschwunden. Aber Müller hat gelernt, auf die Signale zu achten. Er spürt jetzt, wenn seine Anspannung steigt. Dann geht er raus, an den Hafen, blickt in die Weite – und lässt den fiesen Nischenhocker einfach sitzen. • ZWÄNGE ÜBERWINDEN Therapeutische Hilfe für Betroffene Häufig treten Wasch- oder Putzzwänge erstmals zwischen dem 20. und 25. Lebensjahr auf. Die aktuelle Forschung geht davon aus, dass dabei genetische und Umweltfaktoren zusammenwirken. So kann etwa ein sehr fordernder Erziehungsstil, bei dem Eltern ihrem Nachwuchs früh viel Verantwortung aufbürden, ein perfektionistisch veranlagtes Kind sehr unter Druck setzen. Kommen weitere belastende Erlebnisse hinzu, können Zwänge entstehen. Meist behandelt man Betroffene verhaltenstherapeutisch. Sie arbeiten in so genannten Expositionen an ihrem Verhalten und lernen, anders mit Impulsen umzugehen. Psychosomatische Fachkliniken setzen oft auf einen mehrdimensionalen Ansatz. In der Schön Klinik Bad Bramstedt gehören dazu beispielsweise Einzel- und Gruppen-, Kunst- und Gestaltungs-, Sport- und Bewegungstherapie oder Entspannungstechniken. Die Therapeuten entwickeln für jeden Patienten ein individuelles Behandlungskonzept. Häufig kommen auch Antidepressiva zum Einsatz. Sie verringern die Ängste der Betroffenen und reduzieren Zwangsimpulse. AMBULANTE THERAPIEPLÄTZE SIND RAR Außerdem bietet die Klinik Seminare für Angehörige an. „Sie sollten alles tun, was dem Betroffenen dabei hilft, den Zwang zu bewältigen“, erklärt Chefarzt Dr. Bernhard Osen. „Aber nichts, was den Zwang unterstützt. In der Praxis ist das eine Gratwanderung.“ Schwierig ist es häufig auch, einen adäquaten ambulanten Therapieplatz zu bekommen: Die Zahl der niedergelassenen Psychologen, die Patienten bei Expositionen begleiten, ist in Deutschland noch relativ gering. Mehr Informationen: www.zwaenge.de Wie viel Hygiene ist gesund? Muss man Geschirrtücher täglich wechseln? Laut Fachleuten ist die Grenze zwischen Normalität und Zwang fließend. Entscheidend ist, dass das Putzen das Leben nicht dominiert. LEBEN + LEBEN LASSEN WAS UNS BEWEGT. Das Magazin der HARTMANN GRUPPE LEBEN + LEBEN LASSEN WAS UNS BEWEGT. Das Magazin der HARTMANN GRUPPE 72 73 Survival-Kit für Weltenbummler Ferne Länder – fremde Keime. Was Touristen und Berufsreisende unbedingt im Gepäck haben sollten, wenn sie zu exotischen Zielen aufbrechen. Mundschutz (9) 7 1 8 Text: Myrto-Christina Athanassiou 2 3 Die Asiaten machen es vor: Um sich vor Tröpfchen-Infektionen zu schützen, tragen vor allem Japaner häufig Atemschutzmas ken. Manche Hygieniker sähen Masken auch bei Grippewellen in westlichen Ländern gerne. Überflüssig, sagt die Fach literatur, sind die Masken in modernen Flug zeugen: Diese sind oft mit High-EfficiencyParticulate-Air (HEPA)-Filtern ausgestattet, die Bakterien, Viren und Pilzsporen zu fast 100 Prozent entfernen. 9 Desinfektionsmittel (1) Trinkflasche (8) Auf Reisen gibt es oft keine verlässlichen Möglichkeiten, sich die Hände zu waschen. Wer mit Kranken in Kontakt kommt oder hygienisch möglicherweise problematische Orte besucht, verlässt sich besser auf wirk same Klassiker wie beispielsweise die unter der Marke Sterillium angebotenen Produkte zur Händedesinfektion von BODE Chemie, einem Unternehmen der HARTMANN GRUPPE. Dreißig Sekunden Einwirkzeit reichen aus, sofern alle Partien der Hände inklusive Fingerkuppen, Zwischenräumen und Handrücken benetzt werden. Zur Desinfektion von Flächen empfiehlt sich ergänzend Bacillol AF. Hefepilze, Bakte rien und viele Viren haben so keine Chance. 4 5 6 Leitungswasser ist außerhalb der Industrie staaten selten zum Trinken geeignet. 