PDF - Mensch ist Mensch eV

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BACHTAL0
Mensch
ist Mensch e.V.
Ausgabe 1/2015
‘Ich bin Roma. Rom heißt Mensch. Mensch ist Mensch.’
INHALT
Editorial
3
[Qristina] 4
Eine Romafrau sucht Arbeit
6
Krautwickel Romanes Art
7
Gott und die Roma
8
Freizügigkeit in der EU - eingeschränkt
uneingeschränkt
9
Die Roma und der Müll
10
Die Integration der Roma hat begonnen
11
Helfen ist geil: Die kleine Oma
12
Wer findet den Schuldigen?
13
Lorena - ein Roma-Mädchen
14
Interview mit Frank Knott
15
Betreuer und Betreute
16
Ankunftsgebiete –
Orte der Einwanderungsgesellschaft
17
Hartz IV - die andere Seite
18
Ein Romamärchen, eine Zigeunerpoesie
20
Die Realität der gelebten
Ausländerfreundlichkeit
23
Wer sind wir?
24
Herausgeber:
Mensch ist Mensch e.V.
Frank Knott (v.i.S.d.P.)
Hochfeldstraße 34
47053 Duisburg
Telefon-Nr.: 02065 – 7923199
Fax-Nr.: 0203 – 928603269
Web: www.menschistmensch.de
Mail: [email protected]
Eingetragen bei dem Amtsgericht
Duisburg Aktenzeichen: VR 5367
Beim Finanzamt DuisburgWest als mildtätig anerkannt §§
51,59,60 und 61 AO:
Steuernummer: 134/5744/0956
Druckerei:
www.MegaDruck.de
Layout:
ars et visus | Ariane Becker
Ackerstr. 159, 40233 Düsseldorf
0211 - 170 9115
Wir bedanken uns bei Ariane
Becker für das kostenlose
Erstellen des Layouts. Ohne
sie wäre aus BACHTALO nicht
viel mehr als eine Abi-­Zeitung
geworden.
EDITORIAL
Liebe Leser und Leserinnen,
Liebe Leser und Leserinnen,
in Ihren Händen halten Sie die erste Ausgabe der Romazeitung
‘Bachtalo’. Dieses Wort bedeutet in Romanes - der Sprache der
Roma - ‘glücklich’. Alle, die diese Zeitung anbieten, sind uns
namentlich und in den meisten Fällen auch persönlich bekannt. Diese Menschen stehen oft stundenlang, um ein paar
Zeitungen zu verkaufen. Ich glaube, wir können nicht ermessen, wie groß die Armut ist. Wir geben die Zeitung für einen
Schutzbeitrag von 0,50 € weiter. Eine Straßenzeitung soll kein
Geschäft sein!
auch von mir ein paar Worte, um Sie willkommen zu heißen.
Wir haben angefangen mit dem Blog www.menschistmensch.
de. Darin haben wir fast täglich von unserer Arbeit berichtet.
So sind uns die Roma sehr nah gekommen. Ganz ehrlich, ich
habe die Menschen vom ersten Tag an gemocht. Ich finde, es
soll jeder über Roma denken, was er will. Ich finde aber auch,
dass er ihnen dabei ins Gesicht sehen soll. Vorurteile ja, aber
Angesicht zu Angesicht. So wie sie diese Zeitung aus der Hand
eines Menschen entgegen nehmen, der vor ihnen steht, will
ich den Roma in der Zeitung selbst ein Gesicht und eine Stimme geben.
Wir - das ist der Verein ‘Mensch ist Mensch e.V.’. Wir haben eine Webseite, in der Sie Wissenwertes über uns finden:
www.menschistmensch.de. Kurz zusammengefasst: Wir sind
alle ehrenamtlich tätig. Unser Verein selbst ist als mildtätig
vom Finanzamt anerkannt. Nicht nur den Roma - allen Menschen, die Unterstützung brauchen, steht es frei, zu uns zu
kommen. Diesen Menschen werden wir in unserer Roma-Zeitung Artikel widmen, schließlich heißt die Zeitung im zweiten
Titel ‘Mensch ist Mensch’.
Da wir sehr viele Roma in unserem Büro in Hochfeld betreuen,
haben wir uns überlegt, wie wir diesen Menschen am besten
helfen können. Die Vorurteile den hier lebenden Roma gegenüber sind auf Duisburgs Straßen geradezu körperlich spürbar.
Die Armut der Menschen nicht minder. Dabei sind diese Menschen nicht niedergedrückt von ihren Lebensumständen, sondern herzlich und fröhlich. Es stimmt, dass die Roma wenig
Freunde in Deutschland und Europa haben. Aber wer sie kennengelernt hat - und sei es durch den Kauf einer Zeitung - wird
es schwer haben, sie nicht zu mögen.
Vor nicht langer Zeit hat mir unsere Dolmetscherin Luminita
Caldararu erzählt, dass sie seit 2008 in Deutschland ist und in
den ersten Jahren vom Verkauf einer Straßenzeitung mit ihrer
Familie gelebt hat. Daraus ist die Idee entstanden, eine eigene
Straßenzeitung zu drucken. Uns ist anfangs nicht bewusst gewesen, dass wir vielleicht die erste Romazeitung drucken, die
es gibt. Das Romanes ist zwar eine wunderschöne, klangvolle
und alte Sprache, aber es ist keine Schriftsprache. Die Roma
selbst tauschen sich ausschließlich mündlich aus.
Ach, eine Sache noch! Die Zeitung heißt ‘Bachtalo’ nach der
ersten Strophe der Roma-Hymne:
Dschelem dschelem lungone dromesa
Auf meinem sehr sehr langen Weg
Maladilem schukare romenza.
Traf ich viele schöne Roma.
Dschelem dschelem lungone dromesa
Auf meinem sehr sehr langen Weg
Maladilem bachtale romenza.
Traf ich viele glückliche Roma.
‘Bachtalo’ soll eine Zeitung sein, die Hoffnung macht. Es mag
Elend und Armut geben, aber wir sind Menschen und erheben
uns darüber.
Martin Redies
Das wär’s, was ich sagen will. Ich hoffe, Sie haben Spaß beim
Lesen der Zeitung.
Frank Knott
3
[QRISTINA]
“Willkommen, mein Name ist Qristina.
Ich bin eine slowakische Romafrau...”,
so beginnt der Blog von Qristina. In
unserer Romazeitung ‘Bachtalo’ und in
diesem Blog wird sie ein regelmäßiger
Gast sein. Ich habe sie gefragt, ob sie
dabei ist. Und sie hat ihr Okay gegeben.
erkämpfen wird - als Lehrerin, Kindergärtnerin oder Ärztin. Sie wird einen
anderen Namen tragen, aber sie wird
auf ihre Art eine ‘Qristina’ sein.
Was macht Qristina zu etwas Besonderem?
In die Armut bin ich geboren. Ein
schmerzend leerer Magen; abgetragene
Kleider und zu große Schuhe. Eltern,
die immer arbeiten; Saisonarbeiter. Ich
bin geboren in einer Osada, einer Tabor,
einem Bergdorf. Kein fließendes Wasser,
keine Elektrizität, und keine Hoffnung.
Die Häuser lehnten sich gegeneinander,
gaben sich Schutz wie alte, müde gelebte
Frauen. Den meisten fehlte etwas - ein
Fenster, ein Teil des Daches - zahnlose
Fratzen verteilt auf einem schmalen Bergrücken. Kinder trieben sich an den Rändern umher, flitzten herum zwischen
den Häusern und dem kleinen Bach. Sie
spielten mit allem, was sie finden konnten - Stöcke, Steine, Altmetall und Müll.
Ich kann sagen, dass ich Glück hatte.
Meine Zeit in der Osada war kurz. Kurz
nach meiner Geburt, eingewickelt in
Schweigen, machten wir uns auf die lan-
Nun, zum einen ist sie eine Schriftstellerin und eine Roma. Das ist selten. Vor
allem aber verkörpert Qristina so etwas
wie ‘Die Suche nach der verlorenen Zeit’.
Sie ist einen langen, schmerzlichen Weg
gegangen, um ihren Platz in der Welt der
Gadscho (der Nicht-Roma) zu erkämpfen. Und findet in dieser Welt ... ihre mit
Heimweh getränkten Erinnerungen - die
Erzählungen, das Leben, das Elend und
das Glück der Roma.
Und wenn ich mir unsere Roma in Duisburg-Hochfeld betrachte - angekommen
in der Welt der Gadscho - dann weiß
ich, dass sich das ein oder andere unserer Roma-Mädchen seinen Platz darin
4
Nicht von dieser Art
(Teil I)
ge Reise über die Straße nach UK. Dort
wurde ich registriert und bekam meine
Geburtsurkunde. Mein Geburtsdatum
eine grobe Schätzung und mein Namen
passend gadschikanji gemacht.
Meine Familie war in vielerlei Hinsicht
schatrika - nicht sesshaft. Wir lebten
zwischen den Ländern, reisten umher
zwischen den Siedlungen der Familie. Als
ich aufwuchs, wurde das Reisen schwieriger. Lagerplätze waren blockiert, Stacheldraht und Pfosten säumten unsere
Route. Meine Großeltern und ältere Verwandte wurden zu krank für eine weite
Reise, und einer nach dem andere ließen
sie uns zurück und gingen auf die letzte, lange Reise. Wir hatte viele Dinge zu
verbrennen; die Tragik macht mir das
Herz noch schwer.
Ich war eine dieser Zigeunerinnen. Von
denen, die immer unterkühlt waren, immer hungrig. Von denen, die Löcher in
den Kleidern hatten und keine Schuhe
an den Füßen. Meine Familie tat, was sie
konnte, aber im Angesicht von Schrecken und Ausgrenzung war es nicht genug. Als eine tschorikani fimilija sahen
die Roma und Reisenden auf uns herab,
wenn sie wohlhabend waren. Und obwohl wir arm waren, besaßen wir doch
etwas mehr als das, was ein paar andere Familien besaßen. Und so fühlten wir
uns besser gestellt. Es war ein ständiger Kampf zwischen unseren Roma und
diesen Roma. Vor einer anderen Familie
wenigstens wollten wir mehr sein. Das
machte es irgendwie okay.
Seit ich in die USA gekommen bin, habe
ich viele Roma-Familien getroffen, denen es sehr, sehr gut geht - viele, die
auf Generationen von Bildung und guter
Erziehung zurückblicken können. Familien, die viele Kämpfe bestehen mussten
und sie wunderbarerweise auch bestanden haben.
Manchmal wundere ich mich, warum
meine Familie es nicht geschafft hat.
War es die Leere und die Dunkelheit,
die Geist und Körper befallen hatte - die
Asche von den Schauplätzen des Krieges? Oder war es das Gebell von “Raus
hier, Zigeuner!” und “Du dumme, hässliche Hure von einer Zigeunerin!”, das sie
jeden Tag hören mussten. War es, weil
die Schulen uns nicht wollten. Weil sie
uns nur dieses eine Schicksal erreichen
ließen, das uns in ihren Augen zustand.
Wir sind keine Diebe und sind keine Alkoholiker, weil wir es wollen. Oft war es
der einzige Weg, der uns unverstellt war.
Dort waren die einzigen Plätze, um unsere sterbenden Kinder niederzulegen.
Und doch, meine Familie hat es nie versucht. Sie lehnte die Integration ab. Sie
lehnte das Leben der Nicht-Roma ab die Kleidung, das Essen, die Sprache. Sie
wollte nicht, dass sich ihre Kinder gadschikanji verhielten. Sie hielt uns fest in
ihrer Faust, sie brannte uns unser Leben
ein - romanija wie eine Narbe auf unserer
Haut.
@Qristina
Foto: Rainer Sturm/www.pixelio.de
Nicht von dieser Art (Teil II)
Von meiner Biographie fühlen sich viele
Roma, mit denen ich gesprochen habe,
abgestoßen. Meine Armut und die Tatsache, dass ich ungewollt den Vorurteilen entspreche - es ist, als ob dies ihr
eigenes Bild von sich selbst entwertet.
Aber die traurige Wahrheit ist, dass es
viele hundert Roma wie mich gibt - viele
Roma, die in elendiger Armut leben; es
gibt sie auch in meiner eigenen Familie.
Ich habe so oft gehört: “Wir sind nicht
wie diese Roma!” ... und es schmerzt,
denn in Wahrheit SIND wir diese Roma.
Biographien wie meine werden ignoriert,
weil wir in einem Niemandsland existieren. Wir sind weder die eine Art noch die
andere Art. Wir sind die Pioniere unserer
Familien, ziehen rumpelnde Wagen über
literarische und ökonomische Leerflächen, nicht selten ohne die Unterstützung unserer eigenen Familien.
In meiner Familie kennt niemand Erziehung und Bildung. In meiner Familie
kennt niemand eine dauerhafte Arbeit,
ein Heim oder ein regelmäßiges Einkommen. Ich habe keine Familientradition, ein trajo gadschikano (= ein Leben
als Nicht-Roma) zu führen. Es war ein
schwerer Kampf, um zu diesem jetzigen
Punkt zu kommen und es ist ein täglicher Kampf geblieben. Das Gefühl, ausgegrenzt, andersartig und minderwertig
zu sein, lässt mich nicht los. Immer noch
werde ich als eigenartig, fremdartig und
verbohrt bezeichnet. Mein Schweigen
werten andere als Gleichgültigkeit.
