Macksey, Kenneth – Guderian der Panzergeneral (1976, 308 S.)

KENNETH MACKSEY
GUDERIAN,
DER PANZERGENERAL
Mit einem Nachwort von
HEINZ G. GUDERIAN
Generalmajor a. D.
VERLEGT BEI
KAISER
Titel der bei Macdonald and Jane's
/Macdonald & Co. (Publishers) Limited/, London
erschienenen Originalausgabe: »Guderian«
Aus dem Englischen von Guy Montag.
Fotonachweis:
Alle Abbildungen stellte der Verlag Macdonald and Jane's,
London, zur Verfügung. Genauere Angaben siehe Bildteil.
Alle Rechte vorbehalten.
Berechtigte Ausgabe für den Neuen Kaiser Verlag Gesellschaft m.b.H., Klagenfurt,
mit Genehmigung der Econ Verlag GmbH., Düsseldorf und Wien
Copyright © 1975 by Kenneth Macksey
Copyright © 1976 der deutschen Ausgabe by Econ Verlag GmbH..
Düsseldorf und Wien
Schutzumschlag: Volkmar Reiter
Reproduktion: Schlick KG., Graz
Gesamtherstellung: Gorenjski Tisk, Kranj - Slowenien
INHALT
Vorwort.......................................................................................
7
1 Ein eigentümlicher Kerl........................................................
12
2 Grundlagen für die Zukunft..................................................
25
3 Die schwärzesten Tage.......................................................
44
4 Die Suche nach einem Retter..............................................
60
5 Der Aufbau der Panzertruppe..............................................
87
6 Rechtfertigung in Polen....................................................... 119
7 Grünes Licht durch Frankreich...........................................
142
8 Das Schicksal eines Helden................................................ 183
9 Die Straße nach Lötzen....................................................... 230
10 Der Letzte in der Reihe......................................................... 269
11 Die Schlußetappe................................................................. 290
12 Seher,
Techniker,
Genius
oder
Deutschlands
bester
General?..................................................................................... 297
Nachwort...................................................................................
308
Bibliographie............................................................................... 310
Personen- und Sachregister....................................................... 312
VORWORT
Von den Organisationen, die wegen ihrer Rolle im Zweiten Weltkrieg
gehaßt und verfolgt wurden, sah sich von den vom Internationalen
Militärgerichtshof in Nürnberg Freigesprochenen keine eindeutiger
verdammt als der deutsche Generalstab. Die Richter fühlten sich
verpflichtet, ihrem Urteil in charakteristisch hochmoralischem Ton
hinzuzufügen: »Er ist eine Schande für das ehrenwerte Kriegshandwerk
gewesen. Ohne seine militärische Ausführung wären die aggressiven
Ambitionen Hitlers und seiner Nazigefolgschaft akademisch und steril
geblieben.« Diese Bemerkungen betrafen natürlich nur eine kleine
Minderheit, die herrschende Gruppe im Generalstab, die Positionen von
höchster Verantwortlichkeit bekleidet hatte. Darunter befanden sich auch
mehrere ranghohe Kommandeure und Generalstabsoffiziere, die nicht
auf der Anklagebank in Nürnberg saßen, aber selbst zu einem späteren
Zeitpunkt vor Gericht gestellt werden sollten. Dem gefeiertsten Mann
dieser Gruppe, dem Schöpfer der Panzertruppe, die, vor allen anderen
Einheiten der deutschen Wehrmacht, ihre Eroberungen rasch und
dadurch ökonomisch ausgeführt hatte und deren Kampfkraft in den
Tagen des Vormarsches äußerst gefürchtet war, wurde indessen
niemals der Prozeß gemacht.
Generaloberst Heinz Wilhelm Guderian, der Mann, der die Armeen
Europas zu Tode erschreckte und tiefe Unruhe in die konservativen, vom
Geist der Disziplin durchdrungenen Kreise des deutschen Militärs
brachte, ist bis heute ein Rätsel geblieben. Auf der einen Seite
widersetzte er sich der Forderung nach Anonymität, die von einem
Mitglied des Generalstabes verlangt wurde, und wurde ein ausgeprägter
Publizist radikaler Ideen, einer, der in den vordersten Linien einer
hitzigen Debatte stand, aufgrund deren spaltende Elemente sowohl in
der politischen als auch der militärischen Sphäre des Dritten Reiches
Eingang fanden. In den Augen der Weltöffentlichkeit wurde er zur
Personifizierung des typischen, grundehrlichen Preußen, der sich dem
Krieg verschrieben hatte. Für das deutsche Volk war er jedoch auf der
Höhe seiner Erfolge ein Held - ein Offizier, den auch die Soldaten
verehrten. Auf der anderen Seite betrachteten ihn mächtige Widersacher
in den Reihen der Wehrmacht als Gefahr für die Unantastbarkeit ihrer
Kaste, während er in den Augen einflußreicher Mitglieder der
Nazihierarchie viel von dem verkörperte, was ihnen an Armeeoffizieren
zuwider war, obwohl er zuweilen ihrer Denkweise näherzustehen schien
als die Mehrzahl der Angehörigen des Generalstabes. Von ihnen allen
schien keiner undurchsichtiger in seiner Beziehung zu Guderian zu sein
als Adolf Hitler selbst.
Die Aufzeichnung von Guderians militärischen Taten wurde verfälscht
durch die Vorurteile, die er durch seine Impulsivität und seinen Mut
hervorrief. Kein Wunder, daß ihm Orthodoxe in ihrer Denkweise feindlich
gegenüberstanden, und daß die Eifersucht ständig wachgehalten wurde
durch die Verletzten einer heftigen Auseinandersetzung in den Reihen
einer revolutionären deutschen Hierarchie. Welche glaubwürdige
persönliche Verteidigung konnte ein General vorbringen in den Jahren
nach einer Epoche der Gewalt und des Hasses, ein General, der ohne
Gerichtsverfahren drei Jahre lang hinter Gittern gefangengehalten
worden war?
Mit den Erinnerungen eines Soldaten schrieb Guderian ein Buch, das
in Wirklichkeit einen Bericht über den Aufbau der Panzertruppe darstellt,
in den hinein eine Rechtfertigung seiner Handlungen in den Jahren
danach geflochten wurde. Seit seiner Veröffentlichung im Jahre 1951
wurde dieses Buch zu einem Standardnachschlagwerk für Fragen in
Zusammenhang mit der Panzertruppe und Guderian, obwohl es zur
Kritik förmlich einlädt wie zwangsläufig alle Autobiographien. Abgesehen
von einigen Auslassungen kommt es den Erfordernissen der Genauigkeit
sehr nahe, weil die gesamten Familienpapiere der Guderians erhalten
geblieben sind.
Für eine ausgewogene Beschreibung des Menschen Guderian ist es
jedoch seltsamerweise mit Mängeln behaftet. Teils läßt sich das aus der
Tatsache erklären, daß zum Zeitpunkt des Entstehens des Buches dem
Verfasser die offiziellen Unterlagen nicht zugänglich waren, anhand
derer er sein Wissen hätte auffrischen und erweitern können, teils weil
es noch an Memoiren anderer mangelte. In gewisser Weise erwies sich
Guderian als sein eigener schlechter Anwalt, weil er dem Leser Einblick
in seine Herkunft und die fundamentalen Beweise verweigerte, die den
Mann in seiner Entwicklung und sein tatsächliches Denken im richtigen
Licht zeigen. Er zog es vor, die Geschichte seiner ersten fünfunddreißig
Lebensjahre auf ein paar Seiten zusammenzufassen, und verbarg auf
diese Weise Ursachen von vielem, was sich später ereignete. Die
Gründe dafür sind nicht völlig im dunkeln. Eine gewisse Mutmaßung
seinerseits, er müsse über eine makellose Integrität verfügen, scheint ihn
geleitet zu haben, gewiß eine verständliche Einstellung, aber eine, die
ihn zuweilen zu gut, um wahr zu sein, klingen läßt. Obwohl private
Dokumente in sehr starkem Maße seine Aussagen bekräftigen, machte
er sich nur sehr selten die Mühe, sie anzuführen. Bei der Klärung einiger
strittiger Punkte, wie beispielsweise mehrerer Anschuldigungen gegen
ihn oder der Umstände bestimmter Intrigen, verfiel er in ausweichende,
auch abwegige Antworten, anstatt grobe Erwiderungen zu geben, wie sie
bezeichnend für ihn waren. Selbst gegenüber seinen Peinigern legte er
einen fast übertriebenen Edelmut an den Tag, der seine eigene Sache
schwächte.
Man muß sich allerdings vor Augen führen, daß Guderian seine
Memoiren unter einer Art Streß verfaßte. Zum Großteil sammelte er das
Material, während er in amerikanischer Gefangenschaft war. Die
Amerikaner verhörten ihn, um Beweise sowohl gegen ihn selbst als auch
gegen seine alten Kameraden zu sammeln. Die erste Zeit seiner Haft
verbrachte Guderian unter äußerst schlechten, zuweilen sogar
erniedrigenden Bedingungen, immer gewärtig, unter Anklage gestellt zu
werden. Selbst als die Amerikaner und Engländer ihn freiließen, waren
die Polen bemüht, ihn in Zusammenhang mit der Schlacht um Warschau
1944 vor Gericht zu stellen. Später kam es zu einem Rechtsstreit mit
Fabian von Schlabrendorff, dessen Buch Offiziere gegen Hitler 1946 in
der Schweiz erschienen war und 1948 in einer Tageszeitung in der
Bundesrepublik im Abdruck erscheinen sollte. Einige Abschnitte dieses
Buches waren für Guderian nachteilig; sie vergrößerten nicht nur die
Abneigung derer, die ihn immer abgelehnt hatten, sondern veranlaßten
Guderian auch, juristische Schritte zu unternehmen. Obwohl
Schlabrendorff im Jahre 1948 dazu veranlaßt wurde, die betreffenden
Passagen öffentlich zu widerrufen, war der Schaden nicht wieder
gutzumachen. Immer wurde Schlabrendorffs erste Auflage zitiert - und
sie wird es auch heute noch. Trotz einer 1951 veröffentlichten
Überarbeitung seines Buches, in der alle Hinweise auf Guderian
gestrichen sind, und trotz Erscheinens eines weiteren Buches,
Geheimkrieg gegen Hitler (1956), also lange nach Guderians Tod, in
dem dieser kaum erwähnt ist, wird Schlabrendorff immer noch große
Glaubwürdigkeit zugute gehalten. In seinen Erinnerungen eines Soldaten
dementierte Guderian alles, was Schlabrendorff in Zusammenhang mit
seinem (Guderians) Vorgehen gegen die Anti-Hitler-Verschwörer
geschrieben hatte, obwohl er keineswegs die Angelegenheit zur vollen
Zufriedenheit seiner Leser aufhellte, wie er es sehr leicht mit
beträchtlicher Glaubwürdigkeit vermocht hätte.
Private Papiere, besonders die Korrespondenz Guderians mit seiner
Frau, tragen dazu bei, Licht in verschwommene Abschnitte der
Erinnerungen zu bringen und einige Lücken aufzufüllen. Man beginnt,
die grundlegenden Charaktermerkmale dieses Mannes zu erkennen,
seine Menschenliebe und seinen ausgeprägten Patriotismus. Auch die
gewollt betonte Ehrlichkeit kommt in allen Zeilen Guderians zum
Ausdruck, denn zuweilen fand er Worte von erschreckend gefährlicher
Klarheit. Die Briefe aus der damaligen Zeit - so verschieden in vielerlei
Hinsicht im Vergleich zu den Memoiren so mancher deutscher Generäle
- erweisen der Geschichte einen Dienst und machen ein wesentliches
Verstehen der Umstände und Faktoren möglich, die auf deutscher Seite
eine Rolle spielten und die die Deutschen verwirrten. Es ist gut, von
wichtigen Leuten mit kreativer Fähigkeit zu wissen, wie sie in
Augenblicken plötzlichen Umschwungs denken, und die Idealisten voll
Weitblick und Schwung zu verstehen, Männer, die in Tagen des
Unglücks folgern, wie es Guderian im Jahre 1919 inmitten der Wirren
einer Revolution zitierte:
»Sei's trüber Tag, sei's heit'rer Sonnenschein,
ich bin ein Preuße, will ein Preuße sein!«
Weiter schrieb er: »Jetzt kommt's darauf an, den Schwur zu halten.
Wenn jeder sagt: ,Ich nicht, andere können das machen', dann geht
Deutschland unter. Jeder, der noch etwas Ehrgefühl hat, muß vielmehr
sagen: ,Ich will selbst helfen'.«
Dies ist in der Tat die Geschichte eines Preußen, der zuweilen dazu
neigte, mehr preußischen Weitblick an den Tag zu legen als die Preußen
im allgemeinen, einer, der klare Vision mit korrekter Ehrenhaftigkeit und
subtiler Flexibilität bei der Verwirklichung moderner Ideen miteinander
verband, die eine Antithese zur Starrheit darstellten.
Ich bin Generalmajor Heinz Günther Guderian außerordentlich
dankbar, der mir Familienpapiere zugänglich machte, die hier zum
erstenmal an die Öffentlichkeit gelangen, und der meine Entwürfe mit
dem Geist seines Vaters las, das heißt über einen strittigen Punkt mit
gutgelaunter Geduld debattierte, einer Herausforderung nobel, wie er ist,
niemals aus dem Weg ging, und wie sein Vater absolut aufrichtig war,
wenn es die Umstände verlangten. Guderians einstiger Chef des Stabes
Walther Nehring bemerkte einmal zu mir, wenn man den Sohn kenne,
erhalte man ein gutes Bild des Vaters. Im Lauf der Zeit, während ich
Heinz Günther Guderian kennenlernte, sah ich diese Erfahrung bestätigt
und fand bei meiner Arbeit Freude daran.
Den deutschen Generälen, die mir halfen, bin ich ebenfalls sehr
dankbar: Walther Nehring, dem Doyen von Guderians Stabsoffizieren
und einem anerkannten Historiker der Panzerwaffe; Hermann Balck,
einem der tüchtigsten und kämpferischsten von Guderians alten
Waffenkameraden, der mich nicht nur warnte, daß, »um Guderian zu
verstehen, man preußische Disziplin verstehen muß«, sondern auch
einen Essay über dieses Thema schrieb; Wilfried Strikfeld und den
Generälen Chales de Beaulieu und Walter Warlimont, die mir einige
knifflige Fragen beantworteten. Wie bei früheren Gelegenheiten, leistete
mir Dr. Kurt Peball vom Österreichischen Kriegsarchiv Hilfe, ebenfalls
Dermot Bradley. Ich bin gleichfalls Generalleutnant G. Engel, Oberst H.
W. Frank, Oberst G. von Below, Paul Dierichs und Oberstleutnant H.
Wolf für Erinnerungen an Guderian verbunden und den Generalmajoren
Kurt von Liebenstein und K. von Barsewisch für die Erlaubnis zur
Benutzung ihrer Kriegstagebücher.
Natürlich war es sehr wichtig, daß ich in den Besitz guter
Übersetzungen vieler deutscher Bücher und Dokumente gelangte. In
dieser Hinsicht war ich äußerst glücklich, die Hilfe und den Rat von
Helga Ashworth, Reinhold Drepper sowie Simon und Ursula Williams zu
haben, die lange Stunden mit dem Entziffern von Briefen und amtlichen
Unterlagen zubrachten.
Die Fotos hat zum Teil das Bundesarchiv zur Verfügung gestellt;
andere kommen aus dem Imperial War Museum. Alle übrigen Bilder
entstammen den Alben der Familie Guderian und wurden mit
freundlicher Genehmigung von Generalmajor Heinz Günther Guderian
verwendet. (Genaueres siehe Bildteil.) Ich bin Peter Chamberlain und
Brian Davis für ihre Hilfe bei der Bildbeschaffung dankbar.
Den Mitarbeitern der verschiedenen Museen und Bibliotheken, die mir
so viele wichtige Unterlagen und Bücher beschafften, gilt mein großer
Dank. Ich habe stets ihre endlose Geduld bewundert. Ich erwähne dabei
besonders das Royal Armoured Corps Museum, das Royal Signals
Museum, das Imperial War Museum, die Bibliothek des britischen
Verteidigungsministeriums und das Amt des amerikanischen
Nationalarchivs. Zu guter Letzt, wie schon so oft, sage ich Margaret
Dünn für die Erstellung des Manuskripts und ihre kritischen
Anmerkungen, Michael Haine für die Anfertigung der Karten und meiner
Frau für ihre ständige Unterstützung und Ermutigung Dank.
Diese Übersetzung hat gegenüber dem Original den Vorteil, daß
Einzelheiten, die der Autor seinerzeit nicht mit letzter Sicherheit
überprüfen konnte, korrigiert worden sind. Das heißt natürlich nicht, daß
das Original in der Substanz auch nur angetastet worden ist.
Kenneth Macksey
1
EIN EIGENTUMLICHER KERL
Am 21. Mai 1940 fuhr ein vom Staub der französischen Landstraßen
verschmutzter deutscher General, klein von Gestalt, aber erfüllt von
gewaltigem Enthusiasmus, in Abbeville ein und hielt Ausschau über den
Ärmelkanal. Am Abend dieses »denkwürdigen Tages«, wie er ihn später
beschrieb, sonnte er sich wenige Augenblicke lang in dem Bewußtsein,
daß ein Traum Wahrheit geworden war, denn auf dem Höhepunkt eines
in der Militärgeschichte noch nicht dagewesenen Vormarsches hatte das
von ihm geschaffene Armeekorps, stark mit Panzerfahrzeugen
ausgerüstet, die Stadt und ihre Außenbezirke erobert und hielt sie
unangefochten. Fast ohne Unterbrechung hatten sich die deutschen
Panzerstreitkräfte den Weg durch die unwegsamen Ardennen gebahnt,
eine an einem Fluß angelegte befestigte Verteidigungslinie
durchbrochen und auf dem Vormarsch durch Frankreich einen Großteil
der besten gegnerischen Einheiten einfach niedergemäht.
Noch ziemlich frisch hatten die Deutschen dann Abbeville fast
kampflos eingenommen, weil nach elftägigem Vorrücken, bei dem rund
350 Kilometer zurückgelegt wurden, die feindlichen Truppen weit hinten
geblieben waren. Die anglo-französischen und die belgischen Armeen
hatten, von den Deutschen wirkungsvoll überrollt, zerschlagen
zurückbleiben müssen; die übrigen Kanalhäfen waren praktisch ohne
Verteidigung und reif für die Eroberung, und diejenigen der
ausmanövrierten alliierten Verbände, die noch über einen gewissen Grad
von Zusammenhalt verfügten, waren auf eine Zuschauerrolle
beschränkt, immer gewärtig, völlig eingeschlossen zu werden.
General der Panzertruppe Heinz Wilhelm Guderian hatte den Zenit
seiner Karriere erreicht. Mit geringen Verlusten und unter Einsatz von
nur drei Divisionen hatte er, mit zeitweiliger Unterstützung durch andere
Heeresverbände und wirksame Entlastungsangriffe der Luftwaffe, die
anglo-französischen Verbündeten in ein Chaos gestürzt und in wenigen
Tagen das erreicht, woran das gesamte deutsche Heer trotz ungeheurer
Anstrengungen in den Kriegsjahren 1914 -1918 gescheitert war. Nun
hatte sich im Verlauf dieses Frankreichfeldzuges ein General zum Rang
eines Gustaf Adolf aufgeschwungen. Es war ihm gelungen, ein wirklich
revolutionäres Konzept samt den dazugehörigen Waffen in
Friedenszeiten zu schmieden und nach Kriegsausbruch seine Ideen
erfolgreich in die Tat umzusetzen.
Der Autoritätsunterschied zwischen dem Monarchen des 17.