80 Prozent aller Reiseerkrankungen, so die WHO, lassen sich auf verunreinigtes Wasser zurückführen. Schlimmstenfalls fängt man sich Amöben, Typhus- und Cholerabakterien oder gar Polioviren ein. Wirksam entkeimen lässt sich Wasser durch Abkochen. Eine Alternative sind spezielle Tabletten oder Filter zur Ent keimung. Wer ganz sichergehen will, kocht das Wasser zunächst ab und nutzt danach Tabletten oder Filter. Letztere sind inzwischen auch in Kombination mit Trinkflaschen erhältlich. Erste-Hilfe-Beutel (2) Gummischuhe (3) Moskitonetz (4) Kleines Schälmesser (5) Outdoor-Toilette (6) Impfbuch (7) Ein Sturz in den Staub, ein Schnitt an einer Kante: Auch kleine Verletzungen sollten schnell versorgt werden, damit keine Keime eindringen. Im DermaPlast Medical Erste-Hilfe-Set travel von HARTMANN zum Beispiel sind sterile Binden, Verbände, Kompressen und Pflaster enthalten, außer dem Einmalhandschuhe, Schere, Pinzette, Reinigungstücher und eine Rettungsdecke. Besonders gründlich rückt man Bakterien mit dem Wundverband Cosmopor Antibacterial zu Leibe: Denn das Innere des Wundkissens enthält Silber, das viele Erreger bekämpft. Vorsicht beim Barfußlaufen: In Schwimm bädern kann man sich Fußpilze einfangen; am Strand in (sub-)tropischen Ländern lau ern Wurmlarven, die sich in die Fußsohlen bohren und Infektionen verursachen kön nen. Gummischuhe sind empfehlenswert, um lästige Folgen zu vermeiden. Aufs Baden in stehenden Gewässern verzichtet man in vielen afrikanischen Län dern besser ganz: Dort beheimatete Saug würmer können juckende Hauterkrankungen wie etwa die Bilharziose auslösen, die mit Ödemen und Schwellungen einhergeht. Insektenstiche zu vermeiden, ist der effektivs te Schutz gegen Malaria oder Gelbfieber. Ein Moskitonetz überm Bett ist in den Tropen daher unverzichtbar. Um die AnophelesMücke fernzuhalten, die Malaria überträgt, sollten die Maschen maximal 1,2 mal 1,2 Millimeter groß sein. Noch besser schützen mit Insektiziden imprägnierte Modelle. Zum Schlafen tragen Tropentouristen im Idealfall helle, Haut bedeckende Textilien. Vor der Buschhütte ist eine große Pfütze? Möglichst beseitigen oder meiden – stehen de Wasserquellen sind Mücken-Brutstätten. Obst und Gemüse sollte man gerade in Gegenden mit niedrigen Hygienestandards vor dem Verzehr immer schälen. Rohe Blattsalate isst der gesundheitsbewusste Reisende dort möglichst gar nicht, weil sie oft mit Parasiten belastet sind. Bedenkenlos verspeisen kann man aber alle Gerichte und Getränke, die mindestens zwei Minuten bei 100 °C gekocht wurden. „Cook it – peel it – or forget it“, lautet die wichtigste Grundregel für Globetrotter, die sich auf der Reise nicht nur von industriell verpackten Lebensmitteln ernähren wollen. Die stabile Lösung fürs Campen in der Wild nis und alle, die Angst vor unhygienischen Sanitäranlagen haben: eine Papptoilette. Sie wird mit handelsüblichen Mülltüten bestückt und hält angeblich sogar beleibtere Nutzer aus. Mit einem Gewicht von über einem Kilogramm und einer Höhe von zehn Zentimetern im zusammengefalteten Zustand ist sie indes auch relativ sperrig. Erfahrene Nutzer raten dazu, vor Gebrauch etwas Katzenstreu einzufüllen, damit der Geruch sich in Grenzen hält. Auch Sand soll hilfreich sein. Zwei bis drei Monate vor der Reise sollte man eine Impfberatung in Anspruch nehmen und Standardimpfungen bei Bedarf auffrischen lassen. Je exotischer die Urlaubspläne, desto wichtiger ist der Rat von erfahrenen Reisemedizinern. Tropenreisenden empfehlen sie häufig Impfungen etwa gegen Gelbfieber und Meningokokken. Vor Reisen in Länder und Regionen mit niedrigen Hygienestandards kann es auch sinnvoll sein, sich gegen Hepatitis A und B, Tollwut sowie Typhus immunisieren zu lassen. LEBEN + LEBEN LASSEN WAS UNS BEWEGT. Das Magazin der HARTMANN GRUPPE 74 75 Mehrwegbegeisterung ist eine feine Sache. Mancher kommt aber ins Grübeln, wenn ein medizinischer Eingriff ansteht. ESSAY Hier spricht Ihr Weltenretter Ökologisches Handeln ist das Gebot der Stunde. Nur – was bedeutet das fürs Zähneputzen oder im Operationssaal? Der Satiriker Dietmar Bittrich treibt den Öko-Gedanken auf die Spitze. Text: Dietmar Bittrich — Illustration: Petra Dufkova L eute, sage ich, benutzt Mehrwegprodukte! Und zwar ausschließlich, vom morgendlichen Schnupftuch bis zum nächtlichen Ohrstöpsel, vom Schnuller bis zur kompostierbaren Urne. Vermeidet