Ich besitze mehr, als ich mir jemals vorstellen konnte, und doch vergesse ich
die Tage nicht, an denen ich Essen aufgesammelt habe, weil es alles war, was
wir zu essen bekommen würden; als ich
den Müll nach Glasflaschen durchsucht
habe, um sie zu spülen und zum Laden
zu bringen, um Geld zu haben für den
Strom, der unsere Älteren wärmen sollte. Tränen sammeln sich in meinen Augen. Ich bin ein Kind des Nirgendwo.
Meine Großmutter hat immer gesagt,
dass wir in der Welt der Nicht-Roma nur
die Hälfte wert seien und dass eine Romafrau nur die Hälfte von dieser Hälfte
wert sei. Ich habe nicht erwartet, solches
von anderen Roma zu hören, aber es
scheint, dass diese Ansicht recht verbreitet ist. Meine Bergitka (= Berg-Roma)/
Servika (= slowakische Roma) Wurzeln
sind tief, lassen mich nicht los. Meine
Familie bestand nicht aus reichen Musikern, Schauspielern, aus Autoren. Sie
hat nicht die Widrigkeiten überwunden,
damit aus uns Ärzte, Rechtsanwälte und
Lehrer wurden.
Wir waren arm. Wir waren Analphabeten. Wir gingen in Lumpen. Wir waren
laut.
Einige von uns waren Diebe. Einige von
uns waren Säufer. Einige von uns waren
Straßenmusiker, Wahrsager, Bettler.
Als ich in die US kam, hatte ich $300 und
ein paar Koffer mit meinem Namen drauf.
5
Keiner konnte verstehen, warum ich diesen Weg gegangen bin. Keiner konnte
verstehen, warum ich eine Nicht-Roma
Ausbildung wollte; warum ich mich von
meinen Wurzeln und meiner Familie
trennte, um dies zu erreichen. Es gibt
Roma, die mich hassen, weil ich meine
Familie verließ. Es gibt Roma, die mich
hassen, weil ich als Frau alleine reiste,
weil ich einen Nicht-Roma geheiratet
habe, weil ich eine Ausbildung erhielt.
Selbst jetzt ist es schwer zu beschreiben sowohl den Roma als auch den Nicht-Roma - wie herzzerreißend und einsam
diese Erfahrung für mich war; dass mir
die Entscheidung nicht leicht fiel. Romanija (= das Roma-Sein), - Tradition,
Kultur, Geschichte - diese Mischung aus
Kräften, die uns in einer Armutskultur
festhalten, muss sich ändern. Wir wollen
atmen. Wir ersticken unsere Kinder, einfach nur, weil Nicht-Roma uns erklären,
dass wir zu mehr nicht fähig sind.
Nein. Es ist nicht einfach. Aber nichts ist
einfach.
Ich bin eine von diesen Roma. Ich werde
immer eine von diesen Roma sein.
Ich habe mich geschämt - der Armut, des
Analphabetismus, des Alkoholismus; der
Schritte, die nötig waren, mich aus dieser Geschichte zu befreien.
EINE ROMAFRAU
SUCHT ARBEIT
Die Grundregel bei der Integration der
Roma ist: A bewegt sich nicht, weil B
sich nicht bewegt, weil A sich nicht bewegt. Im Falle der Arbeitssuche bedeutet es: Ein Job setzt Sprachkenntnisse
voraus, die nur in einem Job entstehen
können. Anders als für Asylsuchende
und Langzeitarbeitslose gibt es für die
Roma als EU-Bürger keine Sprachkurse.
Sie sind nicht anders gestellt als Touristen. Im Ergebnis heißt es für sie: Sie lernen kein Deutsch, weil sie keine Arbeit
finden, ohne Deutsch zu können.
So auch Frau Arabella Manteres, eine
Romafrau. Ich mache euch besser mal
ein Bild von ihr, denn es gibt keine typischen Romafrauen. Sie tragen alle einen Rock, aber sonst sind sie sehr verschieden. Frau Manteres gehört zu den
sehr stillen Roma. Es gibt Menschen, die
sprechen mit den Augen, und wir verstehen sie. So ein Mensch ist sie - still, aber
sichtbar. Sie hat die Hände einer hart arbeitenden Frau, die sie gerne versteckt.
Merkwürdig sind diese Romafrauen: Sie
sind uns nah, weil sie liebevoll sind, und
doch fern, weil sie ein Leben führen, das
wir uns nicht vorstellen können.
Nicht mehr. Ich bin, was ich bin.
Bergitka, Servika, Slowakin, Engländerin, Amerikanerin ...
@Qristina
Foto: FotoHiero/www.pixelio.de
6
Frau Manteres hat angefragt, ob wir ihr
helfen können, eine Arbeit zu finden.
Wir haben überlegt: Wir haben keine Arbeit und kennen niemanden, der Arbeit
hat ... aber wenn jemand eine Arbeit in
Deutschland sucht, dann gibt er eine
Anzeige auf! Außer der Tatsache, dass
Frau Manteres kein Deutsch spricht und
kein Geld hat, spricht nichts dagegen,
eine Anzeige aufzugeben. Ich habe also
eine Anzeige bei ‘Ebay Kleinanzeigen’
aufgegeben - ohne rechte Hoffnung,
aber auch ohne Geld auszugeben. Meine
E-Mail gebe ich als Kontakt ein, da kein
Roma, den wir kennen, Internet hat.
Eine Kleinanzeige: Foto ohne Kopftuch,
nichts verratender Text, Stundenlohn
leider anspruchsvolle € 8,50. Am Ende
habe ich eine einzige ernst gemeinte
Anfrage erhalten. Bei dieser Stelle wollen wir uns heute vorstellen. Wir - das
sind die Dolmetscherin, meine Wenigkeit und Arabella. Wir sitzen im Büro,
weil wir noch etwas besprechen müssen:
Die Stelle kann nur mit der Bahn erreicht
werden!
Wie aber soll sie - wenn sie nicht lesen
kann - ein Ticket ziehen? Wie soll sie
dort aussteigen, wo sie erwartet wird?
Da könntet ihr einwenden, dass Arabella erfragen kann, welches Ticket sie ziehen und wo sie aussteigen soll. Das ist
theoretisch richtig. Praktisch aber wird
ihr niemand antworten, weil sie eine
Roma ist. Erstens. Zweitens ist sie kein
japanischer Tourist. Sie hat kein teures
iPhone, sondern nur ihr sprechendes
Lächeln. Das ist sehr wenig in unserem
Kulturkreis. Falls der japanische Tourist
das falsche Ticket löst oder nicht am Ziel
aussteigt, bleibt er ein Japaner, der kein
Deutsch versteht. Wenn Arabella denselben Fehler macht, ist sie eine Romafrau, die schwarz fährt. Obwohl Arabella
meint: “Kein Problem!”, haben wir eindeutig ein mittelgroßes Problem.
Ich verspreche Arabella, dass wir uns um
die Fahrt kümmern werden. Wir gehen
also los - ein Deutscher und zwei Romafrauen. In Hochfeld schauen uns die
Roma nach. Ein paar Straßen weiter, in
Wanheimerort, schauen uns die Türken
und die Deutschen nach. Vor Ort haben
wir Zeit und gehen in eine Bäckerei. Ich
hätte in der Begleitung von zwei Seepferdchen kein größeres Aufsehen erregen können. Es gibt Leute, die vergessen,
die Glastür zu öffnen beim Verlassen
des Ladens. Andere vergessen das Kauen und die Kaffeetasse in der Hand. Die
junge türkische Verkäuferin schaut mich
an, als hätte ich ihr einen unsittlichen
Antrag gemacht.
Die Frau mit dem Stellenangebot öffnet
uns die Haustür. Ich wusste gleich, dass
wir gewonnen haben. Ich kann nicht sagen, warum. Es ist die Sache mit den Seepferdchen, nur andersherum. Wir sitzen
am Tisch und haben einen Fruchtsaft vor
uns stehen. Die Frau erzählt, dass eine
Romafamilie im Nachbarhaus gewohnt
hat. Die Kinder hätten in ihrem Garten
gespielt. Leider sei die Familie aus dem
Haus heraussaniert worden. Auf ihre
Frage erzählt Arabella, dass sie 5 Kinder
hat. 30 Jahre alt ist sie. Das Gespräch ist
nicht einfach, weil die Frau nicht weiß,
wen sie ansprechen soll - Arabella, die
Dolmetscherin oder mich.
Wir kommen auf die Arbeitsstelle zu
sprechen. Ich erkläre die Schwierigkeit
und sage, dass wir eine Lösung finden
werden. Die Frau erzählt, dass sie einmal in Ägypten gereist sei. Sie habe kein
Schild lesen können und ihr sei niemand
begegnet, der Englisch mit ihr habe sprechen können. Sie überlegt. Dann schlägt
sie vor, dass sich Arabella fürs erste von
einem ihrer Kinder begleiten lassen solle. Auf diese Idee hätten wir auch selbst
kommen können, schließlich haben wir
oft Schulkinder, die Vater, Mutter und
die kleinen Geschwister hinter sich her
in unser Büro ziehen!
Arabella wird einen Arbeitsvertrag - also
keinen Minijob bekommen. Sie wird zum
ersten Mal in ihrem Leben krankenversichert sein. Wenn ich es richtig verstanden habe, wird sie zum ersten Mal in ihrem Leben überhaupt eine Arbeit haben.
Mit den angebotenen € 10,00 pro Stunde
dürfte sie unter den Roma in Hochfeld
die augenblickliche Spitzenverdienerin
sein. Was diese Arbeit für Arabella bedeutet, will ich lieber nicht wissen. Ich
habe die Erfahrung gemacht, dass meine
Vorstellung von Armut jedes Mal spielend unterboten wird.
Ich weiß aber, Arabella wird bald ein
auskömmliches Leben führen können.
Ihre Kinder werden genug zu essen haben. Sie wird ihren Strom wieder bezahlen können. Alles wird gut.
@martinredies
KRAUTWICKEL ROMANES ART
mäßig zuverlässig nur die Spülmaschine vom Backofen unterscheiden. (Ist ja
bei modernen Küchen nicht so einfach!)
Was ich verstanden habe, ist die Soße
der entscheidende Unterschied bei den
Krautwickeln. Es ist eine rote Soße mit
Paprika (glaube ich) bei den Roma, statt
einer weißen Soße mit was anderem als
Paprika, wie sie von Rumänen bevorzugt wird. Obwohl Roma natürlich auch
Rumänen sind. Aber das würde jetzt zu
weit führen ...
Falls irgendwer das Rezept der Krautwickel haben will, findet ihr es zum Nachkochen bei Chefkoch.de. Aber es sind
die Rumänischen Krautwickel in den
Rezepten - das sage ich gleich - nicht
die originalen Krautwickel der Romanes Art, also nicht halb so lecker (sage
ich mal). Aber ich bin nur der Journalist
einer Straßenzeitung und kann küchen-
Um von vorne anzufangen: Uns hat heute eine Romafrau im Büro bewirtet. Das
heißt im Ergebnis, dass Frank und ich
zig Krautwickel gegessen haben und ein
gefühltes Dutzend anwesender Roma
uns hungrig dabei zugesehen hat. Ich
sage euch, es ist am Ende eine reine Nervensache. Das sage ich zu Christina, die
findet, dass es nicht in Ordnung ist, vor
anderen zu essen, die selbst nichts zu
essen haben. Reine Gewöhnungssache!
Learning by Doing, Christina! Hilfreich
ist natürlich, wenn es lecker ist (und das
war es!).
Um ehrlich zu sein, waren ‘Kohlrouladen’ mein Gericht, das ich als Junge nicht
essen brauchte. So war das früher bei uns
zu Hause. Es musste alles gegessen werden, bis auf eine Ausnahme (die nur einmal im Monat gewechselt werden durfte
- also nicht jedes Mal vor dem Mittagessen). Ich glaube, bei uns Kindern waren
Kohlrouladen die unumstrittene Nr. 1
im No-Eat-Ranking. Diese Kohlrouladen
der Roma sind aber ganz anders. Ich bin
kein Koch (wie gesagt), aber sie sind kleiner, dünner gewickelt und schmecken
nicht bitter. Sie sehen auch überhaupt
nicht verbrannt aus. Ich habe mir in diesem Zusammenhang sagen lassen, dass
Krautwickel das Nationalgericht bei den
Roma sind (also vermutlich auch bei den
Romakindern).
Die Köchin hat gesagt, dass sie mit ihrer Schwester 2 Stunden lang daran gekocht hat. Sie hat mir erklärt, wie ich
Krautwickel kochen kann. Wir kamen
dann ins Gespräch, nachdem ich längere Zeit nichts verstanden habe. Also
7
bei den Roma sind es die Frauen, die in
der Küche stehen. Ist ja interessant, diese kulturellen Unterschiede! Übrigens
auch die kleinen Mädchen stehen in der
Küche. Bis sie 12 Jahre alt sind, werden
sie angelernt. Dann sind sie ausgelernt.
Was ja sehr praktisch ist, wenn sie mit
13 Jahren heiraten müssen. Logisch, wär
ja blöd, wenn sie ihrem 14-jährigen Ehemann keine eigenen Krautwickeln machen können.
GOTT UND DIE ROMA
Es ist ruhig in unserem Büro. So gegen 15:00 ist es oft ruhig. Da unsere Dolmetscherin - Frau Luminita Caldararu - im Moment mal keine Privat(!!)-Gespräche an
ihrem neuen Handy führt, ergreife ich die Gelegenheit, mit einer älteren Romafrau
ins Gespräch zu kommen. Sie trägt eine Brille, was selten, sehr selten bei den Roma
ist, denn sie sind arm und können selten lesen. Hat man diese Merkwürdigkeit erst
einmal registriert, dann ist die Brillenlosigkeit der Roma bzw. die Bebrilltheit der
Deutschen sehr auffällig.