Jahrhunderts und einem nicht einmal sehr ranghohen General machte
Guderians Leistung noch weitaus erstaunlicher. Die Truppen, die er
aufgebaut hatte, war aus der Überlegung entstanden, eine leicht
bewegliche Waffe zu schaffen und gleichzeitig den kämpfenden
Soldaten gepanzerten Schutz zu geben. In den von Guderian befehligten
Divisionen nahmen die Panzer eine Vorrangstellung ein, eine
Waffengattung, die vor 1918 kaum ihr Wirkungsvermögen bewiesen
hatte. So mußte an diesem 21. Mai 1940 schon allein das Tempo von
Guderians Vormarsch, das Engländer und Franzosen ebenso wie die
forsche und unauffällige Auswahl der Angriffsziele verwirrt hatte, auch
die konventionell denkenden Strategen und Taktiker im deutschen
Generalstab verblüfften, die die unglaubliche Entwicklung der Dinge auf
ihren Karten verfolgten und den Funksprüchen entnahmen, die aus der
vordersten Kampflinie der Panzer gesendet wurden.
Nun ist es aber keineswegs so, daß die deutschen Generalstäbler auf
ihrer Suche nach militärischen Verbesserungen saumselig gewesen
wären. Seit Generationen hatten sie es sich zur Aufgabe gemacht, die
neuesten technischen Errungenschaften und Techniken bei ihren
Planungen zu berücksichtigen, um schnelle Entscheidungen auf dem
Schlachtfeld zu erreichen. Ihr Hauptziel war die Lösung politischer
Probleme durch Kriege von kurzer Dauer.
Trotzdem wurden angesichts eines 1940 in greifbare Nähe gerückten
kurzen Feldzuges die letzten Pinselstriche an dem Bild, das die
Panzertruppen geschaffen hatten, paradoxerweise verpfuscht.
Vorsichtige Vorgesetzte bremsten Guderian. In einem Augenblick, in
dem ein einziger weiterer schneller Vorstoß die vollständige
Umzingelung des Gegners bedeutet hätte, befürchteten sie, er werde zu
große Risiken eingehen und sich übernehmen. Den Alliierten wurde es
dadurch ermöglicht, über Dünkirchen zu entkommen. Gleichwohl war die
Reaktion der deutschen Staats- und Militärhierarchie auf Guderians
Erfolge euphorisch. Generalmajor Alfred Jodl, der Chef des
Wehrmachtführungsamtes, berichtete, der Führer und Oberste
Befehlshaber Adolf Hitler sei »außer sich vor Freude gewesen und habe
bereits Sieg und Friedensschluß vorausgesehen...« Frankreich, soviel
stand fest, würde fallen, aber der Triumph wurde nicht vollkommen.
Denn die Briten, ermutigt durch das Entkommen ihrer Truppen,
weigerten sich, den Kampf aufzugeben. Es war keine leichte Aufgabe,
Panzer über den Kanal zu schaffen, und die Luftwaffe vermochte im
Gegensatz zum Heer keine Entscheidung aus eigener Kraft
herbeizuführen. Guderians methodisch errungener Erfolg wurde nun
zum Sporn auf dem Ritt ins Verderben.
Die immensen militärischen Erfolge und Landgewinne bei Einsatz von
vergleichsweise geringen Mitteln veranlaßten Hitler und seine in
Hochstimmung befindliche Umgebung zu der Annahme, ihre Panzerund Luftwaffenverbände seien praktisch unbesiegbar. Zwar sollten in
den darauffolgenden Jahren deutsche Panzer ihre Kettenspuren in
anderen Teilen Europas in den Boden graben, tief nach Rußland hinein
und längs der Küsten Nordafrikas vordringen. Aber nie mehr sollte ihnen
die Niederringung einer ganzen Großmacht mitsamt ihren Armeen
gelingen. Die Lektionen, die Guderian gelernt hatte, als er die gegen
Deutschland im Ersten Weltkrieg angewandten Taktiken studierte,
konnten ihrerseits kopiert werden. Ein ungeheures und unerwartetes
militärisches Übergewicht, wie es sich auf dem französischen
Kriegsschauplatz 1940 entwickelt hatte, sollte korrigiert werden.
Der Weg, der Guderian nach Abbeville führte, hat seinen Anfang weit
vor dem Punkt, an dem er ihn betrat. Er war Preuße, Angehöriger jenes
Stammes, der sich im Mittelalter zwischen Weichsel und Unterlauf der
Memel angesiedelt hatte und dessen schrittweise Ausbreitung nach
1466 aus dem natürlichen Aufbegehren eines Volkes zu erklären war,
das lange Zeit unter strenger polnischer Herrschaft gestanden hatte. Ob
Guderians Vorfahren niederländischer Abstammung, was gut möglich ist
oder - weniger wahrscheinlich - schottischer Herkunft waren, spielt hier
keine Rolle; unbestreitbar ist, daß ihre Erfahrung im Kriegshandwerk nur
gering war. Es waren Grundbesitzer und Akademiker, die, wie die große
Mehrheit der Junker, nicht über große Reichtümer verfügten.
Militärische Ahnherren, auf die sich Guderian berufen konnte,
entstammten der Familie seiner Großmutter, Emma Hiller von
Gärtringen. Drei Hiller-Generationen hatten eine Reihe preußischer
Generäle hervorgebracht, die unter Friedrich dem Großen oder in den
Befreiungskriegen gegen Frankreich kämpften. Ein Rudolf Freiherr Hiller
von Gärtringen war als Rittmeister beim Debakel von 1806 dabei und
zeichnete sich später als Kommandeur des 2. Neumärkischen
Landwehrkavallerieregiments in der Kampagne von 1813 gegen die
Franzosen und in der Entscheidungsschlacht gegen Napoleon 1815 bei
Waterloo aus. Ein anderer Hiller von Gärtringen soll 1861 einen Marsch
auf Berlin geplant haben, um dem Generalstab gegen den preußischen
Landtag zu Hilfe zu kommen.
Guderians Familie fand sich früh in die Rolle von zivilen Anhängern
eines sprießenden preußischen Militarismus, des Kults, der wie in einem
modernen Sparta unter dem Drängen des Retters der Armeen nach
1806, Gerhard von Scharnhorst, und seiner hervorragenden Nachfolger
Karl von Clausewitz, Albrecht Graf von Roon und Helmuth Graf von
Moltke dem Älteren in Blüte stand. Diese Männer lebten inmitten der
relativen Armut der Junkeraristokratie und erkannten die Notwendigkeit
von rechtzeitigen militärischen Vorbereitungen, eine Einstellung, die ein
späterer Chef des Generalstabs, Paul von Hindenburg, als
»Bedürfnislosigkeit« bezeichnete. Sie fühlten sich von einem
verpflichtenden Patriotismus beseelt, der ihnen beispielsweise traditionell
erlaubte, einen Putsch gegen die Regierung zu unternehmen,
vorausgesetzt, daß der Monarch keine Einwände erhob.
Heinz Guderians Vater Friedrich hatte die Bedürfnislosigkeit nur zu
gut am eigenen Leib verspürt. Sein Vater war jung gestorben und hatte
eine Witwe mit fünf Kindern zurückgelassen. Die Frau sah sich
gezwungen, das Familiengut in Hansdorf/Netze im Warthegau zu
verkaufen, um sich besser der Erziehung ihrer Kinder widmen zu können
(die Guderians bilden bis auf den heutigen Tag eine eng verbundene
Familiengemeinschaft), eine Maßnahme, die aus der preußischen
Weltanschauung zu verstehen ist, wonach persönliches Wohlergehen
durch Sparsamkeit erreicht werden muß. Aber es geschah auf eigenen
Wunsch, daß der junge Friedrich Guderian 1872 in das Kadettenkorps
eintrat, was zudem die Familienkasse entlasten half. Er traf in Berlin ein,
als dort noch die Nachwirkungen von Moltkes größtem siegreichem
Feldzug spürbar waren, die preußischen Waffen die Vorrangstellung
besaßen und Moltke dabei war, weitgehende technische Neuerungen im
Heer einzuführen. Gegen eine solche Modernisierung hatte sich der alte
Adel gesträubt, und Friedrich Guderian paßte daher gut in Moltkes
Pläne, den Adel in den Reihen der Armee durch Zufuhr von gesundem
Blut aus den Reihen des mittelständischen Bürgertums aufzufrischen
und dabei besonders Lücken bei den technischen Waffengattungen wie
Artillerie und Pionieren zu schließen. Bereits 1872 waren nur noch zwei
Drittel der Generalstabsoffiziere Adelige. Die Zahl der Offiziere
bürgerlicher Herkunft in den Reihen der Armee stieg sprunghaft an,
besonders bei den Pionieren, von denen es spöttisch hieß: »Er sank von
Stufe zu Stufe, schließlich wurde er Pionier.«
Friedrich Guderian kam allerdings zur Leichten Infanterie und wurde
Leutnant im 9. Jägerbataillon in einer Armee, bei der die Kavallerie auf
der gesellschaftlichen Rangleiter ganz oben stand, gefolgt von der
Gardeinfanterie, den Jägern und schließlich der Artillerie. Die Jäger
zählten ebenso wie die Kavallerie zu den beweglichsten Bestandteilen
einer Streitmacht, deren Kampfwille von Moltkes Forderung geprägt war,
Kriegserfolge müßten als natürliches Ergebnis von hoher Beweglichkeit
und Offensivaktionen gesucht werden. Als Neuling in der Armee, dem
traditionelle Vorstellungen, wie alles zu geschehen habe, fremd waren,
war Friedrich allen Neuerungen gegenüber aufgeschlossen und weit
entfernt davon, typische Moltke-Aussprüche wie »Errichtet keine
Befestigungsanlagen mehr, baut Eisenbahnen!« als Schock zu
empfinden. Diesen Sinn für radikale Aufgeschlossenheit vererbte er auf
seine Söhne, die ebenfalls Soldaten wurden.
Das Jahr 1888 wurde von außerordentlicher Bedeutung für Friedrich
Guderian und auch für Deutschland. Im Oktober 1887 hatte er
geheiratet, und am 17. Juni 1888 schenkte ihm seine Frau Clara den
ersten Sohn, Heinz. Zwei Tage zuvor hatte ein neuer Herrscher, Kaiser
Wilhelm II., den Thron bestiegen und verschrieb sich bald einer
ungestümen »Weltpolitik«, die an die Stelle der klugen,
staatsmännischen Politik des Kanzlers Otto von Bismarck trat.
Es wäre falsch zu behaupten, Deutschland habe in den neunziger
Jahren des letzten Jahrhunderts in einer Kriegsatmosphäre gelebt,
obwohl Frankreich nach dem verlorenen Krieg von 1870/71 auf
Revanche sann und auf den Schiffswerften des Kaiserreiches der
Versuch unternommen wurde, die Vorherrschaft der britischen Marine zu
brechen. Deutschland weitete seinen Handel aus. Es entstanden
Industriegebiete. Überall sah man in den großen Städten äußere
Zeichen eines Wohlstands, der zusammen mit der Reform des
Bildungswesens die alte preußische Nüchternheit ablöste. Solche
Änderungen der Regierungspolitik hatten jedoch kaum Auswirkungen auf
die Guderians, die sich der Routine eines ruhigen Garnisonslebens
hingaben nach dem Vorbild aller jung-verheirateten Paare, die einen
Platz in einer privilegierten Gesellschaft einnehmen. Heinz' Bruder Fritz
wurde im Oktober 1890 geboren. Im darauffolgenden Jahr siedelte man
nach Kolmar im Elsaß über und blieb hier bis 1900, als Vater Guderian
nach St. Avold in Lothringen versetzt wurde.
Zu diesem Zeitpunkt stand für Heinz und Fritz längst fest, daß sie
Berufsoffiziere werden wollten. Das war ein Wunsch, den ihr Vater
nachdrücklich billigte. Seine Zustimmung kam um so bereitwilliger, als
die äußeren Umstände diese Wahl vorteilhaft erscheinen ließen.
Während in St. Avold nur ungenügende Schulmöglichkeiten bestanden,
wurden an den Kadettenschulen in Deutschland moderne Fächer wie an
Realgymnasien, darunter Französisch, Englisch, Mathematik und
Geschichte, gelehrt. Von 1901 bis 1903 besuchten Heinz und Fritz
Guderian das Kadettenhaus Karlsruhe in Baden. 1903 wurde Heinz zur
Hauptkadettenanstalt in Groß-Lichterfelde bei Berlin versetzt, wohin ihm
Fritz später folgte. Hier gerieten sie unter den Einfluß preußischer
Disziplin in ihrer eindringlichsten und intellektuell entwickeltsten Form. Im
Gegensatz zu ihren absurden äußeren Erscheinungsformen - dem
steifen und minuziösen Zeremoniell von Drill, Uniform und Förmlichkeit manifestierte sie sich im Einschärfen einer letztgültigen Philosophie und
Haltung von einer Flexibilität, die von denen, die das Preußentum nur in
seiner unbeugsamen Form kennen, nicht ermessen werden kann.
Parallel zur einheitlichen Anwendung dieser Grundsätze wurde hauptsächlich zum Nutzen der Offiziere - jedem auch das Recht
zuerkannt, ja es sogar als wünschenswert bezeichnet, seine eigene,
abweichende Meinung zum Ausdruck zu bringen, bis ein Befehl
ergangen war. Auf diese Art wurde die Denkweise eines Kadetten
geschult, eine endgültige Autorität anzuerkennen, aber erst nachdem in
einer Diskussion alle Argumente ausgeschöpft worden waren. Hier muß
gesagt werden, daß sich diese Methode gar nicht so sehr von denen der
meisten anderen Armeen der Welt unterscheidet. Das heißt: Die
Mehrzahl dieser Armeen hatte das preußische System kopiert, wobei der
Unterschied zwischen ihnen oft nur gering war. Es war die von den
Deutschen perfektionierte Gründlichkeit, die bei ihren erschreckten
Feinden Furcht und Haß vor der überlegenen Art und Weise der
Ausführung auslöste. Nach außen hin ordnete sich Heinz Guderian
zunächst diesem System unter; seine Vorbehalte gegen den Geist, wenn
auch nicht gegen den Buchstaben sollten erst viel später in Erscheinung
treten, wenn es galt, sich schwierigen Situationen anzupassen. Eine
flexible Antwort hatte er später stets in seinen Planungen und Aktionen
zur Hand. Er lehnte sich nicht von Anfang an auf. Seine Beurteilungen
wurden besser, je mehr Fortschritte er machte und den notwendigen
Enthusiasmus in den Fächern zu entwickeln begann, die ihn später ein
Leben lang in ihren Bann ziehen sollten. Außerdem zählte er zu den
Klassenbesten.
In seinen Erinnerungen denkt er an seine Instruktoren und Lehrer in
Groß-Lichterfelde »... mit größter Dankbarkeit und Verehrung« zurück.
Das war bei den Ausbildern an der Kriegsschule in Metz nicht der Fall.
Von ihnen schrieb er 1908, daß »das bestehende System strebsamen
Leuten nicht genügt. Alles ist zu sehr auf das Mittelmäßige
zugeschnitten. Die halbe Zeit über habe ich mich sehr gelangweilt« und
fügte hinzu, daß er seine Vorgesetzten keineswegs angenehm fand.
Trotzdem kann man annehmen, wenn man die Zeugnisse liest, daß
seine Lehrer äußerst beeindruckt waren von dem jungen Kadetten, dem
sie bescheinigten, »bedächtig, strebsam, pflichttreu, ein guter Reiter und
von
solidem,
gefestigtem
Charakter
und
liebenswürdigen
Umgangsformen zu sein, von hervorstechender Neigung für den Beruf«.
Eine Ironie des Schicksals war es im Licht der späteren Entwicklung,
daß der junge Heinz Guderian in seinem Abschlußexamen im Lehrfach
Taktik schlecht abschnitt, weil er eine Verteidigungsstellung statt der
vorgeschriebenen Angriffslösung gewählt hatte.
Zu seiner großen Genugtuung war Guderian im Februar 1907 nach
Bitche entsandt worden, um als Fähnrich im Hannoverschen
Jägerbataillon Nr. 10 Dienst zu tun, unter seinem Vater, einem
Kommandeur, der sowohl von seiner Familie als auch von seiner Einheit
verehrt und gefürchtet wurde. Im Januar 1908 wurde er Leutnant und
gewöhnte sich an das Alltagsleben eines typischen jungen Offiziers, der
tierlieb, ein guter Reiter war und die Jagd und das Schießen liebte. Er
entwickelte auch einen Sinn für Architektur und das ländliche Leben,
ging ins Theater und tanzte gern. Aber Guderian war erschreckend
unmusikalisch und mußte einen Kadettenchor verlassen, als sich
herausstellte, daß er falsch sang. Darin lag vielleicht etwas
Bezeichnendes. Sein Tagebuch zeugt von erwachender Kritik an dem
System, in das er sich einordnen mußte und von einer gesunden
Skepsis, wie sie nur von einer sehr kleinen Anzahl seiner Zeitgenossen
geteilt wurde. Es berichtet auch vom Studium der Militärgeschichte.
Dank seines hervorragenden Gedächtnisses konnte Guderian ganze
Abschnitte aus klassischen und militärischen Werken zitieren. Von
nutzbringenden Manöverübungen unter dem Befehl seines Vaters ist
ebenfalls die Rede, von dem er sehr viel lernte. »Ich werde versuchen,
es geradeso zu machen wie er«, schrieb er.
Es gibt auch auf den Seiten eines Tagebuches, in dem er seine
Gedanken aufzeichnete, wie sie ihm in den Sinn kamen, Hinweise auf
eine feste Vorstellung von der Bedeutung dauerhafter Freundschaft. Im
Juli 1908 schrieb er in einem Anflug von Einsamkeit: »Die Kameraden
verlangen, ich solle mich enger an sie anschließen. Wenn sie mich nicht
zuerst vor den Kopf gestoßen hätten, wäre es wohl zu keiner Trennung
gekommen. Jetzt ist es sehr schwer, das alte Zutrauen wieder zu fassen.
Die Hochachtung ist zum größten Teil dahin. Man wirft mir mein kurz
angebundenes Wesen vor, soll ich mich in platten Redensarten ergehen
und Phrasen heucheln wie sie? Denn im großen Haufen kann ich nicht
mitlaufen.«
Und im November 1909 notierte er: »Wenn ich bloß einen wirklichen
Freund fände! Die Kameraden sind ja alle sehr nett, aber es gibt unter
ihnen keinen, auf den ich mich in allem verlassen könnte. Überall
herrscht Mißtrauen.«
Ein Jahr später fand er einen Hoffnungsschimmer, als einige neue
Offiziere zum Bataillon stießen und er nicht länger der Jüngste war:
»Mein Verhältnis zu den Kameraden gestaltet sich besser... Unsere
Jüngsten, unter ihnen (Bodewin) Keitel, sind sehr nett. Der Begabteste soldatisch und auch sonst - ist wohl Keitel.«
Damals schon stellte sich heraus, daß er besser mit seinen
gleichaltrigen Kameraden als mit den älteren Offizieren auskam, eine
Tatsache, die sich in seinem späteren Leben wiederholen sollte. Es gab
in diesem Punkt ausgeprägte Ähnlichkeiten zwischen Guderian und den
Männern, die in vieler Hinsicht später eine gleichwertige Rolle beim
Aufbau der britischen Panzerstreitkräfte spielten: Percy Hobart und J. F.
C. Füller. Hobart war den schönen Künsten noch mehr zugetan und
ebenso ernsthaft in seiner Berufsauffassung und seinem sprudelnden
kritischen Sinn, jedoch viel rauher und robuster, wenn es galt, eine
Meinung zu verteidigen. Trotzdem verstand sich Hobart zu Beginn seiner
Karriere ziemlich gut mit seinen Offizierskameraden, deren berufliches
Ethos er teilte, obwohl er zu den Pionieren gehörte, einem Elitekorps der
britischen Armee. Im Gegensatz dazu hielt Guderian viele seiner
Infanterieoffizierskameraden für ungenügend interessiert an ihrem Beruf.