Einwegprodukte. Sonst schmelzen die Polkappen noch schneller. Ich schäme mich für meinen Hamburger Fußballverein. Zwar trägt er erdbraune Trikots und eine grüne Gesinnung. Die Flutlichtanlage wird mit Ökostrom gespeist. Doch die Tornetze bestehen immer noch aus Polypropylen LEBEN + LEBEN LASSEN und keineswegs, wie früher, aus Hanf. Angeblich, weil der Hanf immer von den Fans in der Südkurve aufgeraucht wird. Und so grün diese Fans sein mögen, sie verwenden Einwegprodukte! Vor einiger Zeit wurde ein Linienrichter mit einem Plastikbecher beworfen. Okay – der Becher war mit alkoholfreiem Bier gefüllt. Aber warum, frage ich als Klimaschützer, war der Becher nicht aus wiederverwendbarem Glas? Meine Frau und mich schmerzt solche Gedankenlosigkeit. Wir sind im Bionade-Biedermeier aufgewachsen. LEBEN + LEBEN LASSEN LEBEN + LEBEN LASSEN WAS UNS BEWEGT. Das Magazin der HARTMANN GRUPPE 76 77 Wir gehören zur Generation Landlust. Wir denken ökologisch. Wir fühlen ganzheitlich. Unser innigster Herzenswunsch ist es, dass es im Regenwald auch in Zukunft noch regnet, die Wale weiter fröhlich singen und die Eskimos auch morgen noch kraftvoll zubeißen können. Deshalb leben wir vorbildlich. Wir stellen unseren Joghurtbecher in die Geschirrspülmaschine, bevor er im Gelben Sack zur thermischen Verwertung abtransportiert wird. Und wir zapfen das Regenfallrohr vorm Balkon an, um Wasser abzuzweigen fürs nachhaltige Haarewaschen. Das Wasser vom Dach enthält wertvolle Mikroorganismen für reduziertes Volumen und naturstumpfen Glanz. Leider gehören wir, wie ich aus unserem schrumpfenden Freundeskreis weiß, zu den wenigen, die den Rat des Umweltministers beherzigen und den Zahnputzbecher wieder eingeführt haben.Eine einzige Füllung des Bechers reicht unserer fünfköpfigen Familie. Vom jüngsten Kind an aufwärts bedienen sich alle aus dem Becher. Zunächst das jüngste, weil es am wenigsten Bakterien und Fäul- „Fixierbinde, Mullkompresse, Tupfer, Spatel dürfen gerne schon bei anderen eingesetzt worden sein.“ — Dietmar Bittrich, Weltenretter nisstoffe weitergibt. Nach ihm das nächst ältere, später meine Frau und ich, und erst am Schluss legt unser Großvater sein Gebiss hinein. Das spart nicht nur Energie, das ist gelebtes Mehrwegbewusstsein. Das Zusammengehörigkeitsgefühl in der Familie wird gestärkt. Und das Restwasser schmeckt noch den Topfpflanzen! Wir benötigen keine Watte. Wir benutzen die Biobaumwolle alter Pullover. Und wenn wir einkaufen gehen, verzichten wir selbstverständlich auf Einwegverpackungen. Im Supermarkt füllen wir die Milch aus den plastikbeschichteten Kartons in unsere antike Milchkanne um. An der Käsetheke lassen wir uns den Bioharzer aus der Folie wickeln und in unser Holzkästchen legen. Um lange Transportwege zu vermeiden, kaufen wir Obst und Gemüse grundsätzlich regional. Wir haben unseren Lieblingsökobauernhof, zu dem wir kaum anderthalb Stunden unterwegs sind. Das ist jedes Mal ein schöner Ausflug, zumal wir langsam fahren und die ländliche Natur genießen. Hinter uns bilden sich Schlangen von Fahrern, die gern von uns die Kunst der Entschleunigung lernen. Selbstverständlich betanken wir unseren SUV für diese Ausflüge mit fair gehandeltem Biobenzin aus Palmöl. Dadurch wird der Regenwald am Amazonas gerettet. Dass im Gegenzug der Regenwald auf Sumatra gerodet wird, wegen der dort angelegten Ölpalmplan- oder, achtsam portioniert, als Strohhalme bei Kindergeburtstagen. Gerne verwendet unser Nachwuchs auch gebrauchte Einweghandschuhe, um sie zu Luftballons aufzublasen. Wir sind eine Familie aus lauter Blauen Engeln. Engel auf Erden. DIE SACHEN MÜSSEN PATINA HABEN! Einweghandschuhe lassen sich mit viel Puste hervorragend zu Luftballons zweckentfremden. ENTSCHEIDEND IST DER INTELLIGENTE EINSATZ DER ROHSTOFFE Warum Einwegprodukte nicht zwangsläufig schädlicher für die Umwelt sind Besser Einweg oder Mehrweg? Eine kontrovers geführte Diskussion, auch im Gesundheitswesen. HARTMANN setzt in seinem Produktportfolio im Wesentlichen auf