Häuser heizen ohne dicke Mauern

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Tages-Anzeiger – Samstag, 28. März 2015
Wissen
Häuser heizen ohne dicke Mauern
Mit dem ETH-Gebäudesystem 2SOL sollen neue Massstäbe für die Energiewende gesetzt werden. Nach kurzer Entwicklungszeit
ist es bereits markreif. Häuser dämmen ist nicht mehr der alleinige Schlüssel, um Energie und Emissionen zu sparen.
Damals, vor drei Jahren, war vieles noch
in Entwicklung. Doch Hansjürg Leibundgut war von seinem System überzeugt. Fast trotzig sagte er an die Adresse
der Skeptiker: Er müsse nicht mehr beweisen, dass sein System funktioniere,
sondern nur die Industrie davon überzeugen. Das tat er im Eilzugtempo. Im
November 2013 wurde die Allianz 2SOL
gegründet, der zwölf führende Schweizer Firmen angehören. Darunter der
weltweit tätige Solarzulieferer MeyerBurger, die Schweizer Wärmepumpenfirma CTA und das grosse Schweizer Immobilienunternehmen Halter. Das ETHEnergiesystem verfüge über Marktchancen, liess die Firmenallianz verlauten.
Es sei für die Energiewende bedeutend,
sagte damals Patrick Hofer-Noser, der
Präsident der Allianz
Das System wurde inzwischen in
zahlreichen Dissertationen und Diplomarbeiten untersucht und verbessert.
Verschiedene Entwicklungen wurden
patentiert. Die Hybridkollektoren zum
Beispiel sind inzwischen im Vergleich
zur ersten Generation auf dem Dach von
B35 effizienter geworden. «Das Gesamtsystem wurde etwa 20 Prozent billiger»,
sagt ETH-Ingenieur Leibundgut. Die Investitionskosten der technischen Kom-
ponenten sind zwar laut Leibundgut höher als bei herkömmlichen Heizungssystemen, doch wenn die Energie aus Tiefen bis zu 500 Metern gewonnen wird,
so spendet der Untergrund auch in den
kältesten Tagen über 15 Grad Celsius
Wärme. Mit einer effizienten Turbowärmepumpe können gemäss Leibundgut
Gebäude mit minimalem Stromverbrauch geheizt werden.
Ökonomisch ist für den Erfinder des
Systems jedoch vor allem die Lebensdauer der Systemteile: Die wichtigsten
Komponenten seien nahezu unverwüstlich, sie würden theoretisch mehrere
Generationen halten, seien es die Erdsonden, die Wärmepumpe oder die Hybridkollektoren. Kaum teurer als herkömmliche Systeme wird es laut Leibundgut, wenn sich mehrere Eigentümer
dazu entschliessen, ihre Liegenschaften
mit einem gemeinsamen Erdspeicher zu
sanieren. Das ETH-Gebäudesystem soll
nicht über Subventionen auf den Markt
gebracht werden.
Heizungen in Gebäuden produzieren
laut Bundesamt für Umwelt gut 40 Prozent der CO2-Emissionen in der Schweiz.
1,5 Millionen Häuser müssen in den
kommenden 40 Jahren saniert werden,
soll das politische Ziel erreicht werden,
die Schweiz ins postfossile Zeitalter zu
führen. Für den Gebäudetechniker
dreht sich die Diskussion zu viel um
Energie, zu wenig um Emissionen. Und
Leibundgut ist ein hartnäckiger Zeitgenosse. Er lobbyiert seit Jahren gegen die
scheinbar unverrückbare Maxime der
kantonalen Bauverwaltungen: Häuser
dämmen und Energie sparen, der bisher
gängige Weg beim Bauen und Sanieren,
um die Werte der Minergiestandards zu
erreichen. Den Fokus auf Fassadendämmung zu legen, ist für ihn zu kurzsichtig
und zu kostspielig.
Kommt hinzu, dass künftig in der
Schweiz mit einem verstärkten Bau von
Erdsonden zu rechnen ist. Solche Systeme sind laut Leibundgut nur sinnvoll,
wenn dem Boden nicht mehr Wärme
entzogen wird, als hineingeführt wurde.
Bereits gibt es Beispiele, bei denen das
nicht der Fall war. Etwa in einem Haus
in Zumikon, Baujahr 1955. Der Untergrund kühlte nach zehn Jahren derart
ab, dass die Erdsonden im Winter in vereisten Böden steckten.