Glaubt es nicht: Sie heiraten nicht mit
13 Jahren! Ich habe mit der Köchin der
Krautwickel gesprochen. Nein, es ist
einfach so, dass die Romakinder früh
mithelfen müssen. Sie - also die Mütter
und Tanten - haben halt viele Kinder,
und wenn die Mütter und Tanten Krautwickel wickeln, müssen die Älteren sozusagen die Allerkleinsten wickeln. Sie
finden nichts dabei (sagen die Mütter
und Tanten). Ich habe gefragt: Auch die
Jungen kümmern sich wickelmäßig um
die kleinen Geschwister.
Wer solche langwierigen Gerichte zur
Nationalspeise erklärt, muss halt erfinderisch sein. Ist ja logisch! Unsere Mütter
und Tanten machen Tiefkühlkroketten da können die Mädchen whatsappen und
die Jungs zocken. Eine völlig andere Kultur ist das!
Da stellt sich dem aufmerksamen Beobachter sofort die Frage, was die Roma-Männer in der Zeit machen, wenn
Jung und Alt traditionell wickeln und
gewickelt werden. Die Köchin der Krautwickel hat mir versichert, dass die Roma-Männer in dieser Zeit Zeitung lesen
und an ihren Handys rumspielen. Die
anderen Frauen haben reihum genickt:
Auch ihre Roma-Männer lesen Zeitung
und spielen mit ihrem Handy. Unglaublich eigentlich, aber wir müssen akzeptieren - auch wenn es schwerfällt - dass
andere Völker andere Sitten haben.
Soviel zu den Krautwickeln, die wir heute im Büro gegessen haben.
@martinredies
8
Das Interview
Hallo, Luminita, hast du einen Moment Zeit? Ich will mit dieser Frau sprechen für
unsere Roma-Zeitung ‘Bachtalo’.
Ich habe Zeit, kein Problem. Was willst du wissen? Ich höre gut.
Wie alt ist die Frau und wann ist sie nach Deutschland gekommen?
Die Frau sagt, sie ist 67 Jahre - 7 und 6, nein, 6 und 7 ist richtig! Sie ist gekommen vor
5 Jahren mit der Familie nach Deutschland. Eine große Familie!
Wie groß?
Die Frau ist gekommen mit 5 Kinder. 3 Jungen, 2 Mädchen. Sie sind alle groß geworden jetzt. Diese Frau hat 27 Enkel - ja, 2 und 7, das ist richtig. Davon sind 17 Mädchen
und der Rest sind Jungen. Eine große Familie, sehr groß!
Kommen die 27 Enkel ihre Oma besuchen?
Ja, die Enkel kommen. Nicht alle kommen. Sehr viele kommen. 3 Enkel, manchmal 4
Enkel bringt sie zur Schule. Wenn die Enkel kommen, es gibt Kuchen dann, und sie
erzählen viel, sehr viel.
Kann ich ein Bild machen von dieser Frau?
[Es folgt eine längere Diskussion auf Romanes. Ich hörte immer wieder ‘Bachtalo’ und ‘Del’ (d.i. ‘Gott’ auf Romanes). Es diskutieren eigentlich alle, die Romanes
sprechen können. Eine gute Gelegenheit, sich einen Kaffee zu holen ... oder einen
Spaziergang zu machen ... oder einen
Kuchen zu backen.]
Nein, die Frau sagt, diese Bilder von ihr
sind verboten. Sie ist Evangelist, weißt
du. [Es folgt eine weitere Diskussion auf
Romanes. Offenbar ist die Frage nur vorentschieden.] Diese Frau sagt, du kannst
Bilder machen, für die Zeitung der Roma.
[Ich mache schnell die Fotos, während
weiter diskutiert wird.]
Luminita, du bist orthodoxe Christin,
ja?
Ja, ich mache so! [Luminita macht das
Kreuz.]
Warum ist diese Frau eine andere Christin?
[Es wird viel geredet. Die Frau weint.] Sie
sagt, Gott hat ihr geholfen. Sie sagt, ihr
Mann war sehr krank. Er hat gehabt Diabetis, war taub an Füßen und hat gehabt
große Probleme mit dem Herz. [Immer
wieder redet die Frau, obwohl sie weint.]
Und sie sagt, in einem Traum ist ihr gekommen Gott und hat gesagt, dass sie
gehen muss zu diese Kirche. Im Traum,
so hat sie gesagt. Und ihr Mann ist geworden gesund. Ich, Luminta, habe gesehen, dass er gesund ist und war krank
vorher. [Die Frau wischt sich die Augen.
Die Brille liegt auf ihrem Schoß.]
[Pawel, der Sohn von Luminita, sagt,
dass die Roma alle sehr glauben. Viele seiner deutschen Klassenkameraden
würden nichts glauben.]
Ja, wie Pawel es sagt, ist es richtig. Wir
Roma beten oft zu unseren Gott. Es ist
nicht gut, wenn wir nicht beten zu Gott.
Er hilft uns nicht, wenn wir beten nicht.
Hmm, Luminita ... schau mal, die Deutschen beten nicht, sie glauben nicht an
Gott, die Kirchen sind leer und werden
alle verkauft - aber die Deutschen sind
reich, haben teure Autos, viele Straßen,
große Häuser und schöne neue Handys.
Und die Roma beten zu Gott und sind
arm. Was sagt diese Frau dazu?
[Es wird hin geredet und her überlegt.]
Egal, sagt diese Frau. Gott hat ihr geholfen für ihren Mann. Ist egal, sagt diese
Frau. Sie betet zu ihren Gott.
Okay, kein Problem.
[Die Frau reicht mir die Visitenkarte ihrer Gemeinde.] Diese Kirche, sagt diese Frau, verbietet Tanzen und Musik.
Sie feiern Gottesdienst auf Romanes.
Manchmal lesen sie, dann singen sie
viel. Und beten immer wieder. Sagt diese
Frau.
[Frank Knott wirft ein, dass diese Frau
noch einen Minijob hat, mit ihren 67
Jahren.]
Geht die große Familie mit ihr in die
Kirche oder geht die Frau alleine?
[Frank Knott meint, der Minijob würde
als Thema super zu unserem Blog passen.]
Ja, diese Frau muss putzen die Treppe
von zwei großen Blocks. Ganz allein.
Liest sie ihren Enkeln aus der Bibel vor?
[Frank Knott meint, Luminita müsse
jetzt mal bei ihm übersetzen.]
[Außerdem klingelt das Handy von Luminita.]
@martinredies
FREIZÜGIGKEIT IN DER EU EINGESCHRÄNKT
UNEINGESCHRÄNKT
In Europa herrscht Freizügigkeit. Jeder EU-Bürger kann reisen, wohin er möchte
und sich 3 Monate in einem Land seiner Wahl aufhalten. Nach den 3 Monaten muss
er nachweisen, dass er Arbeit sucht. Wenn er in diesen 3 Monaten keine Arbeit gefunden hat, endet die Freizügigkeit ... und eigentlich auch wieder nicht.
Die Sache ist unmenschlich und sinnbefreit in gleicher Weise. Damit ihr sie versteht - so weit dies überhaupt möglich
ist - schildere ich einen Fall aus unserer
heutigen Bürostunde:
Stellen wir uns eine rumänische Familie
vor, die vor 6 Monaten voller Hoffnung
nach Deutschland gekommen ist. Sie
haben eine Wohnung gefunden, die Kin-
der wurden eingeschult, in den Kindergarten geschickt, beim Arzt untersucht
und geimpft. Wie deutsche Kinder eben
- kein Unterschied. Genau für eine solche Familie wurde die Freizügigkeit in
Europa eingeführt.
Stellen wir uns für uns selbst probehalber vor: Wir kommen mit Nichts in ein
fremdes Land. Fragen wir uns, ob 6 Mo-
nate lang genug wären, uns eine Existenz - sagen wir mal, in Finnland - aufzubauen.
Doch weiter zu unserem ‘Fall’:
Im Dezember wurden die Kinder von
einem deutschen Nikolaus im Rahmen einer kleinen Feier beschenkt. Für
9
die Familie hat dieses Fest viel bedeutet. Nur kurze Zeit später erhielt sie die
wenig christliche Aufforderung, dass
sie Deutschland zu verlassen habe. Die
Frau hat 5 Kinder und ist im 6. Monat
schwanger. Ich muss sagen, sie trägt ihr
Schicksal mit einer bewundernswerten
Fassung.
Gut, mit dem Gerichtsbescheid bin ich
persönlich nicht einverstanden. Ich bin
aber der Meinung, dass wir als Sozialberater die Gesetze akzeptieren müssen,
wenn wir Anträge stellen und Orientierung geben wollen. Es ist nicht unsere
Aufgabe, uns über die Rechtsprechung
hinwegzusetzen.
Ich akzeptiere, dass die Freizügigkeit
nach 6 Monaten endet. Ich akzeptiere,
dass sie nach 7 Monaten wieder neu beginnt.
Es verhält sich nämlich so, dass diese Familie Deutschland zwar verlassen
muss, aber nach einem Monat problemlos wieder einreisen kann. Es gilt Freizügigkeit, wenn die Familie sich komplett
abmeldet: Wenn sie alles aufgibt, sich in
Venlo - um ein Beispiel zu nennen - anmeldet, eine Wohnung sucht, die Kinder
einschult ... und sich nach einem Monat
dann wieder in Deutschland anmeldet.
Mit allen Behördengängen, die dazu nötig sind. Allein die Schulanmeldung hat
wegen der Schulpflicht dreifach zu erfolgen: Deutschland - Holland - Deutschland.
Um nicht missverstanden zu werden: Die
Freizügigkeit ist EU-Recht - sie ist eine
echte Errungenschaft! Sie wird deshalb
dauerhaft nur aufgehoben, wenn schwere Straftaten oder ansteckende Krankheiten vorliegen - also bei unmittelbarer
Gefahr für die öffentliche Sicherheit und
Ordnung eines jeweiligen Landes. Ein
Drogendealer darf nicht mehr einreisen,
die junge Familie darf selbstverständlich einreisen! Die deutsche Regierung
darf ein EU-Recht nach 6 Monaten außer
Kraft setzen, obwohl es nach 7 Monaten
und zu unser aller Nutzen wieder wirksam wird.
Freizügigkeit gilt eingeschränkt uneingeschränkt. Deutsches Recht und EURecht verhalten sich wie Nebensatz und
Hauptsatz.
Die Sache mit der Aufhebung der Freizügigkeit ist nicht nur unmenschlich, sie
ist auch frei von jeder Logik.
@martinredies
DIE ROMA UND DER MÜLL
Gestern traf ich auf der Straße eine Romafrau, die Müll von der Straße fegte,
mit einem dieser merkwürdigen Hexenbesen. Als sie eine letzte Kehrschaufel in
den Abfallkorb entleert hatte, durfte ich
ein Foto von ihr machen.
Ich kannte diese Frau von einem Besuch
in unserem Büro und war neugierig,
warum sie die Straße vor ihrem Haus
kehrte. Heute habe ich mit Hilfe unserer
Dolmetscherin ein kleines Gespräch mit
ihr geführt. Ihren Namen habe ich ehrlicherweise nicht verstanden und nicht
aufschreiben können.
Das Interview
Wie lange sind sie in Deutschland?
Wenn der Mai kommt, ist es ein Jahr, das
ich in Deutschland bin.
Wo kommen Sie her?
Ich komme aus Rumänien. Aus Urziceni
[Sie zeigt mir ihren Pass, damit ich den
Namen lesen kann.] Das ist eine Stadt,
nicht weit von Bukarest.
10
Sie haben die Straße gekehrt. Warum
machen Sie das?
Weil die bulgarische Familie in meinem
Haus den Müll aus dem Fenster wirft.
Das geht nicht!
Wie viele Mülltonnen haben Sie?
Wir haben drei Mülltonnen.
[Ich zeige die mittlere Größe. Sie nickt.]
Das sind sehr wenig Mülltonnen für ein
ganzes Haus!
[Sie nickt.]
Wieviele Personen sind in dem Haus?
6 Familien. [Nach dem Zählen der Kinder
und der Erwachsenen kommen wir auf
20 Personen.] Diese bulgarische Familie,
die Müll aus dem Fenster wirft, ist nicht
gut!
Kümmert sich der Hausbesitzer nicht
darum?
[Unsere Dolmetscherin spricht mit der
Frau. Dann sagt sie mir, dass die Frau
nicht über den Hausbesitzer sprechen
will.]
DIE INTEGRATION
DER ROMA HAT
BEGONNEN
Sind sie mit der Familie aus Rumänien
gekommen?
Ja, ich habe einen Mann und 4 Kinder.
Drei Kinder gehen zur Schule - 15, 11, 7.
Und ein Kind - 4 - hat einen Brief für die
Schule bekommen.
Wie groß ist ihre Wohnung?
Die Wohnung hat 2 Zimmer und eine Küche. [Die Dolmetscherin fragt nach.] Sie
ist groß 50 qm, glaube ich. Eine schöne
Wohnung.
Warum sind sie aus Rumänien weggegangen?
[Die Frau schaut mich fassungslos an,
als sie die Frage verstanden hat. Die Dolmetscherin stupst sie an.] Wir hatten
keine Wohnung in Rumänien, keine Arbeit, kein Geld.
