Ökonomien tierischer Produktion Mensch-Nutztier-Beziehungen in industriellen Kontexten 29.–30. Mai 2015 Institut für Europäische Ethnologie Universität Wien Hanuschgasse 3, A-1010 Wien Eine Veranstaltung des Instituts für Europäische Ethnologie der Universität Wien Idee, Konzept und Organisation: Lukasz Nieradzik, Brigitta Schmidt-Lauber Grafische Gestaltung: Mirjam Riepl Mit bestem Dank für Unterstützung: Dekanat der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien Forschungsschwerpunkt Wirtschaft und Gesellschaft der Universität Wien Kulturabteilung der Stadt Wien (MA 7) Inhalt EINFÜHRUNG 4 PROGRAMM5 ABSTRACTS9 TEILNEHMER_INNEN43 NOTIZEN47 3 Warum diese Tagung Während Haustiere den sozialen Status eines Freundes, Familienmitglieds und Lebenspartners für ihre Besitzer_innen einnehmen und eine florierende Spielzeug-, Futter- und Freizeitindustrie dem menschlichen Bedürfnis nach emotionaler Zuwendung, Aufmerksamkeit und Fürsorge ihnen gegenüber Rechnung trägt, sind sogenannte Nutztiere weitestgehend aus dem öffentlichen und privaten Blickfeld geraten. Verglichen mit der Pet-Industrie stellt die Livestock- und Fleischwarenindustrie einen umsatzstärkeren und kostenintensiveren Wirtschaftszweig dar, der mit politischen Entscheidungsprozessen und Lobbyismus eng verflochten ist. Die Ökonomien der Tiernutzung sind für die meisten Verbraucher_innen unsichtbar. Zugleich bedient sich die Lebensmittelindustrie visueller und narrativer Ästhetisierungen und Inszenierungen, die das Leben von Nutztieren romantisieren und deren Tötung euphemisieren. Diese Ambivalenz stellt das Produkt wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und politischer Modernisierungen dar, die Tiere, deren Körper wir konsumieren und verwerten, in unsichtbare Geschöpfe verwandelt haben. Die Frage nach den Gründen und Motiven der gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Unsichtbarkeit von Nutztieren sowie von Mensch-Nutztier-Verhältnissen stehen im Zentrum unserer Tagung. Eines unserer Ziele ist es, einen Blick hinter die Kulissen tierischer Produktion zu werfen und die vielfältigen Bedeutungen der Tiernutzung offenzulegen. Mit Beiträgen zu diesen Themen soll eine zentrale und zugleich gesellschaftlich unsichtbare Dimension unseres Alltaglebens auf das wissenschaftliche Tapet gebracht werden. In kleinräumigen Ausschnitten zu Ökonomien tierischer Produktion – so unsere Annahme – werden übergeordnete Prozesse wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Modernisierung verdichtet und greifbar. 4 PROGRAMM Freitag, 29. Mai 2015 ab 9.15 Uhr Tagungsbüro geöffnet 10.00 Uhr Begrüßung: Claudia Theune-Vogt (Dekanin der HistorischKulturwissenschaftlichen Fakultät, Universität Wien) Begrüßung und Einführung: Brigitta Schmidt-Lauber (Vorständin des Instituts für Europäische Ethnologie, Universität Wien, Sprecherin des Forschungsschwerpunkts Wirtschaft und Gesellschaft aus historisch-kulturwissenschaftlicher Perspektive) und Lukasz Nieradzik (Wiss. Mitarbeiter, Institut für Europäische Ethnologie, Universität Wien) 10.30–11.30 Uhr: Öffentlicher Eröffnungsvortrag Dorothee Brantz (Berlin): Tierische Ökonomien im Industriezeitalter: Eine Annäherung Mittagspause Panel „Tiernutzungen I“ 13.00–14.15 UhrModeration: Brigitta Schmidt-Lauber (Wien) Barbara Wittmann (Regensburg): Vom Mistkratzer zum Käfighuhn. Kulturwissenschaftliche Perspektiven auf die deutsche Geflügelwirtschaft zwischen 1948 und 1980 Veronika Settele (Berlin): Gesellschaftliche Modernisierung im Kuhstall: Zur sozialen, politischen und ökonomischen Aussagekraft der Rinderhaltung im 20. Jahrhundert Kaffeepause Panel „Tiernutzungen II“ 14.45–16.00 UhrModeration: Alexandra Schwell (Wien) 6 Jan Taubitz (Erfurt): Aus Pelz – Pelz aus. Der Wandel der Pelzindustrie in den 1980er Jahren Raffaela Sulzner (Wien): Von den guten Bienen – Bienenstock-Interventionen am Beispiel urbaner Imkerei in Wien Kaffeepause Panel „Räume / Zeiten I“ 16.30–17.45 UhrModeration: Peter Moser (Bern) Felix Heinert (Marburg): Der Rigaer städtische Schlachthof, der (koschere) Fleischmarkt und die Aushandlungen des Schlachtzwanges um 1900 Markus Kurth (Hamburg): Ausbruch aus der Schlachthofordnung – Das Ereignis der Flucht als das Außen der industriellen Tierproduktion 18.00–19.00 UhrÖffentlicher Abendvortrag Moderation: Jens Wietschorke (Wien) Ernst Langthaler (St. Pölten/Wien): Tiere mästen und essen: Die Fabrikation des Fleisch-Komplexes in der Globalisierung Samstag, 30. Mai 2015 Öffentliche Vorträge zu Mensch-Nutztier-Beziehungen 9.30–11.00 Uhr Moderation: Clemens Wischermann (Konstanz) Keynote Susanne Waiblinger (Wien): Die Bedeutung der Mensch-Tier-Beziehung für eine tiergerechte Nutztierhaltung Keynote Michaela Fenske (Berlin): Reduktion als Herausforderung. Kulturwissenschaftliche Annäherungen an Nutztiere Kaffeepause 7 Panel „Räume / Zeiten II“ 11.30–12.45 UhrModeration: Martin Huth (Wien) Ina Bolinski (Bochum): Von physical zu virtual fences. Zäune als Verhandlungsorte von Mensch-Tier-Beziehungen Marcel Sebastian (Hamburg): Ambivalenzen der Arbeitssituation und Umgangsweisen von Schlachthofarbeitern Mittagspause Panel „Perspektiven / Zugänge“ 14.15–16.00 UhrModeration: Stefan Zahlmann (Wien) Jadon Nisly (Bamberg): Kühe und Mägde in der Seehofer Schweizerei: Mensch-Nutztier-Beziehung in einem fürstbischöflichen Mustergut der Volksaufklärung (1782–1795) Kerstin Weich (Wien): Sichtbarkeit der Unsichtbarkeit. Zu Repräsentationen von Nutztieren Christian Dölker (München): Produktive Fragmentierungen. Von nützlichen Tieren zu Haus- und Nutztieren Kaffeepause 16.30–17.30 Öffentliche Podiumsdiskussion: Martin Balluch (Wien) und Harald Lemke (Lüneburg/ Salzburg): Ethik der Mensch-Nutztier-Beziehung Moderation: Christoph Winckler (Wien) 17.45–18.15 UhrAbschlussdiskussion Moderation: Lukasz Nieradzik (Wien) 18.30–19.15 UhrTierisch hungrig – Geschichten von Mensch und Tier frei erzählt von Sven Tjaben (Berlin) Ausklang bei Wasser, Wein und Brot 8 ABSTRACTS Dorothee Brantz (Berlin) Tierische Ökonomien im Industriezeitalter: Eine Annäherung Der Titel dieser Tagung „Ökonomien tierischer Produktion“ ist sehr gut gewählt, da er viele Fragen ermöglicht. Wie können wir Ökonomien konzeptionalisieren, Produktion analysieren und das Tierische verstehen? Dieser Beitrag stellt eine erste Annäherung an das Thema dar, um die Themenbereiche einzuleiten und unsere gemeinsame Diskussion zu eröffnen. Hierbei geht es mir besonders um eine historische Verortung des „Nutztieres“ als beispielhafte Kategorie, in der sich die Ökonomisierung tierischer Produktionen konkret verkörpert. Dorothee Brantz hat an der University of Chicago zur Geschichte der Schlachthöfe in Berlin und Paris im 19. Jahrhundert promoviert. Seit 2013 ist sie Universitätsprofessorin für Neuere und Neueste Geschichte an der TU Berlin, wo sie auch das Center for Metropolitan Studies leitet. Sie ist Sprecherin des Internationalen DFG Graduiertenkollegs „Die Welt in der Stadt.“ Ihre Forschungsbereiche umfassen transatlantische urbane Umweltgeschichte. Zur Geschichte der Mensch-Tier-Beziehungen hat sie mehrere Aufsätze publiziert und Bücher herausgegeben. 