Einwegprodukte. Einmalinstrumente, Einwegsets für OP und Station oder absorbierende Inkontinenzprodukte erfüllen höchste Hygieneansprüche. Da sie nach Gebrauch sofort entsorgt werden, entfällt die Wiederaufbereitung in aufwendigen Wasch-, Verpackungs-, Sterilisations- und Logistikprozessen. „Mehrweg bedeutet für Krankenhäuser, dass sie etwa Wäscherei und Sterilisation genau kontrollieren müssen“, sagt Magnus Bodmer, Leiter Sicherheitsund Umweltmanagement bei der PAUL HARTMANN AG. „Das verursacht viel Aufwand und gehört nicht zum medizinischen Kerngeschäft einer Klinik; oft sind Einwegprodukte deshalb auch kosteneffizient.“ Selbst chirurgische Instrumente wie etwa Peha-instrument von HARTMANN stehen ihren Mehrwegpendants heute zudem bei Handhabung und Haptik in nichts nach. Anders als diese gelangen sie jedoch fabrikneu und einzeln steril verpackt zum Einsatzort. Kreuzkontaminationen durch unzureichende Aufbereitung sind vollständig ausgeschlossen. WENIG MATERIAL, VIEL LEISTUNG Keineswegs sind moderne Einwegprodukte außerdem zwangsläufig umweltschädlicher als die Mehrwegalternativen. „Entscheidend ist der intelligente Einsatz der Rohstoffe“, so Bodmer. „Die Kunst ist, aus wenig Material viel Leistung herauszuholen.“ Weil zum Beispiel die Peha-instrument- Instrumententisch im OP. Artikel aus recyclingfähigem Material gefertigt sind, können sie am Ende ihres Produktlebenszyklus nahezu vollständig wiederverwertet werden. Absorbierende Inkontinenzprodukte wie MoliCare von HARTMANN haben ebenfalls eine überzeugende Ökobilanz: Ihre Herstellung verbraucht heute zum Beispiel 35 Prozent weniger fossile Energie und 30 Prozent weniger Material als noch vor 15 Jahren. Die Frage, was umweltfreundlicher ist, hängt davon ab, ob man zum Beispiel die Auswirkungen auf den Energieverbrauch, die Wasserverschmutzung oder den Klimawandel für bedeutsamer hält. Das britische Umweltministerium hat 2008 eine Vergleichsstudie zu Babywindeln publiziert, die in Zusammensetzung und Herstellung Inkontinenzprodukten ähnlich sind. Ihr Ergebnis: Weder Einweg- noch Mehrwegprodukte sind in ökologischer Hinsicht überlegen. Magnus Bodmer: „Unsere Wahrnehmung ist durch Visuelles dominiert – weggeworfene Einwegprodukte sind klar sichtbar, Strom und Heißwasser für eine Wiederaufbereitung werden als Umweltfaktoren häufig ignoriert, weil sie einfach aus der Leitung kommen.“ tagen, das klingt zunächst bedauerlich. Auch weil den Orang-Utans die gewohnte Lebensgrundlage abhandenkommt. Aber vielleicht nehmen die Orang-Utans diese Herausforderung an. Ungewohntes bietet immer auch Lernchancen. Jeder muss sich entwickeln! Apropos Entwicklung: Meine Frau und ich haben uns über die Partnerbörse für Menschen mit ökologischer Verantwortung kennengelernt. Schon beim ersten Treffen, als ich mir durch ihre Wohnung einen Weg bahnte, erkannte ich: Diese Frau hasst die Wegwerfkultur. Sie hebt alles auf und verwendet es mehrfach. Diese Frau denkt global. Inzwischen haben wir auch unsere Kinder in diesem Sinne erzogen. Sie tragen Thirdhand-Kleidung, benutzen die unbedruckten Ränder von Zeitungen als Notizzettel und verwenden unsere mehrfach benutzten Mülltüten noch als Wasserbomben; selbstverständlich mit gebrauchtem Wasser. Aus der Praxis, in der sie als Laborassistentin arbeitet, bringt meine Frau jeden Tag gebrauchte Einwegprodukte mit, die dort nur gedankenlos entsorgt werden würden. Alte Infusionsschläuche dienen als Schnürbänder für Pakete Und für den Fall, dass ich ernsthaft erkranke, habe ich meiner Frau eingeschärft: Auch dann möchte ich nur mit Mehrwegprodukten behandelt werden. Das OP-Team darf gern die Kleidung der Vorwoche tragen. Frische Abdecktücher sind überflüssig. Und mein Faible für altes Besteck soll auch im OP-Saal fortgesetzt werden. Einwegscheren, Wegwerfpinzetten, Einwegklemmen – das wäre nicht in meinem Sinne. Nadelhalter, die gleich wieder entsorgt werden – nicht bei mir! Die Sachen müssen Patina haben. Auch Fixierbinde, Mullkompresse, Tupfer, Spatel dürfen gern schon bei anderen Patienten eingesetzt worden sein, sofern diese Patienten sich vorher eindeutig zum Klimaschutz bekannt haben. So habe ich es meiner Frau eingeschärft. „Aber Dietmar!