Was heißt: ‘Keine Wohnung?’ Haben
Sie im Freien gelebt?
Nein, bei einer Familie. In der Garage
von dieser Familie haben wir geschlafen.
[Ich schaue die Frau fassungslos an. Die
Dolmetscherin stupst mich an. Es beginnt ein kalter Regen.]
Und Deutschland ist schön?
Ja, Deutschland ist schön. Ich bekomme
Arbeit, Mann bekommt Arbeit. Kinder
gehen zur Schule. Wohnung ist schön.
Deutschland ist schön.
[Die Dolmetscherin zieht mich durch den
Regen fort. Ich winke. Die Frau schaut
uns mit ihren sanften Augen nach.]
@martinredies
Im Jahr 1989 hat in Deutschland die
letzte große Eingliederung von völlig
mittellosen Neubürgern stattgefunden
- die Wiedervereinigung der Bundesrepublik Deutschland mit der damaligen
DDR. Mein Thema in diesem Beitrag ist
eine ganz persönliche Bestandsaufnahme aus der Sicht unseres kleinen Büros
in Duisburg-Hochfeld. Ich stelle mir die
Frage, wie es eigentlich um die Integration der Roma steht. Nach 5 kurzweiligen Monaten, die ich nun in der Sozialberatung tätig bin.
Es ist meine persönliche Meinung, dass
sich einiges in unserem Umfeld - bei
den Roma in Hochfeld - verändert hat.
Auch Christina - meine Mitstreiterin
am Nachbartisch - bestätigt, dass nichts
mehr so ist wie früher. Unsere Kunden
werden bürgerlich - jedenfalls ein guter
Teil von ihnen.
Sie kündigen die Verträge, die sie in
Unkenntnis von Schrift und in ‘blindem’ Vertrauen abgeschlossen haben.
Sie schulden um, indem sie nicht mehr
Einzelüberweisungen machen, sondern
Daueraufträge einrichten. Die Frauen häufig das Familienoberhaupt - ordnen
ihre Papiere. Ohne Lesen zu können,
finden sie sich darin zurecht. Ein kleines
großes Wunder!
Dies stelle ich nach nur fünf Monaten
fest. Ich finde ehrlich gesagt, dass dies
eine sehr kurze Zeit ist. Vergleichen wir
die Roma mit den Türken, die nach Duisburg im Zuge der ersten großen Integrationswelle eingewandert sind, dann haben die Roma es unendlich viel schwerer.
Die Türken wurden von den großen Firmen angeworben. Sie bekamen Tickets,
Arbeit, Wohnung, Lohn und soziale Sicherheit unmittelbar nach der Ankunft
und wie eine Selbstverständlichkeit. Die
heutigen EU-Neubürger - wie sie bemüht
sprachhygienisch genannt werden - bekommen ... NICHTS.
Eigentlich finde ich, dass die Roma sich
im Rekordtempo integrieren. Die Fakten
sind nun einmal, dass sie nicht lesen und
schreiben können und unsere Sprache
nicht sprechen. Fakt ist auch, dass niemand ihnen Kurse gab. Die Kinder gehen
zur Schule, aber die Eltern werden sich
selbst überlassen. Unser Eindruck ist,
dass viele von ihnen kleine Jobs gefun11
den haben. Wer ein wenig lesen kann
(weil er eine Schule in Rumänien besucht
hat), wird Pizzabote (mit Führerschein)
oder arbeitet als Bauhelfer. Wer nicht
lesen kann, putzt Hotelzimmer oder reinigt in kleinen Betrieben.
Wir hatten im Büro - zugegeben - viel
mit Kleinkriminalität zu tun. Es waren
viele Betrugssachen, die daher rührten,
dass unsere Kunden mit ungedeckten
EC-Karten eingekauft haben (was unter ‘Betrug’ fällt). Ich gebe aber zu bedenken, dass jemand, der nicht rechnen
kann - die Zahlen nicht einmal lesen
kann - mit einer EC-Karte möglicherweise überfordert ist. Dann gab es diverse Ladendiebstähle - von Süßigkeiten bis
Kleinkleidung. Mittlerweile haben die
meisten Roma erkannt, dass sich alle Kameras auf sie richten, sobald sie irgendeinen Laden betreten. Es gab Fahrten mit
der falschen Umweltplakette und diverse
Verkehrsbußgelder. Verzeihliche Delikte
für des Lesens unkundige Neubürger.
All das wird weniger. Auch stellen wir
fest, dass die Briefe, die wir vorgelegt
bekommen, ein zeitnahes Datum tragen. Offenbar achten die Empfänger
in den Häusern darauf, dass ihre Briefkästen ordentlich beschriftet sind. Wer
einmal in einem dieser ‘Problem’häuser
war, wird wissen, dass es ein Wunder an
beruflichem Ehrgeiz ist, wenn ein Briefträger die Post richtig zustellt. Nur mal
nebenbei: einen Mailaccount (oder Internet) besitzt kein einziger Roma, den
wir kennen. Unter diesen Voraussetzungen Ordnung und Anschluss zu halten,
ist nicht selbstverständlich. Wir sehen
Roma, die Aktenmappen dabei haben,
die jedem deutschen Versicherungsvertreter zur Ehre gereichen würden.
Ach ja, wir sollten erwähnen, dass uns
viele Roma Schreiben vom Jobcenter
vorlegen, indem sie zum Termin gebeten werden, um die eigene ‘berufliche
Situation’ zu besprechen. Dies bedeutet
eigentlich immer, dass sie zu einem Kurs
verpflichtet werden, in dem sie Deutsch
schreiben und lesen lernen. Diese Kurse erstrecken sich über 2 Jahre, finden
an 5 Tagen in der Woche statt, über den
ganzen Vormittag. Am Ende können die
Teilnehmer Deutsch sprechen, anständig lesen und einigermaßen schreiben
... jedenfalls wenn sie so fix im Begreifen
sind wie unsere Roma.
@martinredies
Sebastian Staendecke (ideas-ahead.de)/
www.pixelio.de
HELFEN IST GEIL:
DIE KLEINE OMA
Vor mir sitzt eine alte Frau - ein ‘Ömaken’, wie der Duisburger sagt. Typisches
Äußeres. Klein, bleich, die Haare graublond, vor Monaten mal gewellt, die
Kleidung undefiniert, die Brille so alt,
dass sie schon wieder modern ist.
Sie schaut mich unsicher an. Dann beginnt sie zu erzählen.
Sie erzählt viel, nachdem sie einmal begonnen hat zu reden. Mit Nachfragen
bringe ich die Fakten in eine behördliche
Reihenfolge: Sie ist 71 Jahre alt und bekommt eine Witwenrente von € 270,00.
Die Warmmiete für ihre kleine Wohnung
beträgt € 160,00, ca. € 40,00 gehen für
Strom ab. Bleiben ihr € 70,00 pro Monat.
Sie muss das Angebot der Lebensmittelspenden nutzen, um überhaupt überleben zu können.
Ich sage, dass ihr fraglos die Grundsicherung im Alter zustehe. Ich könne ihr
gleich einen Antrag am PC ausfüllen.
12
Wenn sie mir die gewünschten Unterlagen raussuche, könne sie alles zusammen einreichen.
Sie ist erst unschlüssig, will nicht sagen,
was sie bedrückt. Doch dann erzählt sie
mir, dass sie zwei Söhne habe, die in
Süddeutschland wohnen. Der eine sei
Beamter, der andere sei ein Angestellter.
Zu beiden habe sie seit langem keinen
Kontakt mehr. (Es war ihr offensichtlich
nicht leicht, darüber zu sprechen.) Sie
wolle auf keinen Fall, einen Antrag stellen, wenn sich das Amt von ihren Söhnen das Geld hole.
Ich google also: ‘grundsicherung im alter
kinder’ und erkläre ihr, dass Kinder erst
ab einem sehr hohen Jahresverdienst
zahlen müssten ... und dann nur, wenn
das Amt davon wisse. Erst jetzt - nach
Tränen - ist sie bereit, einen Antrag mit
mir auszufüllen. Die erforderlichen Unterlagen hatte sie innerhalb von einer
Woche zusammengetragen.
Die Dame wurde von mir zum Sozialamt Duisburg Meiderich begleitet. Die
Mitarbeiterinnen behandelten die Dame
erst sehr von oben herab. Sie fragten, ob
sie wisse, dass sie ‘Sozialhilfe’ beantragen würde. Sie spielten damit, dass dieser Begriff bei der älteren Bevölkerung
ein übles Stigma hat. Erst nachdem ich
mich ins Gespräch eingeschaltet habe weil die ältere Dame begonnen hatte zu
weinen - haben die Mitarbeiterinnen ihr
Verhalten geändert. Der Antrag wurde
innerhalb kurzer Zeit bearbeitet und bewilligt.
Ergebnis: Die Frau bekommt zu ihrer
Witwenrente (= € 270,00) zusätzlich €
350,00 vom Amt. Und ist nun in der Lage,
im Alter würdig zu leben.
@martinredies
Foto: Karin Bangwa/www.pixelio.de
WER FINDET
DEN SCHULDIGEN?
zung läuft. Nur ein kleiner Stromheizer
spendet ein wenig Wärme. Und von den
Stadtwerken her soll sogar das Wasser
abgestellt werden. D.h. es gibt kein Wasser für den Abfluss, zum Waschen und um es deutlich zu sagen - auch kein Wasser zum Trinken! Für unser Land ist die
Situation unwürdig, für die Bewohner ist
sie unerträglich.
Der Sachbearbeiter bei den Stadtwerken
verhält sich regelkonform. Einen Notfonds (in der Art der Prozesskostenhilfe),
um wenigstens die Wasserversorgung
der Allerärmsten, wenigstens der Kinder, wenigstens der Neugeborenen zu
gewährleisten, gibt es nicht. Der Sachbearbeiter wird also verantwortungsvoll
veranlassen, das Wasser abzustellen, da
eine Gegenleistung vom Vertragspartner nicht erbracht wurde. Die Stadt wird
in enger Absprache mit den Stadtwerken das Haus für unbewohnbar erklären
und eine Beschlagnahmung erklagen,
um dadurch den dringend benötigten
Wohnraum für anerkannte Asylanten zu
schaffen.
Ihr kennt den Text aus den Zeitungen,
die beim Friseur oder bei eurem Kosmetiker ausliegen: Es wird eine Geschichte
erzählt und der Täter wird verschwiegen. Solch eine Geschichte will ich euch
erzählen.
Stellt euch ein Haus in Duisburg Hochfeld vor. Ein Haus, das niemand eigentlich haben will, aber irgendjemand
irgendwann dann doch kauft. Dieser Jemand ist ein Türke. Versteht sich, dass er
ein Türke ist, denn kein deutscher Duisburger würde in diesem Stadtteil einen
finanziellen Einsatz wagen. Unser Türke aber hat einen kleinen Kredit aufgenommen, auf der Grundlage einer noch
kleineren Erbschaft. So hat er dieses
Haus sehr günstig erworben. Da er ein
gutes Herz hat, und weil er ein gläubiger
Muslim ist, lässt er drei (christliche) Roma-Familien einziehen.
Dagegen spricht nichts, denn er kennt
diese Leute. Sie sind nett, handwerklich
geschickt und wären arbeitsam, wenn
jemand ihnen Arbeit geben würde. Die
Frauen sprechen ein wenig Deutsch. Die
Kinder sind zahlreich, aber ordentlich
gekleidet. Drei der Kinder gehen auf dieselbe Schule, auf die auch der Hausbesitzer als Kind gegangen ist.
Unser Hausbesitzer ist ein guter Mensch
(aber ein schlechter Hausbesitzer). Die
Roma-Familien bleiben ihm Geld schuldig. Ihr Auskommen reicht für die Miete
nicht - so gering sie ist. Die Frauen geben ihm das, was sie entbehren können.
(Und Roma sind gut im Entbehren!) Er
drängt sie nicht, weil er Mitleid mit den
Frauen hat. Wenn er sie fragt, geben
sie ihm mal € 100,00, mal sind es nur €
50,00. Vom deutschen Staat steht den
Frauen Kindergeld zu, das aber Monate
auf sich warten lässt. Außerdem kann er
rechnen und weiß selbst, dass sie hungern müssten, wenn er ihnen zu viel
Geld abnimmt.
Leider ist er aber selbst kein reicher
Mann und bleibt zunehmend Geld für
die Betriebskosten, für die Heizung und
für die Wasserversorgung schuldig. Es
ist so weit gekommen, dass in seinem
Haus den ganzen Winter über keine Hei-
Ob der Mietvertrag der Roma-Familien
weiter Gültigkeit hat, ist auch unerheblich, da die Stadt die Familien von der
Wasserversorgung abgeschnitten hat.
Schon nach einer Woche ist die Situation in dem Haus unerträglich geworden,
wenn nicht gar gesundheitsgefährdend.
Was bleibt den Familien als auszuziehen?
Nach Monaten dann wird die rechtliche
Situation des Hauses geklärt sein. Die
Stadt ist nun als neuer Vertragspartner
ordentlicher Besitzer des Hauses und
wird Heizung und Wasser wieder an das
Netz anschließen lassen.
Das ist meine Geschichte.
Wer findet den Schuldigen?
Und eine Bonusfrage: Ist die Geschichte
wahr oder ist sie erfunden?
@martinredies
Foto: knipseline/www.pixelio.de
13
LORENA -
EIN ROMA-MÄDCHEN
zu Sprachunterricht einmal die Woche.