10 Barbara Wittmann (Regensburg) Vom Mistkratzer zum Käfighuhn. Kulturwissenschaftliche Perspektiven auf die deutsche Geflügelwirtschaft zwischen 1948 und 1980 Der Beitrag verfolgt das Ziel, anhand der Entwicklung der intensivierten Tierhaltung zwischen 1948 und 1980 am Beispiel der Legehennenhaltung aufzuzeigen, auf welche Weise diese zum Wandel des Mensch-Nutztier-Verhältnisses und der bäuerlichen Arbeitskultur beigetragen hat. Dabei wird betrachtet, wie sich der Blick auf die landwirtschaftliche Tätigkeit und das Huhn als darin eingebundenes Lebewesen durch die in der Geflügelwirtschaft tätigen Akteure verändert hat und vor allem welche Prozesse zu einer Wahrnehmung beziehungsweise Nichtwahrnehmung dieser Form der Nutztierhaltung auf breiter gesellschaftlicher Ebene geführt haben. Dem Huhn kommt als Nutztier in dieser Entwicklung eine zweimalige Pionierrolle zu: Einerseits bildete sich im Zweig der Legehennenhaltung die erste Form der Intensivierung aus, die später in Hinblick auf Automatisierung, Technisierung und Spezialisierung auch auf andere Bereiche der Nutztierhaltung ausstrahlen sollte. Andererseits entzündete sich an der Debatte um die Haltung von Hühnern in Käfigen Anfang der 1970er Jahre die erste Form der Kritik an der Intensivtierhaltung unter tierethischen Aspekten. Diese Entwicklung wird durch die Beleuchtung der Innenperspektive anhand der Verbandszeitschrift des Zentralverbandes der deutschen Geflügelwirtschaft als Hauptquellenbasis nachvollzogen. Da die Stationen innerhalb der deutschen Geflügelwirtschaft stark von internen Diskursen begleitet und geprägt wurden, die wiederum auf übergeordnete gesellschaftliche Diskur- 11 se und Werthorizonte zurückzuführen sind oder umgekehrt von diesen erst hervorgebracht und provoziert wurden, basiert die Auswertung auf der Methodik der Diskursanalyse. Auf deren Grundlage wird nachvollzogen, welche Mechanismen dazu führten, dass sich bestimmte Argumentationslinien gegenüber anderen entwickelten und legitimierten, welche und vor allem wessen Interessen vertreten wurden, wie sie an Durchsetzungsfähigkeit gewannen beziehungsweise verloren und auf welche äußeren Entwicklungen von Gesellschaft, Wirtschaft und Politik sich diese Prozesse bezogen. Dabei wird die Einführung der Intensivtierhaltung unter branchenimmanenten Argumentations- und Legitimierungsstrategien offengelegt und in Zusammenhang mit ihren Wechselwirkungen mit „äußeren“, also kulturellen und sozialen Einflüssen, gebracht. Hierbei spielen Zusammenhänge wie die Veränderung der Esskultur infolge der sogenannten Fresswelle nach dem Zweiten Weltkrieg, die zu einem erheblichen Anstieg des Eierkonsums führte, ebenso eine Rolle, wie der generelle Industrieaufschwung der Wirtschaftswunderjahre, die dadurch veränderte Lebensweise der städtischen Arbeiterschicht, kulturelle Wertigkeiten wie etwa eine fortschrittsoptimistische Technisierungsgläubigkeit und vor allem Probleme landwirtschaftlicher Strukturen wie Höfesterben und Landflucht. Der Beitrag hat damit zum Ziel, die Gründe und Einflüsse für die Intensivierung der Legehennenhaltung zwischen 1948 und 1980 in ihrer Komplexität zu erläutern und den Wandel landwirtschaftlicher Lebens- und Produktionsweisen einhergehend mit dem gleichzeitig daraus resultierenden Wandel des Mensch-Nutztier-Verhältnisses zu analysieren. Barbara Wittmann, M.A. Vergleichende Kulturwissenschaft, ist als wissenschaftliche Hilfskraft an der Universität Regensburg bei Prof. Gunther Hirschfelder im Bereich der Esskulturforschung tätig. Das Thema des Abstracts geht auf ihre Masterarbeit mit dem Titel „Die Entwicklung der deutschen Geflügelwirtschaft zwischen 1948 und 1980“ zurück. Derzeit widmet sie sich der Ausarbeitung eines Promotionsvorhabens zur Kulturgeschichte des Huhnes. 12 Veronika Settele (Berlin) Gesellschaftliche Modernisierung im Kuhstall: Zur sozialen, politischen und ökonomischen Aussagekraft der Rinderhaltung im 20. Jahrhundert Die heute dominierenden Erscheinungsformen der Rinderhaltung unterscheiden sich grundlegend von jenen um 1900. Anzahl und Produktivität der Tiere wurden um ein Vielfaches gesteigert; die Rinderhaltung entwickelte sich von einem notwendigen Übel zu einem zunehmend und immer kurzfristiger ökonomisierten Wirtschaftszweig, mit dem immer mehr Menschen immer indirekter in Berührung kamen. Durch eine Verbesserung der Transportmöglichkeiten wurde der Handel ausgebaut und der Wettbewerb großflächiger. Mit der ökonomischen stieg auch die politische Bedeutung des Wirtschaftszweiges, ab 1962 verstärkt durch die Europäische Integration. Die grundsätzlichen Veränderungen der Nutztierhaltung umfassten, vor allem nach Überwindung der Nahrungsmittelknappheit nach dem Zweiten Weltkrieg, sämtliche Lebensbereiche des Tiers wie Fütterung, Reproduktion oder Unterbringung und ebenso sämtliche Arbeitsbereiche des Halters, der in immer größeren Einheiten zunehmend spezialisiert, technisiert und mechanisiert arbeitet. Eine Historisierung der Rinderhaltung ist in der Lage, weit über den Untersuchungsgegenstand hinausweisend, zentrale wirtschaftliche, soziale und politische Transformationen des 20. Jahrhunderts zu verdeutlichen: von radikalem Fortschrittsoptimismus (Kostensenkung, Leistungssteigerung) hin zu apokalyptischen Szenarien (vgl. Jeremy Rifkin, „Das Imperium der Rinder“ 1991; Kip Andersen, „Cowspiracy“ 2014), vom Primat der Nahrungsmittelsicherheit zur rhetorischen Dominanz von Nachhaltigkeit 13 und Tierwohl, von zahlreichen kleinen Betrieben mit geschlossenem System zu einigen hochspezialisierten Aufzucht-, Milch- und Mastbetrieben, von längerfristigem Wirtschaften zum Diktat unmittelbarer Rendite, von regionaler Subsistenzwirtschaft zu internationaler Wettbewerbsfähigkeit und schließlich von relativer Regelfreiheit hin zu engmaschiger Bürokratisierung. Der Vortrag spürt somit der in der Rinderhaltung greifbar werdenden gesamtgesellschaftlichen Modernisierung entlang ihrer wichtigsten Akteure und zentralen Konflikte nach. Veronika Settele studierte in Innsbruck und Toulouse Geschichte, Politikwissenschaft und Soziologie (Mag. phil. 2012, M.Sc. 2014). 2012–2014 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin im BMWFW/„Sparkling Science“-Projekt „Spurensuche: Hall in Bewegung“ an der Universität Innsbruck (Leitung assoz. Prof. Dr. Dirk Rupnow). Seit April 2014 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Friedrich-Meinecke-Institut der FU Berlin (Lehrstuhl für Zeitgeschichte, Prof. Dr. Paul Nolte). Sie arbeitet an ihrer Dissertation über industrialisierte Nutztierhaltung im 20. Jahrhundert. 