In dieser Beziehung entsprach er der Einstellung von Füller, gleichfalls
einem Leichtinfanteristen, der sich von seinen Offizierskameraden
ebenso geistig isoliert sah, »... ein Mönch in einem Trappistenkloster,
denn wenn alle um einen herum morgens, mittags und abends nur die
gleichen Gesprächsthemen haben wie Fuchsjagd, Entenabschuß und
Forellenfang, ist es genau so, als würden sie gar nichts sagen.« Füllers
Kritik war auf diese Weise ebenso beißend, wie die Guderians werden
sollte. Ihr Fluchtweg aus der Mittelmäßigkeit war der gleiche - sie
bewarben sich um Versetzung an eine Generalstabsakademie.
Im Oktober 1909 wurde das Jägerbataillon Nr. 10 nach Goslar am
Harz verlegt, eine der schönsten Gegenden Deutschlands. Hier lernte
Heinz Guderian Margarete Goerne kennen und verliebte sich in das
Mädchen. Zu Schwierigkeiten kam es indessen, als die beiden im
Dezember 1911 beschlossen zu heiraten. Gretel, wie er sie nannte, war
erst achtzehn, und ihr Vater hielt sie für zu jung für die Ehe. Heinz wurde
überredet, die Beziehung für die Dauer von zwei Jahren auf Eis zu
legen, obwohl die jungen Leute sich im Februar 1912 offiziell verlobten.
Guderian hielt es für unangebracht, in Goslar zu bleiben. Darüber hinaus
verspürte er das Bedürfnis nach einer technischen Ausbildung, um die
Grundlagen seines beruflichen Wissens zu erweitern.
Zwei derartige Kurse standen ihm zur Verfügung: er konnte zwischen
dem Fachwissen über Maschinengewehre und über Funkwesen wählen.
Vater Friedrich, soeben zum Generalmajor und Kommandeur der 35.
Infanteriebrigade befördert, sprach sich gegen Maschinengewehre aus,
»weil sie wenig Zukunft haben«, aber er sah günstige Aussichten für das
Fernmeldewesen, besonders in den drahtlosen Systemen, die um die
Jahrhundertwende entwickelt worden waren und bei deren Anwendung
die deutsche Technologie eine führende Rolle spielte. Sein Sohn
stimmte ihm zu. Am 1. Oktober trat Heinz in die Funkkompanie des 3.
Telegraphenbataillons in Koblenz ein und begann dort mit der Arbeit, die
ihn zum Gipfel seiner beruflichen Erfolge führen sollte.
Im folgenden Jahr - genauer gesagt in den nächsten zehn Monaten gab es für Guderian viel Aktivität. Die Zeit ging schnell vorüber, weil die
neuen Aufgaben ihm stark zusetzten. Er beschrieb es selbst so:
»Da mir die Funkerei bis dahin völlig fremdgeblieben war, da ich
ferner längere Zeit die Rekrutenausbildung zu leiten hatte, war ich durch
den Truppendienst stark belastet. Die Vorbereitung für die
Kriegsakademie wurde nach den Weisungen des Chefs des
Generalstabes des VIII. Armeekorps durch Generalstabsoffiziere des
Korpsstabes und durch eine Reihe besonders ausgewählter
Truppenoffiziere des Standortes Koblenz durchgeführt. Sie war recht
intensiv und lehrreich und erfüllte ihren Zweck vollkommen. Abgesehen
davon wurde sie durch die kameradschaftliche Art, mit der die Lehrer
den Unterricht erteilten, auch menschlich wertvoll. Die Vorbereitung
erstreckte sich auf Taktik im Rahmen der verstärkten Infanteriebrigade,
Feldkunde, Pionierdienst und Waffenlehre. Die Vorbereitung in den
Sprachen, in Erdkunde und Geschichte blieben den jungen Offizieren
überlassen.«
Binnen kurzem sollte sich Guderian als Dolmetscher für Französisch
qualifizieren. Auch sein Englisch wurde sehr geläufig. Durch besonderen
Einsatz bestand er das Akademieexamen auf Anhieb und war mit
fünfundzwanzig der jüngste von 168 Offizieren, die für den
Dreijahreskurs an der Berliner Kriegsakademie ausgewählt wurden, der
am 5. Oktober 1913 begann. Das war ein klarer Beweis für seine Reife.
Aber vorher galt es noch, ein anderes dringendes Problem zu
bewältigen. Die Eltern beugten sich angesichts seiner Kette von Erfolgen
und stimmten einer frühen Heirat zu. Am 1. Oktober führte er Margarete
zum Traualtar. Nicht von ungefähr sollte er sich in den folgenden Jahren
den Spitznamen Schneller Heinz erwerben. Auch war es kein Zufall, daß
er einen Ausspruch Moltkes besonders schätzte und ihn oft zu zitieren
pflegte: »Erst wägen, dann wagen!« Er sollte berühmt werden für die
gleichzeitige Anwendung in sich widersprüchlicher Methoden, einer
Verbindung geschulten Denkens einerseits und impulsiven Handelns
andererseits. Doch seine Heirat war ein sorgfältig erwogener Schritt von
grundlegender Bedeutung. Aufgrund ihres friedlich-ausgleichenden
Wesens paßte sich Margarete seinen Stimmungen und Absichten an
und erwies sich als perfekte Ergänzung für den jungen Offizier, der
bereits für explosive Energie und unberechenbare Heftigkeit bekannt
war. Von ihr schrieb er, sie sei eine »ideale Helferin« gewesen, und der
älteste Sohn vertritt die Auffassung, sie sei seinem Vater absolut
unentbehrlich gewesen. In der Tat sollte Guderians Bedürfnis nach
einem Partner und Chef des Stabes mit kühlem Kopf im Verlauf seiner
Karriere auch für die deutsche Armee zu einer absoluten Notwendigkeit
werden. Noch entscheidender wurden die sich allmählich entwickelnden
Ambitionen Margaretes, die mehr und mehr an die große Bestimmung
ihres Mannes zu glauben begann und deren Einfluß auf ihn, wie sich
herausstellen wird, nicht nur darauf abzielte, ihn zu ermutigen, sondern
auch seine Schritte auf sicherere Bahnen zu lenken, wenn er in
stürmischen Augenblicken daran dachte, die Flinte ins Korn zu werfen.
Die Hochzeit setzte zudem Zeichen für die Zukunft: zu den Anwesenden
gehörte der geschätzte Freund Bodewin Keitel (Margaretes Vetter
zweiten Grades), dessen Bruder Wilhelm viele Jahre darauf Chef des
Oberkommandos der Wehrmacht wurde; beiden Brüdern war es
bestimmt, in späteren Jahren Guderians Geschicke zu beeinflussen.
An der Kriegsakademie traf Guderian noch weitere starke
Persönlichkeiten, die in seinen späteren Lebensabschnitten eine Rolle
spielten. Unter seinen Alterskameraden war Erich von Manstein, der von
allen dem Verständnis der Philosophie und der Methoden am nächsten
kam, die Guderian künftig vertrat und anwandte. Das Erste
Direktionsmitglied war Oberst Rüdiger Graf von der Goltz, der, so
Guderian, einen noch weitergehenden erzieherischen Einfluß auf die
jüngeren Offiziere ausübte als der Kommandeur der Akademie. Sechs
Jahre später war es von der Goltz, der sich seines einstigen Schülers
entsann. Im ersten Akademiejahr lag der Schwerpunkt hauptsächlich auf
einer Verbesserung des Allgemeinwissens der Studierenden. Guderian
erinnert sich, daß Taktik der Hauptgegenstand war neben
Kriegsgeschichte, »... und aus ihr hauptsächlich die Einleitung des
Feldzuges von 1757 mit dem Einmarsch in Böhmen in getrennten
Gruppen und deren Vereinigung zur Schlacht bei Prag... Anschließend
wurde der Feldzug von 1805 vorgetragen.«
Die historischen Studien wurden mit einem Schlag beendet, als die
Ermordung von Erzherzog Franz Ferdinand von Österreich am 28. Juni
1914 in Sarajewo künftige Wirren und Ungewißheiten heraufbeschwor.
Zu diesem Zeitpunkt war Guderian mit anderen Infanterie- und
Kavallerieoffizieren des Ausbildungskurses der Feldartillerie zugeteilt für
eine Zeit, »die im allgemeinen wohl lang genug war, um wirklichen
Einblick zu gewähren«. Die deutsche Armee war von jeher in
Friedenszeiten für praktische Versuche gewesen, trotz ihrer Freude an
der Entwicklung von Theorien. Nun stand ihnen der von Kaiser Wilhelm
II. provozierte Krieg bevor, und für ihre Theorien die Stunde der
Bewährung.
Am 1. August wurde die Mobilmachung verkündet und der Lehrgang
an der Kriegsakademie aufgelöst, noch bevor Guderian seine
Sonderausbildung abschließen konnte. Er erhielt den Befehl, sich bei der
Einheit zu melden, mit der er ins Feld ziehen sollte. Es war jedoch nicht
der Truppenteil, dem sein Herz gehörte, das 10. Jägerbataillon. Er hatte
ja zuletzt beim 3. Telegraphenbataillon Dienst getan und wurde bei der
Mobilmachung mit dem Kommando der Schweren Funkstation Nr. 3
betraut, die der 5. Kavalleriedivision des I. Kavalleriekorps in der
2. Armee zugeordnet war.
Der Krieg kam für die Guderians im falschen Augenblick. Die
politischen Spannungen, die in Europa während der vorangehenden
zehn Jahre die Fiebergrenze erreicht hatten, traten völlig zurück
angesichts der Sorgen, die sich daraus ergaben, daß Margarete
innerhalb Monatsfrist ihr erstes Kind erwartete.
Wenn auch der 26jährige Offizier in jenem August nicht völlig auf
seine Aufgabe vorbereitet ins Feld zog und mit einem Gedanken daheim
war, so ist doch zu bezweifeln, ob damals viele seiner Kameraden
irgendwie besser ausgebildet waren. Er hatte eine eigene Philosophie
entwickelt, der er gefolgt war, seit er sich vor Eintritt in das Bataillon
einer Selbstanalyse unterzogen hatte. In seinem Tagebuch, das mehr
der Aufzeichnung von Gedanken als der ausführlichen Schilderung von
Tagesabläufen diente, hatte er 1908 notiert: »Ich bin ein eigentümlicher
Kerl. Mal fühle ich mich sehr wohl und glaube, es müßte mir alles
gelingen und es könnte nichts Böses eintreten. Lang lebt man indessen
nicht in diesen Illusionen. Bald dies, bald jenes - Kleinigkeiten oder
wirklicher Ärger stören das ruhige Gemüt. Vielleicht gelingt es mir noch
einmal, den Stein der Weisen zu finden und alles in Gleichmut
hinzunehmen... Aber ich glaube, es ist gar nicht einmal gut, zu großen
Gleichmut zu besitzen. Nachher wird man nur gleichgültig.«
Obwohl von den wesentlichen soldatischen Tugenden wie hohem
Patriotismus und strengem Bewußtsein von Pflicht und Ehre über die
Grunderfordernisse des Kriegshandwerks hinaus beseelt, hatte er sich
über die Jahre, besonders bei Feldübungen, ein waches und furchtloses
kritisches Gespür erhalten, das sich in seinem Verhalten und in seinen
Niederschriften äußerte. Persönliche Empfindungen zu verschleiern, war
Guderian fast unmöglich, obwohl der die bissige Seite seines
Temperaments häufig hinter Witzen und Scherzworten verbarg.
Während der Frühjahrsmanöver von 1913 war er bei einer der ersten
Erprobungen einer Funkabteilung dabei, die der Kavallerie
angeschlossen war, und hatte in Zusammenarbeit mit einer
Kavalleriebrigade unter Generalmajor von Ilsemann wertvolle
Erfahrungen gewonnen, aber auch die Mängel gespürt, unter denen
diese Übungen litten. Oftmals war er von der Brigade abgeschnitten, weil
der Rolle seiner Einheit bei den geplanten Operationen zu wenig
Bedeutung zugemessen wurde. So nahm es nicht wunder, daß die
Funkabteilung häufig ohne Verbindung und ohne Befehle blieb. Er
verfaßte einen höchst kritischen Bericht, der dem General zuging, aber
dieser
ließ
ihn,
wie
Guderian
feststellte,
»in
seinem
Schreibtischschubfach verschwinden«. Tatsache blieb, daß es
Guderians Abteilung versäumt hatte, die Leistung zu erbringen, zu der
sie fähig war, und infolge übermäßiger und unnötiger Bewegung Pferde
und Leute (in dieser Reihenfolge, da ohne die Pferde die schweren
Funkgeräte und die zugehörigen Batterien nicht transportiert werden
konnten) erschöpft worden waren. Eben diesem General sollte er
unterstellt werden, als es ernst wurde.
Die Schwierigkeiten bei der Zusammenarbeit zwischen den
Funkabteilungen und den zugehörigen Befehlsstellen waren jedoch
keineswegs auf Guderians Operationsebene beschränkt und auch nicht
auf seinen Vorgesetzten. Die eigentliche Ursache des Mißerfolgs lag in
der Unfähigkeit, grundlegende Mißverständnisse zwischen dem noch in
den Kinderschuhen steckenden technologischen Waffensystem (wie es
das Funkwesen zweifellos war, obwohl es damals nicht erkannt wurde)
und den althergebrachten Praktiken des Generalstabes zu beheben.
Dies war nur typisch für Probleme, die bei der Einführung einer neuen,
wirkungsvollen Waffe auftauchen und deren Einsatz sich gegen
reaktionäre und eingefahrene Gewohnheiten und Meinungen
durchsetzen muß.
Im Jahre 1914 genoß das neugeschaffene Funkwesen weder
Vertrauen noch Sympathie beim Generalstab und wurde infolgedessen
nicht mit Informationen über strategische Absichten und deren Tragweite
versorgt. Zudem war ihr Chef nicht der Mann, Ansprüche energisch
durchzusetzen. Die Folge war, daß Planungen über die künftige
Verwendung
der
Fernmeldeeinheiten
im
Rahmen
der
Operationserfordernisse zu kurz kamen. Der ohnehin schweren
Ausrüstung, die auf dem Transport nicht eingesetzt werden konnte und
nicht leicht zu bedienen war, wurde wenig Möglichkeit zum wirksamsten
Einsatz dadurch gegeben, daß die Vorschriften besagten, daß
»Außenstationen« - so wie die Guderians - die Verantwortung für die
Herstellung des Kontaktes zur Hauptleitstelle trugen. Das war viel zu
zeitraubend für Einheiten, die in Feindberührung standen. Der Äther war
voller miteinander in Konkurrenz befindlichen Außenposten, die
verzweifelt versuchten, Funkverbindung zur Hauptstelle aufzunehmen,
die ihrerseits darüber klagte, daß zuwenig Zeit vorhanden war, um die
Masse der Informationen und Befehle an Stationen weiterzugeben, die
sich nach Belieben ausschalten konnten. Die Zentrale hatte keine
Möglichkeit, das Funknetz unter Kontrolle zu halten. Zu Ausfällen kam es
um so häufiger, je hektischer die Operationen wurden. Chaos und
Zeitvergeudung waren an der Tagesordnung, und die kämpfenden
Verbände wurden daran gehindert, rechtzeitig und gut vorbereitet die
erforderlichen Geländepunkte zu erreichen.
Diese Dinge fielen Guderian auf. Sie waren für ihn die ersten
Fronterlebnisse zu einer Zeit, als er für nachhaltige Eindrücke
empfänglich war.
2
GRUNDLAGEN FÜR DIE ZUKUNFT
Um die Überlegungen zu verstehen, die hinter den Argumenten
standen, die Guderian eines Tages zugunsten der Panzertruppen
geltend machte, braucht man nur seine Karriere während des Ersten
Weltkrieges zu verfolgen und während der nachfolgenden Periode an
der deutschen Ostfront. Das Schicksal verschlug ihn an beinahe alle
Fronten, die Schauplatz verschiedener Auseinandersetzungen waren.
So konnte er aus einer gewissen Distanz eindringliche persönliche
Erinnerungen aufnehmen und verarbeiten, besonders, was die
Schwäche mobiler Kriegführung betraf und die sich daraus ergebende
Pattsituation, die alle Hoffnung auf eine schnelle Entscheidung des
Konflikts im Keim erstickte.
Die deutsche Armee zog 1914 unter der Führung des jüngeren
Helmuth von Moltke in den Krieg, einem Generalstabschef, der, obwohl
Neffe seines großen Namensvorbildes, eine weitaus farblosere Figur
abgab. Desgleichen war der Feldzugsplan, den er wählte, eine
schwächere Version des einst von seinem Vorgänger Graf Alfred von
Schlieffen kreierten Aufmarschkonzepts. Schlieffen war ein Offizier, der
sich so intensiv dem Studium des Krieges widmete, daß er an nichts
anderes mehr dachte. Die Armee, wie sie ihm vorschwebte, war modern
und verfügte über zwei Waffen, von denen er hoffte, sie würden ihr einen
technischen Vorsprung sichern, um die ungeheure defensive Feuerkraft
und den Elan des Feindes zu überwinden.
Die schwere bewegliche Artillerie war dazu ausersehen, jede Art von
Befestigung zu zerstören und die im Feld stehenden gegnerischen
Einheiten zu demoralisieren. Funkverbindungen sollten Informationen
und Befehle schnell von der Zentrale zu den Frontstellen und umgekehrt
weiterleiten und dadurch den Kommandeuren eine detaillierte Führung
des Gefechts aus großer Entfernung ermöglichen. Initiative bei den
unteren Befehlsrängen, wie sie Moltke der Ältere zu ermutigen für richtig
befunden hatte, wurde entscheidend gehemmt. Gleichzeitig waren
raumgreifende Umfassungsangriffe nach dem Muster eines modernen
Cannae, wie sie Moltke 1870 bei Sedan gelungen waren, Teil von
Schlieffens Plan. Die Beweglichkeit sollte dabei durch eine stärkere
Nutzung der Eisenbahn, als Moltke es sich erträumt hatte, vergrößert
werden. Doch unbegreiflicherweise wurde die Methode, mit deren Hilfe
die Mobilität der deutschen Truppen in erheblichem Maße hätte
gesteigert werden können, aus den Plänen Schlieffens und Moltkes des
Jüngeren gestrichen. Motorfahrzeuge, die alsbald populär wurden und in
größerer Anzahl geliefert werden konnten, wurden zwar in gewissem
Umfang verwendet, waren indessen nach Zahl und Wirkung nicht
ausreichend. 1923 schrieb Generaloberst von Kluck, der die 1. Armee
beim Marsch auf Paris befehligte, die Hauptleidtragender dieser
logistischen Fehleinschätzung wurde, daß diese Systeme weiterer
Erprobung bedurften. Dafür sollte zu gegebener Zeit ein junger Offizier
der 3. Funkstation sorgen.
Der deutsche Angriffsplan, der einen Einmarsch in Nordfrankreich
über Belgien und die Ardennen vorsah, verlangte von den vier beteiligten
Hauptarmeen lange Märsche unter schwierigen Bedingungen wie
Sommerhitze und Staub. Nachdem sie die Eisenbahnknotenpunkte in
Grenznähe verlassen hatten, lag es an der Ausdauer der Soldaten und
Pferde, ob das Tempo des Vormarsches gehalten werden konnte.
Generalleutnant von Richthofens I. Kavalleriekorps, zu dem die 5.
Kavalleriedivision gehörte, und Guderians 3. Funkstation, sozusagen als
Fühler für lebenswichtige Verbindungen, stand vor einer beinahe
einzigartigen Gelegenheit, kampflos die Schlachtfelder zu durchqueren,
die zur Marne führten. Denn Richthofens Soldaten begannen ihren
Vorstoß nach Frankreich im Kampfgebiet der 3. Armee, die in der ersten
Augusthälfte über die Ardennen nach Dinant marschiert war, kreuzten
dann den Weg der Nachhut der 2. Armee unter von Bülow, um
schließlich zwischen Bülows Verbänden und der kräftig verstärkten
Manövriermasse, die auf dem rechten Flügel in der 1. Armee von Klucks
zusammengefaßt war, in die Gefechte einzugreifen und weiter über
Mons in Richtung Le Cateau und weiter auf Paris vorzurücken.