“, hat sie erwidert, „ist das nicht viel zu gefährlich, weil infektiös? Ich bin ja eine große Mehrwegfreundin. Aber wenn es um medizinische Eingriffe geht, ist mir das doch zu gefährlich. Bedenke bitte, du musst deinen Fußballverein noch bekehren! Wir brauchen dich zur Rettung der Welt!“ Ach so. Ach ja. Danke. Vielleicht hat sie Recht. Doch. Sicher. Okay, also dann bitte ausschließlich hygienische Einwegprodukte für mich! Ich muss leben! Aber ihr, Leute, denkt an die Polkappen und verlangt ausschließlich Mehrwegprodukte! • DIETMAR BITTRICH erfand das „GummibärchenOrakel“, sammelte „Böse Sprüche für jeden Tag“ und schrieb ein „Einschlafbuch für Hochbegabte“. Für seinen Anti-Reiseführer „Alle Orte, die man knicken kann“ bekam er den Hamburger Satirikerpreis. Zuletzt veröffentlichte Bittrich ein Buch über Öko-Übertreibungen: „Plastik kommt mir nicht in die Tüte“. WAS UNS BEWEGT. Das Magazin der HARTMANN GRUPPE LEBEN + LEBEN LASSEN 79 Von Schleusen und Schwämmen Lebensmittel bieten Mikroorganismen ideale Wachstumsbedingungen. Hygiene ist deshalb Pflicht – auf allen Etappen von der Herstellung bis zur Zubereitung. Text: Stefan Grönke Hygienische Produktion A m Anfang steht die Basishygiene. Wenn ein Betrieb Lebensmittel herstellen möchte, muss er für entsprechende Arbeitsbedingungen sorgen. Das betrifft Gebäude und Umfeld, Geräte und Einrichtungen ebenso wie das Personal. Spezielle Schleusen sorgen beispielsweise dafür, dass Mitarbeiter in der Lebensmittelproduktion nach dem Toilettengang ihre Hände sicher desinfizieren. „Ohne solche Strukturen kommt man nicht weit“, sagt Dr. Bernd Roesner, Leiter des Laboranalytik-Unternehmens TÜV SÜD ELAB. Denn auf den Basisanforderungen setzt das HACCP-Konzept (Hazard Analysis and Critical Control Points) auf, ein international angewandtes Qualitätsmanagement, mit dem je nach Produktion Gefahren analysiert und abgewendet werden sollen. Dazu kommen begleitende Programme für verschiedene Betriebe von der Schlachterei bis zum Milchprodukte-Hersteller. Solche Programme sollen zum Beispiel nachträgliche Verunreinigungen mit Bakterien der Gattung Listeria verhindern, die in der Natur vielfach vorkommen und unter Umständen tödliche Infektionen auslösen können. Roesner: „Wenn alle drei Hygieneprinzipien konsequent eingehalten werden, lassen sich Lebensmittel bis auf ein geringes Restrisiko sicher produzieren.“ Eine Frage der Kette O b auf der Palette, im LKW, Lager oder Warenregal: Bei Transport und Lagerung von Lebensmitteln ist es wichtig, nachteilige Einflüsse zu vermeiden. Verpackungen dürfen nicht beschädigt werden, damit es nicht zu Verunreinigungen kommt. Auch die Hülle selbst muss zum jeweiligen Produkt passen, es gut schützen und darf keine unerwünschten Stoffe abgeben. So eignet sich Alufolie für Backwaren oder Schokolade, aber nicht für feuchte, säurehaltige, basische oder salzige Lebensmittel wie Sauerkraut oder Rohschinken. In Kontakt mit solchen Produkten kann sich die Folie lösen und zersetzen. Ein weiterer Punkt ist die Kühlkette. „Besonders an Übergabestellen, etwa vom LKW ins Lager, muss es schnell gehen“, so Dr. Bernd Roesner vom TÜV SÜD ELAB. Unterbrechungen können dazu führen, dass ein Produkt sein angegebenes Haltbarkeitsdatum nicht erreicht. Für die Lagertemperatur gelten klare Regeln. So ist frischer Fisch unter Scherbeneis bis null Grad zu lagern, frisches Fleisch dagegen bei vier Grad. Außerdem ist im Kühlbereich Trennung angesagt: Rohe und bereits verarbeitete Ware dürfen nicht nebeneinander stehen. Sorgfalt auf der Arbeitsplatte D Kälte gegen Keime M ikroorganismen verhalten sich ähnlich wie wechselwarme Tiere. Je kälter es ist, desto träger sind sie und desto langsamer vermehren sie sich. „Ein paar Grad Unterschied können einen enormen Effekt bringen“, erklärt Dr. Bernd Roesner vom