14 Jan Taubitz (Erfurt) Aus Pelz – Pelz aus. Der Wandel der Pelzindustrie in den 1980er Jahren In den 1970er Jahren blühte der Pelzhandel in Westeuropa. Alleine die Bundesrepublik Deutschland nahm ein Fünftel der weltweit in Fallen gefangenen oder in Farmen produzierten Pelze ab. In den 1980er Jahren wandelte sich die Situation rapide. Die Tier- und Umweltschutzbewegung war in der Lage, innerhalb kurzer Zeit einen jahrhundertealten Wirtschaftszweig zu transformieren, der (zumindest in Deutschland und vermutlich auch in Österreich) kaum Resilienz zeigte. Der Markt brach ein, was den Tieren jedoch nicht lange half, da spätestens durch die politische Wende neue Märkte in Asien und Russland erschlossen werden konnten, die den Einbruch bis Ende der 1990er Jahre kompensierten. Ausgehend von der ökonomischen Verwerfung werden verschiedene Bewegungen, Ereignisse und Prozesse der 1970er und vor allem 1980er Jahre zusammengeführt. Es ist in erster Linie eine Tier- und Umweltgeschichte beziehungsweise eine Geschichte der Tier- und Umweltschutzbewegung, die einen nachhaltigen Mentalitätswandel bewirkte. Es ist eine Geschichte der (Pelz-)Tiere, die gefangen und gezüchtet wurden und die dann aus der Öffentlichkeit verschwanden. Es ist aber auch eine Wirtschaftsgeschichte, die den massenhaften Bruch in den Erwerbsbiografien vieler Menschen thematisiert. Es ist eine Handwerksgeschichte sowie eine Mode- und Konsumgeschichte; andere Stoffe lösten die Pelze ab und die Kürschner verschwanden als Modehersteller. Vermutlich spielt zudem der Klimawandel eine Rolle, da 15 mehrere warme Winter die Nachfrage nach Pelzwaren drückten, was die oben beschriebenen Entwicklungen noch beschleunigte. Der Vortrag basiert auf einem im Entstehen begriffenen Post-Doc-Projekt, das ausgehend von dem oben beschriebenen Bruch im Pelzgewerbe eine Tier-, Konsum-, Wirtschafts-, Umwelt-, Klima-Geschichte schreiben möchte und so eine ganze Reihe kultur- und wirtschaftshistorische Fragestellungen verbindet. Jan Taubitz studierte Geschichte in Erfurt, Uppsala und Worcester (USA). 2014 wurde er an der Philosophischen Fakultät der Universität Erfurt mit einer Arbeit über die Institutionalisierung und Medialisierung von Zeitzeugeninterviews mit Überlebenden des Holocaust promoviert. Im Anschluss an die Promotion konzipierte er ein Forschungsprojekt zur Geschichte des Tierpelzes in den 1970er und 1980er Jahren. Seit Februar 2015 ist er für die Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Berlin tätig. 16 Raffaela Sulzner (Wien) Von den guten Bienen – Bienenstock-Interventionen am Beispiel urbaner Imkerei in Wien Initiativen wie Leihimker_in oder rent a bee und das große Angebot an ausgebuchten Grundkursen verdeutlichen: Urbane Imkerei ist gefragt! Neu ist sie jedoch keineswegs. Bereits seit Beginn des 19. Jahrhunderts unterstützen Wiener Imker_innenvereine Bienenhaltung in der und um die Stadt. Lange Zeit fungierten der Stadtrand sowie stadtnahe Grünflächen als Orte, an denen Imker_innen ihre Bienenstöcke aufstellen konnten. Die zunehmende Urbanisierung des Stadtrandes fordert die Imkerei hinsichtlich räumlicher Kapazitäten heraus und bedingt die Etablierung neuer Formen städtischer Bienenhaltung: Nun werden nicht mehr nur Grünflächen in der und um die Stadt für die Imkerei genutzt, Bienenstöcke finden zunehmend auch Platz auf Dachterrassen und Balkonen direkt in der Stadt. Nach wie vor stellen Imker_innenvereine wichtige Anlaufstellen für materielle und immaterielle Unterstützung dar. Parallel dazu entwickeln sich neue Modelle gemeinnützig organisierter Imkerei. Bienenkooperativen basieren auf der Idee, durch Teilen von Arbeitsgeräten und Stellplätzen für Bienenstöcke, der räumlichen Ressourcenknappheit in der Stadt entgegenzuwirken und so die Bienenhaltung einer Vielzahl an Interessent_innen zugänglich zu machen. Wie sich die Bedeutung urbaner Imkerei damit verändert und was konkret Vereinsimkerei von Bienenkooperativen in der Stadt unterscheidet, ist Teil meines Beitrages, der sich mit Formen des gemeinsamen Imkerns und der Reproduktion und Ökonomisierung von Stadtbienen beschäftigt. Im Sinne des Historikers Jason Hribal begreife ich nichtmenschliche Tiere als aktiv in eine kapitalistische Ökonomie eingebundene Wesen. Die Aussage „Animals do not ,naturally‘ become private property“1 stellt die Domestizierung und Ökonomisierung nichtmenschlicher Tiere infrage und kann auch 17 im Kontext der Bienen für eine kritische Betrachtung von Produktions- und Reproduktionsarbeit herangezogen werden. Zudem ziehe ich die Begriffe Arbeit, als wichtige Kategorie in der Grenzziehung zwischen Mensch und Tier, und Intersektionalität, verweisend auf die Unterdrückung nichtmenschlicher Tiere hinsichtlich Mensch-Tier-Verhältnisse, Geschlecht und Rasse, als wichtige Analysekriterien in meinem Beitrages heran2. Die Ausführungen basieren maßgeblich auf Interviews und Beobachtungen, die ich im Zuge meiner Masterarbeit über die Bedeutung der Bienenhaltung für Imker_innen in der Stadt geführt und angestellt habe. Im Zuge meines Beitrages zeige ich am Beispiel einer gemeinnützig organisierten Imker_innenkooperative auf, wie Bienen durch das Eingreifen des Menschen in einen anderen Lebensraum im Kontext der Stadt domestiziert, in eine Ökonomie des Teilens eingebunden und innerhalb dieser verhandelt werden. Raffaela Sulzner studierte Europäische Ethnologie und Kultur- und Sozialanthropologie an der Universität Wien und der Lund University in Schweden. Derzeit arbeitet sie an ihrer Masterarbeit über die Bedeutung von Bienenhaltung für Imker_innen in der Stadt Wien. Ihre Forschungsinteressen umfassen Mensch-Tier-Beziehung, Stadtforschung, Migrationsforschung und Nahrungsforschung. Seit Dezember 2014 ist sie Mitarbeiterin der Kulturvermittlungsabteilung des Volkskundemuseums Wien. Jüngste Publikation: „April bis Oktober – solång is ’s Wåsser aufdraht“ – Sommeralltag am Dauercampingplatz. In: Schmidt-Lauber, Brigitta (2014): Sommer_frische. Bilder. Orte. Praktiken. Wien, S. 341–362. 18 1 Hribal, Jason: Animals are Part of the Working Class. A Challenge to Labor History. In: Labor History 44, 2003, 4, S. 436, Hervorhebung im Original. 2 Vgl. Rosen, Aiyana/Wirth, Sven: Tier_Ökonomien? Über die Rolle der Kategorie .Arbeit‘ in den Grenzziehungspraxen des Mensch-Tier-Dualismus. In: Chimaira – Arbeitskreis für Human Animals Studies (Hg.): Tiere Bilder Ökonomien. Aktuelle Forschungsfragen der Human Animals Studies. Bielefeld 2013, S. 30–42. Felix Heinert (Marburg) Der Rigaer städtische Schlachthof, der (koschere) Fleischmarkt und die Aushandlungen des Schlachtzwanges um 1900 War die Schlachthof- und Fleischmarktgeschichtsschreibung lange Zeit eher eine exotische Nischenveranstaltung mit beschränkter bis kaum vorhandener Anschlussfähigkeit an allgemeinere kultur- und geschichtswissenschaftliche Fragen und Diskurse, so hat sie sich inzwischen zu einem überschaubaren, aber dynamischen Feld entwickelt, in dem kultur-, sozial-, politik-, wissens(chafts)-, hygiene-, stadt-, umweltgeschichtliche und andere Ansätze fruchtbar aufeinander treffen und neue geschichtswissenschaftliche Erkenntnisse weit über die Schlachthoffrage hinaus zu Tage fördern. Doch es gibt zahlreiche Desiderata, und insbesondere fehlen fundierte Lokal- und Regionalstudien, die grenzüberschreitende Diskurse und Entwicklungen auf ihre spezifischen Aushandlungen vor Ort hin befragen. Entsprechende Studien zu ost(mittel)europäischen Schlachthofdiskursen und Aushandlungen sucht man meines Wissens vergeblich, und diese regionalen Perspektiven werden auch nicht in die internationale Diskussion eingebracht, wobei dies freilich auch für viele andere Regionen gilt. Die Handlung in meiner Erzählung spielt um 1900 in Riga, der livländischen Gouvernements-Hauptstadt an der nordwestlichen Peripherie des Russländischen Reiches. Es waren, wie zu zeigen sein wird, im Falle der zeitgenössisch sogenannten „Schlachthausfrage“ bemerkenswert ähnliche grenzüberschreitende Wissenszirkulationen, die lokal unterschiedlich instrumentalisiert und ausgehandelt werden konnten. Es wird um eine Erzählung von Aushandlun- 19 gen und Konflikt, von Machtkampf, Interessenlagen und Kräfteverschiebungen, von Dominanzansprüchen und ihren sukzessiven, konfliktreichen Durchsetzungen sowie von Aushandlungsstrategien der „Schwächeren“ gehen, die oft genug in den zeitgenössischen und historiografischen Modernisierungserzählungen entweder analytisch ganz ausgeblendet, als passive Zuschauer ohne Akteursstatus vorgestellt werden oder als potenzieller Störfaktor für die Modernisierungsentwicklungen erscheinen. Felix Heinert, M.A., Studium der Osteuropäischen Geschichte, der Mittleren und Neueren Geschichte und der Soziologie an der Universität zu Köln; Wissenschaftlicher Mitarbeiter im SFB / Transregio 138 „Dynamiken der Sicherheit. Formen der Versicherheitlichung in historischer Perspektive“ (Mitarbeit im Teilprojekt A 06 am Herder-Institut); Dissertationsprojekt zum Thema „Topografien jüdischer Selbstverortungen im lokalen Raum Rigas um 1900“. 