Die auf den Karten verzeichneten Pfeile machen deutlich, daß das
I. Kavalleriekorps rund 250 Kilometer weit marschierte, bevor es am 31.
August ernsthaft in die Kämpfe eingriff. Insgesamt hatte es unter
Berücksichtigung der Umwege weit über 300 Kilometer zurückgelegt.
Guderian blieb zwischen dem 17. und dem 20. August bei der
5. Kavalleriedivision in Dinant und erlebte dort, wie endlose Kolonnen
von Reitern, Infanteristen, Kanonen und Transporteinheiten gutgeordnet
und unbehelligt über ein verworrenes Netz von Landstraßen vorrückten
und die Maas überschritten. Seinen Augen bot sich dabei ein Bild, das
auch einen militärisch weniger engagierten Beobachter überwältigt hätte,
das aber bei ihm unauslöschliche Eindrücke von der logistischen
Machbarkeit hinterließ, solche Menschenmassen durch bekanntermaßen
schwieriges Gelände zu führen. Seine Abteilung mußte ihrem Wesen
entsprechend größere Entfernungen zurücklegen als die übrigen
Einheiten der Division, weil sie ständig benötigt wurde und daher in der
Nachbarschaft der 5. Kavalleriedivision von einer Division zur anderen
hin und her wechselte. Oftmals war ihr Einsatz infolge mangelnder
Planung unzweckmäßig. Entweder blieb sie ohne klare Befehle oder sie
wurde mit Aufgaben betraut, die ihr nicht zukamen. Mehr noch als die
meisten Einheiten der 1. und 2. Armee, die schon bald unter
Erschöpfung litten, waren die Pferde und Mannschaften der
3. Funkstation, die ihr schweres Gerät, das eine Reichweite von rund
250 Kilometer hatte, mit sich schleppten, höchster Beanspruchung
ausgesetzt.
Die deutsche Kavallerie insgesamt kam in Schwierigkeiten. Das
II. Kavalleriekorps, das als Flankenschutz der 1. Armee vor dieser nach
Belgien eingerückt war, hatte bald über Futtermangel für seine Pferde
geklagt. Hinzu kam ein schwerer Rückschlag am 12. August bei Haelen,
wo das Korps von zahlenmäßig schwachen belgischen Verbänden unter
Maschinengewehr- und Gewehrfeuer genommen wurde und starke
Verluste erlitt. Nie wieder sollte von nun an die deutsche Kavallerie mit
der hochmütigen und durch nichts zu erschütternden Arroganz
vorrücken, die sie zu Beginn des Krieges gezeigt hatte, wenn auch die
Faszination der Schlagkraft dieser Truppe noch eine Weile anhielt. Am
31. August öffnete sich, als die 5. französische Armee südlich der Serre
in Stellung gegangen war und das britische Expeditionsheer seinen
Abzug fortgesetzt hatte, eine Lücke zwischen den beiden Armeen.
Richthofen wurde von der 2. Armee durch Funk in diese Lücke gewiesen
und erhielt Order, nach Osten zu schwenken, um zwischen Soissons
und Vauxaillon Boden zu gewinnen und damit der 5. französischen
Armee den Rückzug abzuschneiden. Dank der Leistung ihrer eigenen
Funkeinheiten hörten die Franzosen fast ebenso schnell von diesem
Befehl wie Richthofen, denn die meisten deutschen Funksprüche wurden
entweder im Klartext übermittelt oder in dem Code, den die Franzosen
innerhalb von 48 Stunden nach Ausbruch des Krieges geknackt hatten.
So handhabte Guderian ohne sein Wissen ein zweischneidiges Schwert,
denn der Sicherung des Funkverkehrs hatte man zuwenig
Aufmerksamkeit geschenkt.
In fieberhafter Eile setzten nun die Franzosen Infanterie per
Eisenbahn und Kavallerie über die Straßen in Bewegung, um den Stoß
der Deutschen aufzuhalten, bevor er sein Ziel erreichte. Der deutsche
Vormarsch wurde anhand der Funkmeldungen ihrer vordersten
Truppenverbände genau registriert. Panik machte sich breit, als es den
Briten nicht sofort gelang, eine Division einzusetzen, um den deutschen
Stoßkeil abzudrängen. Die Deutschen rückten zwar schnell vor, weil sie
nicht auf Widerstand trafen, ließen jedoch, als sie tiefer in die Lücke
stießen, die für die Kavallerie im sicheren Gefühl ihrer Überlegenheit so
wertvoll war, ihre Verärgerung darüber laut werden, daß die Hufeisen
ihrer Tiere abgenutzt seien. In einem Funkspruch, der prompt von
französischer Seite abgehört wurde, wurden vier Lastwagenladungen
Hufeisen und vor allem Nägel nach Moyon, dem Ausgangspunkt des
Vormarsches, beordert. Diese Gewohnheit weit vorgerückter Einheiten
bei beweglichen Operationen, Entschuldigungen zu finden, die sie vor
weiteren Anstrengungen bewahrten, war ein psychologisches Moment,
das Guderian sich gut merkte.
Tatsächlich erreichte das gesamte Korps sicher die Gegend nördlich
von Soissons, weit im Rücken der französischen Streitkräfte, wurde dann
jedoch wieder zurückgezogen. Dies geschah angeblich, weil das
Oberkommando wünschte, daß das Korps weiter südwärts vorrückte und
den Kontakt zur 1. Armee aufrechterhielt, die auf der rechten Flanke
ziemlich weit vorgestoßen war, zum Teil wohl auch, weil feindliche
Einheiten angriffen und die Kavallerie zwangen, zum Gefecht
abzusitzen, und hauptsächlich, weil diese die günstige Gelegenheit nicht
erkannte. Die einzige materielle Hilfe, die sie ihrer eigenen Seite in die
Hand gab, waren gelegentliche Informationen über feindliche Einheiten
in Soissons.
Richthofen, ein Kommandeur, der etwas von Beweglichkeit verstand,
war es gewesen, der diese einmalige Gelegenheit geschaffen hatte, von
der jeder Kavallerist träumt. Sein I. Kavalleriekorps hatte den Gegner so
weit hinter sich gelassen, daß er nicht in der Lage war,
Verteidigungsmaßnahmen zu ergreifen, um den Deutschen den Weg zu
versperren. Aber da Richthofen es sich erlaubte, außer Reichweite der
Funkverbindungen zu geraten, war seine vorteilhafte Position seinen
Vorgesetzten nicht bekannt. Auf jeden Fall fehlte ihm ein Instrument, das
auf dem modernen Schlachtfeld zu überleben in der Lage war. Die
Regimenter, ungeschützt gegen feindliches Feuer, konnten einfach nicht
die Vorteile nutzen, die ihr General herausgeholt hatte. Als Guderian
später im Jahre 1937 Achtung - Panzer! schrieb, zitierte er die
Schlußfolgerungen des Reichsarchivs, »... nirgends aber hatten die
Kavalleriekörper vermocht, sie zu durchstoßen und Einblick in die
Vorgänge hinter der feindlichen Front zu gewinnen«.
Diese Beurteilung war zu allgemein und, wie die Aktion bei Soissons
vermuten läßt, vielleicht ein wenig unfair, aber sie wurde pflichtgemäß
registriert als Präzedenzfall zum Gebrauch in künftiger Zeit, als die
Reiter im Krieg immer mehr in den Schatten traten.
Die Serie von nicht aufeinander abgestimmten Befehlen, die bei der
Marneschlacht eine Krise auf deutscher Seite auslösten, konnte von
Moltke nicht beendet werden, der in Luxemburg inmitten eines Netzes
von überlasteten Funkverbindungen saß. Funksprüche und telefonische
Lageberichte waren nicht geeignet, den engen persönlichen Kontakt in
Frontnähe zu ersetzen - und einen solchen vermied Moltke, bis die
Schlacht verloren war. Persönlicher Kontakt war indessen häufig an allen
Abschnitten vonnöten. Am 5. September führte das I. Kavalleriekorps die
2. Armee tief in eine weitere Lücke hinein, die sich zwischen den
Engländern und Franzosen aufgetan hatte, und hatte die Vorhuteinheiten
bereits weit über den Grand Morin geschoben, »ständig bemüht, die
Initiative zu ergreifen«, wie das Reichsarchiv berichtet. Guderian war
dabei, und zwar, hätte er es nur gewußt, an der Spitze einer Einheit, der
ein völliger Durchbruch durch eine anglo-französische Verteidigungslinie
gelungen war. Es war das letzte Mal, daß dies geschah, bis er persönlich
26 Jahre später einen solchen Schachzug wiederholte. Aber erneut
erkannte niemand auf deutscher Seite die Chance, und wieder einmal
war, wie gewöhnlich, Richthofens Isolierung von der 2. Armee schuld.
Inzwischen waren seine Leute, die nur auf sehr spärlichen feindlichen
Widerstand trafen, gezwungen, das Tempo zu verlangsamen, als sie
absaßen und ins Gefecht gingen. Am darauffolgenden Tag ließen die
Aktionen der 1. Armee, die zum Ziel hatten, die französische Bedrohung
zu mindern, in Guderian zum erstenmal das Gefühl aufkommen, daß die
Sache schlecht stand.
Er hatte mit Interesse die verlassenen französischen Ortschaften als
Zeichen dafür gewertet, daß die Kampfkraft der Franzosen im
Schwinden war, und sich am Anblick der Gebäude von Soissons und
des schönen Marnetals erfreut. Plötzlich änderte sich alles. Über Nacht
war die Kavallerie nicht länger die Angriffsspitze, sondern wurde
zunächst zum Flankenschutz, nachdem der Vormarsch zum Stillstand
gekommen war, später beim Zurückgehen zur Nachhut, die die Lücke
füllte, die sich zwischen der 1. und 2. Armee auftat und in die britische
und französische Verbände hineinzustoßen drohten. Über den
6. September berichtete Guderian in einem Brief an Gretel, daß er zur
5. Kavalleriedivision zurückgekehrt sei und sich bei Cerneux unter
feindlichem Artilleriefeuer befand, was kein Wunder war, weil zu diesem
Zeitpunkt das genannte Dorf im Niemandsland lag.
Am nächsten Tag war er in Bois Martin: »Infolge Überanstrengung
starben unterwegs drei Pferde. Pferde und Mannschaften aufs äußerste
erschöpft, dazu noch das ungemütliche Gefühl des Zurückgehens.«
Am 8. September: »Die Station trabt drei Kilometer lang im
Schrapnellfeuer ohne Verlust. Sehr ungemütliche Lage.«
Und am 9. September, als die 5. Kavalleriedivision allein zwischen der
1. und 2. Armee stand: »Weitermarsch zunächst ohne Bedeckung,
mutterseelenallein. Nachmittags, als wir die Division wieder erreicht
hatten, plötzlich Schrappnellfeuer in die Kolonne, wieder durch Glück
keine Verluste... Pferde und Menschen schon ziemlich erledigt.«
Schließlich stürzten am 11. September, nachdem der mündliche
Befehl ergangen war, nach Chery über Cohan zu marschieren (ein
schriftlicher Befehl traf nie ein), zwei Pferde. Neue mußten requiriert
werden. Aber die Verzögerung erwies sich als fatal. Auf einmal waren
die Franzosen von allen Seiten da, eroberten die Funkstation und mit ihr
alle persönliche Habe Guderians und nahmen ein paar seiner weniger
glücklichen Kameraden gefangen. Guderian entkam um Haaresbreite
und besaß nur noch die Uniform, die er in Bethenville nordwestlich von
Reims am Leib trug.
Hier erhielt er endlich einen Brief, durch den er erfuhr, daß auch
Margarete ihre schwere Zeit überstanden hatte, denn in seiner Antwort
vom 16. September heißt es: »Mein inniggeliebtes, süßes Frauli! Heute
bekam ich von Deinem Vater die erste so ungeduldig erwartete
Nachricht aus Lüttich. Er zeigte mir die glückliche Geburt unseres
geliebten Söhnchens an. Mit tiefem Dank gegen Gott, daß er Dich in
schweren Stunden gnädig behütet hat, bringe ich Dir, mein herzliebes
Frauchen, meine innigsten Glückwünsche dar, meinen Dank für Deine
Liebe und Güte gegen mich. Meine Wünsche begleiten Dich und unser
Kind Tag für Tag. Bleibt gesund und frisch; und wenn der liebe Gott mir
eine Wiederkehr aus diesem furchtbaren Krieg gestattet, dann möge er
uns ein frohes Wiedersehen mit unseren Lieben bescheren. Aber nun
weiß ich, daß Du aus der schweren Zeit gesund hervorgingst, ist mir ein
Stein vom Herzen, und ich werde ruhiger an das ernste Handwerk
gehen, das unserer hier noch harrt.«
Wenige Tage später war die Zärtlichkeit geschwunden. Zornig ließ er
Gretel wissen: »Die Zeitungen, die ich bisher gelesen, haben viel zu viel
Geschrei gemacht... Es ist billig, über einen tapferen Feind
herzuziehen... Auch das, was über Wortbruch und so weiter geredet
wird... Aber jeder ist sich selbst der Nächste und Macht geht vor Recht.
Deshalb halte ich das Geschreibe vom Verrat des Zaren und der
Engländer für Stimmungsmache. Es geht jetzt eben um unsere
Weltstellung und staatliche Existenz, die den anderen unbequem war. In
gewisser Weise erfüllt es mich mit Genugtuung, diese Entwicklung
vorausgesehen zu haben.«
Er war auch über das offensichtliche Versagen von Generalmajor von
Ilsemann verärgert, der den hohen Ansprüchen, die er an ihn gestellt
hatte, nicht gerecht geworden zu sein schien. Für seine Kameraden von
der 5. Kavalleriedivision fand er dagegen nur lobende Worte. Das waren
Charakterzüge, die seine Karriere formen sollten: eine entschlossene
Erwartung großer Leistungen von seinen Vorgesetzten und ein tiefes
Mitgefühl, verbunden mit harten Anforderungen, für seine Untergebenen.
Der Krieg rief ihn fast unmittelbar darauf aufs neue an den kritischen
Frontabschnitt - in Flandern zur 4. Armee unter dem Herzog von
Württemberg. Hier wurde ihm unbarmherzig vor Augen geführt, welchem
Schicksal die Infanterie ausgesetzt ist, wenn sie gegen eine
entschlossene und unerschütterliche Verteidigung anrennt, die mit einer
»Waffe ohne Nerven«, wie Füller sie später nannte, ausgerüstet ist: mit
Maschinengewehren. Frische deutsche Formationen wurden gegen die
Stadt Ypern in den Kampf geworfen beim Versuch, die alliierte Flanke
aufzurollen und die Kanalhäfen zu besetzen. Vom Vorgehen am 20.
Oktober, über das er sehr gute Informationen erhielt, da er der 14.
Funkstation beim Hauptquartier der 4. Armee zugeteilt worden war (wo
seine Kenntnisse des Nachrichtenwesens und der Fremdsprachen
unschätzbare Dienste leisteten), beschrieb er, wie »... die jungen
Regimenter, mit dem Deutschlandlied auf den Lippen, zum Angriff
schritten« und setzte den Bericht in Achtung - Panzer! fort:
»Die Verluste waren sehr schwer, die Ergebnisse befriedigend.« Und:
»Die jungen Regimenter traten erneut zum Angriff an, nachdem die
Artillerie ihre vermeintlich vernichtende Wirkung getan hatte. Reserven
drängten vorwärts, füllten die dünn gewordenen vorderen Linien,
erhöhten die Verluste. Die Opfer stiegen ins Unermeßliche, die
Angriffskraft hingegen zerrann, man mußte sich eingraben und rief nach
Schanzzeug.« Die Bewegung war zum Stillstand gekommen; der
Grabenkrieg hinter Stacheldraht hatte an der Westfront begonnen.
Wieder war es Guderian bestimmt, die wichtigsten Erprobungen, die
des Grabenkrieges, aus der Nähe zu erleben. In seiner
Begeisterungsfähigkeit erkannte er sofort den Wert der Luftaufklärung
und zählte zu den wenigen, die als Beobachter auf Erkundungsflügen
dabei waren. Er befand sich noch an der Ypernfront, als die Deutschen
ihren schlecht vorbereiteten, halbherzigen Durchbruchsversuch am 22.
April 1915 unter Verwendung von Gas starteten. Es war dies ein
klassisches Beispiel des verfrühten Einsatzes einer »Geheimwaffe«,
bevor ihr potentieller Wert einzuschätzen war und praktische
Erfahrungen vorlagen. Am 27. Januar 1916 wurde er als
Nachrichtenoffizier dem Hauptquartier der 5. Armee unter dem
Kronprinzen in Verdun zugeteilt, wo er während der folgenden sechs
Monate daran mitwirkte, die Ergebnisse des ersten Großangriffs zu
analysieren, mit dem versucht worden war, mit brutaler Kraft und unter
völligem Verzicht auf Mobilität eine Entscheidung herbeizuführen.
Später waren seine Schlußfolgerungen diejenigen eines jeden
denkenden Offiziers - ein vernichtendes Urteil über die Unfähigkeit der
Artillerie: »Dennoch gelang es ihr in der Regel nicht, den feindlichen
Widerstand so zu erschüttern, daß mehr als ein Einbruch in das
Stellungssystem des Verteidigers erzielt wurde. Im Gegenteil trug die
lange Dauer, die man dem Feuer zu ausreichender Wirkung bewilligen
mußte, dazu bei, dem Verteidiger Zeit zu Gegenmaßnahmen zu
gewähren.«
Trotzdem schrieb er in den ersten Tagen der Offensive an Gretel,
vielleicht um ihr Mut zu machen, wahrscheinlicher aber in
Übereinstimmung mit dem auf deutscher Seite vorherrschenden
Optimismus: »Die große Schlacht verläuft gut.« Guderian war natürlich
immer optimistisch - andernfalls war sein Überleben nicht vorstellbar.
Bei einem Ereignis von Bedeutung war Guderian allerdings nicht
dabei. Im Juli wurde er als Nachrichtenoffizier zum Hauptquartier der
4. Armee nach Flandern zurückbeordert. So verpaßte er den ersten
Angriff britischer Tanks an der Somme am 15. September 1916. Selbst
als Augenzeuge wäre er wohl kaum mehr beeindruckt gewesen als
andere Zeitgenossen. Bloße 32 Panzer hatten zwar örtlich begrenzten
Schrecken verbreitet, wo sie zu zweit oder dritt auftauchten, aber die
deutsche Artillerie hatte diejenigen vernichtet, die sich zum Kampf
stellten. Die Stabilität der Grabenfront war niemals ernsthaft bedroht
worden. Ebenso wie die übrigen Männer in der deutschen Armee, die
gründlicher nachdachten, überhörte Guderian geflissentlich die Berichte
von Frontsoldaten, die die Tanks als »ebenso grausam wie
wirkungsvoll« beschrieben und hielt nach geeigneteren Kombinationen
erprobter Waffen Ausschau, um die Fronten für einen Bewegungskrieg
zu öffnen. Aus demselben Grund gaben die Besitzer der neuen Waffe ihr
keine größeren Zukunftschancen. Major J. F. C. Füller war zur Zeit
seiner Ernennung zum Senior Staff Officer Ende 1916 beim
neugebildeten British Tank Corps voller Skepsis über den Wert der
Tanks. Er suchte wie Guderian ständig nach neuen Methoden des
Infanterieeinsatzes und hatte schon 1914 einen aufschlußreichen Artikel
mit der Überschrift »Die Taktik des Eindringens« (Tactics of Penetration)
veröffentlicht. Im Gegensatz zu Guderian (aber vielleicht ebenso mit
versteckter Ironie wie dieser, wenn er die Gültigkeit offizieller Doktrin in
Frage stellte) vertrat Füller die Meinung, daß »Taktik auf Waffenstärke
beruht und nicht auf zurückliegenden Erfahrungen der Militärgeschichte«
und daß »der Truppenführer, der als erster die richtigen Möglichkeiten
einer neuen oder verbesserten Waffe begreift, in der Lage sein wird, den
Gegner zu überraschen, der das versäumt«. Trotzdem waren es die
Engländer und später die Franzosen, die die Grundidee des Tanks
weiterentwickelten, und dies vor allem, weil sie phantasievolle und
energische Offiziere mit der Führung ihrer neuen Waffe beauftragten.