Das ist beim ETH-Ernte-Prinzip nicht
möglich. Seit vier Jahren funktioniert
Leibundguts Haus an der Bolleystrasse
nach dem 2SOL-Konzept. Auch das ETHBürogebäude auf dem Hönggerberg,
Baujahr 1972, liefert die gewünschten
Resultate. Trotzdem muss sich das neue
System erst etablieren. Kinderkrankheiten gehören zu jeder Innovation. Das
zeigte sich zum Beispiel bei den Bohrungen für die erstmals verlegten PolyesterTiefenerdsonden im Zürcher Quartier
Witikon, wo das erste 2SOL-Mehrfamilienhaus steht. Weitere Projekte sind unter anderem im Kanton Zürich geplant.
Eben hat die aargauische Regierung den
Projektierungskredit genehmigt, um das
alte Zeughaus in Aarau nach dem 2SOLPrinzip zu sanieren. Auch der Bund ist
offen gegenüber neuen Optionen: Sollten Alternativen zu den Technologien
Hybridkollektoren
Effizient Wärme «ernten»
Koaxial-Erdwärmesonde
Aufrollbar und elastisch
Turbo-Wärmepumpe
Weniger Stromverbrauch
Die Kombination von Fotovoltaik mit Solarkollektoren ist hocheffizient. Ein FotovoltaikModul wandelt nur etwa 15 bis 20 Prozent in
elektrischen Strom um. Der Rest verpufft als
Wärme. Einen grossen Teil der Wärmeenergie
«ernten» nun die Solarkollektoren. Sie wird
über einen Wasserkreislauf in den Erdspeicher geleitet, der die Wärme im Winter zum
Heizen und für Warmwasser wieder abgibt.
Das Gesamtsystem speichert mindestens so
viel Wärme im Untergrund, wie das Gebäude
für das Heizsystem braucht. So kühlt der
Boden nicht aus. Das Besondere: Die HybridKollektoren sind heute Teil des Daches,
was die Investitionskosten für das gesamte
Gebäudesystem reduziert. Die Einheit –
Fotovoltaik, Kollektor, Dämmung und
Tragstruktur – lässt sich auf jedes Dach
montieren. Hybrid-Kollektoren wurden in
den letzten Jahren weiterentwickelt. Dabei
konnten die Kosten deutlich gesenkt werden.
Vorne dabei ist das Produkt des Schweizer
Solarunternehmens Meyer-Burger. (ml)
Es ist heute üblich, Erdwärmesonden bis
etwa 300 Meter Tiefe zu verlegen. Je tiefer
die Wärme im Untergrund gewonnen wird,
desto effizienter ist der Wärmepumpenbetrieb. Das 2SOL-System funktioniert mit
sogenannten Koaxial-Erdwärmesonden,
die vorzugsweise bis in eine Tiefe von
500 Metern reichen. Der Vorteil ist, dass der
Wärmeträger Wasser in zwei thermisch
getrennten Röhren nach unten bzw. nach
oben fliesst. Das steigert die Energieeffizienz.
Neu und besonders ist: Die aus Polyesterzwirn hergestellte Sonde lässt sich aufrollen
und ohne Hinterfüllung installieren. Denn
durch den Überdruck des Wassers wird das
elastische Rohrmaterial direkt an die Bohrlochwand gepresst. Dank diesem Prinzip sind
diese Sonden kostengünstiger als herkömmliche. Eine Erdwärmesonde bewirtschaftet
den Erdreichzylinder von 6 Meter Durchmesser. Die «geerntete» Energiemenge beträgt
50 000 Kilowattstunden, was dem Brennwert
von 5000 Liter Heizöl entspricht. (ml)
Noch gibt es erst einen Prototyp der TurboWärmepumpe, der mit einem Gaslager
funktioniert. Der Erdspeicher liefert Wärme
auch am kältesten Tag des Jahres um 15 Grad
Celsius. Die sogenannte Niederhub-Wärmepumpe produziert zusätzlich Energie, um das
Heizwasser auf 28 bis 35 Grad zu erwärmen.
Die Wärmepumpe wurde an der Hochschule
Luzern in Zusammenarbeit mit der Entwicklungsfirma BS2 entwickelt, aufgebaut und
getestet. Optimiert im Gebäude-Gesamtsystem 2SOL kann sie eine Leistungszahl von 10
erreichen. Das heisst: Mit einer Kilowattstunde Strom können 10 Kilowattstunden
Nutzwärme produziert werden. Die Stromeinsparung im Vergleich zu gängigen Geräten
beträgt laut Allianz 2SOL 30 bis 50 Prozent.