20 Markus Kurth (Hamburg) Die Praxis des Ausbruchs aus der Schlachthofordnung – Das Ereignis der Flucht als das Außen der industriellen Tierproduktion In der industriellen Tierproduktion wird die Agency von Nutztieren negiert. Ihre Körper werden durch gezielte Züchtung und direkte Eingriffe geformt und in die jeweils zu erfüllende Funktion eingepasst. Apparaturen und automatisierte Abläufe zwingen sie in vordefinierte Räume sowie zeitliche Rhythmen. Während Debatten um das Tierwohl diese Lebensumstände zum Teil problematisieren, berühren sie nicht den unausweichlichen Fakt des Schlachtens. Dabei artikuliert sich in der Schlachtpraxis das zugrunde liegende Tierbild am deutlichsten: entindividualisiert, passiv und ökonomischen Zwecken unterstehend. Theoretisch kann mit Konzepten wie der Actor-Network-Theory und verschiedenen Machttechniken nach Michel Foucault der stattfindende technische und biopolitische Prozess der Passivierung aufgezeigt werden. In dieser Analyse von Struktur und Ordnung des Schlachthofes werden aus Schlacht-Objekten Aktanten mit Freiheitsgraden. Aber auch hier bleiben mögliche Formen tierlicher Agency im Angesicht der Übermacht dieser Ordnung eine wenig ausformulierte Randnotiz. Eine empirische Überschreitung der Schlachthofpraxis und zugleich ein theoretisch erstaunlich selten betrachtetes Motiv ist die Flucht, das Losreißen, der Ausbruch und (manchmal gar) das Entkommen von Tieren. Sind diese Ausbrüche auch absolute Ausnahmeerscheinungen, genügt ein kurzer Blick in die Medien, um unzählige Berichte über derartige Fluchten zusammenzutragen. Erinnert sei nur an die rasante Verfolgungsjagd zwischen Kuh „Bava- 21 ria“ und Polizei in der Münchener Innenstadt kurz vor dem Oktoberfest 2014. Enden diese Fluchten auch meist mit dem Tod der Flüchtenden, so produzieren sie gleichsam Irritationen und Überschüsse. Die Tiernutzung jenseits des öffentlichen Blickfelds wird durchkreuzt: Sauber getrennte Sphären von Tierproduktion und -konsumption werden kontaminiert, eine verräterische Spur der Nutzungspraxis dringt in den öffentlichen Raum. Medienanalytisch bemerkenswert ist zudem die Verschiebung der Rhetorik in der Berichterstattung hin zur bewussten tierlichen Handlung und zur Sprache der Jagd: Auf der Flucht wechselt das Schlachttier in das Assoziationsspektrum von Wild. Im Sinne des Ethologen Marc Bekoff können diese Berichte keine hinreichenden Ressourcen für eine wissenschaftliche Beschäftigung bereitstellen, aber als Anekdoten Teil des wissenschaftlichen Wissens werden, indem sie Lücken im Wissen über Schlachttiere schließen. Theoretische Bezugspunkte können hier in Konzepten im Anschluss an Gilles Deleuze sowie bei Jason Hribal und Donna Haraway gefunden werden. Die Funktion dieser Anekdoten ist dabei nicht, die in der Presse proklamierten tierlichen Intentionen fraglos zu übernehmen. Zentraler ist es, die hinterlassenen Spuren der körperlichen Praktiken, den veränderten Status der Tiere, die Lücken und die Irritation der Schlachthofordnung zur Kenntnis zu nehmen und entsprechend sozialtheoretisch befriedigendere Modelle der Mensch-Nutztier-Verhältnisse zu entwickeln, die auch tierliche Agency angemessen berücksichtigen. Empirisch ist für eine engere Kopplung ethologischer und soziologischer Konzepte zu plädieren, um gemeinsam zu umfassenderen Erkenntnissen und Beobachtungen zu gelangen und auch anhand von tierlichen (Ausbruchs-)Praktiken die komplexen Realitäten von Nutztieren im gesellschaftlichen Kontext zu erfassen. Markus Kurth, B.A., Studium der Sozialwissenschaften und Europäischen Ethnologie an der HU Berlin und der Soziologie an der Universität Hamburg. Gründungsmitglied von Chimaira – Arbeitskreis für Human-Animal Studies. Mitherausgeber der Sammelbände Human-Animal Studies (2011) und Tiere Bilder Ökonomien (2013) sowie des Ende 2015 erscheinenden Bandes Handeln Tiere?, der sich mit Fragen tierlicher Agency auseinandersetzen wird (alle transcript-Verlag). 22 Ernst Langthaler (St. Pölten/Wien) Tiere mästen und essen: Die Fabrikation des Fleisch-Komplexes in der Globalisierung Die Entwicklung des globalen Agrar- und Ernährungssystems in der Globalisierung seit Mitte des 19. Jahrhunderts verdient wie wenig andere historische Entwicklungen das Attribut ‚revolutionär‘. Eine Serie von Agrarrevolutionen in verschiedenen Weltregionen erlaubte der Menschheit den Ausbruch aus der „malthusianischen Falle“ und katapultierte die Land- und Viehnutzungsproduktivität mittels intensiven Technologieeinsatzes in ungeahnte Höhen. Eine Serie von Ernährungsrevolutionen in den Industrie- und Schwellenländern steigerte den Nahrungsmittelkonsum, vor allem den Verbrauch tierischen Eiweißes. Den Kern des globalisierten Agrar- und Ernährungssystems mit seinen inter- und intraregionalen Ungleichheiten bildet der Fleisch-Komplex – die weltumspannende Wertschöpfungskette von Getreide- und Ölsaatmonokulturen, industrialisierter Viehmast sowie fleischbasierter Ernährungskultur. Der globale Fleisch-Komplex revolutionierte seit etwa 1850 die jahrtausendealten Mensch-Umwelt-Beziehungen im Allgemeinen und die Mensch-Nutztier-Beziehungen im Besonderen: Die menschliche Nutzung von Rindern, Schweinen und Geflügel wurde dem Kalkül industrieller Verwertung untergeordnet; damit erschien die Natur als technisch grenzenlos manipulierbar. Die aus der Industrialisierung des Pflanzen- und Tierlebens folgenden Widersprüche wurden wiederum mit sozio-technischen Apparaturen gemäß der industriellen Verwertungslogik einzudämmen versucht – was weitere Widersprüche aufbrechen ließ. Die Profitmaximierung im Fleisch-Komplex, vor allem durch transnational operierende Unternehmen an den Flaschenhälsen der globalen Wertschöpfungskette, steht im Kontrast zu den aus betriebs- und volkswirtschaftlichen Bilanzen ausgeklammerten sozialen und ökologischen Kosten, einschließlich der tierethischen Probleme. Der Beitrag sucht die Fabrikation des globalen Fleisch-Komplexes mit ihren ökologischen, 23 ökonomischen, politischen, sozialen und kulturellen Facetten als in mehreren Schüben geknüpftes Akteur-Netzwerk zwischen verschiedenen Orten – von Chicago als ‚Schlachthof der Welt‘ im späten 19. Jahrhundert bis hin zu Chinas Megastadt als ‚Bauch der Welt‘ im frühen 21. Jahrhundert – nachzuzeichnen. Ernst