TÜV SÜD ELAB. Er empfiehlt, den heimischen Kühlschrank auf ca. fünf Grad einzustellen und Lebensmittel in geschlossenen Gefäßen aufzubewahren oder mit Folie abzudecken. Damit ist schon viel gewonnen – wenn der Kühlschrank sauber ist. Denn vor allem das Kondenswasser an seiner Rückwand ist ein Paradies für Keime. Regelmäßiges Putzen mit Essig- oder heißem Spülwasser hält sie in Schach. Darüber hinaus sollte man allzu lange Lagerzeiten vermeiden und Produkte voneinander trennen, um Keimen die Vermehrung zu erschweren. Leicht verderbliche Ware wie etwa Hackfleisch sollte man außerdem nach dem Kauf umgehend kaltstellen und möglichst noch am Herstellungstag durchgaren. Reste frisch gekochter Speisen lässt man am besten abkühlen und stellt sie dann in den Kühlschrank oder friert sie ein. ie Einkäufe sind erledigt, die Arbeitsplatte ist blank gewischt, die Küchenutensilien stehen bereit: Es kann losgehen mit der Zubereitung des Essens. Gerade jetzt lauern weitere Hygienefallen. Denn neben dem Kühlschrank bieten auch Schneidbretter, Lappen und Spülbecken hervorragende Bedingungen für Keime. Bis zu vier Millionen Mikroorganismen haben Forscher schon in einem Milliliter Wasser gezählt, den sie aus einem Spülschwamm pressten. Bei jedem Abwischen werden sie verteilt und können sich weiter vermehren. Auch in den Ritzen zerkratzter Brettchen, in Spülbecken und auf Arbeitsflächen siedeln potenzielle Krankheitserreger. Experten raten daher, Schwämme regelmäßig auszutauschen und Lappen bei mindestens 60 °C zu waschen, Schneidbretter nach jeder Nutzung im Geschirrspüler zu reinigen und alles, was mit rohem Fleisch in Berührung gekommen ist, sofort heiß abzuwaschen. Besonders wichtig auch hier: Wer mit Essbarem hantiert, sollte sich vorher und nachher gründlich die Hände säubern. Bei allen Warnungen und Ratschlägen: „Lebensmittel waren noch nie so sicher wie heute“, betont TÜV SÜD ELAB-Leiter Bernd Roesner. Produktionsbedingungen und Know-how seien auf einem hohen Stand. „Dennoch müssen Verbraucher weiterhin selbst Verantwortung übernehmen, also sorgsam sein in der Küche und ihren Teil zur Hygiene beitragen.“ WAS UNS BEWEGT. Das Magazin der HARTMANN GRUPPE LEBEN + LEBEN LASSEN WAS UNS BEWEGT. Das Magazin der HARTMANN GRUPPE LEBEN + LEBEN LASSEN 82 83 HYGIENE IM ÜBERTRAGENEN SINN Mehr als keimfrei ACHTUNG, PC-SCHÄDLINGE Arbeitshygiene Im April 2014 startet die Kampagne der Europäischen Agentur für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz Gesunde Arbeitsplätze – Stress und psychosoziale Risiken bei der Arbeit managen. Sie soll Arbeitnehmer und -geber dabei unterstützen, Stressfaktoren bei der Arbeit zu erkennen und zu bewältigen. EU-Durchschnitt 58 Bulgarien Distanz Vergebung der Sünden Katholiken beichten einem Priester, orthodoxe Christen handhaben es ähnlich. Protestanten bitten im Glaubensbekenntnis um Vergebung. In jedem Fall hat Beichten eine reinigende Wirkung. Davon ist der 37 29 22 Portugal Dänemark Deutschland 14 Österreich GRÜNDE FÜR WELLNESS 70 Prozent aller Deutschen fahren laut Umfragen in den Wellnessurlaub, um eine Auszeit zu nehmen, Schönheitspflege steht nur für rund ein Fünftel an erster Stelle. Bibliothek — Platon, griechischer Philosoph, 427 bis 347 v. Chr. 31 QUELLE: Eurostat ABSTAND „Willst du den Körper heilen, musst du zuerst die Seele heilen.“ DER GEDANKEN Befall in ausgewählten Ländern Europas im Jahr 2010 (in Prozent) Wir reinigen Psyche und Geist, schützen unsere Sprache vor fremden Einflüssen und halten Viren vom Computer fern. Text: Brigitte Lohmanns — Infografik: Sabine Hecher Die Macht Fast ein Drittel der Computer von Internetnutzern in der EU war 2010 von einem Virus befallen, obwohl 84 Prozent der Nutzer Sicherheitssoftware verwendeten. BÜCHEREI Dialekt Um eine Auszeit zu nehmen MUNDART 69,20 Um mir etwas Besonderes zu gönnen 63,40 GESTERN WAR ICH Schule – ischwör ABSTAND, BÜCHEREI, WELTALL, MUNDART Sprachbewahrer bekämpfen die Kiezsprache. Heike Wiese, Professorin für Deutsche Sprache der