Obwohl die Deutschen erste Versuche unternahmen, auch ihrerseits
Kampfwagen herzustellen, womit sie im Januar 1917 begannen, so war
doch der Ansporn dazu gering, weil Techniker und mittelmäßige
Bürokraten mit der Entwicklung betraut wurden und der Generalstab kein
ernsthaftes Interesse bekundete.
Verschiedene entscheidende Wendepunkte des Krieges waren 1917
erreicht: der Ausbruch der Russischen Revolution, der Kriegseintritt der
USA und die endgültige Demonstration seitens der Engländer, daß eine
Offensive, die hauptsächlich vom Artilleriefeuer getragen wird, zum
Scheitern verurteilt ist. Für die Deutschen war es ein ungewöhnliches
Jahr. Die Strapazen der beiden ersten Kriegsjahre hatten ihre Streitkräfte
soweit reduziert, daß eine defensive Erholungsphase vonnöten war. Die
logische Schlußfolgerung aus Moltkes Behauptung, daß »weil der
Verteidiger einen entscheidenden Vorteil im eigentlichen Feuergefecht
hat, es für die preußische Armee desto mehr Grund gibt, defensive
Methoden anzuwenden«, wurde durch den Aufbau kostspieliger und
komplizierter Befestigungszonen in die Praxis umgesetzt, die die
Westfront schützen sollten und die ans Eisenbahnnetz angeschlossen
wurden. Die Folge davon war, daß eine Industrie von ohnehin relativ
begrenzter Kapazität nicht in erster Linie beauftragt wurde,
Offensivwaffen herzustellen.
Zur Besorgnis der konservativen Generalstabsoffiziere hatte die Moral
der Truppe gelitten. Was noch schlimmer war, in der Betrachtungsweise
derer, die diese Entwicklung nachträglich verurteilten (Guderian unter
ihnen), wurde die taktische Doktrin des »hinhaltenden Widerstandes«
geradezu zur ökonomischen Maßnahme erhoben in einem dem Wesen
nach verschwenderischen Abnutzungskrieg - eine Methode der
Verteidigung, die parallel lief mit Verschwendung von Menschenleben
und Material auf beiden Seiten in der Absicht, den Gegner allmählich zu
erschöpfen. Dies war der Typ der Verdunoffensive mit umgekehrten
Vorzeichen, der, wie Guderian es formulierte, »... das schöne Land in
eine Mondlandschaft verwandelte«. Eine solche Methode zu entwickeln,
war nach Ansicht ihrer Kritiker das genaue Gegenteil jeder praktikablen
Kriegführung.
Für die Deutschen war in der Zeit nach den Verlusten von 1916 von
wesentlicher Bedeutung die Auffüllung der seit 1914 erschöpften
Substanz. Die alte Armee hatte sich nicht nur verblutet. Ihr waren
Bluttransfusionen infolge einer Politik verwehrt worden, die von einem
kurzen Krieg ausging und den Erfordernissen einer langdauernden
Auseinandersetzung nur unzureichend gerecht wurde. Die Beförderung
der Offiziere war im Vorkriegstempo erfolgt und reichte nicht aus, um die
Verluste zu ersetzen. Die Ausbildung einer neuen Generation
einschließlich des Nachwuchses für den Generalstab war minimal
gewesen. Im Zuge des Wiederaufbaus wurden neue Stabsoffiziere
herangebildet, indem man unter anderem auf Männer wie Guderian
zurückgriff, die die Kriegsakademie besuchten, als diese 1914 aufgelöst
wurde, und sie einen geänderten, aber streng praktischen Erfordernissen
angepaßten Kurs durchlaufen ließ, der alle Aspekte der
Generalstabstätigkeit umfaßte. Dazu gehörten Kommandierungen von
einem Monat Dauer zu Stäben auf allen Ebenen, von der Heeresgruppe
bis zur Division, eine kurze Praxis bei einer Artillerieeinheit und
schließlich eine einmonatige Bewährung als Kommandeur eines
Infanteriebataillons an der Front.
Den ganzen April durch blieb Guderian bei Einheiten an der Aisne
und erlebte daher, wie auch die Franzosen zum erstenmal - allerdings
mit kaum nennenswertem Erfolg - Tanks einsetzten. Mit Beginn des
Jahres 1918 verbrachte er zwei Monate als Teilnehmer eines Kurses für
Generalstabsoffiziere in Sedan, wo er ohne Zweifel unterrichtsfreie
Stunden dazu benutzte, die Szene von Moltkes Cannae aus dem Jahre
1870 zu besuchen und sich die Beschaffenheit des Geländes
einzuprägen, auf dem 22 Jahre später sein großes Gambit erfolgen
sollte. Die kurzen Abstellungen bedauerte er als unzweckmäßig, aber
über die Ausbildung, die er erhielt, war er des Lobes voll. Sie war, so
meinte er, »vielseitig und gründlich. Ich fühlte mich nach Absolvierung
des Lehrganges in Sedan den an mich herantretenden Aufgaben
gewachsen. Am 28. Februar 1918 wurde ich endgültig in den
Generalstab übernommen.«
Es war einer der stolzesten Augenblicke in seinem Leben. Über die
Rolle des Generalstabes im Ersten Weltkrieg urteilte er später: »Die
endlich erlangte Großmachtstellung im Kreis der europäischen Völker
schuf ein militärisches Selbstbewußtsein, das seinen lebhaftesten
Ausdruck vielleicht gerade im Kreis der geistigen Auslese des
Offizierskorps, eben dem Generalstab, fand.«
Nicht daß sein abschließendes Urteil über den Generalstab unkritisch
gewesen wäre - weit entfernt; nach reiflicher Überlegung betrachtete er
ihn als »zu enges Konzept«, obwohl er sich mit einer solchen Äußerung
zurückhielt, als er zum erstenmal die karmoisinfarbenen Streifen erhielt.
Ohne Zweifel führte das Verlangen des Generalstabes, die Prinzipien
Moltkes in vollem Umfang aufrechtzuerhalten, was er laut Guderian zu
tun bemüht war, dazu, daß er trotz der Möglichkeiten des Tankeinsatzes,
wie sie ihm vom Feind vor Augen geführt wurden, die technischen
Notwendigkeiten verkannte. Die Ereignisse vom 20. November 1917, als
Guderian im Hauptquartier des Armeeoberkommandos »C« tätig war
und daher weit entfernt von Cambrai und dem ersten Erfolg eines
massierten Angriffs von Tanks, ließen deutlich erkennen, wie sehr es
dem Generalstab an Voraussicht mangelte.
Dieses Geschehen kommentierte Guderian so: »Die Tankstreitmacht
verlieh den Armeen der Entente die wirkliche Stoßkraft, als sie bei
Cambrai die für unüberwindlich gehaltene Siegfriedlinie an einem
Vormittag durchbrach.«
Die Taktik von Cambrai war von Füller ausgebrütet worden, obwohl
ihm der Fehler nicht angelastet werden kann, daß der anfängliche Erfolg
sich innerhalb weniger Tage abrupt gegen die Briten wandte, weil die
Deutschen zu einer wirkungsvollen Gegenoffensive ansetzten, bei der
gleichfalls neue Methoden angewendet wurden. Von entscheidender
Bedeutung für den weiteren Kriegsverlauf war, als sich das Jahr 1917
dem Ende zuneigte, daß beide Seiten Techniken enthüllten, die, wären
sie in einem späteren Jahrzehnt richtig angewandt worden, die Mobilität
als Schlüssel für die schnelle Entscheidung eines Feldzuges
wiederhergestellt hätten.
Immerhin war den Deutschen klargemacht worden, daß die Tanks
eine tödliche Bedrohung darstellten, eine, auf die sie wegen ihrer
Vernachlässigung der Technologie keine unmittelbare Antwort wußten.
Gleichzeitig hatten sie aber den Beweis angetreten, daß die neuen
taktischen Methoden, die entwickelt wurden, seit Generaloberst August
von Mackensen und sein Chef des Generalstabes Oberst Hans von
Seeckt, die Russen 1915 bei Gorlice-Tarnow geschlagen hatten, ihnen
eine Siegeschance einräumten, jedenfalls solange, bis die Tanks (und
Millionen von Amerikanern) in ausreichender Zahl auftauchten, um die
endgültige Niederlage unabwendbar zu machen. Mackensen und Seeckt
war es 1915 an der russischen Front dank einer überlegenen Taktik
gelungen, tief in diese Front einzubrechen. Sie führten Reserven durch
die schmale Bresche nach und konnten die Versorgung für ihren Stoß in
die Tiefe und die Verfolgung aufrechterhalten. Die Russen waren
zusammengebrochen, aber man mußte zugeben, daß sie bereits durch
schwere Mängel in Ausrüstung und Organisation geschwächt waren.
Ende 1915 besiegte dasselbe deutsche Befehlshaberteam auch eine
angeschlagene serbische Armee und schaltete praktisch diese Nation
vom Krieg aus. Zu Seeckts Freude machte ein massives Angebot von
Infanterie der Kavallerie die Ausnutzung des Erfolgs möglich und
überzeugte ihn davon, daß die Reiter noch eine Zukunft auf dem
Schlachtfeld hatten. Es war eine falsche Lehre, aber eine, die für den
weiteren Verlauf der deutschen Militärgeschichte noch von Bedeutung
war. Denn auch Seeckt war ein Mann der Zukunft.
Die deutschen Experimente zur Wiederherstellung der offenen
Kriegführung wurden 1917 fortgeführt, während die Taktik der
Verteidigung in der Tiefe das markanteste Kennzeichen ihrer Strategie
blieb. Im September dieses Jahres erhielt eine andere geschwächte
russische Armee einen lähmenden Schlag, als eine deutsche Armee
unter General Oskar von Hutier bei Riga zuschlug. Diesmal war die
Taktik des Infanteriedurchbruchs noch verfeinert worden. Im Anschluß
an eine überraschenden Bombardierung, die nur kurz dauerte und sehr
intensiv war (nicht im mindesten mit denen zu vergleichen, die bei
Verdun tagelang angehalten hatten und jetzt zur gleichen Zeit die
Anhöhen von Ypern pulverisierten), wurde der Angriff in die feindlichen
Linien hinein von einem harten Stoßkeil besonders ausgewählter und
ausgebildeter »Sturmtruppen« ausgeführt. Sie überwanden die
russischen Verteidigungslinien, umgingen den Widerstand, der nicht
sofort niedergemacht werden konnte und schufen durch ihre bloße
Anwesenheit im unverteidigten russischen Hinterland Chaos und
Ungewißheit. Dann wurden die abgeschnittenen russischen Stützpunkte
durch eine weitere neue Kombination auf deutscher Seite aufgerieben:
Ad-hoc-Gruppen aus Infanteristen, Maschinengewehrschützen und
leichter Artillerie, die an der vordersten Front während der Schlacht unter
einem schnell ernannten örtlichen Kommandeur zusammengezogen
wurden, der die in seinem Bereich verfügbaren Kräfte bestmöglich
einsetzte.
Daraus
resultierte
eine
flexible
Auffassung
der
Befehlshaberfunktion: der Offizier in vorderster Linie, der die Situation
am besten beurteilen konnte, erhielt wieder die Befehlsgewalt für seinen
Bereich innerhalb eines weitgespannten taktischen Netzes, das sehr
lose von oben gespannt war.
Diese Flexibilität hing jedoch weitgehend von besseren
Fernmeldeverbindungen ab, als es die gewesen waren, die zu Beginn
des Feldzuges 1914 versagten. Die Deutschen hatten sich mit
ungeheurem Fleiß jede neue technische Errungenschaft zunutze
gemacht und ihre Streitkräfte derart umorganisiert, daß die
Fernmeldeoffiziere auf allen Kommandoebenen fest zugeteilt waren, um
so einen entscheidenden Einfluß auf die Operationen ausüben zu
können.
Die
deutschen
Fernmeldeverbindungen
hatten
als
Waffensystem inzwischen Anerkennung gefunden, aber es gab noch
technische Mängel. Albert Praun, einer der fähigsten Praktiker, weist
darauf hin: »Die technischen Probleme ausreichender, ständiger
Verbindungssysteme für strategische und taktische Zwecke während der
Truppenbewegungen,
telefonischer
Verbindungen
über
große
Entfernungen und der Verwendung von Mehrfachleitungen und
störungsfreier drahtloser Übermittlungen blieben weiterhin ungelöst.«
Dennoch wurde der bewährte Mantel des alten Moltke ein weiteres
Mal über dem Schlachtfeld ausgebreitet und führte zu großartigen
Erfolgen. Die Russen wurden bei Riga in die Flucht geschlagen. Als
einen Monat später den Italienern bei Caporetto die gleiche Behandlung
zuteil wurde, hätte Italien aus dem Krieg ausgeschaltet werden können,
vorausgesetzt, die Deutschen hätten das Tempo ihres Angriffes
aufrechterhalten können. Hier lag das schwächste Glied in der Kette.
Logistische Schnitzer, die Erschöpfung der vordersten Truppen und ein
Unvermögen, am Schauplatz des Geschehens die Übersicht zu behalten
und ausgeruhte Reserven in den Kampf zu werfen, brachten das
Kampfgeschehen zum Stillstand, wie es an der Marne der Fall gewesen
war. Die Methoden des Heranführens von Sturmtruppen und
Kampfgruppen, die sich bei Cambrai so wirkungsvoll für die Abwehr der
britischen Tankangriffe erwiesen hatten, funktionierten zwar auch hier,
aber man strebte gar kein tiefes Eindringen hinter die feindlichen Linien
an und erprobte die Logistik nicht. Das geschah erst wieder in großem
Umfang am 21. März, als die Deutschen unter Hindenburg und der
Führung von General Erich Ludendorff einen Schlag führten, der darauf
abzielte, Auftakt zur letzten, alles zerschlagenden Offensive im Westen
zu sein. Die Aufgabe, die Briten und Franzosen vernichtend zu besiegen,
glaubte man jetzt lösen zu können, da Rußland aus dem Krieg heraus
war und im Aufruhr der bolschewistischen Revolution steckte.
Die Methoden, die Guderian und seine Altersgenossen im Winter
1917/18 bei Sedan studiert hatten, wurden bei der Ludendorff-Offensive
angewendet. Sie waren dazu bestimmt, die Lehrgangsteilnehmer auf
jede Aufgabe vorzubereiten, die die angreifenden Verbände fordern
konnten. Aber, was Tanks betraf, so hatten die Deutschen weniger als
20 Stück aus eigener Produktion zur Verfügung, zusammen mit ein paar
erbeuteten Fahrzeugen, so daß diese Waffe kaum irgendwelcher
Studien wert war. Für seinen Teil fand sich Guderian von der Taktik
abgeschnitten, denn im Mai wurde er Quartiermeister des XXXVIII.
Reservekorps und fand sich tief in der Welt der Logistik wieder - eine
wunderbare Erfahrung für jemanden, der in den kommenden Jahren die
Fähigkeiten der Logistiker bis an ihre Grenzen abschätzen sollte. Ihm fiel
die Verantwortung für den Nachschub für sein Korps zu, das
Flankenschutz für eine zusätzliche Offensive über Aisne bieten sollte.
Das Unternehmen begann am 27. Mai mit einer vollständigen
Überraschung; man erzielte mit fast 23 Kilometern den weitesten
Vormarsch seit Beginn des Grabenkrieges 1914. Bei dieser Aktion war
Guderians Aufgabe nicht allzu schwer. Ungleich kniffliger wurde sie beim
nächstenmal,
als
das
XXXVIII.
Reservekorps
unter
dem
ausgezeichneten Hutier an der linken Flanke der sogenannten »MatzOffensive« angreifen mußte, die am 9. Juni mit der Absicht erfolgte, den
Wirkungskreis seines schwächer werdenden Vorgängers auf der linken
Seite zu erweitern und die Bedrohung von Paris zu vergrößern.
Unglücklicherweise fehlte dieser Offensive der Überraschungsfaktor, den
sich die Deutschen bei der ersten Attacke zunutze hatten machen
können. Darüber hinaus stießen sie jedesmal auf einen französischen
Gegner, der seine Nerven behielt, mit einem ungestümen Gegenangriff
zurückschlug und die Deutschen durcheinanderbrachte. Daß die
Franzosen die Oberhand behielten, lag zudem nicht allein an ihrer
Ausdauer. Diesmal setzten sie Tanks in einer Konzentration und Stärke
ein, die allen vorangehenden alliierten Verteidigungsschlachten von
1918 gefehlt hatte.
Die Tankbesatzungen mußten wie alle anderen Truppenteile viel
dazulernen. Das Lernen ging um so schneller vonstatten, je mehr die
Zeit drängte. Die alliierte Seite hatte ein Jahr gebraucht, um zu
erkennen, daß man bei einem Angriff die Tanks zusammenziehen
mußte. Nur drei Monate waren nötig, um einzusehen, daß aufgrund der
Tatsache, daß der Tank vor allen Dingen eine Offensivwaffe war, seine
Verwendung bei der Verteidigung von den beim Angriff angewandten
Prinzipien ausgehen mußte: der gleichen Notwendigkeit einer
Konzentration der Stärke statt einer Auflösung in »Pennypackungen«,
wie es althergebrachten orthodoxen Prinzipien entsprach. So hatte auf
französischer Seite die Tendenz bestanden, die Tanks nur in kleinen
Gruppen einzusetzen, bis man am 12. Juni 144 Tanks entlang einer
breiten Front auffahren ließ. Die Deutschen hatten am 21. März 1918 in
St. Quentin bei ihrem ersten Einsatz von Tanks fünf Fahrzeuge
eingesetzt, die Briten schickten zu zweit oder dritt ins Gefecht. Bei
Villers-Bretonneux waren am 24. April 13 deutsche Tanks auf zehn
britische gestoßen. Die Verluste in diesem ersten Tankgefecht waren auf
beiden Seiten gleich hoch. Gegen die Franzosen ließen die Deutschen
am 1. Juni 15 Tanks mit spärlichem Erfolg bei Soissons und Reims
rollen. Sie kopierten dabei ihren Gegner, der während der Monate April
und Mai selten mehr als sechs Tanks gleichzeitig zum Einsatz gebracht
hatte. Nicht, daß der erste konzentrierte Einsatz dieser Waffe auf
französischer Seite an der Matz ein riesiger Triumph gewesen wäre. Von
den 144 Panzerfahrzeugen gingen 70 verloren, weil nur unzureichende
Gegenmaßnahmen erfolgten, um die deutsche Artillerie auszuschalten,
die die verstreuten französischen Tanks nach Belieben abschoß.
Immerhin: wo keine Tanks verfügbar waren oder zerstört wurden, blieb
der Angriff der französischen Infanterie stecken, wo Tanks in den Kampf
eingriffen, konnte sie vorrücken.
Diese Tatsache mag sich Guderian in den karg bemessenen
Zeitabschnitten zwischen seinen dienstlichen Aufgaben eingeprägt
haben, denn als er im Verlauf seines Kreuzzuges für die Panzer über die
Tankerschlachten des Jahres 1918 schrieb, wußte er genau Bescheid.