Ich will lernen Deutsch lesen und schreiben.
[Anmerkung: Lorena ist kein Einzelfall
in Duisburg. Wir treffen in Hochfeld immer wieder Kinder, die nicht zur Schule
gehen können, obwohl sie schon lange
in Duisburg gemeldet sind. Von den Kindern, die nicht gemeldet sind, will ich
nicht mal reden.]
Hallo, Lorena. Schön, dass du mir ein
paar Fragen beantwortest. Seit wann
bist du in Deutschland?
Ich bin gekommen seit 2008.
Du bist jetzt 18 Jahre und seit 6 Jahren
in Deutschland. Aber du kannst nicht
Lesen und Schreiben. Wie kommt das?
Ich bin nicht zur Schule gegangen in
Deutschland. Ich war immer zu Hause.
Da kann ich nicht lernen. Weil meine
Mutter nicht lesen und schreiben kann
wie ich.
Wolltest du nicht zur Schule gehen?
Doch, ich wollte sehr gern zur Schule gehen. Nur, sie haben mich nicht gelassen.
Ich habe gefragt überall, aber ich habe
keine Schule gefunden. Ich weiß nicht,
warum.
Die Männer vom Schulamt denken, dass
du ein Mädchen bist und dazu noch eine
Roma. Da lohnt es sich nicht, dich zu
unterrichten.
Kann sein, dass sie denken so. Ich wäre
gern zur Schule gegangen. Ich gehe jetzt
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Du führst ein Leben ohne Facebook,
ohne Whatsapp. Ganz ohne Internet.
Wie ist das?
Ich weiß, was Facebook ist. Ich sehe es
bei meinen Cousins. Sie gehen zur Schule. Wenn ich lesen kann und schreiben,
dann machst du ein Facebook für mich,
ja?
Versprochen! Jetzt sag mal, Lorena, was
du in deinem Leben machen willst?
Ich will 2 Kinder haben - zwei Mädchen!
In meinem Haus, ich will alles schön machen für sie!
Da brauchst du einen Mann. Was für
ein Mann soll es sein?
Mein Mann soll schön sein. Ein schöner
Mann!
Einen klugen Mann, der nicht schön ist,
nimmst nicht?
Nein, nehme ich nicht. Nur wenn er
schön ist. Und Zigeuner er muss sein!
Muss ein Roma sein!? Wenn er schön
ist und auch klug, dann nimmst du ihn
nicht, wenn er ein Deutscher ist!?
Nein, nehme ich nicht. Ich nehme nur,
wenn er Zigeuner ist!
Warum nicht? Schau mal: Ein deutscher
Junge geht zu seinen Eltern und sagt:
‘Ich mag dieses Mädchen Lorena, aber
sie ist eine Roma.’ Und die Eltern sagen:
‘Ob sie Roma ist oder nicht, ist uns egal,
wenn du glücklich bist!’
Nein, ich heirate nur einen Zigeuner. Ist
Tradition bei uns. Ich mag Tradition!
Mein Sohn hat eine Freundin aus Arizona in Amerika. Ist doch toll! Die Welt ist
groß, und du bist jung!
Nein, ist Tradition bei uns! Ich frage
meine Mutter, und sie sagt: ‘Nein.’ Ich
darf nicht heiraten einen Mann, der kein
Zigeuner ist!
Unglaublich!
Wenn ich heirate einen Mann, der kein
Roma ist, alle Roma schauen mich nicht
auf der Straße. Sie schauen mit Augen
auf den Boden, wenn ich komme.
Na, jetzt mal andersrum. Du siehst
aus wie ein Mädchen aus Deutschland.
Kein Unterschied. Du lernst einen Jungen kennen. Ihr geht aus. Küsschen. Du
magst ihn. Und dann sagt er, dass er
kein Roma ist. Was machst du dann?
Ich frage vorher, ob er Roma ist. Wenn
er kein Roma ist, gehe ich nicht aus mit
ihm!
Nicht zu fassen! Okay, eine Frage noch:
Du sagst mal ‘Roma’, mal ‘Zigeuner’.
Wir Deutschen sollen nicht ‘Zigeuner’
sagen.
‘Zigeuner’ ist gut. Ich bin stolz, dass ich
Zigeunerin bin! Alle Roma sind Zigeuner. Ich weiß nicht, warum nicht.
Vielen Dank für das Gespräch, Lorena.
Es hat Spaß gemacht!
@martinredies
INTERVIEW MIT FRANK KNOTT
Wer ist Frank Knott?
Ich bin 1967 geboren in Limburg an der
Lahn. Bin sehr behütet aufgewachsen.
Internatsausbildung. Ich habe Einzelhandelskaufmann gelernt. Schon vom
Vater her, der auch Kaufmann war. Selbständig, zusammen mit meiner Mutter.
Habe eine ganz normale Ausbildung
gemacht. Danach habe alle möglichen
Artikel im Kaufhaus mit Mikrophon verkauft.
Vertreter?
Nein, nein. Propagandist nennt sich das.
Das habe ich lange Jahre gemacht. 2000
bin ich aus persönlichen Gründen für 5
Jahre nach Antwerpen gegangen und
habe dort gelebt. Ich habe alles dabei
gehabt: Ich war in den teuersten Hotels
und habe auch im Auto geschlafen!
Ende 2005 bin ich zurück nach Deutschland gekommen und habe Christina
kennen gelernt. Wir haben uns ein Reisemobil gekauft und waren fast 2 Jahre
unterwegs. Wir haben Uhren verkauft.
Ich war Deutschlands verrücktester Uhrenhändler - Uhren für € 4,95 mit Batterie! Wir sind in ganz Deutschland von einem Markt zum anderen gefahren. Aber
am Ende lief das Geschäft nicht mehr.
Eine Pleite?
Ja. Dazu kam ein Unfall mit dem Reisemobil. Wir hatten einen Riesenberg
Schulden und kamen einfach nicht mehr
hoch. Und mit irgendwas von € 2,49 sind
wir dann zum Jobcenter gegangen: ‘Bitte helft uns! Wir fliegen aus der Wohnung. In ein paar Tagen stellen sie uns
den Strom ab. Die Krankenversicherung
können wir nicht mehr bezahlen.’ Wir
mussten vom Jobcenter aus das Gewerbe
abmelden.
Ein tiefer Einschnitt Ja, wir waren absolut am Boden. Wir sind
in ein tiefes Loch gefallen. Wir hatten
und haben den normalen Hartz IV-Satz.
Wir kamen mit dem Geld kaum zum Monatsende. Ich habe dann von ‘Bürger für
Bürger’ gehört. Da sind wir dann hin.
Ich war begeistert von dieser Institution.
Dass hat mir direkt gefallen. Ich war erst
als ehrenamtlicher Fahrer dort tätig und
dann lange als Sozialberater.
War der berühmte Ralf Karling also eine
entscheidende Person in deinem Leben?
Ja, er hat mir doch ein bisschen den Lebensmut wieder zurückgegeben. Kann
man schon sagen, dass er mich wieder
aufgebaut hat. Er hat mir das Gefühl gegeben, dass ich gebraucht wurde. Und das
ist ja das: Menschen wollen gebraucht
werden! Durch die Arbeit bei Bürger für
Bürger Duisburg e.V. habe ich mein Lebensmut und mein Selbstvertrauen bzw
Selbstachtung wieder gefunden.
Gab es einen Punkt - einen ganz bestimmten Punkt in deinem Leben, wo du
gesagt hast: ‘Jetzt bin ich sozial tätig.
Kein Uhrenhändler mehr - das ist ab
jetzt mein Leben!’
Kann ich nicht sagen. Ich bin reingewachsen. Also ganz konkret ... habe ich
einen Tweet gelesen: Wir suchen Leute,
die andere Menschen zu den Ämtern begleiten. Und irgendwie war ich dann sofort bei dem jetzigen Verein: ‘Die Mitläufer - Wir gehen mit’ sehr aktiv. Ich habe
den Verein maßgeblich mit aufgebaut.
Pro Tag habe ich bis zu 6 Begleitungen
gemacht. Es gab sogar ein Bericht dazu
in der WAZ über mich.
Eigentlich vom ersten Tag an habe ich
gesehen: Dieses Begleiten nützt allein
nichts. Wir müssen den Leuten viel weiter helfen. Dadurch ist dann die Idee entstanden, dass wir eine Sozialberatung
bei ‘Bürger für Bürger’ machen.
Karling wieder Ja, es hat nur bei die räumlichen Gegebenheiten nicht funktioniert. Ich habe
dann sehr schnell die Christina Worm
- Rechtsanwältin aus Essen - kennen
gelernt, die sich auch sehr stark sozial
engagiert. Wir haben halt gesehen, wie
riesig der Bedarf ist. So ist die Idee zu
‘Mensch ist Mensch e.V.’ entstanden.
Ich hab beim Jobcenter immer Glück gehabt. Also nicht Glück, ich bin ja Verkäufer. So trete ich für mich beim Jobcenter
auf. So trete ich für die Leute auf. Und so
erreicht man bei den Behörden viel.
Du hast also in dem Sinn nicht mit den
Behörden kämpfen müssen?
Nein, die Sachbearbeiter sind Menschen.
Zu ihnen kommen genauso Menschen.
Wenn man vernünftig miteinander umgeht, dann kommt man auch zu vernünftigen Lösungen. Wenn ich ins Internet
gehe - die ganzen Hasser der Jobcenter!
- das ist nicht der richtige Weg! SGB II
ist ein Recht, aber ich kann nicht überzogene Forderungen stellen, und ich muss
vernünftig mit den Sachbearbeitern umgehen! So etwas wie in Neuss und jetzt
in Bad Pyrmont, wo ein Amtspsychologe
getötet wurde, darf es nicht mehr geben!
Haben die Behörden eine Mitschuld?
Ich gebe nicht den Sachbearbeitern eine
Schuld. Wenn man sieht: Ein Sachbearbeiter in der Leistungsabteilung wird
eingestellt, um 150 Fälle zu bearbeiten.
Realität liegt irgendwo zwischen 450 und
500. Es ist einfach zu wenig Personal da.
Ich weiß aus persönlichen Gesprächen die Stimmung bei den Sachbearbeitern
ist katastrophal. Sie kommen mit ihrer
Arbeit nicht nach. Bekommen Druck von
beiden Seiten. Von oben heißt es: Spare
Geld ein! Und von unten verlangen die
Betroffenen, dass sie ihr gutes Recht bekommen.
Dann ein großes Problem: Zeitverträge! In dem Moment, wo sie unbefristet
eingestellt werden müssten, werden sie
entlassen. Das ist ein Wahnsinn! Mitarbeiter, die 2 x 2 Jahre eingearbeitet wurden, werden duch neue Kräfte ersetzt,
die erstmal wieder ein halbes Jahr eingearbeitet werden müssen, bis es halbwegs
funktioniert. Das ist absoluter Schwachsinn!
15
Wo steht der Verein ‘Mensch ist Mensch
e. V.’ Weihnachten 2016?
Ich hoffe erstmal, dass wir noch existieren. Nein, im Ernst, wir haben die Idee
zu diesem Verein irgendwann im Mai
gehabt. Dieses Büro haben wir geöffnet
am 02-07. Wir haben jetzt ein top ausgerüstetes Büro. Durch eine große Spende
haben wir auch ein gutes Auto -
- Moment, ich rede von Weihnachten
2016. Welche Projekte hast du dann
verwirklicht?
Ich hoffe auf so viele Büros, dass wir zumindest Duisburg abdecken können. Nötig werden mindestens vier, wenn du die
Zahl wissen willst. Ich hab die Idee, dass
sich aus unserem Konzept noch andere
Vereine gründen. Unser Konzept ist einmalig simpel und leicht umsetzbar. Ich
hoffe, dass sich andere Ehrenamtler unsere Idee abkupfern und es selber in ihrer
Stadt machen.
Deutschlandweit?
So ein Büro wie unseres wird überall gebraucht, wird in jeder Stadt gebraucht!
@martinredies
BETREUER
UND BETREUTE
Zu den Kunden aus alten ‘Bürger für
Bürger’-Zeiten in Rheinhausen gehört
Ralf. Er kommt schon mal auf einen Kaffee bei Christina vorbei. Dann sitzt er
auf dem Sofa und raucht schwarze Zigarillos. Er ist eine körperlich imposante
Erscheinung. Ich hätte vom Sehen nicht
gedacht, dass er ein Leben mehrfach am
Rande der Gesellschaft führt. Frank hat
ihm in den letzten Tagen helfen müssen,
weil ihm der Strom abgestellt wurde.
So habe ich ein wenig über sein Leben
erfahren und ein Gespräch mit ihm geführt.
Das Interview
Hallo, Ralf. Du willst nicht, dass ich
deinen richtigen Namen nenne. Warum
nicht?
Es ist mein Leben. Ich will nicht, dass
jemand da rein gezogen wird. Wenn ich
Scheiße gebaut habe, dann ist das meine
Scheiße. So denke ich.
Okay, kein Foto, keinen Namen. Du bist
vor einer Woche in unser Büro gekommen. Was war los?
Ja, die Stadtwerke hatten mir den Strom
abgestellt. Ich denk, ich dreh durch. Ich
denk, das gibt’s nich’, als ich morgens
aufgewach’. Ich wusste gleich, dass mein
Betreuer Scheiße gebaut hat! [Frank
16
sagt, dass der Betreuer sich entschuldigt
habe. Die Rechnung sei von ihm nicht
bezahlt worden. Die Ankündigung der
Stromabschaltung eine Woche vorher sei
leider übersehen worden.]