Langthaler, geb. 1965, leitet das Institut für Geschichte des ländlichen Raumes in St. Pölten (www.ruralhistory.at) und lehrt als Privatdozent für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Wien und der Universität für Bodenkultur Wien. 24 Susanne Waiblinger (Wien) Die Bedeutung der MenschTier-Beziehung für eine tiergerechte Nutztierhaltung Die Mensch-Tier-Beziehung kann definiert werden als Grad der Vertrautheit oder Distanz (Furcht) zwischen Mensch und Tier, d. h. ihre gegenseitige Wahrnehmung, die sich im Verhalten beider Seiten miteinander sowohl entwickelt als auch ausdrückt. In der Nutztierhaltung bestimmt weitgehend der Mensch darüber, wie viele und welche Interaktionen stattfinden und damit wie der Mensch von den Tieren wahrgenommen wird. Forschungen der letzten 20 Jahre belegen bei Rindern, Schweinen und Geflügel, dass der Umgang mit den Tieren eine entscheidende Bedeutung für die Furcht der Tiere vor Menschen und in Folge, über Stress oder Verminderung von Stress, die Leistung, die Gesundheit und das Wohlbefinden der Tiere, aber auch die Handhabbarkeit der Tiere und damit das Unfallrisiko hat. Ursachen für Unterschiede im Verhalten des Menschen liegen vor allem in dessen Einstellung gegenüber den Tieren, aber auch in seiner Persönlichkeit. Die Einstellung des Tierhalters / der Tierhalterin gegenüber den Tieren wirkt sich jedoch nicht nur auf den direkten Umgang mit den Tieren aus, sondern auch auf andere Bereiche – auf Entscheidungen bezüglich Stallbau und Management. Eine gute Beziehung des Tierhalters zu seinen Tieren steht mit einer Optimierung dieser beiden Bereiche in Zusammenhang und kann auch hierüber die Tiergerechtheit der Haltung fördern. Die Beziehung des Menschen zu den von ihm gehaltenen Tieren wirkt sich somit zum einen direkt über die Interaktionen mit den Tieren und zum zwei- 25 ten indirekt über Einflüsse auf Management und Stallbau aus. Da Einstellungen grundsätzlich über neues Wissen und Erfahrungen veränderbar sind, bieten Schulungsprogramme hier Möglichkeiten, eine tiergerechte Haltung auch über eine Optimierung der Beziehung zwischen Tierhalter und Nutztier zu fördern. Susanne Waiblinger, Ao. Univ. Prof. Dr. med. vet., Fachtierärztin für Tierhaltung und Tierschutz, Studium der Veterinärmedizin in München, 1990 Promotion an der Universität Zürich, 1991–1996 Forschungstätigkeit an der ETH Zürich zur Mensch-Nutztier-Beziehung und Sozialverhalten von Rindern. Tierärztliche Tätigkeit in Groß- und Kleintierpraxen, amtstierärztlicher Dienst in Bayern, seit 1997 tätig an der Vetmeduni Vienna, Leitung der Arbeitsgruppe Mensch-Tier-Beziehung und Verhalten und Haltung der Wiederkäuer, 2004 Habilitation zur Bedeutung der Mensch-Tier-Beziehung für eine tiergerechte Milchkuhhaltung. 26 Michaela Fenske (Berlin) Reduktion als Herausforderung. Kulturwissenschaftliche Annäherungen an Nutztiere Im Zuge der Moderne sind sogenannte Nutztiere weitgehend auf ihre Verwertungseigenschaften reduziert worden. Diese Entwicklung gipfelt in ihrer Verwendung als lebender Rohstoff im Kontext genetisch-technischer Verfahren. Auch die menschlichen Möglichkeiten der Begegnung mit und der Erfahrbarkeit von Nutztieren sind in der industrialisierten Landwirtschaft eingeschränkt. Tiere, die wie Rind, Schwein oder Huhn dem menschlichen Verwertungsinteresse in besonderem Maße unterworfen sind, leben heute vergleichsweise abgeschottet von der Bevölkerungsmehrheit. Reduziert sind daher auch Erfahrungen und Wissen der Bevölkerung über Leben und Sterben dieser Tiere. Ist die menschliche Perspektive auf Nutztiere damit bereits in den Kreisen der Produzierenden (inkl. der diese unterstützenden Wissenschaften) sowie der Bevölkerung allgemein reduziert, so betrifft diese Reduktion die Kulturwissenschaften in besonderem Maße. Wo sich diese mit Tieren beschäftigen, da bleibt das Nutztier häufig ausgeblendet. Wird die Mensch-Nutztier-Beziehung untersucht, so dominiert eine anthropozentrische Perspektive. Auch die „Human-Animal Studies“, die sich zum Ziel gesetzt haben, neue Perspektiven auf Tiere zu entwickeln, beschäftigten sich bislang vorrangig mit sogenannten Haus- und Wildtieren. 27 Tatsächlich haben die Kulturwissenschaften als Deutungs- und Orientierungswissenschaften viel zum Thema beizutragen. Die seit der Moderne vollzogene Reduktion von Nutztieren erweist sich geradezu als Herausforderung für diese Fächer – zeigen sich doch hier in besonderem Maße auch Seiten menschlicher Kultur, die in der Spätmoderne bevorzugt abgespalten werden. Der Vortrag möchte zeigen, welche Perspektiven, Begriffe, Theorien und Methoden die Kulturwissenschaften in den interdisziplinären Dialog der Erforschung der Mensch-Tier-Beziehung einzubringen haben. Michaela Fenske ist DFG-Heisenbergstipendiatin am Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität Berlin, u. a. mit einem Projekt über urbane Imkerei. Arbeitsschwerpunkte in Forschung und Lehre: Anthropologie des Ländlichen, Human-Animal Studies, Politische Kultur, Marktkultur, Anthropologie des Schreibens, Populärkultur sowie Neue Wissensund Wissenschaftsforschung. 28 Ina Bolinski (Bochum) Von physical zu virtual fences. Zäune als Verhandlungsorte von Mensch-Tier-Beziehungen Der industriellen Schlachtung und Verwertung von Tieren geht eine bestimmte Form ihrer Haltung voraus. So gibt es zwischen der Kulturgeschichte der Domestizierung von Nutztieren und der Herdenbewirtschaftung immer schon eine Verwebung mit der Kulturtechnik rund um das Errichten von Zäunen zur Begrenzung von Flächen. Die Intention dabei ist eine gezielte Inklusion. Die Tiere sollen in ihrem Bewegungsraum eingeschränkt werden und nicht nur emotional, sondern auch territorial eng an den Menschen gebunden sein. Der Zaun, die Begrenzung, die Absperrung wirkt in doppelter Weise aus einer Innen- und einer Außenperspektive auf das Tier und den Menschen sowie ihre Beziehung zueinander. Räume und die Abgrenzung eben dieser durch Zäune sind die Orte, an denen sich verschiedene und historisch konstituierte Mensch-Nutztier-Beziehungen nachzeichnen lassen. Wie und welche Besitzansprüche werden innerhalb der eingezäunten Flächen geltend gemacht? Über welche Einschreibungen und Markierungen (Ohrmarken, Brandzeichen usw.) werden diese manifestiert? Wie finden die Aushandlungen darüber im sozialen Gefüge der Menschen und ihrer Tiere statt, das sich im Zuge dessen in ein ökonomisches transformiert? Und welche Veränderungen bei Mensch und Tier sind erkennbar, wenn physisch vorhandene Zäune durch virtual fences abgelöst werden, wie das aktuell im Bereich des smart farming geschieht? Exemplarisch mit Blick in die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft werden die jeweiligen Haltungsformen und Zaunkonstruktionen nachgezeichnet. In den industriellen Kontexten der Nutztierhaltung sind nicht nur die Tiere für die Menschen unsichtbar, auch die Menschen verschwinden aus dem tierischen Blickfeld zunehmend und werden von Medientechniken und Architek- 29 turen abgelöst. Interessanterweise sind es aktuelle Herausforderungen der Herdenbewirtschaftung, die sich durch immer größere Herden und zunehmende Anonymisierung begründen und die sich paradoxerweise wieder auf individuelle Vorlieben und Eigenarten einzelner Tierindividuen zur Steigerung der Leistung beziehen. Ina Bolinski studierte von 2006 bis 2011 Medienwissenschaft und Betriebswirtschaftslehre. Ihr Promotionsprojekt trägt den Arbeitstitel „Get chipped. Zur Kulturgeschichte der elektronischen Tierkennzeichnung.