Aber damals hatte sein Dienst Vorrang, der in eine völlig andere
Richtung wies. Niemand gab ihm eine Aufgabe in Verbindung mit Tanks
zu einem Zeitpunkt, als diese die Aufmerksamkeit aller auf sich lenkten.
Massive Gegenattacken mit Tanks wurden zur Regel. 60 setzten die
Franzosen am 28. Juni bei Cutry ein, weitere 60 am 4. Juli. Insgesamt
471 Tanks waren zwischen dem 18. und dem 26. Juli über verschiedene
Kampfabschnitte verteilt und vereitelten unwiderruflich den letzten
Versuch der Deutschen, an der Marne zu einem Durchbruch zu
gelangen.
In dieser Schlacht begann sich ein Grad von Beweglichkeit
abzuzeichnen, wie man sie seit Jahren nicht erlebt hatte, denn der
»hinhaltende Widerstand«, wie ihn die deutsche Seite praktizierte,
stimulierte die Wiederaufnahme einer offenen Kriegführung. Alliierte
Tanks und Infanterie schlugen, von Artillerie und Flugzeugen unterstützt,
tiefe Breschen in die Reihen der deutschen Infanterie, die hauptsächlich
von Artillerie gegen die Tanks verteidigt wurde. Bisweilen wurden für die
Tanks Verluste von bis zu 80 Prozent verzeichnet, wenn die
gegnerischen Geschütze sie im offenen Gelände unter Beschuß nehmen
konnten, aber irgendwie gelang es den Angreifern, voranzukommen, und
die verteidigende deutsche Infanterie ergriff die Flucht, sobald ihre
Kanonen ausgefallen waren. In diesen Schmelztiegel wurde das
XXXVIII. Reservekorps geworfen, um die rechte Flanke der deutschen
Armee zu stabilisieren, als diese in der ersten Augustwoche
zurückweichen mußte.
Im Verlauf der Kampfhandlungen gingen die Deutschen bis zur
ursprünglichen Linie zwischen Soissons und Vesle zurück. Von dieser
Zeit berichtet Guderian bezeichnenderweise, er habe an der
»beweglichen Abwehrschlacht zwischen Marne-Vesle« teilgenommen.
Fünf Tage später wurden er und seine Kameraden durch Berichte über
den schwersten Tankangriff des Krieges überrascht, der gegenüber von
Amiens begonnen hatte und bei dem ein solches Tankaufgebot auf die
Deutschen zukam, daß ihre Artillerieverteidigung an vielen Stellen
buchstäblich überrollt wurde. Auch die Infanterie konnte den
französischen Angriff nicht aufhalten und obwohl Ludendorff versucht
hatte, eine feindliche Tankbedrohung, der er nichts entgegenzusetzen
hatte, verächtlich abzutun, blieb die Tatsache, daß die deutschen
Soldaten von diesem Augenblick an nervös wurden, sobald nur
vermutet, geschweige denn als Gewißheit gemeldet wurde, daß
feindliche Tanks im Kommen waren. Was die Briten als ihr Mittel
ansahen, Maschinengewehrnester zu zerstören und Stacheldraht
niederzuwalzen, war in den Augen der Deutschen eine
»Schreckenswaffe«.
Der Rückzug begann, der von jetzt an keine Unterbrechung mehr
erfahren sollte, bis im November der Waffenstillstand unterzeichnet
wurde. Für Guderian war es eine Periode endloser Plackerei mit wenig
Ruhepausen, nicht leichter gemacht durch seinen Kommandeur, den er
kritisierte: »Er macht das Leben nach Kräften schwer und ist sehr
anspruchsvoll gegen den guten alten General Hofmann.« Aber in jenen
Tagen, als er schrieb: »Fortgesetzt ändert sich die gesamte
Nachschublage... So hat man immerzu den Kopf voll und kommt nicht
zur Ruhe. Da wir diese unruhige Geschichte nun schon vier Monate
hintereinander machen, ist ein Teil der Herren etwas abgekämpft, was
auch kein Wunder«, verzeichnete sein Personalbogen kurz und bündig
die Schlachten:
»4. bis 16. August. Oise.«
Hier fiel das XXXVIII. Reservekorps zurück infolge einer Hebelwirkung
von der Flanke her, durch die Niederlage von Amiens verursacht und
den nachfolgenden Druck gegen die Deutschen auf einer immer breiter
werdenden Front, bis sie sich dafür entschieden, sich an ihren
Ausgangspunkt an der Siegfriedlinie zurückzuziehen.
»17. August bis 4. September. Aisne.«
Das XXXVIII. Reservekorps deckte den Rückzug in einem Zeitraum,
als zunehmende Kriegsmüdigkeit und Unzufriedenheit es um so
augenscheinlicher machten, daß auch eine verzögernde Defensive nicht
lange durchgehalten werden konnte, und es Ludendorff klar war, daß der
Krieg beendet werden mußte.
»5. bis 20. September. Siegfriedlinie.«
Der endgültige Rückgang bis auf die Linie, auf der das XXXVIII.
Reservekorps als Scharnier des deutschen Aufmarsches gekämpft hatte,
zunächst in der 9. Armee, später in der 7., als diese die 9. übernahm.
Dann wurde er als Ia zur deutschen Militärmission nach Italien
versetzt, gerade rechtzeitig, um in den Strudel der österreichischen
Niederlage bei Vittorio Veneto zu geraten, die Österreich aus dem Krieg
werfen sollte. Diese kurzfristige Verwendung sollte bei der Betrachtung
von Guderians Werdegang nicht ausgelassen werden. Sie zeigt an, daß
er auf seine Vorgesetzten vor und nach dem Generalstabskurs in Sedan
und auch in dessen Verlauf einen beträchtlichen Eindruck als eifriger, mit
Vorstellungskraft ausgerüsteter, ernstzunehmender Stabsoffizier machte,
der zuweilen vielleicht gegen Moltkes Regel verstieß: »Viel leisten, wenig
hervortreten, mehr sein als erscheinen.« Guderian liebte jedoch diese
Maxime.
Das Schicksal wollte es, daß er die Revolution in doppeltem Maße mit
einem doppelten Schock erlebte. Am 20. September konnte er sich noch
kein nahes Ende des Krieges vorstellen, als er an Gretel schrieb: »Die
Friedensaktion der Österreicher scheint mir ein ziemlicher Blödsinn zu
sein. Der Zeitpunkt war unglücklich gewählt - mitten in der Schlacht, die
zurzeit dem Gegner nur Hoffnungen macht, hält man am besten den
Mund und kämpft. Durch würdiges Abwarten und Handeln ist mehr zu
erreichen als durch dieses Friedensgewäsch. Länger als nötig will ja
keiner den Krieg, aber so, wie jetzt versucht wird, kommen wir meiner
Ansicht nach nicht zum erträglichen Frieden.«
Guderian blieb der unverbesserliche Optimist. Seine Briefpassage
illustriert nur eine Einstellung, die seine Arbeit in zwei Weltkriegen
sowohl stützen als auch unterminieren sollte.
Verständlicherweise wurde er eines Besseren belehrt. Am 30.
Oktober fand er sich plötzlich zum jüngeren Mitglied einer zweiköpfigen
deutschen Delegation ernannt, die nach Trient geschickt wurde, um bei
der
österreichisch-ungarischen
Waffenstillstandskommission
mitzuwirken, die mit den Italienern verhandelte. Die beiden deutschen
Offiziere reisten in einem Eisenbahnwaggon ohne Fenster und ohne
Heizung und mußten bei ihrer Ankunft feststellen, daß die Kommission
schon abgereist war. Am Tag darauf holten sie sie mit einem Auto ein,
wobei sie unter dem Schutz einer weißen Fahne und von einem
Trompeter angekündigt tief in die italienischen Linien hineinfuhren. Aber
den Italienern beim XXIX. Armeekorps lag nichts daran, die Deutschen
da zu haben. So wurden Guderian und sein Begleiter zu den eigenen
Linien zurückgeschickt.
»Man verband uns die strahlenden blauen Augen«, schrieb er. Er
sollte in der Zeit darauf Szenen größten Aufruhrs miterleben.
Entsetzen klang bei Guderian in seinem Brief an Gretel durch, in
welchem er ein haarsträubendes und beschämendes Erlebnis schilderte,
bei dem sich Deutschlands Verbündete »bodenlos unwürdig« verhielten.
»Die Unordnung in Trient wuchs von Stunde zu Stunde. Regimenter
kamen von der Front, singend, ohne Waffen, dafür aber mit roten
Blumen geschmückt. Der Pöbel demonstrierte vor dem Dantedenkmal.
Alle
Magazine
wurden
geplündert
und
angezündet.
Die
kriegsgefangenen Russen wurden freigelassen und beteiligten sich; bald
gab es Schüsse und Messerstechen. Die Bevölkerung beteiligte sich
munter an den Plünderungen. Wein- und Schnapsfässer rollten durch die
Straßen...«
Guderian war glücklich, diesem Chaos zu entkommen. Bei seiner
Heimkehr fand er jedoch ein Deutschland vor, in dem es noch schlimmer
zuging.
»Unser herrliches deutsches Reich ist nicht mehr, das Werk
Bismarcks liegt in Trümmern«, schrieb er am 14. November aus
München an Gretel.
»Schurken haben alles zu Boden gerissen... Alle Begriffe für Recht
und Ordnung, Pflicht und Anstand scheinen vernichtet... Die
Soldatenräte kranken noch an Kinderkrankheiten ersten Ranges und
treffen lächerliche Anordnungen.
Ich bedaure nur, kein Zivil hier zu haben, um den Rock, den ich zwölf
Jahre in Ehren getragen habe, nicht den Anrempeleien des Pöbels
aussetzen zu müssen.«
Fast über Nacht verlor das in höchstem Grad disziplinierte deutsche
Heer seinen Zusammenhalt und seine Zuverlässigkeit. Matrosen- und
Soldatenräte nahmen das Gesetz in ihre Hand. Die alte Ordnung ging in
einem Wirrwarr von Putschen und Gegenputschen unter. Ende
November kehrte Guderian nach Berlin zurück, jetzt eine Stadt der
Gewalt und der Furcht, mit dem Bewußtsein, daß die Armee nicht länger
als Stabilitätsfaktor in den Angelegenheiten der Nation zählte. Und auch
mit dem sicheren Gefühl, daß Deutschland nicht nur vom Kommunismus
im Innern, sondern auch von den vordringenden bolschewistischen und
polnischen Armeen im Osten bedroht war, während die siegreichen, aber
weniger räuberischen Westmächte bis an den Rhein rückten. Im neuen
Jahr erhielt er seine nächste Ernennung beim Stab der Zentralstelle des
neugebildeten Grenzschutzes Ost, der Organisation, die Hindenburg
geschaffen hatte als militärische Behörde zur Koordinierung der sich
angesichts der Lage im Osten bildenden Verteidigungsgruppen, die
gegen die bolschewistische und polnische Bedrohung angehen sollten.
Der Generalstab sah diese Behörde als Symbol seiner bleibenden
Integrität an, aber in diesem Chaos war die reguläre Armee von weitaus
geringerer Bedeutung als die neu entstehenden Gruppen
einsatzfreudiger und kampfbereiter Männer, Freikorps genannt, die
Erfindung von Major Kurt von Schleicher. Mit einer Mammutaufgabe
versehen, ließ der Grenzschutz Ost keinem Angehörigen seines Stabes
viel Zeit, um über die unmittelbare Zukunft nachzudenken, geschweige
denn über langfristige Probleme im Zusammenhang mit Tanks. Guderian
widmete sich der Verteidigung deutschen Bodens und des Territoriums
im Osten, aus dem seine Vorfahren stammten. Gleichzeitig lösten die
unschönen Vorgänge, deren Zeuge er geworden war, eine neue
gedankliche Vorstellung bei ihm aus: die Notwendigkeit, Deutschland vor
sich selbst zu retten, eine Erkenntnis, die seine politische Philosophie in
späteren Jahren prägte. Er sprach von Bismarck, der das moderne
Deutschland geschaffen hatte, und löschte durch Schweigen die
Erinnerung an Kaiser Wilhelm II., der seine Nation im Stich gelassen
hatte. Vielleicht im Unterbewußtsein begann er sich nach einem neuen
Bismarck zu sehnen, einem starken Mann, der Deutschland retten
konnte.
3
DIE SCHWÄRZESTEN TAGE
Vom ersten bis zum letzten Augenblick sahen sich die Freikorps als
einzig sicheres Bollwerk gegen den Kommunismus. Ihre Bildung fiel mit
der Revolution zusammen. Die erste Aufgabe bestand in der
Niederwerfung der Spartakisten im Januar 1919, und ihre allmähliche
Expansion erfolgte im Verhältnis zur Größe der bolschewistischen
Drohung innerhalb Deutschlands und vom Ausland her. Wo die Brutalität
der Freikorps die Seiten der Geschichte mit Blut befleckte, gab es
unweigerlich eine vorangegangene oder zur gleichen Zeit stattfindende
Bluttat ihrer geschworenen Gegner, denn beide Antagonisten hatten in
ihren Reihen die brutalsten Kämpfer, die die Armeen des Ersten
Weltkrieges hervorgebracht hatten. Die führenden Elemente des
Fanatismus und des Berufssoldatentums standen einander gegenüber
und prügelten sich. Die Kommunisten wurden von glühenden Idealisten
und Revolutionären angeführt, die Freikorps hauptsächlich gelenkt und
befehligt von Männern, in deren Augen der Sturz der Monarchie und des
alten Lebenssystems eine Ungeheuerlichkeit darstellte, abgesehen
davon, daß damit ein Schlag gegen ihren eigenen Status geführt worden
war. Diese Offiziere waren der harte Kern einer vorwiegend patriotischen
Gruppe, die tiefe Scham darüber empfand, daß der Krieg verloren
worden war. Gleichzeitig fürchteten sie die Beseitigung ihres Einflusses
und Wohlstands. Die Soldaten, die ihnen folgten, waren, um mit
Guderian zu reden, die »wirklichen Kämpfer«, jene, die »Deutschlands
letzte Hoffnung« bildeten. Nur wenige, die mit den Freikorps oder gegen
sie kämpften, konnten ihnen militärische Tapferkeit absprechen, aber in
Zusammenhang damit erwarben sich diese Gruppen auch, wenn auch
oft unverdient, den Ruf von Grausamkeit und zuweilen hemmungslosen
Vorgehens.
Übergriffe waren natürlich um so wahrscheinlicher, wenn man sich vor
Augen führt, daß jede Gruppe und Formation den Männern, die sie
ausbildeten und kommandierten, unbedingte Treue schuldete und daß
im Anfangsstadium die Regierung genötigt war, mit ihnen
auszukommen, weil es keine Alternative gab. Das größte und
schlagfertigste aller Freikorps war die Eiserne Brigade. Sie war von
Major Joseph Bischoff, einem »alten Krieger«, aufgestellt worden und
wurde zum Teil aus den entschlossensten Elementen der 8. Armee
gebildet, die bei den Schlachten gegen die Russen von Anfang an
dabeigewesen waren. Als diese Armee gemäß den von Generalmajor
von Seeckt und seinem Ia, Major Werner Freiherr von Fritsch,
getroffenen Vereinbarungen nach Deutschland zurückgeführt wurde,
schloß sich die kriegsbereite Minderheit, die den Kampf im Osten
fortsetzen wollte, Bischoff und seiner Truppe an. Auch Seeckt war für
den Kampf. Anfang 1919 war er Chef des Generalstabs des
Grenzschutzoberkommandos Nord in Bartenstein geworden, zur
gleichen Zeit, als Hauptmann Guderian als Stabsoffizier zum
Grenzschutzoberkommando Süd in Breslau entsandt wurde. Im Norden
waren die Auseinandersetzungen am heftigsten. Daher wurden die
fähigsten Männer hier zusammengezogen. Guderian wurde im März
nach Bartenstein beordert.
Weil die Bolschewisten den stärksten Druck auf die baltischen
Staaten ausübten und damit nahe an das Kernland preußischen Erbes
heranrückten
und
es
bedrohten,
wurden
auch
Stammeszugehörigkeitsgefühle geweckt, und die härtesten Freikorps
drängten sich in diesen Gebieten nach dem Einsatz. Darüber hinaus
wurden sie durch Versprechungen von Landschenkungen verlockt.
Dabei nistete sich in den Köpfen einiger von ihnen der Gedanke ein, daß
das, was man mit dem Schwert eroberte, in Friedenszeiten ihr Eigentum
werden könnte - daß, je mehr Letten starben, desto mehr freier Grund
und Boden vorhanden wäre. Nicht alle dachten so; ein echter Siedler
läßt sich in einem friedlichen Gebiet nieder. Dessenungeachtet rief eine
der ältesten Verlockungen der Weltgeschichte - das Versprechen auf
reiche Beute - die entschlossensten und wildesten Vertreter
feudalstaatlicher Kriegführung auf den Plan. Bischoffs Eiserne Brigade
wuchs rasch auf eine Stärke von 15.000 Mann, die in drei Regimenter
aufgeteilt waren. Jedes besaß eine eigene Artillerieeinheit. Sehr bald
mußte man ihren Namen in Eiserne Division umändern und sich auf die
Suche nach einem fähigen Führungsstab begeben. Unvermeidbar wurde
sie zu einer bedeutsamen politischen Macht, noch stärker unter dem
Kommando von Guderians verehrtem Vorkriegsausbilder an der
Kriegsakademie, Generalmajor Rüdiger Graf von der Goltz, der sich
während des Krieges den Ruf eines unerschrockenen Führers in
brenzligen Situationen erworben hatte. Von der Goltz war ein Held - mit
all der Übertreibung und Ausstrahlung, die diesem Begriff innewohnt.
Seeckt hegte gemischte Gefühle für von der Goltz und dessen Leute.
Als Lückenbüßer vor der Bildung eines neuen deutschen Heeres waren
sie für die Verteidigung Deutschlands gegen den traditionellen Feind aus
dem Osten notwendig. Andererseits hatte er den Einfluß der Freikorps
auf die innere Sicherheit Deutschlands in Erwägung zu ziehen. Ihre
Unabhängigkeit in Gedanken und Absichten war eine ständige
Bedrohung für eine schwache Regierung in Berlin, die unter ungeheurem
Druck von allen Seiten stand, einem Druck, der sich bald noch steigern
sollte, als die Bedingungen des Friedensvertrages von Versailles
bekannt wurden.
Im Frühjahr 1919 stagnierte Deutschland in einem politischen
Narrenhaus. Abgesehen von einer Handvoll Politiker und Soldaten hatte
die Bevölkerung, der es an Lebensmitteln mangelte und die schlecht
gekleidet und eingeschüchtert war, die (aufgrund propagandistischer
Irreführung) falsche Hoffnung, daß sich der einstige Feind »realistisch«
und großzügig verhalten und dem deutschen Kaiserreich erlauben
würde, sich in ein Staatsgebilde mit der Vorkriegsstellung umzuformen.
Die generöse Art und Weise, wie sich die Briten zu Anfang des
Jahrhunderts gegenüber den geschlagenen Buren verhalten hatten,
lieferte Grund für diesen Optimismus. Aber Deutschlands ehemalige
Gegner waren Opfer der gleichen Haßpropaganda, die auch ihren
Siegeswillen genährt hatte, und betrachteten das Volk, das den Krieg
begonnen hatte, als »kriminell« - besonders die dominierenden Preußen
und ihre Institutionen. Einige dieser Dinge wußte Seeckt bereits (und
sollte sie nur zu gut verstehen, als er kurze Zeit darauf als Vertreter des
Militärs in die deutsche Friedenskommission für Versailles berufen
wurde); er griff nach allem, was die deutsche Moral stärken und
gleichzeitig der Entente unangenehm sein konnte. Bis zum April hatte
von der Goltz die roten Russen in Litauen zurück- und aus dem
südlichen Teil Lettlands hinausgedrängt. Dabei mischte er sich mit der
Ernennung
des
Politikers
Karlis
Ulmanis
zum
lettischen
Ministerpräsidenten in politische Angelegenheiten ein. Seine Aktionen
wurden von einer Säuberungswelle begleitet, der gnadenlosen
Hinrichtung von Roten und all derer, die prokommunistischer
Sympathien verdächtigt wurden. Dazu entwarf er Pläne für die Einnahme
Rigas.