Du zahlst deinen Strom nicht selbst?
Nein, ich bin in Betreuung. Normal seh’
ich keine Rechnung und nichts. Mit mir
spricht keiner. Und ich erreich’ auch niemanden. Meinst du, ich hätte den Typ
nicht angerufen!?
Du bist dann zu uns gekommen.
Ich kenn’ Frank von früher. Von Rheinhausen. Er hat das gleich geregelt mit
den Stadtwerken. [Frank sagt, der Strom
sei sofort wieder angeschaltet worden.]
Mein Betreuer kriegt nichts gebacken.
Und ich hör auch nichts von ihm. Ich
krieg immer nur den Anrufbeantworter.
Hast du eine Ahnung, woran es liegt?
Der Typ nimmt Leute ohne Ende an.
Kriegt für jeden Fall seine Extrakohle! Da kannst du eine Woche auf eine
Sprechstunde warten! Ich meine, der ist
ein Betreuer, kein Arzt oder so. [Frank
erklärt, dass ein Betreuer für 2 Monate
Fallbetreuung € 660,00 erhält.] Is’ ja toll!
Nimmt die Kohle und dann vergisst er,
mir den Strom zu bezahlen!
Wie kam es zu der Betreuung?
Das war, weil ich Depressionen hatte.
Angstzustände. Da war ich zwei Monate
stationär. Danach hab ich mir einen Betreuer gesucht. Der war in Ordnung. Ich
hab Arbeit gekriegt. War ein ganz normales Umfeld.
Dieser Betreuer hat seine Arbeit gemacht?
Ja, der war total in Ordnung. Ich konnte
den anrufen. Der war immer da. In der
Eifel war das. Keine Ahnung, aber ich
glaub, der hatte nicht so viele Fälle damals. War halt ruhiger.
Wie ging es weiter?
Ich kam in Langzeittherapie wegen Alkohol und Drogen. Ich bin dann Frührentner geworden, als ich raus war. Der
Betreuer hat mir wieder geholfen. Der
war immer da. War in Ordnung. Dann
bin ich nach Duisburg gezogen.
Konntest du dir den neuen Betreuer
nicht aussuchen?
Ich war in der Nach-Therapie. Kennst du
das Haus XXX? Da hab ich gewohnt. Und
diese Leute haben mir einen Betreuer
besorgt. Die haben gesagt, der ist total in
Ordnung. Dabei haben sie den Typ egalan-wen empfohlen. Keine Ahnung, was
für einen Deal, die mit dem hatten. Da
lief irgendwas.
Und plötzlich sitzt du in der kalten
Wohnung!?
Nee, Mann, die Heizung lief noch! Strom
war aus: Keine Dusche, Kühlschrank am
Verschimmeln, kein Kaffee!
Verstehe ...
Nichts verstehst du, Mann! Da geh’ ich
lieber in den Knast!
In den Knast?
Ja, Mann. Ich mach ein krummes Ding,
um in den Knast zu kommen. Oder ich
geh’ in die Forensik. Da kannst du wenigstens duschen. Scheiße, ich will duschen, verstehst du. Was Warmes essen.
Ich hab mal ‘ne Tankstelle überfallen.
Ein halbes Jahr duschen und essen.
Ralf, ich dank dir für das Gespräch. Das
ist eine fremde Welt für mich, sag ich
ehrlich.
Weiß keiner, wie das ist!
[Frank sagt, dass er sich um eine neuen
Betreuer kümmern werde. Es sei besser
zu wechseln.]
Der Frank ist okay.
Foto: Jürgen Nießen / www.pixelio.de
Eine Tankstelle überfallen?
Wie damals. Frag den Frank. [Frank
nickt.]
ANKUNFTSGEBIETE –
ORTE DER EINWANDERUNGSGESELLSCHAFT
Seit der gestiegenen Zuwanderung aus
Rumänien und Bulgarien in Zuge des
EU-Beitritts beider Länder 2007 gibt es
zunehmend Berichte aus den Stadtteilen, in die mittellose Neuzuwanderer besonders häufig ziehen. Duisburg-Hochfeld, die Dortmunder Nordstadt oder
der Jungbusch in Mannheim sind solche
Ankunftsgebiete. Die oft als anstrengend oder sogar gefährlich empfundenen Quartiere sind meist besser als ihr
Ruf und erfüllen zugleich eine wichtige
Funktion für unsere Gesellschaft, sie
ermöglichen das Ankommen. Vor rund
40 Jahren waren es die verschiedenen
Gastarbeitergruppen, die dort heimisch
wurden. Heute kommen auch mittellose
Rumänen und Bulgaren, von denen ein
nicht genau zu bestimmender Teil der
sehr heterogenen Minderheit der Roma
angehört, hinzu. Ich möchte Sie einladen diese Gebiete nicht allein als Problemquartiere zu sehen, auch wenn der
Alltag auch Konflikte mit sich bringen
mag, sondern als Chancenräume. Dafür werfen wir einen Blick auf die fünf
hauptsächlichen Eigenschaften von Ankunftsgebieten:
Erstens sind solche Quartiere bereits
vor der heutigen Zuwanderung aus dem
Südosten der EU migrationsgeprägt. Duisburg-Marxloh ist ein solches Beispiel.
Auch dort sind, im Rahmen der Gastarbeiteranwerbung und zum Teil auch bereits davor, Zuwanderer sesshaft geworden. Die lokale Bevölkerung kann besser
mit sozialen Problemen und ethnischer
Diversität umgehen als so mancher Villenvorort, auch weil eigene Migrationserfahrungen bestehen.
Zweitens sind Ankunftsgebiete geprägt
von einer hohen Fluktuation. Denn nicht
alle, die jemals einem Ankunftsgebiet
wohnten, bleiben dort. Es herrscht ein
reges Kommen und Gehen, ein Zeichen
für die Funktion solcher Quartiere. Denn
dort wird, wenn alles gut läuft, ein sozialer Aufstieg erlebt. Wenn nicht selbst,
dann jedoch in der nachkommenden Generation. Mit dem höheren (Bildungs)
Status geht gleichzeitig ein erhöhtes
Einkommen einher und so ist ein Umzug in eine „bessere Adresse“ möglich
(alternativ wird Eigentum erworben). In
der Stadtforschung wird das beschrieben
durch die Umsetzung sozialer Distanz in
räumliche Distanz.
Drittens, und das geht auch mit der
Migrationsgeschichte einher, gibt es eine
länger ansässige Migrantenbevölkerung
vor Ort, die den Neuankömmlingen erste
Unterstützung anbietet, aber leider auch
in kleinen Teilen von der Not profitiert.
Die zahlreichen Medienberichte über
überteuerte Matratzenschlafplätze sind
ein negatives Zeichen solcher Beziehungen, die zahlreichen positiven Geschichten haben bislang leider nicht dasselbe
Medienecho hervorgerufen. Der Vorteil
der „Sockelbevölkerung“ sind Sprachkompetenzen, eigene Migrationserfahrungen und in Teilen auch religiös bedingte Solidarbeziehungen. Manchmal
hilft es auch die Gepflogenheiten im
neuen Land erklärt zu bekommen, wie
die Ladenöffnungszeiten oder was ein
Einwohnermeldeamt ist.
Viertens gibt es in Ankunftsgebieten gehäuft migrationssensible Opportunitäten. Gemeint sind damit Geschäfte und
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Dienstleistungen, die Neuzuwanderer
besonders benötigen. Da Zuwanderung
in der Regel aus wirtschaftlichen Motiven erfolgt, braucht es zum Beispiel die
Möglichkeit, auch ohne Bankkonto, sicher Geld an Familienmitglieder in die
kürzlich verlassene Heimat zu schicken.
Aber auch Internetcafés oder Anbieter
für günstiges internationales Telefonieren sind insbesondere für mittellose
Neuzuwanderer wichtig, um mit den Familienmitgliedern in Kontakt zu bleiben.
Fünftens gibt es dort einen Arbeitsmarkt
für unqualifizierte Arbeitskräfte. Sicher
sind die Arbeiten nicht immer legal und
mit Arbeitsschutzregelungen vereinbar.
Doch wenn im Herkunftsgebiet, zum Beispiel aufgrund von Diskriminierung, die
Aussichten einen Job zu bekommen, mit
dem die eigene Familie ernährt werden
kann, gering sind, wirken auch prekäre
Beschäftigungen auf den ersten Blick attraktiv. Für solche Arbeiten muss weder
ein Ausbildungszeugnis vorliegen noch
muss die deutsche Sprache beherrscht
werden. Allerdings werden solche Hilfsarbeiten oftmals nur als Zwischenlösung
akzeptiert und eher bessere Beschäftigungen gesucht, denn sie bergen auch
das Risiko ausgenutzt zu werden.
gangenen Jahren dazu entwickelt und
die Realität ist manchmal schneller als
die gesellschaftliche Akzeptanz. Zudem
sind unsere Ankunftsgebiete ethnisch
durchmischt. Die Schlüsse, die wir daraus ziehen, dass Stadtteile wie Hochfeld
oder Marxloh Ankunftsgebiete sind, sehen vielfältig aus. Wichtig erscheint erst
einmal, dass wir Ankunftsgebiete als
solche akzeptieren und nicht versuchen
einem sehr unklaren Ideal einer „gesunden Mischung“ überall hinterher zu
eifern. Ohnehin ist die am stärksten segregierte Gruppe die der wohlhabenden
und zumeist deutschen Bevölkerung.
Viel eher sollten die Bemühungen darauf hinauslaufen, wie die Ankunfts- und
Durchlauffunktion solcher Gebiete im
positiven Sinne genutzt werden kann
und sie nicht zu Sackgassen werden.
Dass sich solche Ankunftsgebiete ausbilden, ist nichts Neues und ist in den
USA seit fast 100 Jahren belegt. Monoethnische Quartiere wie China Town
oder Little Sicily sind sogar Touristenattraktionen, wie z.B. in New York oder
Melbourne zu sehen ist. Jedoch sind
dies klassische Einwanderungsländer.
Deutschland hat sich erst in den ver-
Sebastian Kurtenbach
M.A. Sozialwissenschaft
Zentrum für interdisziplinäre Regionalforschung (ZEFIR)
Im Lottental 38
44780 Bochum
[email protected]
HARTZ IV - DIE ANDERE SEITE
Ich begleite nun wirklich viele Menschen
zu den Ämtern, zu den verschiedenen
Jobcentern in Duisburg. So nehme ich
zwangsläufig immer die Perspektive
der Betroffenen ein. Von ihnen aus ist
Hartz IV ein Zwangssystem, gelebte
Aussortierung von Menschen, Runterklassifizierung von Millionen Einzelschicksalen.
Ich weiß nicht, was mich geritten hat,
aber ich fand, dass 10 Jahre Hartz IV
eine gute Gelegenheit wären, mal die
andere Seite darauf anzusprechen.
Vielleicht war es auch der Blick des Mitarbeiters. Jedenfalls war der Termin gut
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verlaufen, und wir - der Mitläufer und
der Mitarbeiter - kamen ins Gespräch.
Eigentlich fing ich an zu reden, über
Hartz IV - also 10 JAHRE Hartz IV. Als
er nur müde abwinkte, und weil ich alles
schon hundertmal gesagt hatte, ließ ich
ihn reden. Nachfolgend ein Protokoll.
So ist das Gespräch gelaufen. Es wurde nicht viel später niedergeschrieben.
Dem Sinn nach ist alles korrekt wiedergegeben.
Das Gespräch
“Ich hab in den ganzen Jahren nicht einen Kunden gehabt, der sich dafür interessiert hat, wie ich mich fühle. Ich, der
auf der anderen Seite vom Schreibtisch
sitzt. Nicht einen Kunden. Nun, ich kann
verstehen, dass die Leute kein großes
Mitgefühl mit uns entwickeln. Die Leute kommen mit echten Sorgen, sie haben
Angst, dass ich ihnen etwas wegnehme.
Für sie bin ich die Macht, die Instanz.
Sicherlich etwas Böses. Mit Sicherheit
etwas Bedrohliches. Was ist ihnen denn
geblieben!? Sie sehen in mir nicht den
Guten - das ist wohl so!”
Ich nicke. Nach meiner Erfahrung ist
genau darum sinnvoll, in Begleitung zu
kommen. Es kommt jemand, der zwischen den Polen Platz nimmt. Ohne viel
zu sagen, ist die Stimmung eine andere.
Und die Situation ist eigentlich sofort
entspannt.
Er schaut kurz zur Decke auf: “Wir kriegen Druck von beiden Seiten. Sie müssen sich vorstellen, dass es von oben nur
darum geht, immer höhere Fallzahlen
abzuwickeln. Und unten - von den Antragstellern her - geht es um die Betreuung. Und wir stecken dazwischen.
Wir machen es den einen nicht gut, und
den anderen auch nicht. Ich kann nur
sagen: Die Stimmung ist richtig mies!
Schauen Sie nicht nur auf die Wartehalle. Logisch, ich wäre auch mies drauf,
wenn ich 2 Stunden auf eine Leistungsauskunft warten müsste! Wäre ich auch
- und werde ich sein, wenn ich wieder
anstehe! Aber die Stimmung ist überall
in diesem Amt mies. Dieses ganze HartzI ist ein Zwangssystem, in dem wir alle
miteinander drinstecken! Und ich sehe
keinen, der damit glücklich ist!”