“ Im Wintersemester 2013/2014 war Ina Bolinski Junior-Fellow der DFGKollegforschergruppe „Medienkulturen der Computersimulation“ an der Leuphana Universität Lüneburg. Seit Juni 2014 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Medienwissenschaft am Lehrstuhl für Mediengeschichte und Kommunikationstheorie an der Ruhr-Universität Bochum. Seit Mai 2015 ist Ina Bolinski wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Projekt „Das verdatete Tier. Zum Animal-Turn in der Medienwissenschaft“ ebenfalls am Institut für Medienwissenschaft an der RuhrUniversität Bochum. 30 Marcel Sebastian (Hamburg) Ambivalenzen der Arbeitssituation und Umgangsweisen von Schlachthofarbeitern Die Herstellung von Fleisch ist ein wesentlicher Bestandteil agrarwirtschaftlicher Produktion und wie kaum ein anderer Produktionsprozess von Ambivalenzen gekennzeichnet. Arbeiter/innen in Schlachthöfen sind mit besonderen Problemen konfrontiert. Diese bestehen darin, dass sie an der systematisierten Tötung von Tieren teilhaben – einer sozialen Praxis, die Gegenstand kontroverser Debatten ist. Das Paper, das vorgestellt werden soll, beruht auf einer akteurszentrierten Perspektive. Es richtet seine erste Forschungsfrage darauf, welche Strategien die Arbeiter/innen zur Neutralisation der Ambivalenzen im Umgang mit dem Töten von Tieren entwickeln. Dabei wird die Annahme zugrunde gelegt, dass diese Strategien in die Dimensionen der Distanzierung, Normalisierung und Rationalisierung differenziert werden können. Das Paper greift damit eine relevante Forschungslücke in der internationalen Diskussion auf. In der wenig entwickelten wissenschaftlichen Debatte zu diesem Thema wurden bisher vor allem einzelne Aspekte des Umgangs analysiert. Der innovative Gehalt des vorgeschlagenen Papers besteht darin, dass erstmals die komplexen Beziehungen zwischen den möglichen Umgangsweisen systematisch analysiert und typologisiert wurden. Die empirische Grundlage bildet einerseits eine Sekundaranalyse von Ergebnissen empirischer Studien. Auf dieser Grundlage wurden Annahmen zu den Strategien der Bewältigung der Ambivalenzen, zur Interaktion zwischen verschiedenen Strategien und zu den Typen von Strategie-Komplexen formuliert. Weiter wurde eine Feldstudie auf der Basis leitfadengestützter, qualitativer Interviews mit Schlachthofarbeiter/innen durchgeführt, deren erste Ergebnisse in das Paper einfließen. 31 Mit seiner akteurszentrierten Perspektive trägt dieses Paper dazu bei, ein vertieftes Verständnis der Interdependenzen, Ambivalenzen und Widersprüche gegenwärtiger Mensch-Nutztier-Beziehungen aus Sicht der Schlachter/ innen selbst zu entwickeln. Es liefert Antworten auf die Frage, wie Menschen sinnstiftende Bezüge zur routinierten Tötung von Tieren entwickeln und wie das Töten von Tieren zum Teil der Alltagspraxis wird. Marcel Sebastian ist Soziologe, Lehrbeauftragter der Universität Hamburg und Mitglied der Group for Society and Animals Studies, der ersten soziologischen Forschungsgruppe zum Mensch-Tier-Verhältnis in Deutschland. Zudem ist er Mitglied des Norbert-Elias Center für Transformationsdesign der Universität Flensburg und Promotionsstipendiat der Heinrich-Böll-Stiftung. Im Rahmen seiner Promotion befasst er sich mit der Frage, wie Schlachthofarbeiter ihre Arbeit wahrnehmen, und im Besonderen, wie sie mit dem Töten von Tieren umgehen. 32 Jadon Nisly (Bamberg) Kühe und Mägde in der Seehofer Schweizerei: Mensch-Nutztier-Beziehung in einem fürstbischöflichen Mustergut der Volksaufklärung (1782-1795) UmwelthistorikerInnen erkennen in den Sozietäten und der Publizistik der ökonomischen Aufklärung eine neuartige Technisierung und Ökonomisierung der Natur. Damit einhergehend sollte auch die landwirtschaftliche Tierhaltung technisiert und ökonomisiert werden. Obwohl eine wahre Technisierung im 18. Jahrhundert nur begrenzt möglich war, war die aufklärerische Agrarreform ein erster Versuch, eine Art industrielle Massentierhaltung zu etablieren. Die Sommerstallfütterung des Rindviehs mit Klee spielte eine Schlüsselrolle in der technischen Utopie der ökonomischen Aufklärung und der daran anknüpfenden Volksaufklärung. Dabei sollten die Tiere niemals aus dem Stall und vor allem nicht auf die herkömmliche Weide kommen. Zeitgenossen lobten die Sommerstallfütterung als eine „fabrikmäßige Betreibung der Landwirthschaft“ (1786). Aus diesem agraraufklärerischen Milieu stammte Albrecht Thaers symptomatischer Spruch von 1799: „Kühe sind als Maschinen zu betrachten, die Futter in Milch verarbeiten“. Um die Sommerstallfütterung und die „Veredelung“ der Rinder durch die frühe Rassenzucht voranzutreiben, bauten Fürsten, Landadel und Gutsbesitzer sogenannte „Schweizereien“ als musterhafte Beispiele für die neue Intensivtierhaltung. Auch der volksaufklärerisch gesinnte Bamberger Fürstbischof Franz Ludwig von Erthal führte von 1782 bis 1795 neben seinem Sommerschloss Seehof eine Schweizerei. Umfangreiche Rechnungen, Protokolle und 33 Bittschriften aus den 13 Jahren der Schweizerei wurden wissenschaftlich bisher kaum bearbeitet. Selbst die Namen der Kühe wurden sorgfältig aufgeschrieben. In meiner Masterarbeit versuche ich, die Alltagswelt der Kühe sowie die Mensch-Tier-Beziehung in der Schweizerei zu rekonstruieren. Erica Fudges Ansatz folgend, verwende ich die archivalischen Quellen, zeitgenössische Agrarliteratur und Literatur der heutigen Tierethologie, um mich der Erfahrungswelt der Kühe anzunähern. Im Mittelpunkt der Arbeit steht die zentrale Frage der Human-Animal Studies nach der Akteurschaft oder Agency von Tieren. Besonders in der landwirtschaftlichen Tierhaltung ist die Arbeit ein wichtiger Aspekt der Agency (vgl. Hribal, Haraway). Nutztiere sind nicht nur Produkte, sondern Produzenten. Am Beispiel der Kühe in der Bamberger Schweizerei wird die Spannung zwischen arbeitenden Subjekten und ökonomisierten Objekten deutlich. In der ökonomischen Aufklärung wurden Kühe zunehmend als ökonomische Einheiten wahrgenommen, aber selbst die Agrarreformer betonten die Wichtigkeit der Kooperation und Mitarbeit der Tiere. Die fürstbischöflichen Beamten nahmen „Schwarz Madla“ und die anderen Kühe als Akteure wahr, beispielsweise in ihrem Fressverhalten oder beim Melken. Die Kühe der Schweizerei dienen also als frühes Fallbeispiel, an dem die Wirkungsmacht eingepferchter Tiere, die keine Bewegungsfreiheit haben, zu hinterfragen ist, und dazu, der Entwicklung der landwirtschaftlichen Mensch-Tier-Beziehung bis hin zur Massentierhaltung zu folgen. Jadon Nisly, M.A. Bachelor-Studium an der Valparaiso University, Indiana, Geschichte, Musik und Germanistik; Fulbright Stipendium in Linz, OÖ, 2010-11; Master-Studium am Lehrstuhl für Europäische Ethnologie der Universität Bamberg, abgeschlossen 2014. 