Seeckt war ebenfalls für das Riga-Unternehmen, weil die deutsche
Präsenz in den baltischen Staaten an der Seite weißrussischer Truppen
eine Brücke zu einer künftigen russischen Regierung darstellen konnte,
vorausgesetzt, daß die Weißen ihr Ziel erreichten, auf St. Petersburg
(Petrograd) marschierten und die Roten absetzten, ein nebuloses
Unterfangen, das auch die Zustimmung der Entente-Mächte genoß.
Dieser Brückenschlag war wünschenswert, weil Deutschland jetzt völlig
ohne Verbündete dastand, eine Situation, die es sich nicht leisten
konnte. Es war eine heikle Lage, eine, die eine schier unmögliche
strenge Kontrolle von der Goltz' und der Eisernen Division erforderte der aggressivsten Elemente in den vielsprachigen Einheiten, die bestrebt
waren, gegen die Roten gemeinsam vorzugehen und sich dabei das
Wohlwollen der Entente zu erhalten.
Die deutsche Regierung, die keine andere Wahl hatte als sich den
Wünschen der Entente zu fügen, konnte die expansionistischen
Vorstellungen von der Goltz' nicht offen unterstützen. Dennoch wurde ein
Weg gefunden, das Problem zu umgehen, die Eiserne Division offen
zum Angriff auf Riga am 21. Mai vorgehen zu lassen. Dieser Division
wurde am 2. Juli Guderian als Zweiter Generalstabsoffizier zugeteilt,
eine Ernennung, die Seeckt und Fritsch offensichtlich in der Absicht
vornahmen, den Einfluß des Generalstabes an der empfindlichsten
Stelle zu verstärken. Es war ein Hinweis auf die Zukunft und das
Vertrauen, das sie in diesen jungen, gerade dreißigjährigen Offizier
setzten, daß sie auf sein Urteil bauten in einer Zeit tödlicher Gefahr, da
patriotische Gefühle leicht die Oberhand über die Vorsicht gewinnen
konnten. Wenn Guderian seine Sache gut machte, würden sich seine
ohnehin guten Zukunftschancen noch vergrößern. Denn nicht nur Seeckt
war ein Mann der Zukunft, auch Oberst Wilhelm Heye, der neue Chef
des Generalstabes des Grenzkommandos Nord, und Fritsch waren es,
und die für hohe Posten Ausersehenen nahmen gewöhnlich ihre
fähigsten Stabsoffiziere mit sich.
Schon wenige Tage später, am 21. Juni, stellte Guderian in einem
Gefecht bei Lemsal zum erstenmal in einem kritischen Moment das
taktische Geschick unter Beweis, das ihn später berühmt machen sollte.
Die führende Angriffssäule unter Hauptmann Blankenburg geriet ins
Stocken, nachdem ihr Kommandeur verwundet worden war. Guderian
sah sofort die Gefahr, erkannte aber auch eine günstige Gelegenheit.
Aus eigener Initiative setzte er ein Reserveinfanterieregiment in
Bewegung und warf es in den Kampf, um den Angriff in Fluß zu halten.
Es war nicht seine Schuld, daß der Angriff schließlich infolge
ungenügender
Vorbereitung
und
unzureichender
Kräfte
zusammenbrach.
Bald entglitt natürlich die Lage deutscher Kontrolle. In großem Maße
waren die Deutschen selbst daran schuld. Nach dem Fall Rigas hatte es
Massaker gegeben, an denen Bolschewiken, Deutsche und Letten
beteiligt waren. Guderian berichtete in einem Brief, die Bolschewiken
hätten über 4.000 Menschen umgebracht, aber es gibt genügend
Beweise dafür, daß auch ihre Gegner ebenso viele Scheußlichkeiten
verübten. Die moralischen Maßstäbe waren niedrig in Zeiten der
Verzweiflung. Ein Mitglied der Freikorps schrieb: »Wo einst friedliche
Dörfer standen, sahen wir nur Ruß, Asche und brennende Ruinen, als
wir vorbeikamen. Wir entzündeten einen Scheiterhaufen zur
Verbrennung, auf dem mehr als tote Gegenstände in Flammen
aufgingen, nämlich unsere Hoffnungen... die Gesetze und Werte der
zivilisierten Welt... und so kehrten wir schwankend zurück, betrunken,
mit Plunder beladen.«
Diese
Männer
durchbrachen
die
Grenzen
gesunden
Menschenverstandes in einer Zeit, in der Mäßigung sich hätte auszahlen
können. Ulmanis hatte sich schon beklagt, daß die Deutschen die Letten
dem Kommunismus in die Arme trieben; »Das lettische Volk hat die
Erfahrung gemacht, daß die Bolschewiken weniger grausam als die
Deutschen sind.« Von der Goltz ersetzte Ulmanis durch die neue
Regierung seiner Wahl unter Andreas Needra, und die Alliierten, die bis
jetzt unschlüssig gewesen waren, erkannten endlich den tieferen Sinn
der Ambitionen von der Goltz'. Sofort übte die Entente unwiderstehlichen
Druck aus, um der Vergewaltigung Lettlands ein Ende zu bereiten. Im
Mai wurden die Bedingungen des Friedensvertrages veröffentlicht und
am 28. Juni der Vertrag von Versailles mit allen seinen strengen
Klauseln unterzeichnet. Er stellte einen niederschmetternden Schlag für
Deutschland, seine Streitkräfte und seine Hoffnungen dar. Der Marine
wurden U-Boote und große Kriegsschiffe verboten; für die Armee gab es
künftig keine Flugzeuge, schwere Artillerie, Gasgranaten und Tanks
mehr. Ja, noch mehr: das Heer selbst mußte zum 3. März 1920 auf eine
Stärke von 100.000 Mann reduziert und die Institutionen, an denen auch
Guderian seine Ausbildung erfahren hatte, geschlossen werden: die
Kadettenschule in Groß-Lichterfelde, die Kriegsakademie und der Große
Generalstab.
Deutschland würde über kurz oder lang ohne Verteidigung sein. Das
erkannten Hindenburg, Seeckt und die obere militärische Hierarchie in
vollem Umfang. Optimistische Erwartungen, das behalten zu können,
was die Alliierten von nun an verboten, mußten aufgegeben werden, nur
durch Täuschungen konnte viel gerettet werden. Seeckt, im Juli zum
Vorsitzenden der Vorbereitungskommission für die Friedensarmee
ernannt und zukünftiger Chef der Heeresleitung, hatte vorrangig die
Rückführung deutscher Soldaten aus dem Baltikum zu bewerkstelligen.
Wünschenswerte Nebenaufgabe war dabei die Ausschaltung der Macht
der Freikorps. Er war es, der sofort von der Goltz zu überreden
versuchte, sich aus Riga zurückzuziehen, indem er ihm klarmachte, wie
wenig erfreulich die Zukunft aussah, aber zugleich auch Männer wie
Guderian tief verletzte, deren Loyalität zwischen militärischem Gehorsam
und Patriotismus schwankte.
Mit einem Schlag wurde alles, was Guderian hochhielt, zerstört.
Unbeschreibliche Gefühle, die nur jemand mit einem Quentchen
Vaterlandsgefühl nachempfinden kann, der die Schmach einer
plötzlichen Niederlage kennengelernt hat, wurden geweckt. Jeder Brief
an Gretel legt Zeugnis von einer Art Verzweiflung und einer fast
unerträglichen inneren Spannung ab, die von grundlegender Bedeutung
für das Verständnis seiner späteren Karriere ist. Am 14. Mai hatte er sich
gewundert über die, wie er sie nannte, »Bierruhe« der Ostpreußen bei
Bekanntwerden der Friedensbedingungen und ihre augenscheinlich
gleichgültige Hinnahme von deren Folgen.
»Wenn wir diesen Frieden annehmen, dann ist es aus mit uns, und
wenn wir ihn nicht annehmen, wahrscheinlich auch. Also bin ich für nicht
annehmen. Dann kann die Entente sich ja mit Gewalt nehmen, was sie
haben will. Wir werden ja sehen, wohin sie damit kommt. Mehr wie
vernichten kann man uns ja nicht. Wenn wir die Armee doch noch
hätten! Unser stolzes, schönes Heer! Dann wäre eine solche Schmach
nie möglich gewesen.«
Aber er sah schon voraus, daß die noch unter Waffen stehenden
deutschen Truppen im Baltikum, mit rühmlicher Ausnahme der Eisernen
Division, sich allmählich auflösten, denn: »... man hatte ihnen dort
Siedlungsland versprochen, denn um des Vaterlandes willen kämpfen
doch die wenigsten Deutschen zurzeit noch.«
Er war entsetzt. Am 6. Juli erfuhr er, daß sie von Riga abrücken
müßten. Am gleichen Tag hatte er einen realistischen Brief einer
besorgten Gretel bekommen, in dem diese ihm vorhielt: »Ich kann Deine
Entrüstung über den Schmachfrieden voll verstehen«, schrieb sie, »nur
können doch jetzt einzelne Menschen nichts mehr ändern; sie opfern
sich umsonst. Das Vaterland wird Euch später mehr gebrauchen als
jetzt, der Augenblick ist noch nicht gekommen... Nichts ist sicher zu
erreichen, nun der Frieden unterzeichnet und die Bedingungen von der
verbrecherischen Regierung gehalten werden sollen. So werdet Ihr doch
im Baltikum keinen Rückhalt zu Eurem Kampf haben...«
Dieser Brief sollte ihn beruhigen, aber Guderian schenkte dem
politischen Rat seiner Frau kaum Beachtung, obwohl ihre Worte, wie bei
dieser Gelegenheit, Hand und Fuß hatten. Am 12. Juli antwortete er
leidenschaftlich: »Du schreibst, daß unsere Arbeit hier aussichtslos sei.
Das mag sein. Aber wer kann beurteilen, ob nicht doch ein letzter kleiner
Erfolg aus diesen Kämpfen erwächst? Der Feind hat sich zur Aufgabe
gemacht, uns hier zu vernichten. Nun gut, so soll er es tun! Die
Engländer können uns selbstverständlich zum Verlassen des Landes
zwingen und damit die einzige Verbindung mit Rußland, die wir noch
haben, abschneiden. Der Feind hat jetzt die Macht, seinen Willen
durchzusetzen. Trotzdem: kräftig sich zeigen, nimmer sich beugen! Nur
aus uns selbst kann noch die Rettung kommen. Wir selbst müssen dafür
sorgen, daß der Schmachfrieden nicht durchgeführt wird, daß unser
stolzes Heer nicht verschwindet und daß wenigstens ein Versuch
gemacht wird, seine Ehre zu retten. Wir wollen versuchen, die Gelübde,
die wir früher immer gedankenlos abgelegt haben, nunmehr in die Tat
umzusetzen. Du kennst ja die ‚Wacht am Rhein' und den alten
Preußenmarsch ,Solang ein Tropfen Blut noch glüht, noch eine Faust
den Degen zieht. Sei's trüber Tag, sei's heit'rer Sonnenschein, ich bin ein
Preuße, will ein Preuße sein!' Jetzt ist's trüber Tag. Jetzt kommt's darauf
an, den Schwur zu halten. Jeder, der noch etwas Ehrgefühl hat, muß
selbst sagen: Ich will helfen!
Glaube mir, Herzensfrauli, daß ich so unendlich gern zu den Kindern
und Dir zurückkäme... Ich handle nicht leichtfertig. Ich habe mir diesen
Schritt überlegt.
In Deutschland ist ja als Offizier nichts mehr zu machen. Der
Generalstab wird gemäß Friedensvertrag aufgelöst. Ob die
demnächstige unabhängige Regierung überhaupt noch ‚reaktionäre'
Offiziere im Dienst beläßt, ist fraglich. Außerdem kann man keinem alten
preußischen Offizier zumuten, unter Verbrechern zu dienen.
Ich müßte also meinen Abschied nehmen. Wo sollte ich dann hin?
Erhalten wir die verdiente Pension?
Soll ich etwa nachher eine sogenannte ,Kompanie' ewig meuternder
Polizisten unter französischer Kontrolle führen und mir die schwarz-rotgoldene Schandkokarde mit ,Eichenlob' an den Hut stecken? Das kannst
Du mir nicht zumuten wollen, wenigstens jetzt noch nicht, wo doch nicht
alle anderen Möglichkeiten erschöpft sind und wo ich noch nicht selbst
zum elenden Buben geworden bin.«
Gegen Ende Juli 1919 schrieb Guderian (der in den
vorangegangenen Wochen und Monaten meist als Erster
Generalstabsoffizier bei der Eisernen Division in Abwesenheit des
tatsächlichen Ia Dienst getan hatte) ein Memorandum für Bischoff. (Es ist
z. B. schwierig, es mit seiner ursprünglichen Wirkung ins Englische zu
übersetzen, denn Guderians Stil war kunstvoll und zuweilen dramatisch.)
Die Denkschrift begann mit einem Überblick über die sich
verschlechternde politische Situation, führte Seeckts frühere
Überlegungen und Ziele auf und schloß daran Guderians eigene
Erkenntnisse an, die von der offiziellen politischen Linie abwichen:
»Deutschland ist dann an seinen Grenzen von Entente-freundlichen
Staaten umgeben. Die Industrie und der Handel unterliegen der Aufsicht
der Entente. Ein Emporblühen und Erstarken des Deutschen Reiches ist
ausgeschlossen.
Es handelt sich also darum, den Weg durch das Baltikum nach
Rußland offenzuhalten.
Die Division hat, obwohl die Politik mit Lettland gescheitert ist, den
Plan, eine Brücke zwischen Deutschland und Rußland herzustellen,
nicht aufgegeben. Sie hat Verbindung mit den in Mitau sich formierenden
russischen Abteilungen aufgenommen, um in Verbindung mit den
Russen zum Ziele zu kommen. Bei den Russen sind zwei politische
Richtungen vertreten. Die eine erblickt in dem Anschluß Rußlands an die
Entente den besten und richtigsten Weg. Diese Ansicht ist bei Abteilung
Lieven vorherrschend, sie ist daher durchaus englisch orientiert. Der
größte Teil dieser Abteilung ist inzwischen auf Befehl der Engländer
nach Reval transportiert worden, um von dort aus an der Nordfront
eingesetzt zu werden.
Die andere Richtung vertritt das Detachement Graf Keller, welches
von dem Oberst Bermondt geführt wird. Das Detachement ist deutsch
orientiert. Oberst Bermondt hält das Deutsche Reich für stark genug, um
den Russen in ihren Bestrebungen zu helfen, zumal ein Bündnis mit
Rußland für das Deutsche Reich von größter Bedeutung ist und
Deutschland aus der Umklammerung befreien würde.
Die deutschen maßgebenden Stellen wie Oberkommando Nord und
Zegrost unterstützen die Bestrebungen der Division. Wenn die
maßgebenden Stellen, wie Oberkommando Nord und Zegrost, auch
nicht von dem Gelingen des Planes überzeugt sind, so stehen sie doch
auf dem Standpunkt, daß der Versuch auf alle Fälle gemacht werden
muß*. Sie wurden durch den Vortrag des Zweiten Generalstabsoffiziers,
Hauptmann Guderian, welcher persönlich nach Bartenstein zum
Oberkommando Nord gefahren war, darin bestärkt.
*
Nicht alle dachten so. Das muß festgehalten werden. Wheeler Bennett zum
Beispiel erklärt, Seekt habe von der Goltz' Pläne als »pure Phantasie«
angesehen.
Pekuniären Schaden erleidet das Deutsche Reich durch Überweisung
von Kriegsmaterial nicht, da nach den Bestimmungen des
Friedensvertrages der größte Teil des Kriegsmaterials an die Entente zur
Vernichtung ausgeliefert werden muß.
Wenn die Division entgegen den Befehlen der Regierung im Baltikum
bleibt, so müßte naturgemäß die gesamte Division zu den Russen
übertreten und sich auch äußerlich als russische Truppe kenntlich
machen. Der Übertritt der Division hängt in erster Linie von der
Finanzierung der Russen ab... Die Division hat den Übertritt einzelner
Formationen verboten. Nur durch einen geschlossenen Übertritt der
Division können die berechtigten Forderungen erfüllt werden. Wenn
einzelne Offiziere und Mannschaften zu den Russen übertreten, so tun
sie es auf eigene Gefahr hin.
Die Entente besteht auf schnellster Räumung des Baltikums, was in
verschiedenen Besprechungen zwischen Vertretern der Entente und des
Generalkommandos nachdrücklichst betont wurde. Die Engländer
fürchten, daß im Baltikum eine Reorganisation Deutschlands und damit
die Null- und Nichtigkeitserklärung des Versailler Friedens ermöglicht
wird. Das Generalkommando hat die vorbereitenden Befehle zur
Räumung der baltischen Provinzen bereits erlassen...«
Dieses Dokument machte auf Bischoff tiefen Eindruck, weil es seine
eigenen Ideen enthielt. Dennoch war die Richtung des Memorandums
kaum die des leidenschaftslosen Generalstabsoffiziers, den Seeckt
entsandt hatte, um die Eiserne Division zur Zurückhaltung aufzufordern.
Guderians persönliche Gefühle schimmerten ebenso durch wie die
politischen Tagträume, die so manchen deutschen Offizier, der wie er
dachte, verwirrten. Bischoff bemerkte, daß er nicht den Wunsch hatte,
die »sogenannte Weimarer Koalitionsregierung« um etwas Unmögliches
zu ersuchen.
»Wenn sie sich auch nicht offen zu uns bekennen konnte, so hieß das
doch nicht, daß sie gegen uns arbeiten oder unsere Arbeit unmöglich
machen mußte«, folgerte Bischoff. Voller Hoffnung warteten er, Guderian
und die übrigen gespannt darauf, daß noch einmal eine Wende zu ihren
Gunsten eintrat, nachdem schon die ersten Befehle für einen
stufenweisen Abzug eingetroffen waren. Die ersten Einheiten sollten am
23. August abrücken.
»Ich fuhr mit Hauptmann Guderian...«, schrieb Bischoff, »immer noch
in der Hoffnung, daß vielleicht doch ein Gegenbefehl eintreffen würde.
Als ich vor der Truppe stand, in ihren Augen den Zweifel sah, ob es
wirklich ernst mit dem Abtransport sei - in diesem Augenblick fielen alle
Zweifel und Bedenken von mir ab. Ich war überzeugt, daß die ganze
Division sich geschlossen hinter mich stellen würde.«
Er weigerte sich, die Verladung anzuordnen, und befahl statt dessen
seinen Soldaten, an Ort und Stelle zu verbleiben. Das löste wilde
Begeisterung aus, und seine Leute feierten ihn mit einem Fackelzug.
Es war zugleich auch ein kritischer Augenblick für Guderian nach
einer Periode schrecklicher Ungewißheit. Am 26. Juli beantwortete er
einen Brief seiner Frau, in dem diese über seine scheinbare
Gleichgültigkeit gegenüber ihr und den Kindern geklagt hatte.
»Ich muß entschieden mal auf einige Wochen in den Wald und aus
dem Dienst heraus, um gesund zu werden«, schrieb Guderian. »Diese
Aufregungen machen einen sonst normalen Menschen auf die Dauer
ganz rabiat. Du mußt mich wieder kurieren, und ich weiß, daß Dir dies
sicher in wenigen Tagen gelingen wird. Du kannst mich dann wieder um
den kleinen Finger wickeln.«
Aber in demselben Brief fragt er auch: »Wo ist ein Mann? Wer wagt
eine einzige befreiende Tat?«
Guderians Denkschrift und persönliche Stellungnahmen hatten dem
Oberkommando in Bartenstein gezeigt, daß er Seeckt nicht aus vollem
Herzen unterstützte, obwohl Seeckt zu diesem Zeitpunkt nach einem
Herzanfall vorübergehend außer Aktion war.