“Wer weiß denn, dass ich selbst arbeitslos war? Wissen sie es?” sagt er. Ich verneine. In der Tat hielt ich ihn für einen
städtischen Angestellten. Nicht gut gestellt, aber vom 16. bis zum 65. Lebensjahr unkündbar. Lebenslänglich freigestellt von der Leistungsgesellschaft.
“Sehen sie!”, sagt er. “Bevor ich hierher
kam, war ich in der Buchhaltung von
XXX. Na, sie wissen vielleicht, dass wir
vor ein paar Jahren fusioniert sind. Aber
sie wissen vielleicht nicht, dass unsere
gesamte Buchhaltung wegfunsioniert
wurde. Dort habe ich meine Lehre gemacht! Ich war ein halbes Jahr - ein bisschen drüber - in ALG I und wäre unweigerlich in ALG II abgerutscht, wenn ich
nicht diese Stelle bekommen hätte!”
Ich war ehrlich verblüfft: Ein Arbeitsloser als Arbeitsvermittler!? Ob er ein Einzelfall sei, fragte ich.
“Natürlich nicht - zwei meiner ehemaligen Kollegen sehe ich hier jeden Tag.
Arbeitslose mit Büroerfahrung werden
regelmäßig umgeschult. Und wir werden uns Ende des Jahres auf der anderen
Seite des Schreibtisches wiederfinden,
wenn nicht ein Wunder geschieht. Die
Kollegen und ich haben die vier Jahre
nämlich rum - so sieht es aus!”
Von welchen vier Jahren er rede, frage
ich.
“Na, dann fang ich mal besser von vorne
an: Nach der Arbeitslosigkeit haben wir
erst einen Lehrgang gemacht - 3 Monate. Zum Arbeitsvermittler. Reicht nicht
entfernt, aber dem Amt hat es gereicht. 2
Jahre den Job hier, dann 2 Jahre eine Verlängerung. Nach 4 Jahren müssten sie
uns übernehmen. Das tun sie natürlich
nicht. Statt Unkündbarkeit kommt die
Entlassung. Und wieder kommen Neue
in den Lehrgang. Und fangen an, sich
einzuarbeiten.”
Das sei doch völlig unökonomisch. Es
brauche doch Zeit, bis jemand eingearbeitet sei.
“Es braucht sicherlich ein Jahr. Mit einer
gewissen Vorbildung kann sich der Mitarbeiter danach vernünftig um die Menschen kümmern.” Er lacht bitter. “Wenn
es denn um Menschen ginge. Und nicht
um Fallquoten, die zu erfüllen seien.
Es weiß niemand, der das Amt nur von
außen sieht. Es ist aber so: Offiziell hat
jeder von uns 150 Fälle zu bearbeiten.
Offiziell! Da aber 1/3 der Mitarbeiter
krank geschrieben sind, 1/3 in Fortbildung ist, kommen auf jeden Mitarbeiter
das Dreifache an Fällen. Also 450 pro
Schreibtisch.” Er zeigt mit der Hand einen unsichtbaren Stapel, der sich auf
dem Schreibtisch vor ihm auftürmt.
Warum er das so mitmache, frage ich.
Mir sei aufgefallen, wie schlecht die Abläufe organisiert seien, sage ich. Wie
lang die Wartezeiten seien, dass die Daten nicht zusammengeführt würden,
dass die Anträge unnötig kompliziert
seien. Alles sei Handarbeit und endlose Warterei. Die Ämter seien - so mein
Eindruck - nicht in unserer Zeit angekommen. Jedenfalls nicht die Ämter in
Duisburg ...
“Da kommt auch nichts. Vergiss es!” sagt
er und ist bei einem freundlichen ‘Du’
angekommen. “Das ‘Hartz IV’ ist wie die
Stadt. Und Duisburg ist runtergewirtschaftet. Schuldenspirale, eher ein Abgrund von Schulden. Nur das Land und
der Bund könnten Mittel freigeben. Tun
sie aber nicht. Das Land ist pleite, und
der Bund spart. Das Amt hier in Duisburg ist 20 Jahre hinter einer modernen
Verwaltung zurück. Und es wird auch so
bleiben.”
Er steht auf und reicht mir die Hand.
“Der nächster Fall wartet”, sagt er entschuldigend.
Er lächelt bitter: “Wir sehen uns Ende
des Jahres auf der anderen Seite.”
Frank Knott
Dank an @martinredies, der mir beim
Verfassen des Artikels geholfen hat.
Bernd Kasper/www.pixelio.de
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EIN ROMAMÄRCHEN,
EINE ZIGEUNERPOESIE
Die drei Schwestern
Es ist sehr lange her, länger, als du dir
vorstellen kannst, da gab es drei Schwestern, die einander sehr zugetan waren.
Die Älteste war sehr schön und liebte es
zu singen und zu tanzen. Die Mittlere
war eine wunderbare Köchin. Die Jüngste aber war hässlich. Sie konnte nicht
singen oder tanzen. Und kochen konnte sie überhaupt nicht. Sie wäre gern so
schön gewesen wie ihre älteste Schwester und hätte so gern Topf für Topf der
leckersten Gerichte gekocht wie ihre
mittlere Schwester.
Hallo, Ramira. Wie heißt deine Freundin?
Sie ist Alexandra.
Mögt ihr Märchen?
Was ist ‘Märchen’?
Es ist eine Geschichte, eine Poesie mit
Hexen, Zauberern und natürlich Prinzessinnen. [Ich google den beiden die
Bilder.]
Wir mögen Prinzessinnen!
Die Roma haben viele Märchen. Die
Mütter erzählen sie, und die Großmütter haben sie von ihren Müttern gehört.
Kann ich dein Handy zum Spielen haben?
Später. Willst du ein Märchen hören?
Ja, kennst du ein Märchen?
Nein, ich weiß nur deutsche Märchen.
Aber ich kenne eine Frau in Amerika.
Sie heißt Qristina und ist eine Roma wie
du. Weil sie so weit fortgegangen ist Amerika ist sehr weit weg - hat sie alle
Märchen mitgenommen.
In einem Koffer?
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Nein, in ihrem Kopf. Alle Märchen, die
sie jemals gehört hat!
Sie ist in Amerika. Da kann sie uns kein
Märchen erzählen.
Sie schickt mir eine Mail. [Ramira überlegt.] Das ist wie Facebook. [Ramira
nickt. Ihre Brüder haben Facebook.]
Wann kommt das Märchen mit Facebook?
Ich frage diese Frau.
Kann ich jetzt dein Handy haben?
Wie ein Wunder so schnell hat Qristina
geantwortet. Sie schreibt: “Ich will Ramira sehr gerne ein Märchen erzählen.
Ich habe es niedergeschrieben, wie es
mir meine Tante Bibi Lemija vor langer
Zeit erzählt hat. Ich hoffe, ich habe alles
richtig im Gedächtnis behalten. Und ich
hoffe, Ramira mag sie.”
Eines Tages liefen die Leute am Eingang
des Dorfes zusammen. Die Familien eilten aus ihren Häusern, ließen die Töpfe
und Pfannen fallen und machten ihre Arbeit fertig, so schnell sie konnten. Keiner
von ihnen konnte seinen Augen glauben,
als sie vor sich einen sehr stattlichen, einen SEHR stattlichen Prinzen sahen, auf
seinem sehr, SEHR stattlichen Pferd.
Unsicher räusperte er sich , strich sein
feines blaues Kleid glatt und sagte
schließlich:
“Ich bin hierher gekommen, weil mein
treuer Diener mir berichtet hat, dass unter euch das schönste Mädchen der Welt
lebt. Und ich will, dass sie meine Frau
wird. Ich frage wieder in sieben Tagen.
Schickt mir von euch das schönste Mädchen, aber wählt klug.”
Die Roma des Dorfes sahen einander
an, die Münder standen ihnen offen. Sie
konnten nicht glauben, was er gesagt
hatte. Sie bemerkten nicht einmal, wie
der Prinzen den Berg wieder hinunter
ritt.
Mit einem Mal sprach eine liebliche Stimme: “Gut, ihr wisst alle, wer das schönste
Mädchen hier ist!” Natürlich war es Luli,
die älteste Schwester. Sie stand im Kreis
der Leute und strich über ihre langen
geflochtenen Haare. Sie strich über ihre
bunten Kleider und lächelte jeden von
ihnen an. “Ich bin so schön - schöner
noch als der Mond!” rief sie.
Jedermann nickte. “Ja, Luli! Du bist
wahrhaft schön. Du sollst mit dem Prinzen gehen!”
Die mittlere Schwester, Maudlina, begann zu weinen. Sie wollte nicht, dass
ihre älteste Schwester ausgewählt wurde.
“Mich solltet ihr wählen!” rief sie. “Ich
mag ein wenig dicklich sein und nicht so
schön, aber niemand kann wie ich kochen, sauber machen und nähen im ganzen Dorf!”
Als sie gesprochen hatte, zeigte sie auf
all die schönen Kleider, die sie genäht
hatte, auf all die Bäuche, die dick geworden waren von ihrem guten Essen. Die
Leute vom Dorf sahen einander an.
“Recht hast du, Maudlina. Gäbe es eine
bessere Wahl für den Prinzen als dich?”
Nun war es an der jüngsten Tochter, hervorzutreten.
“Nicht Maudlina solltet ihr schicken”,
rief sie. “Mich solltet ihr schicken!”
Daraufhin lachten die Leute. Manche
hatten Tränen in den Augen, so mussten
sie lachen.
“Dich schicken?” Sie prusteten. “Dich?
Warum sollten wir dich schicken?”, fragten sie. “Du bist so hässlich und so unnütz, dass der Prinz verärgert sein wird
und dich zurückschickt!”
“Meine Schwester Luli ist sehr schön”,
rief Kali, die dritte der Schwestern. “Sie
ist die Schönste im Dorf. Aber wenn ihr
sie fortschickt, werden eure Kinder alle
so hässlich sein wie ich. Maudlina ist
nicht sehr schön, aber wenn ihr sie fortschickt - wer wird sich hier nützlich machen. Wer wird die Kleider flicken. Wer
wird euer Essen kochen? Ich bin hässlich und kann nichts. Niemand bemerkt
mich, niemand wird mich vermissen,
nicht mal mein eigener Vater.”
Daraufhin begannen die Roma zu überlegen. Einige schlugen vor, dass Luli
gehen solle, andere waren für Kali. Sie
redeten und redeten, bis es dunkel geworden war und sie kein Feuer und kein
Essen gemacht hatten.
“Savorre! Everyone!” rief Baba Jesenja,
die älteste und klügste Frau des Dorfes.
“Da ihr euch nicht entscheiden könnt,
sollten wir den Prinzen in sieben Tagen
fragen!” Und so beschlossen sie, dass
jede der Schwestern für eine Woche mit
ihm gehen solle. Und nach einem Monat
solle der Prinz selbst entscheiden, welche der Schwestern er zur Frau nehmen
wolle.
Jeden Tag pflegte sich Luli, die älteste
Schwester. Sie brachte Stunden vor dem
zerbrochenen Spiegel ihrer Tante zu. Sie
cremte ihre Haut und bürstete ihr Haar,
den ganzen Tag. Die mittlere Schwester,
Maudlina, kochte wunderbare Gerichte und fertigte die schönsten Kleider
für den Prinzen. Sie verbrauchte das
Fleisch, die ganzen Lebensmittel und
die Stoffvorräte, die das Dorf besaß. So
war nichts übrig für die Festtage und die
kommenden Wintermonate.
Was tat Kali? Nun, da sie nicht schön
war, warf sie nicht einmal einen Blick
in den Spiegel. Und da sie weder kochen
noch nähen konnte, machte sie auch keine Gerichte und Kleider für den Prinzen.
Sie sah aber, dass die Schwestern ihre
Pflichten vergessen hatte. So tanzte und
sang sie für die Älteren, auch wenn sie
dabei stolperte und ihre Stimme piepsig
und peinlich war. Sie kochte und gab Essen aus. Sie bemühte sich die Löcher zu
flicken in den Hemden der Männer und
in den Kleidern der Frauen.
Nach sieben Tagen kehrte der Prinz zurück, wie versprochen.
“Habt ihr eine Frau für mich ausgesucht?” fragte er in den Kreis der Dorfleute. Baba Jesenja schlürfte nach vorne.
“Herr Prinz, ihnen zu Gefallen sind wir
zu einer Entscheidung gekommen!” Viele Leute ermunterten sie, während sie
sprach. Sie klatschten in die Hände.
“Gut, Mutterchen, teile mir die Entscheidung mit. Ich bin ungeduldig meine Frau
zu treffen!” Während die alte Frau ihm
die Entscheidung des Dorfes erklärte, begann er sich zu ärgern. Dann aber lachte
er. “So werde ich also drei Wochen mit
drei verschiedenen Frauen zubringen?”,
fragte er. “Ich bin durch mein ganzes Königreich gereist und zum Schluss komme
ich zu euch, um mir eine Frau zu suchen,
und ihr gebt mir drei! Zeigt mir die Frauen!”
Als erste trat Luli nach vorne. Ihr Gesicht
war glatt und schön. Ihr schwarzes Haar
fiel ihr wie ein Fluß der Rücken herunter.
Der Prinz war stumm vor Erstaunen und
verbeugte sich tief.
Als Maudlina vor trat, warf der Prinz der
Baba Jesenja einen verwunderten Blick
zu. Als aber Maudlina ihm ihre wunderbaren Gerichte und Kleider darbot, verbeugte sich der Prinz auch vor ihr.