34 Kerstin Weich (Wien) Sichtbarkeit der Unsichtbarkeit. Zu Repräsentationen von Nutztieren Die These vom Verschwinden der Tiere aus den modernen Gesellschaften ist ein gängiger Topos in der Forschung zu Mensch-Tier-Beziehungen (Grundlegend: Berger [1977], 664). Während in vormodernen Zeiten und Gesellschaften Menschen und Tiere Lebensräume und deren Bearbeitung teilten, sorgen Urbanisierung und Industrialisierung für die zunehmende Trennung von Tieren und Menschen. Einstige Nähe und Verbundenheit werden von Entfremdung und Indifferenz abgelöst. Das kulturpessimistische Metanarrativ verlangt in seiner Anwendung auf die mit der Moderne massenhaft werdende Haustierkultur nach einer Erklärung: Kommt hier nicht gerade Nähe zwischen Mensch und Tier auf? Der Schein trügt: Der von sich und von der Natur entfremdete Mensch reproduziert sich im überzüchteten, eingesperrten Haustier nur selbst: „[...] the pet is a creature of its owner‘s way of life“ (Thomas 1996, 119). Im Bereich der industrialisierten Nutzung von lebensmittelliefernden Tieren bereitet die These vom Verschwinden der Tiere weniger Probleme, denn es handelt sich um ein tatsächliches körperliches, räumliches Verschwinden. Das Haustier wird ent-tiert, das Nutztier bezahlt sein „Tier-Bleiben“ mit der Verbannung aus der zur Stadt gewordenen Menschenwelt. Kuh und Schwein verschwinden in geschlossenen Mastanlagen, geschlachtet wird im Akkord in zentralisierten Fleischversorgungsbetrieben hinter verschlossenen Toren. Die Unsichtbarkeit der Nutztiere zeitigt offensichtlich verheerende Konsequenzen: Kinder malen Hühner mit vier Beinen, und Erwachsene erkennen das Rind nicht einmal mehr in dem Steak auf ihren Tellern. Nicht die Realität von Melkanlagen und Turbomast bevölkern die Köpfe der Konsumenten, 35 sondern die romantisierenden Bilder der Lebensmittelindustrie. Gleichzeitig führt die These von der Unsichtbarkeit und der Verborgenheit der Nutztiere zu einer Flut an Bildern, die das verbannte Nutztier zurück in die Köpfe der Menschen bringen sollen. In meinem Beitrag möchte ich der Frage nachgehen, auf welche Art und Weise die Topoi von Nähe und Ferne, Anwesenheit und Unsichtbarkeit die Wahrnehmung von Nutztieren anleiten. Dabei werde ich mich auf einige zentrale Motive innerhalb der bildnerischen Sichtbarmachungen von Nutztieren im Tierschutz konzentrieren. Anstatt den Bildern von Mastschweinen, deren Rüssel aus dem Dunkel in den Bildvordergrund ragt, den Status aufklärerischer Abbildung von Realitäten zuzuschreiben, möchte ich einige Aspekte der spezifischen Ästhetik der Nutztiere des Tierschutzes in den Blick nehmen. Die These der wahrnehmungsleitenden Funktion der Opposition von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit kann so an ausgewählten Bildmotiven exemplarisch geprüft und schließlich auf ihre Konsequenzen hin befragt werden. Seit 2012 in der Abteilung Ethik der Mensch-Tier-Beziehung am Messerli Forschungsinstitut wissenschaftliche Koordinatorin des Forschungsprojekts „Vethics for vets – Ethik in der amtstierärztlichen Praxis.“ 2013 Lehrauftrag für Angewandte Ethik in der Tiermedizin an der Vetmeduni Wien. Zusätzlich zum Magisterstudium der Neueren Deutschen Literaturwissenschaft, Philosophie und Publizistik an der Technischen Universität Dresden und der Freien Universität Berlin approbierte sie 2011 an der Freien Universität Berlin in Veterinärmedizin. Danach war sie in der kurativen Tiermedizin (Kleintiere) sowie als Referentin in Forschung und Lehre selbständig tätig. 2012 Young Scholar Award der World Association for the History of Veterinary Medicine mit einem Essay zum Gesundheitsbegriff in der Tiermedizin. Thomas, Keith: Man and The Natural World. New York [u.a]. 1996, S. 119. Berger, John: „Vanishing Animals“. In: New Society 39, 1977, S. 664. 36 Christian Dölker (München) Produktive Fragmentierungen. Von nützlichen Tieren zu Haus- und Nutztieren. „Ein Bauer hat sein Schwein gern und freut sich doch, dessen Fleisch einzupökeln“1 Die Industrialisierung im 19. Jahrhundert schafft die ökonomischen Voraussetzungen für die gegenwärtige Form der Tier(aus?)nutzung, die einen entscheidenden Bruch zwischen Mensch und Tier erzeugte, einen Bruch, der sich anhand einer Geschichte des Begriffs „Nutztier“ nachvollziehen lässt. „Nutztiere“ bestehen aus Fleisch, Leder, Horn, Fett, Federn, Fell etc., die Tiere sind hinter ihrem partikularen Nutzen verschwunden. Ursprünglich waren Tiere jedoch, so John Berger, mit den Menschen in der Form eines „existenziellen Dualismus“ verbunden. „Sie wurden unterworfen und verehrt, gezüchtet und geopfert.“2 Dieser Dualismus verändert sich spätestens im 19. Jahrhundert gravierend. Im 19. Jahrhundert dominiert zunächst der Begriff „nützlich“ populäre Beschreibungen von Tieren oder Tier-Mensch-Verhältnissen.3 Etliche Beispiele dafür enthält Die Gartenlaube – Illustriertes Familienblatt, in welcher von 1853 bis 1899 über 1.000 Texte zu Tieren erscheinen und die 1875 wöchentlich eine Auflage von 385.000 erreicht. In den unterschiedlichsten Texten der Wochenzeitschrift gelten Tiere als „nützlich“ (z.B. Vögel, Insekten), weil sie handeln und diese Handlungen den Menschen betreffen. Von den heutigen „Nutztieren“ (z.B. Schweine, Rinder, Schafe) ist kaum die Rede. Die Beschreibungen von „nützlichen“ Tieren geben auch Aufschluss über die Ideale der bürgerlichen Gesellschaft. Pflichtbewusste Tiere und Menschen zählen zur großen Gemeinschaft der „Nützlichen“. Schädlinge und Nichtsnutze sind die auszurottenden Feindbilder. 37 In der Gartenlaube ist ein Prozess der ökonomischen Überformung des Begriffes „Nutzen“ erkennbar. Zu beobachten ist ab den 1860er Jahren eine Zunahme von Texten, die Tiere auf ökonomische Ertragsmöglichkeiten reduzieren und von deren Praxis berichten. Sie erfassen den Nutzen der Tiere in unterschiedlichen Maßeinheiten für seine ökonomisch relevanten Bestandteile. Im Gegenzug nimmt auch die Zahl der Texte zu, die Tiere zunehmend in die bürgerliche Familie integrieren, sie sind „Haustier“, „Hausgenosse“ oder „Hausfreund“. Das Tier, das handelt, das man liebt und schlachtet, verschwindet zunehmend. Die Analyse von Texten der Gartenlaube erlaubt den Einstieg in einen populären Diskurs über Tiere, der selbst ökonomischen Zwängen unterliegt. Dabei sind die Texte Teil des Prozesses, den sie beschreiben. Ich möchte zeigen, wie diese Texte in zunehmendem Maße „das Tier“ fragmentieren, wie Wissenschaftsgebiete, Lebenspraxen und Schreibkonventionen professionellen Anspruch auf „das Tier“ erheben und schließlich der Anspruch ökonomischer Texte an „das Tier“ das Nutztier und das Haustier je als effizientere Variante des „nützlichen Tiers“ hervorbringt. Christian Dölker erlangte 2011 das Staatsexamen an der LMU München in den Fächern Germanistik, Geschichte, Philosophie und Politikwissenschaften für das Lehramt an Gymnasien. 2011–2012 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Neueren deutschen Literaturwissenschaft an der LMU München. Seit 2013 Promotionsstipendiat des Evangelischen Studienwerks Villigst. Thema der Dissertation: Tiere im deutschen Realismus 1850–1890. 1 Berger, John: Das Leben der Bilder oder die Kunst des Sehens. Berlin, 2003, S. 12-35, hier S. 15. 2 Ebd. 3 Z.B. Vogt, Carl: Vorlesungen über nützliche, verkannte und verleumdete Thiere. In: Gartenlaube 1861-1863. 