Gegenwart an der Universität Potsdam, betrachtet sie dagegen als Beitrag zur sprachlichen Vielfalt: Kiezsprache zeige ein großes Maß an sprachlicher Kreativität und grammatischer Innovation. Im 17. Jahrhundert erfand der deutsche Schriftsteller Philipp von Zesen zahlreiche Eindeutschungen. Außerdem gründete er die Deutschgesinnte Genossenschaft mit dem Ziel, die deutsche Sprache rein zu halten. Düsseldorfer Dominikanerpater Elias H. Füllenbach überzeugt. Ist Beichte Psychohygiene? Füllenbach: Auf jeden Fall. Sie wirkt befreiend, was bei vielen danach auch spürbar ist. Woran liegt das? Viele haben ein Problem damit, sich mit eigener Schuld auseinanderzusetzen oder gar darüber zu sprechen. In der Beichte machen wir aber genau das: Wir beschäftigen uns mit unserer dunklen Seite und akzeptieren, dass sie ein natürlicher Teil von uns ist. Wir trauen uns, ungute Gefühle im geschützten Raum vor dem Priester und vor Gott auszusprechen. Mit der Absolution kann der Beichtende das, wofür er sich schuldig fühlt, hin- ter sich lassen. Früher hat die Kirche die Beichte manchmal missbraucht, um Menschen unter Druck zu setzen. Das ist zum Glück heute anders. Was ist der Unterschied zwischen Beichte und psychologischer Beratung? In einem psychologischen Gespräch redet man über die Dinge, die einen umtreiben, und versucht, Lösungen zu finden. Die Beichte geht weiter. Mit der Vergebung der Sünden setzt sie einen Prozess von Reue, Wiedergutmachung und seelischer Reinigung in Gang. Hinzu kommt die religiöse Bedeutung für gläubige Menschen: Sie haben etwas mit Gott zu klären. Das kann ein psychologisches Gespräch nicht leisten. 40,20 Wegen der gemeinsamen Zeit mit dem Partner 33,20 Zur Schönheitspflege 21,10 Mehr als zwei QUELLE: Handelsblatt, Nr. 214, 4./ 5. November 2011, Seite 76 GUT FÜR DIE PSYCHE Herz-KreislaufTraining 100 97 Millionen Gewichtsreduzierung Psychohygiene Ernährungsberatung Stoffwechseltraining 92 90 87 85 MENSCHEN Sonstige 2 QUELLE: Deutscher Industrieverband für Fitness und Gesundheit „Hygiene kann tödlich sein, wenn sie zur Säuberung pervertiert.“ — Anselm Vogt, deutscher Kabarettist. Um etwas für meine Gesundheit zu tun Gründe für den Besuch eines Fitnesscenters in Deutschland im Jahr 2012 (Angaben in Prozent) Muskelkräftigung Die Kraft der Einbildung beeinflusst Herzschlag und Hirnströme. Mithilfe von Biofeedback werden Patienten eigene Körpersignale zurückgemeldet. So erscheinen etwa zu hohe Blutdruckwerte auf dem Computerbildschirm. Der Patient lernt, mithilfe der Gedanken die Körperfunktionen zu beeinflussen. In Deutschland fördert die 1998 gegründete Gesellschaft für Biofeedback diese Therapieform. in Deutschland nahmen 2011 die Seelsorge der evangelischen und katholischen Kirchen in Anspruch. Die meisten griffen zum Telefon; E-Mail und Chat waren mit 3.054 beziehungsweise 6.456 Kontakten weit abgeschlagen. WAS UNS BEWEGT. Das Magazin der HARTMANN GRUPPE LEBEN + LEBEN LASSEN 84 GLOSSE Wir wollen Gegner! Aus der Sicht der Keime ist der Mensch ein viel zu leichtes Opfer. Ein Kampf zwischen ebenbürtigen Kontrahenten wäre viel spannender. Hilferuf eines enttäuschten Erregers. Text: Dr. Werner Bartens A ls rechtschaffener Erreger kommt man sich auf den Arm genommen vor, wenn man sieht, was manche Menschen treiben, um sich vor unsereins zu schützen. Howard Hughes zum Beispiel, amerikanischer LuftfahrtPionier und Milliardär: hat sich eingeschlossen, jahrelang den Kontakt zu seinen Artgenossen gemieden und die Gegenstände seiner Umgebung mehrlagig mit Taschentüchern abdecken lassen. Als ob uns das abschreckt! Oder die Dilettanten, die sich aus lauter Angst vor uns einer Darmreinigung unterziehen. Was für ein hysterischer Unsinn. Ohne unsereins würde ihre Verdauung nicht funktionieren, sie könnten nicht einmal allein überleben. WIR SIND KLEIN, ABER GEMEIN Wir sind Millionen Jahre älter als sie, dazu noch flexibler und zahlreicher. Die Bakterien unter uns haben schon Hochkulturen gebildet, da hockte der Homo sapiens noch