Die erste Testserie soll im nächsten Jahr
bereitstehen. Aktuelle Wärmepumpen weisen
lediglich eine Leistungszahl von 4 bis 5 aus.
Abgestimmt auf das 2SOL-System soll laut
Fachleuten eine Steigerung auf eine Leistung
7 möglich sein. (ml)
Martin Läubli
Das Tempo empfindet er selbst als «unheimlich». Vor drei Jahren sprach Hansjürg Leibundgut noch von Experimentieren. Der emeritierte Professor für Gebäudetechnik an der ETH Zürich hatte
sein Mehrfamilienhaus an der Bolleystrasse 35 im Zürcher Hochschulquartier aufwendig und kostspielig saniert und zum «Labor B35» gemacht.
Seither testen und optimieren ETH-Ingenieure und -Studenten sein Energiekonzept. Und nun soll in den nächsten Wochen das System 2SOL der Öffentlichkeit
vorgestellt werden. «Das System ist
marktreif», sagt Leibundgut und ergänzt: Ohne sein Forschungsteam und
das Netzwerk der Industrie wäre dies in
so kurzer Zeit nicht möglich gewesen.
Das Prinzip des Systems ist im
Grunde einfach und nicht neu: Im Sommer wird Wärme für die Nutzung im
Winter geerntet und im Boden gespeichert. Das Besondere ist jedoch das Gesamtsystem, das laut Leibundgut selbst
am kältesten Tag im Jahr genügend
Energie ohne CO2-Emissionen aus dem
Erdspeicher bereitstellt – vorausgesetzt,
der Winterstrom stammt aus einer erneuerbaren Quelle.
Hybridkollektoren auf dem Dach und
ein Kühlungssystem im Haus «ernten»
im Sommerhalbjahr Wärme, die über
Erdsonden tief unter dem Gebäude gespeichert wird. Eine effiziente Wärmepumpe, das Herz des Systems, stellt die
Wärme für Warmwasser und zum Heizen in der kalten Jahreszeit wieder bereit. Das Ganze funktioniert ohne jene
starke Fassadendämmung, die in den
Baudepartementen der Kantone gefördert wird. Das System soll vorab bei Gebäudesanierungen, aber auch bei Neubauten zum Einsatz kommen.
Minimaler Stromverbrauch
vorhanden sein, um die Minergieanforderungen zu erfüllen, würden sie geprüft, heisst es beim Bundesamt für
Bauten und Logistik.
Ein Handicap hat das System trotz
wissenschaftlicher Prüfung trotzdem:
Seit Sommer 2014 gilt im Kanton Zürich
eine örtliche Tiefenbegrenzung für Erdwärmesonden zum Schutz von Mineralwasservorkommen. Generell sind entsprechend dem Vorsorgeprinzip in der
Schweiz Erdwärmesonden in Grundwasserzonen nicht zugelassen, in denen
Trinkwasser gewonnen werden kann.
Die Zürcher Baudirektion geht davon
aus, dass in wenigen Jahrzehnten rund
100 000 Erdwärmesondenanlagen erstellt werden. Das stelle ein «nicht zu
vernachlässigendes Risiko» dar, weil
vertikale Sickerströme entlang der Sonden Grundwasservorkommen qualitativ
beeinträchtigen könnten, schreibt die
Baudirektion in einem Brief an Leibundgut. Das im Untergrund zirkulierende
Grundwasser deckt im Kanton Zürich
rund 60 Prozent des Trinkbedarfs.
Wie das 2SOL-Haus Sommerwärme für den Winter erntet
Dachentwässerung
Fotovoltaik-Paneel
1
Dämmun
Thermischer
Absorber
g
Tragstruktur
24˚C
Raumtemperatur
8
6
Keine Bewilligung in Kloten
Dem ETH-Professor sind damit grosse
Schranken gesetzt. «In stark besiedelten
Gebieten wie in den Kreisen 4 und 5 in
Zürich oder in Kloten, Bülach und Dübendorf sind Erdwärmesonden derzeit
verboten», sagt er. Die Argumentation
versteht er zwar. Doch er ist überzeugt,
dass die neuen Koaxial-Erdwärmesonden ökologisch heikle Zonen nicht gefährden. Der Grund: Das Material der
Sonden ist so elastisch, dass sie durch
den Wasserüberdruck direkt an die
Wand des Bohrlochs gepresst werden.
Es braucht deshalb keine ZementBetonit-Hinterfüllung.
Die neuen Qualitäten der Innovation
wollte Leibundgut mit einer Sonderbewilligung für ein Bohrprojekt in Kloten
aufzeigen. So weit kam es aber nicht.