38 Martin Balluch (Wien) und Harald Lemke (Lüneburg/Salzburg) Moderation: Christoph Winckler (Wien) Öffentliche Podiumsdiskussion: Ethik der Mensch-NutztierBeziehung Die vielfältigen Nutzungsformen von Tieren stellen eine ökonomische und zugleich für die meisten Verbraucher_innen unsichtbare Grundfeste der modernen Gesellschaft dar. Die Omnipräsenz der Tiernutzung, die Intensivierung von Produktionssystemen und zugleich die Einsicht in die Leidensfähigkeit von Tieren fordern Fragen nach der Legitimität der Ökonomien tierischer Produktionen heraus, die neben Umwelt- und Tierschutzverbänden auch Verbraucher_innen verstärkt in Verantwortung nehmen. Seuchen wie die Bovine spongiforme Enzephalopathie (BSE), die hochpathogene Influenza-Virus-Infektion (Vogelgrippe) oder die Schweinepest sind akute Bedrohungen nicht nur für die tierliche, sondern auch menschliche Gesundheit, deren ökologische Folgen vielfältig, drastisch und zudem nicht immer abschätzbar sind. Sie stellen die gesellschaftlich unsichtbaren Hochleistungsproduktionssysteme der Nahrungsmittelindustrie ebenso infrage wie unsere tradierten Konsumgewohnheiten und fordern ethische Fragestellungen und Anliegen heraus. In der Frage nach der Legitimation der Tiernutzung verschränken sich kulinarische Bedürfnisse, ökonomische Zwangslagen, ethische Bedenken und soziokulturelle Empfindlichkeiten. Umso schwieriger ist es, auf sie eine eindeutige Antwort zu finden, die den unterschiedlichen Interessen, Motiven, Notwendigkeiten und Gemütslagen der jeweiligen Akteure gerecht wird. Wie kann eine Definition von Ethik im Kontext der intensiven Nutzung von Tieren gedacht und umgesetzt werden? Welche gesellschaftlichen Funktionen 39 und Aufgaben kann Ethik übernehmen? Wo verlaufen die Grenzen ethischen Handelns? Sind tier- und ernährungsethische Perspektiven miteinander vereinbar? Diese und andere Fragen, ob, wozu und/oder inwieweit Menschen Tiere nutzen dürfen, stehen im Mittelpunkt der Podiumsdiskussion zwischen dem Tierrechtler Martin Balluch (Wien) und dem Gastrosophen Harald Lemke (Lüneburg/Salzburg). Martin Balluch Martin Balluch studierte Mathematik, Physik und Astronomie an der Universität Wien; 1989 Dissertation in mathematischer Physik an der Universität Heidelberg, anschließend Forschungstätigkeit an der Universität Cambridge am Institut für Applied Mathematics and Theoretical Physics; 2000 bis 2005 Studium der Philosophie an der Universität Wien, Dissertation über Tierrechtsphilosophie; Kampagnentätigkeit für Tierschutz und Tierrechte in England und seit 1997 in Österreich; seit 2002 Obmann des Vereins gegen Tierfabriken; 2012 erhielt er den internationalen Myschkin-Ethikpreis im Theatre de l’Odeon in Paris für seine Tierschutzarbeit als advokatorischer Humanismus und in Anerkennung seiner Rolle im Tierschutzprozess. Harald Lemke Harald Lemke, Prof. Dr. habil., Direktor des Internationalen Forums Gastrosophie, Salzburg; www.gastrosophie.net (i.E.); lehrt Philosophie am Zentrum für Gastrosophie. Ernährung – Kultur – Gesellschaft, Universität Salzburg sowie am Institut für Philosophie und Kunstwissenschaft, Universität Lüneburg. Gastprofessuren: Department of Urban Management, Universität Kyoto; Departement of Philosophy, East China Normal University Shanghai. Fellow der Alexander von Humboldt-Stiftung, der Deutschen Bundesumweltstiftung sowie der Studienstiftung des Deutschen Volkes. Universitäre Ausbildung (Studium, Promotion, Habilitation) an den Universitäten: Konstanz, Hamburg, Frankfurt, Berkeley, Lüneburg. www.haraldlemke.de; Arbeitsschwerpunkte: Sozialphilosophie, Theorie des Politischen, Ethik des guten Lebens, Ästhetik, Alltagskultur, Praxistheorien und transdisziplinäre Nachhaltigkeitsforschung. 40 Sven Tjaben (Berlin) Tierisch hungrig – Geschichten von Mensch und Tier Der Schauspieler und Erzähler Sven Tjaben trägt Tiermärchen, Fabeln und Geschichten vor, die mit dem Verhältnis Mensch-Tier-Tier-Mensch zu tun haben. In traditionellen Geschichten, die, bevor sie aufgeschrieben wurden, schon Jahrhunderte von Mund zu Ohr über alle Ländergrenzen hinweg erzählt wurden, wundert sich niemand, wenn ein Tier plötzlich sprechen kann, und so kommen in den Erzählungen am Ende der Tagung über Mensch-Nutztier-Beziehungen quasi die Tiere selbst zu Wort. In Bremen geboren und aufgewachsen, in Hamburg zum Schauspieler ausgebildet, bereist Sven Tjaben als Theaterschaffender seit über 20 Jahren den deutschsprachigen Raum. Durch eigene Projekte auf der Schnittstelle zwischen Lesung, Kabarett und Musikcomedie entdeckte er das freie Erzählen von Geschichten und ließ sich an der Universität der Künste Berlin zum Erzähler weiterbilden. Erzählen ist eine der ältesten Kunstformen und erlebt im deutschsprachigen Raum gerade eine Renaissance. 41 42 TEILNEHMER_INNEN Vortragende Dr. Dr. Martin Balluch (Verein gegen Tierfabriken, Wien) Ina Bolinski, M.A. (Institut für Medienwissenschaft, Ruhr-Universität Bochum) Prof. Dr. Dorothee Brantz (Institut für Kunstwissenschaft und Historische Urbanistik, Technische Universität Berlin) Christian Dölker, M.A. (Institut für Deutsche Philologie, Universität München) PD Dr. Michaela Fenske (Institut für Europäische Ethnologie, Humboldt-Universität zu Berlin) Felix Heinert, M.A. (Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung, Marburg) Markus Kurth, B.A. (Chimaira – Arbeitskreis für Human-Animal Studies, Hamburg) Univ. Doz. Mag. Dr. Ernst Langthaler (Institut für Geschichte des ländlichen Raumes, St. Pölten; Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Universität Wien) Prof. Dr. Harald Lemke (Institut für Kulturtheorie, Universität Lüneburg; Interdisziplinäres Zentrum für Gastrosophie, Universität Salzburg) Jadon Nisly, M.A. (Lehrstuhl für Europäische Ethnologie, Universität Bamberg) 44 Marcel Sebastian, M.A. (Fachbereich Sozialwissenschaften, Group for Society and Animal Studies, Universität Hamburg) Mag. phil. Veronika Settele, MSc. (Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin) Raffaela Sulzner, B.A. B.A. (Institut für Europäische Ethnologie, Universität Wien) Jan Taubitz, M.A. (Historisches Seminar, Universität Erfurt) Sven Tjaben (Schauspieler und Erzähler, Berlin) Ao. Univ.-Prof. Dr. med. vet. Susanne Waiblinger (Institut für Tierhaltung und Tierschutz, Veterinärmedizinische Universität Wien) MMag. Kerstin Weich (Messerli-Forschungsinstitut, Ethik der Mensch-Tier-Beziehung, Veterinärmedizinische Universität Wien) Barbara Wittmann, M.A. (Institut für Information und Medien, Sprache und Kultur, Vergleichende Kulturwissenschaft, Universität Regensburg) 45 Moderator_innen Univ.-Ass. Dr. Martin Huth (Messerli Forschungsinstitut, Veterinärmedizinische Universität Wien) Dr. Peter Moser (Archiv für Agrargeschichte, Bern) Univ.-Ass. Dr. Alexandra Schwell (Institut für Europäische Ethnologie, Universität Wien Univ.-Ass. Dr. Jens Wietschorke (Institut für Europäische Ethnologie, Universität Wien) Univ.-Prof. Dr. med. vet. Christoph Winckler (Institut für Nutztierwissenschaften, Universität für Bodenkultur, Wien) Prof. Dr. Clemens Wischermann (Fachbereich Geschichte und Soziologie, Universität Konstanz) Univ.-Prof. Dr. Stefan Zahlmann (Institut für Geschichte, Universität Wien) Konzeption und Organisation Univ.-Ass. Dr. Lukasz Nieradzik (Institut für Europäische Ethnologie, Universität Wien) Univ.-Prof. Dr. Brigitta Schmidt-Lauber (Institut für Europäische Ethnologie, Universität Wien) 46 NOTIZEN 48 49 50 51 52 53 54
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