auf Bäumen. Wir sind zwar klein, aber gemein – und dabei höchst effizient. Gut, Wissenschaftler gewinnen heute aus Pilzen fiese Substanzen, die uns das Leben schwermachen. Deshalb nennen sie das Zeug Antibiotika – gegen das Leben. Nur: Bis die Tablette im Magen ankommt, haben wir uns längst wieder verändert. Ein wenig Mutation hier, ein bisschen Organellenaustausch da – schon ärgert das Antibiotikum nur noch den, der es schluckt. Dass die meisten Menschen das Zeug zu früh absetzen und uns damit unsere Resistenz-Spielchen noch einfacher machen, ist eigentlich eine Beleidigung. Im Krankenhaus stechen sie dann Löcher in Blutgefäße, diese Menschen, und schieben Schläuche in alle möglichen Körperöffnungen. Das sind die optimalen Reiserouten für uns, komfortabler geleitet als auf Kathetern und Kanülen könnten wir kaum ins Körperinnere gelangen. „Unsere Hochkultur gab es schon, als der Homo sapiens noch auf Bäumen hockte.“ — Werner Bartens, Bakterienversteher Ein paar von uns übertreiben allerdings. Ich sage nur Clostridium difficile, Pseudomonas aeruginosa und Staphylococcus aureus. Ich will kein Nest- und Kulturbeschmutzer sein, aber das sind in der Tat Problemkeime. Diese asozialen Bazillen ruinieren den Ruf der Branche mit ihren Krankenhausinfektionen. Als ob es etwas Besonderes wäre, wenn eigens „Reserveantibiotika“ für einen zurückgehalten werden! Da lobe ich mir die Viren in den Tigerstaaten in Fernost. Geben den Menschen eine Chance und vergreifen sich vorerst hauptsächlich an Geflügel. Behutsam ändern sie ihre H-und-N-Ausstattung an der Oberfläche alle paar Monate, treiben sich in Ententeichen und auf Geflügelmärkten rum, um den Forschern Zeit zu lassen. Manchmal spielen sie mit den Muskeln und machen nicht nur auf Vogel-, sondern auch auf Schweinegrippe. Schlau, die Kollegen! EIN GUTER RAT: KÜSST EUCH! Weil ein ungleicher Kampf schnell langweilig wird, gibt es auch die RetroFraktion, alte Bekannte wie Diphtherie, Cholera oder Pest. Besonders die Tuberkulose ist einfallsreich und tritt auch heute manchmal noch im neuen, schicken Gewand in Erscheinung. Immerhin, man glaubt Madame zu kennen aus Weltliteratur wie dem „Zauberberg“ von Thomas Mann. So bleibt den Menschen wenigstens die Illusion, den Kampf gegen uns noch gewinnen zu können. Wie ihr uns endlich Paroli bieten könnt? Ein gut gemeinter Rat unter Feinden: küsst euch! Make love, not infection. Bis zu 50.000 Erreger werden pro Kuss ausgetauscht. Das stärkt, im Vertrauen gesagt, das Immunsystem. Und macht euch endlich zu würdigen Gegnern für uns, die Unbesiegbaren. • DR. WERNER BARTENS ist Mediziner und Leitender Redakteur im Wissenschaftsressort der Süddeutschen Zeitung. SCHWER ZU KNACKEN Rotavirus Hüllenloses Virus, das gegen Umwelteinflüsse weitgehend resistent ist. Rotaviren verursachen etwa fünfzig Prozent der Magen-Darm-Infektionen im Kleinkindalter. 10.000 Zahl der bislang beschriebenen Virenarten auf der Welt ca. 2.600 Tuberkulosefälle weltweit im Jahr 2011 5.772.224 Influenzaerkrankungen in Deutschland in der Saison 2012/ 2013....................................... ca. 66.000 Dauer einer durchschnittlichen Influenza 7– 9 30 Minimal nötige Einwirkzeit eines Händedesinfektionsmittels Anteil der Toilettenbesucher, die aufs Händewaschen mit Seife verzichten ca. 30 Zahl der Bakterienarten, die im menschlichen Körper leben ................................................. ca. ........................................................... ......................................................................................... Tage ............................................................... Sekunden ................................ QUELLEN: World Health Organization, International Committee on Taxonomy of Viruses, BODE SCIENCE CENTER, Robert-Koch-Institut, London School of Hygiene & Tropical Medicine Prozent ( 314 ) 0 8 6 245 / 1 ...............................................................................
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