Das kantonale Amt für Abfall, Wasser,
Energie und Luft (Awel) erteilte keine
Bewilligung. Nach «negativen Erfahrungen» beim Einbau der Membran-Erdwärmesonden in Witikon im «einfachsten
felsigen Baugrund» sei das Projekt in
Kloten neu beurteilt worden. Für Leibundgut ist die Begründung nicht nachvollziehbar, weil es in Witikon nicht um
geologische, sondern um technische
Probleme ging. Dichtetests an der ETH
sollen nun aufzeigen, dass die Erdsonden kein Sickerwasser durchlassen.
Im April soll die Markteinführung erfolgen. Die Lizenzen für das System verkauft die Entwicklungsfirma BS2, die
Leibundgut mitgründete und bei der inzwischen eine Reihe ehemaliger Doktoranden seines Forschungsteams arbeiten. Den Einbau des Systems dürfen nur
zertifizierte Unternehmen vornehmen,
die vorgängig entsprechend ausgebildet
wurden. Demnächst werden Zimmerleute ausgebildet für den Bau der Dachkonstruktion aus Hybridkollektoren. Bis
Ende 2016, so hofft der Ingenieur, wird
das neue Gebäudesystem in 20 bis 30
Gebäuden mit rund 500 Wohnungen in
Betrieb sein. Und er wünscht sich viele
Unternehmen, die das System nachahmen: «So wird es verbessert.»
9
10
0m
7
5
3
4
2
Die 3 wichtigsten Komponenten
1
Hybridkollektoren-Dach
Kombination von Fotovoltaikzellen und Wärmekollektoren. Es wird Strom
und Wärme produziert. Die Wärme wird im Sommer im Erdspeicher für
den Winter gespeichert.
2
–100 m
12˚C
Heizwasser-Wärmepumpe
Die Turbo-Niederhub-Wärmepumpe verbraucht 30 bis 50 Prozent weniger
Strom als konventionelle Geräte. Noch werden herkömmliche, ans System
angepasste Wärmepumpen eingesetzt.
3
Koaxial-Erdwärmesonde
Die Sonde besteht aus einem Polyestergarn. Der Wärmeträger ist reines
Wasser. Die flexible Membran des Mantels wird durch Überdruck an die
Bohrlochwand gepresst.
Zentralrohr
Laden (Sommerbetrieb)
Wasser bringt die Wärme über
das Zentralrohr in den Erdspeicher. Kaltes Wasser fliesst
zurück in den Kreislauf.
Mantel
Entladen (Winterbetrieb)
Wasser bringt Wärme über das
Zentralrohr vom Erdspeicher
ins Heizsystem. Kaltes Wasser
fliesst nach.
4
Digitalstrom-Server
Er steuert die Geräte in den Wohnungen und Büros. Digitale Informationen,
zum Beispiel von Sensoren, gelangen über das Stromnetz zur Steuerzentrale.
5
Umschaltapparat
Er ermöglicht eine Umkehrung der Fliessrichtung in der Koaxial-Erdwärmesonde und steuert den Betrieb der Wärmepumpe, die heizen oder
kühlen kann.
6
Bodenheizung-Fussbodenregister
Im Sommer wird hier Wärme weggeführt, die für Warmwasser genutzt oder
zum Erdspeicher geleitet wird.
7
Warmwasser-Aufbereitung
Sie erfolgt durch eine separate Warmwasserpumpe, die Quellwärme stammt
aus dem Erdspeicher oder dem Kühlsystem der Fussbodenregister.
8
Selektive Verglasung
Sie sorgt für optimale Lichtverhältnisse im Innenraum und lässt nur wenig
Energie durch.
9
Gebäudehülle
Die Gebäudehülle muss nicht hochgedämmt sein. Grosse Vorteile ergeben
sich bei Haussanierungen, die Bauhülle ist dabei nur sekundär.
10 Lüftung
Aussenluft wird angesogen, im Sommer wird die entzogene Wärme für
die Aufbereitung des Warmwassers verwendet. Fenster können jederzeit
geöffnet werden.
11 Erdspeicher
11
Mit einer Sonde kann Wärmeenergie geerntet werden, die einem
Brennwert von 5000 Liter Heizöl entspricht. Was im Winter verloren
geht, wird im Sommer wieder aufgeladen. Die Quellwärme der
Erdwärmesonde beträgt etwa 15 Grad Celsius.
TA-Grafik kmh /Quelle: www.2sol.ch
–200 m
15˚C
–300 m
18˚C
–400 m
22˚C
–500 m
25˚C