Als aber Kali vor trat, stand dem Prinz
der Mund offen, so überrascht war er.
Dann begann er zu lachen: “Also, Großmutter, sogar du bist schöner als dieses
schwarze Etwas. Bist du sicher, dass es
keine anderen Frauen gibt?”
Baba Jesenja schüttelte den Kopf. Der
Prinz schaute auf den Boden statt sich
zu verbeugen. Es wurde schnell entschieden, dass Luli den Prinzen zuerst
besuchen solle. Als die beiden das Dorf
verließen, waren alle aufgeregt.
Nach einer Woche kehrte der Prinz mit
Luli zurück. Obwohl sein Pferd immer
noch sehr, SEHR stattlich war, sah er
müde aus, zerzaust und eingefallen.
“Was ist falsch gelaufen?” fragte Balo,
der Vater der drei Schwestern, in Sorge.
“Gefällt sie dir nicht?”
“Dieses Mädchen ist von keinem Nutzen!” Der Prinz spuckte auf den Boden.
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Der Prinz lachte. “Lass dir gesagt sein,
Balo, warum ich deine anderen Töchter
nicht wollte. Luli ist eitel und verbringt
die meiste Zeit damit, sich selbst zu betrachten. Sie tanzt und singt, damit andere ihr sagen, wie schön sie ist. Auch
Maudlina ist hübsch genug, aber sie ist
voller Eigennutz. Sie kocht und näht, um
andere für sich einzunehmen.”
Während er sprach, weinten die beiden
Schwestern. “Eure Tocher Kali aber”,
fuhr er fort, “unternimmt alles, um anderen zu helfen. Obwohl sie nicht tanzen kann, schritt sie und drehte sie sich
für meine alte Mutter. Obwohl sie nicht
singen kann, brachte sie den Kindern
meiner Schwestern Heldenlieder bei.
Und obwohl sie nicht kochen und nähen
kann, half sie aus, ohne dass sie gefragt
wurde.”
“Sie kann nicht kochen, sie kann nicht
nähen. Sie kann nichts als trällern wie
ein Vogel und sich um sich selbst drehen. Ich gebe sie gerne zurück. Vielleicht
findet sich jemand, der ihr zeigt, wie sie
sich nützlich machen kann.”
Und so nahm sich der Prinz Maudlina
und ritt davon in einer Wolke aus Staub.
Wieder vergingen sieben Tage und wieder kehrte der Prinz zurück. Diesmal
stand sein Kleid am Bauch offen und sein
Gesicht war rundlich geworden.
Und wieder kam Balo und fragte: “Woran
fehlte es dieses Mal, mein Herr?”
“Warum sind deine Töchter so eigennützig?” verlangte der Prinz zu wissen. “Sie
kochte unsere knappen Lebensmittel auf
und ließ nichts übrig für die kommenden Jahreszeiten. Sie brauchte all meine Stoffe auf, um neue Kleider für sich
selbst und ihre neuen Vorhänge im Palast zu nähen. Nun bin ich fett und habe
keinen Stoff für neue Kleider.”
Als er die traurig ausschauende Maudlina vom Pferd stieß, begann sie zu weinen.
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“Tut mir leid, aber du kannst nicht meinen Frau werden”, sagte er. “Ich weiß,
dass es dich traurig macht.”
“Nein!”, schrie sie. “Ich bin nicht traurig,
weil du mich nicht heiratest, sondern
weil meine schönes neues Kleid nach
Pferd riecht und voller Schmutz ist!” Mit
diesen Worten stampfte sie ärgerlich davon.
Nun nahm der Prinz Kali auf und ritt
schnell wieder davon.
Das Dorf wartete. Es wurde erwartet,
dass der Prinz zurückkommen würde,
noch aufgebrachter und ärgerlicher als
zuvor. Jeder wusste, dass Kali hässlich
war und nutzlos.
Als der Prinz nach sieben Tagen aber in
das Dorf ritt, strahlte er vor Stolz und
Glück.
“Seht meine neue Braut!”, rief er und
zeigte auf Kali.
Balo konnte es nicht glauben. “Warte,
warte. Lügst du mich an? Wie kannst du
diese hässliche, nutzlose Hexe wählen
und meine wunderschöne Tochter und
meine übernützliche Tochter zurückschicken?”
Balo war sprachlos. Im ganzen Dorf ließen sie beschämt die Köpfe hängen, weil
sie geglaubt hatten, dass nur Luli schön,
und nur Maudlina nützlich war. An Kali
hatten sie nur bemerkt, welche Dinge sie
nicht konnte. Nun aber saß sie bei einem
sehr, SEHR stattlicher Prinz auf, der auf
einem sehr, SEHR stattlichen Pferd geritten kam. Und sie sah sehr, SEHR schön
aus. Ihre Haut war glatt und weich, ihre
Kleider waren wunderbar genäht. Da
wussten alle Männer und Frauen mit einem Mal, dass Kali schön war, weil sie
ein gute Herz hatte.
Aber bevor sie sich bei ihr entschuldigen
konnten, war der Prinz bereits aus dem
Dorf geritten. Sofort gingen Luli und
Maudlina los, um die alte Frau zu suchen. Sehr ärgerlich, dass sie allen drei
Schwester eine gleiche Möglichkeit vor
dem Prinzen gegeben hatte; ärgerlich,
dass ihre hässliche, nutzlose Schwester nun eine wunderschöne Prinzessin
war. Jede von ihnen dachte, dass sie die
Richtige gewesen wäre. Als sie aber an
Baba Jesenjas Haus kamen, fanden sie es
leer. Nichts war von ihr geblieben als ein
Häuflein goldener Federn und ein einzelner goldener Zahn.
Foto Prinz: Dieter Schütz/
www.pixelio.de
DIE REALITÄT DER GELEBTEN
AUSLÄNDERFREUNDLICHKEIT
„Die Ausländer bekommen im Gegensatz zu den Deutschen
Alles“. „Armutseinwanderer sind Flüchtlinge zweiter Klasse
und wollen nur unser Geld“. Solche Sätze bekomme ich häufig
zu hören.
Zunächst möchte ich festhalten, dass ich jeden verstehen
kann, der aus Armut flüchtet. Wenn meine Kinder verhungern, gehe ich auch dorthin, wo ich mir ein besseres Leben
erhoffe.
Die Realität sieht dann leider häufig anders aus: Ausgrenzung ist das, was den Roma am häufigsten entgegenschlägt.
Ich möchte hier erläutern, wie die Kommunen mit den eingewanderten Roma umgehen. Wobei der Umgang inzwischen
nicht nur Roma betrifft, sondern auch Rumänen und Bulgaren, da hier kein Unterschied zwischen den Bevölkerungsgruppen durch die Kommunen mehr gemacht wird.
Die Jobcenter sollen das Existenzminimum sichern. Das der
Regelsatz zu niedrig ist, ist Tatsache, soll aber hier nicht weiter
erörtert werden. Nach dem Urteil des Bundessozialgerichts ist
klar, das Ausländer nicht von vornherein einen Anspruch auf
ALG 2 haben. Ohne Arbeitsstelle gibt es keine Hilfe. Ab wann
der Arbeitnehmerstatus genau gegeben ist, wurde nicht festgestellt. Es reicht allerdings ein 450 EUR Vertrag aus.
Viele Verträge werden allerdings oft unter fadenscheinigen
Gründen zunächst angezweifelt. Die Roma bekommen weiterhin kein Geld und müssen um ihr Recht kämpfen. Das wiederum fällt schwer ohne große Kenntnisse der Sprache und ohne
Geld. Wird ALG 2 abgelehnt, wird die Ablehnung sofort dem
Ordnungsamt gemeldet. Dies führt postwendend zur Ausreiseverfügung. Daher wird zunächst versucht, den Kindergeldanspruch geltend zu machen.
Auch bei der Familienkasse wird oft versucht, die Roma von
den Leistungen fern zu halten. Ohne gesetzliche Grundlage
werden vor Zahlung des Kindergeldes Mitverträge, Nachweise
über Stromzahlungen, Nachweise über Einkommen, Kinderarzt- und Kindergartenbescheinigungen gefordert. Man beachte, dass es in Deutschland keine Kindergartenpflicht gibt.
Allein hieran sieht man den Unsinn dieser Nachweise. Die
Nachweise werden übrigens nicht von Deutschen verlangt.
Auch das Gewerbeamt verlangt teilweise Nachweise, die die
Deutschen nicht einreichen müssen. So wird bei Roma nach
den Auftraggebern oder dem Vorhandensein eines Autos gefragt.
So verständlich die Zurückhaltung bei den Zahlungen ist:
Die Behörden handeln hier oftmals außerhalb der rechtlichen
Grenzen. Natürlich gibt es Missbrauch. Dies ist allerdings keine Besonderheit die auf der Herkunft beruht. Lügner und Betrüger gibt es in jeder Bevölkerungsgruppe, auch unter Deutschen. Bei der Vorgehensweise der Behörden bekommt man
allerdings den Eindruck, dass es hier um einen Generalverdacht handelt. Eine Einzelfallbetrachtung findet ohne rechtliche Hilfe nicht statt.
Wenn hier Jemand versucht sich ein redliches Leben aufzubauen, sei es Bulgare, Rumäne, Italiener, Spanier oder Roma, so
sind wir in der Verpflichtung zu helfen.
So lange jedenfalls selbst die staatlichen Organe derart agieren, brauchen wir uns über PEGIDA und Co. nicht zu wundern.
23
WER SIND WIR?
Was können Sie tun?
Seit Eröffnung des Büros werden wir
praktisch überrannt. Derzeit wenden
sich pro Woche 120 bis 150 hilfesuchende Menschen mit ihren Problemen an
uns.
Wir benötigen dringend ehrenamtliche
Helfer.
Wir benötigen hilfsbereite Menschen,
die bereit sind, Beistandsuchende zu den
Ämtern zu begleiten.
Auch wenn das Büro von einem in Duisburg ansässigen Unternehmer gratis zur
Verfügung gestellt wird, auch wenn alle
Helfer rein ehrenamtlich helfen, benötigen wir finanzielle Mittel.
Wir sind eine Gruppe von Menschen, die
sich zu dem Verein - Mensch ist Mensch
e.V. - zusammengeschlossen haben. Die
Gründungsmitglieder kommen aus allen
Bevölkerungsschichten. Dabei sind unter anderem eine Landtagsabgeordnete,
ein Berufssoldat, eine Rechtsanwältin
neben selbständigen Unternehmern und
ALG2-Beziehern.
Seit dem 07.07.2014 befindet sich unser
Büro in Duisburg-Hochfeld - Hochfeldstr. 34.
Was wollen wir?
Wir helfen Menschen, die Probleme haben.
Zu uns kommen:
▪▪ Menschen, die Probleme mit den
verschiedenen Ämtern haben wie
z.B. Jobcenter, Ausländeramt, Sozialamt und Jugendamt,
▪▪ Menschen, die Probleme mit ihren
Vermietern oder Energieversorgern
haben,
▪▪ Menschen, die Probleme mit Rechnungen und Gläubigern haben,
▪▪ Menschen, die Probleme mit der
Staatsanwaltschaft haben,
▪▪ Menschen mit Suchtproblemen,
Menschen mit psychologischen
Problemen.
Was leisten wir?
▪▪ Wir verstehen uns als “Erste Hilfe”
und “Feuerwehr”!
▪▪ Wir versuchen den Zugang zur
unserer Hilfe so niederschwellig wie
möglich zu gestalten. Während der
Büro-Öffnungszeiten kann jeder
Mensch frei zu uns kommen. Dolmetscher für Romanes, Rumänisch,
Bulgarisch, Türkisch sind entweder
vor Ort oder können via Telefon hinzugezogen werden.
▪▪ Wir haben ständig jemanden vor Ort,
der mit den Betroffenen Anträge ausfüllt und Briefe formuliert.
▪▪ Wir arbeiten mit Rechtsanwälten
zusammen, die zum Beispiel für die
hilfesuchenden Menschen gratis
Rechtsberatung anbieten, und da,
wo es nötig ist, die Mandantschaft
übernehmen.
▪▪ Durch den Kontakt zu anderen Organisationen, Vereinen, Ämtern oder
Ärzten, durch eine starke Präsenz in
den verschiedenen sozialen Medien
wie Facebook und Twitter gelingt es
uns fast immer, für den Betroffenen
schnell Hilfe zu organisieren.
▪▪ Wo es nötig ist, begleiten wir die
Menschen zu den Ämtern.
▪▪ Unsere Hilfe ist für die Betroffenen
immer kostenfrei!
Dafür haben wir ein Spendenkonto eingerichtet:
Mensch ist Mensch e.V.
Volksbank Rhein-Ruhr eG
Iban : DE06350603861260770006
Bic: GENODED1VRR
Sie können auch via PAYPAL oder Betterplace.org an uns spenden. Benutzen
Sie dafür die Symbole auf unserer Webseite: www.menschistmensch.de.
Wir sind beim Finanzamt Duisburg als
mildtätig anerkannt und können über
jede Zuwendung eine absetzbare Spendenquittung ausstellen.
Jeder Euro, den Sie erübrigen können,
hilft uns ein offensichtlich dringend
notwendiges Projekt zum Erhalt des sozialen Friedens in unserer Stadt anbieten
zu können.
Daher unser dringender Appell an Sie:
Unterstützen Sie uns und damit die
Schwächsten in unser Gesellschaft.
Frank Knott
1. Vorsitzender Verein Mensch ist
Mensch e.V..