Am 27. August berichtete er Gretel über die Gefühle, die ihn am 23.
August bewegten, und erzählte ihr erneut von den Qualen, die er
durchmachte: »Ich hatte den schwersten Entschluß meines bisherigen
militärischen Lebens zu fassen und mußte den folgenschweren Schritt
mitmachen. Gott gebe uns Erfolg. Wir handelten nach bestem Wissen
und Gewissen für unser Vaterland und unsere Leute.«
Er schloß: »Die Dinge stehen auf des Messers Schneide und ich bin
mit meinen Nerven fast am Ende. Es ist zum Verzweifeln ernst mit uns
bestellt. Der Geist unserer Truppe ist gut. Man wird fast an 1914
erinnert.«
Er hatte seine Karriere in die Waagschale geworfen und sich dafür
entschieden, bei einer Organisation zu bleiben, die nicht allerersten
Anspruch auf seine Loyalität hatte. Diese Situation hätte einen
unwiederbringlichen Wendepunkt in seinem Leben bedeuten können,
wären nicht seine Vorgesetzten in Bartenstein von ähnlichen
Gewissenskonflikten geplagt worden. Der deutsche Generalstab bewies
nun sein Mitgefühl und seine Wertschätzung für einen jungen
Stabsoffizier, dessen Fähigkeiten er hoch einschätzte*. Er beorderte ihn
vorsorglich nach Bartenstein zurück und hinderte ihn daran, noch einmal
in die Nähe der Eisernen Division zu kommen. Wahrscheinlich steckte
Oberst Heye dahinter - der binnen weniger Jahre Chef der Heeresleitung
werden sollte. Jedenfalls versuchte man, Guderian Zeit zu geben, seine
innere Erregung abzukühlen und die impulsive Seite seines Charakters,
die gegen Ungerechtigkeit und eine Schädigung der Interessen der
Soldaten, die er respektierte, aufbegehrte, ein weiteres Mal der Disziplin
des Generalstabskorps unterzuordnen. Aber sein Engagement für
politische Fragen und seine Empfänglichkeit für die Verlockungen
extremistischer Gruppen kennzeichneten eine bedeutsame Stufe seiner
Entwicklung. Innerhalb der Regeln des preußischen Disziplinarkodex
hatte er ein Argument bis zum Augenblick der Entscheidung und noch
darüber hinaus verfochten; er hatte Ungehorsam gezeigt, war deshalb
beinahe ausgeschaltet worden und hatte dennoch überlebt. Es war eine
schmerzhafte Prozedur gewesen, und doch bewies sie, daß man sich
den Vorschriften widersetzen konnte, vorausgesetzt, die Sache schien
gerecht.
*
Hermann Balck, der Guderian zu dieser Zeit nahestand, erklärt, daß Guderian
dem 100.000-Mann-Heer allein aus der Tatsache, daß er sich durch
Charakterstärke auszeichnete, angehören mußte. »Er war wie eine
Sprungfeder.«
Eine Scheidung hatte sich angebahnt zwischen der alten Armee, die
Seeckt wiederherstellte, und den Freibeutern aus den Freikorps, die
ihren Widerstand fortsetzten und sich in die Gruppen verwandelten, die
als Vorhut der Nazis anzusehen sind. In Bartenstein machte Guderian
hartnäckig seinen Einfluß geltend und setzte den Kampf zugunsten der
Eisernen Division fort. Aber deren einsame Position im Baltikum war so
hoffnungslos, wie Gretel es schon vorausgesagt hatte. Obwohl Guderian
am 27. August pessimistisch geschrieben hatte, er könne nicht erwarten,
in einem Generalstab zu verbleiben, der auf 120 Offiziere reduziert
worden sei, und auch keinen Platz bei der Grenzschutztruppe erwarten,
gewann vier Tage später wieder der Optimismus die Oberhand und
führte ihn zu der positiven Feststellung:
»Bisher ist die ganze Bewegung in Kurland so verlaufen, daß man
hoffen kann, sie wird zu dem von den Truppen gewünschten Ergebnis
führen; d. h. also Siedlungserlaubnis, Bolschewistenbekämpfung und
Weiterbestehen einer nationalen, sehr verbesserungsfähigen Truppe. Es
wäre sehr zu begrüßen, wenn der Graf Goltz an der Spitze des Korps
bliebe. Er ist ein ganz vortrefflicher Mann mit guten Soldaten- und
hervorragenden diplomatischen Eigenschaften, dazu von vornehmer
Gesinnung.«
Dieser Brief bewies erneut eine Schwäche seiner Urteilsfähigkeit, das
Unvermögen, politische Faktoren vorauszusehen oder abzuschätzen, ein
Fehler, den die Zeit nicht heilen konnte. Wenn er auch noch am 15.
September Bischoff mit dem Hinweis ermutigen konnte, daß »Regierung,
Reichswehrministerium und Auswärtiges Amt die Eiserne Division und
die anderen Truppen im Baltikum nicht im Stich lassen würden«, so
wurde diese unrealistische Überzeugung bald ebenso wie seine eigene
Stellung unterminiert. Er hatte geglaubt, was ihm gesagt worden war,
und hatte es unterlassen, das politische Kräftespiel selbst zu
untersuchen. Die Stärken der Freikorps nahmen rapide ab, als die
Enttäuschten nach Deutschland heimkehrten und die Gegner so stark
wurden, daß eine militärische Niederlage unvermeidbar war. Im Oktober
wurden die deutschen Truppen dann in einer Schlacht besiegt. Danach
war eine weitere offizielle Unterstützung für die Freikorps, wenn auch
heimlich gewährt, nutzlos.
Ende September war Guderian aus der Gefahrenzone
herausgenommen worden oder, wie er Gretel schrieb: »Denk daran, daß
ich nun erst in Einsamkeit getaucht werde, wenn ich Euch vergnügt
zusammenweiß.«
Man hatte ihn an einen Platz von verhältnismäßig politischer
Harmlosigkeit beordert: zur Reichswehrbrigade 10 in Hannover. Dann,
im Januar 1920, wurde er, was für ihn vielleicht eine notwendige
Erholungspause von der Generalstabsarbeit bedeutete, seinem alten
Jägerbataillon Nr. 10 in Goslar als Kompanieführer zugeteilt. Die Zukunft
sah er in düsteren Farben. In seinen Erinnerungen stellt er fest, er habe
den Generalstab »... nicht unter den glücklichsten Umständen«
verlassen. Er war, das war deutlich zu erkennen, tatsächlich in Ungnade
gefallen. Er hatte den berauschenden Wein des ideologischen
Nationalismus gekostet und ihn verlockend gefunden, ihn aber dann
doch ausgespien. Auf alle Fälle aber war er Angehöriger des
besonnenen und angesehenen Offizierskorps geblieben, dessen
Aufgabe darin bestand, in Deutschland die Stabilität einer alten und
verläßlichen Ordnung wiederherzustellen, und so vor der
Selbstzerstörung bewahrt worden, zu der die Freikorps verurteilt waren.
Diese räumliche Entfernung von heißen politischen Kontakten war
heilsam, wenn sie auch nicht endgültig war. Es ist kaum zu bezweifeln,
daß seine Entfernung von dem Posten im Generalstab bei ihm einen
schweren und denkwürdigen Schock auslöste. Unter mäßigem
politischem Druck sollte er von nun an wie ein gebranntes Kind reagieren
und ein politisches Engagement scheinbar ablehnen, indem er die
Wahrung militärischen Anstands vorgab. Und doch behielt Guderian
stets den Hang zu einer subversiven Einschaltung in Dinge bei, die nach
seiner Ansicht von außerordentlicher Bedeutung waren. Diese Haltung
rechtfertigte er als letzte Auslegung des inneren Gehalts preußischer
Zucht, aber es war eine Neigung, vor der sich mißgünstige Kollegen in
Zukunft in zunehmendem Maße in acht zu nehmen begannen.
Auch verzieh er Seeckt nie ganz dessen Zustimmung zum Abzug aus
den baltischen Staaten, auch wenn er Lippenbekenntnisse zu den
Grundsätzen des politischen Verhaltens dieses Mannes ablegte. Nicht
lange nach dem Zweiten Weltkrieg gab Guderian den Amerikanern eine
Charakterskizze Seeckts, die in gewisser Weise mehr über ihn selbst als
über den Gekennzeichneten aussagte. »Seeckt«, so sagte er, »war klar,
überlegt, kühl, fast schüchtern.«
Diese letzte Hervorhebung stammt von mir, denn es handelt sich hier
um eine Beurteilung, die, soweit ich es zu erkennen mag, einzigartig ist
und ziemlich abweicht von Guderians späterer Aussage, Seeckt sei ein
»kühler Verstandesmensch«. Es war eine unterschiedliche Auffassung
zur Meinung anderer deutscher Generäle wie zum Beispiel Manstein,
Guderians altem Klassenkameraden an der Kriegsakademie, der unter
Seeckt in Krieg und Frieden gedient hatte und schrieb von einem
»... inneren Feuer, das ihn inspirierte und eisernen Willen, der ihn zur
geborenen Führernatur machte.«
Seeckt als neuer Chef des Truppenamtes sah sich vor die schier
unlösbare Aufgabe gestellt, eine Armee wiederaufzubauen, die tief ins
politische Geschehen verwickelt war zu einem Zeitpunkt, da eine
schwache Regierung in Berlin von ersten inneren Unruhen bedroht war.
Er erholte sich von seinem Herzanfall gerade rechtzeitig genug, um die
große Herausforderung seiner Absicht, die Armee aus der Politik
herauszuführen, zu bestehen. Diese Attacke kam, nicht unerwartet, von
den Überresten der Freikorps, die in feindseliger Stimmung aus dem
Baltikum ins Reich zurückkehrten mit dem ehrgeizigen von der Goltz in
ihrer Mitte. Offiziell waren die Freikorps aufgelöst worden, obwohl viele
ihrer Männer in den baltischen Staaten zurückblieben und noch
jahrelang in verschiedenen Gruppierungen auftauchten. Männer wie von
der Goltz ließen sich nicht leicht abweisen.
Im März 1920 fand der langbefürchtete Staatsstreich statt. Einheiten
der Freikorps marschierten nach Berlin und tauchten in verschiedenen
anderen Städten auf, nachdem ein von einem politisch ungeschickten
Staatsbeamten namens Wolfgang Kapp inszenierter Putsch
vorübergehend Erfolg hatte. Von Ludendorff unterstützt, setzten die
Freikorps und diejenigen, die sie immer noch als Deutschlands Rettung
ansahen, die Regierung stark unter Druck und bildeten ein eigenes
Marionettenregime in Berlin. Seeckt widersetzte sich dem Ersuchen der
Regierung, das Reichsheer gegen die Freikorps einzusetzen, indem er
fragte: »Würden Sie eine Schlacht am Brandenburger Tor erzwingen
wollen zwischen Truppen, die noch vor anderthalb Jahren Schulter an
Schulter gegen den Feind kämpften?« Statt dessen nahm er auf
unbestimmte Zeit Urlaub und unterstrich so seinen wiederholt
geäußerten Entschluß, das Militär aus der Politik herauszuhalten. An
seiner Stelle setzte Kapp von der Goltz, aber mehr als ein Austausch
war das nicht. Ein von der tatsächlichen Reichsregierung ausgerufener
Generalstreik führte rasch den Sturz Kapps und seiner wackligen
Organisation herbei. Seeckt war imstande, mit erstarkter Hand die Arbeit
der Rekonstruktion fortzusetzen und wurde Chef der Heeresabteilung.
Der Kapp-Putsch hatte wenig Blutvergießen mit sich gebracht, obwohl
die Freikorps auf Berlin marschiert waren und sich auch in anderen
Teilen Deutschlands bemerkbar gemacht hatten. Das Jägerbataillon 10,
mit ihm Guderian, stand in Alarmbereitschaft, und es bedeutete ihm
einen
etwas
komischen
Trost,
als
die
Mehrzahl
seiner
Kompanieführerkameraden
von
Aufständischen
in
Hildesheim
gefangengenommen wurden. Es gelang ihnen jedoch, Geschütze von
den Rebellen zu erbeuten. In fünf Tagen war alles vorbei. Der gesunde
Menschenverstand hatte Guderian geraten, der Versuchung zu
widerstehen, sich Kapp und von der Goltz bei ihrem Versuch der
Errichtung einer Militärdiktatur anzuschließen. Ein Jahr später, während
des Max-Hölz-Aufstandes, und 1923 zur Zeit des Hitler-Putsches in
München verhielt sich Guderian loyal gegenüber Seeckt und der neuen
Reichswehr. Sie wurde nach und nach zu einem eigenständigen
Instrument des Staates, geführt vom Chef der Heeresabteilung, die mit
der Republik arbeitete, auf die man den Treueid abgelegt hatte, und
nicht gegen sie.
Dessenungeachtet hatte Guderian am 8. April 1920 unmittelbar nach
dem
Kapp-Putsch
bemängelt,
»nirgends
werde
energisch
durchgegriffen«, gegen die »elende Feigheit, Dummheit und Schwäche
dieser Jammerregierung« gewettert und gefragt: »Wann wird endlich der
Retter kommen diesem Land? Ich werde immer pessimistischer in bezug
auf die endgültige Friedenshoffnung. Wir stehen mitten im
Dreißigjährigen Krieg. Es ist furchtbar traurig, aber nicht zu ändern.
Unsere armen Kinder werden das Wort Frieden nur dem Namen nach
kennen.«
Die Antwort darauf erfolgte bald, als an der Ruhr Armee-Einheiten
und Freikorpsleute unter Ritter von Epp erbarmungslos Kommunisten
niedermachten.
Bei der Reorganisation der Reichswehr hatte Seeckt sich neben der
politischen Isolierung die Schaffung einer Verteidigungsstreitmacht zum
Ziel gesetzt, die so angelegt war, daß sie den Grundstock für das
Wiedererstehen des deutschen Heeres bilden konnte, wenn die Zeit
gekommen war. Bei den 100.000 Mann, die es zu rekrutieren galt,
mußten viele fähige Offiziere und Unteroffiziere sein, die später im Fall
der Erweiterung die Basis für das Führungskorps darstellen konnten.
Obwohl der Generalstab aufgelöst worden war, wurde seine Funktion
durch das erwähnte Truppenamt weiter wahrgenommen, das für Fragen
der Verteidigung, der Organisation, des Nachrichtendienstes und der
Ausbildung zuständig war. Eine zivile Abteilung, die von ehemaligen
Generalstäblern geleitet wurde, beschäftigte sich mit dem Studium
geschichtlicher
Zusammenhänge
und
künftiger
militärischer
Entwicklungen. Unter dem Eindruck des verlorenen Krieges machte sich
die neue Organisation mit Hingabe an die Analyse der Fehler und an die
Entwicklung jedes denkbaren Modells für eine Modernisierung, das
innerhalb oder leicht außerhalb der vom Versailler Vertrag gesetzten
Grenzen untersucht oder erprobt werden konnte. Die Offiziere der
deutschen Armee dieser Zeit versahen ihren Dienst in einer völlig
anderen Atmosphäre, als ihre Vorgänger sie gekannt und geschätzt
hatten.
Guderian stellte fest: »Sie mußten manches Privileg, manche
liebgewordene Tradition aufgeben und taten dies, um ihr Vaterland nicht
von der damals bereits drohenden Welle des asiatischen Bolschewismus
überfluten zu lassen. Die Weimarer Republik hat aus dieser
Verstandesehe keine Liebesheirat zu machen gewußt*. Eine innere
Verbundenheit zwischen dem neuen Staat und dem Offizierskorps
entwickelte sich nicht.«
*
Eine seltsame Ironie, wenn man bedenkt, daß sich 1922 die Deutschen
anschickten, sich auf eine andere Vernunftehe einzulassen: eine
Zusammenarbeit mit dem kommunistischen Rußland, wie sie der Vertrag von
Rapallo vorsah.
Bis gegen Ende des Jahres 1921 war Guderian mit einer einzigen
Aufgabe betraut, untergeordneten Ranges, aber grundlegend wichtig: er
mußte eine Infanteriekompanie ausbilden. Weil dies nach 1914 fast sein
erster Dienst als Truppenführer war (abgesehen von dem kurzen Monat
als zeitweiliger Bataillonskommandeur im September 1917), der zudem
eine beträchtliche Minderung der Verantwortlichkeit mit sich brachte,
ging er mit ungewöhnlicher Energie ans Werk und trieb seine Leute hart
voran. Es war auch seine erste Gelegenheit, bei Übungen auf unterster
Stufe die 1918 gewonnenen Erfahrungen zu verwerten. 1921 fanden
Versuchsübungen mit motorisierten Truppen im Harz bei Goslar statt.
Guderian ging freudigen Herzens an die Arbeit, konnte er doch auf diese
Weise Versuche mit der engeren Verbindung zwischen Offizieren und
Mannschaften anstellen, die er für so wichtig ansah und deren
Bedeutung auch Seeckt erkannt hatte, dessen Politik darauf abzielte, die
Kluft zwischen den Rängen zu schließen. Guderian konnte grob zu den
Soldaten sein und noch gröber zu den Offizieren, und seine ätzende
Zunge konnte spotten und verletzen. Aber er blieb immer fair. Als
Ausbilder war er systematisch fortschrittlich, unerhört gründlich und stets
darum bemüht, die Gründe für die Anforderungen zu erläutern, die er
stellte. Nur eine Kompanie, die sich durch höchstes Geschick,
ausgezeichnete Moral und vollendeten Schliff von anderen abhob,
konnte das Produkt einer solch begeisterten und nicht weichwerdenden
Führung durch einen Mann sein, der ebensosehr an Überzeugungskraft
wie an brutalen Zwang glaubte. Seine Männer vergaßen ihn niemals und
begrüßten seine Rückkehr immer begeistert.
Als die Zeit des Abschieds kam, brachten sie ihre Gefühle in einem
Gedicht zum Ausdruck, das Guderians Wirkung auf einfache Soldaten
eindrucksvoll erkennen läßt:
»Herr Hauptmann Guderian, Sie sind es,
der nicht nur in dem Menschen das tote Werkzeug sah,
der uns gelehrt, warum auch solches Müh'n
ganz unumgänglich war! Ging's manchmal hart - denn eisern ist die Pflicht was zagt der Krieger! - Dank zollt
die Kompanie! -«
4
DIE SUCHE NACH EINEM RETTER
Kernstück des Versuchs militärischer Neuordnung, die für
Deutschland notwendig wurde, war in den Augen von Hans von Seeckt
1921 die Wiederherstellung der alten und traditionellen Kodizes von Ehre
und Gehorsam und ihre Verschmelzung mit einer modernen
zukunftsweisenden Auffassung auf dem Gebiet der Strategie und Taktik,
wie sie eine sich ständig verbessernde Technologie vorschrieb. Seeckt
war, wie so viele seiner Vorgänger und Zeitgenossen, ein Mann von
Grundsätzen. Zur soldatischen Ehre, die zum Beispiel von einem Offizier
verlangte, daß er nicht nur seinen eigenen Ruf, sondern auch den seiner
Ehefrau bis zum äußersten verteidigte, schrieb er entschlossen: »Hierin
liegt die neue und ernste Pflicht des Kommandeurs, die Pflicht zur
Strenge um der Ehre willen.« Diese Forderung war nicht so sehr neu,
aber er hatte das Gefühl, daß es immer wieder gesagt werden mußte.
Auch verkündete er keine aufsehenerregenden Neuigkeiten, als er die
Sätze niederschrieb: »Je wirkungsvoller diese (reguläre) Armee ist,
desto größer ist ihre Beweglichkeit, je entschlossener und kompetenter
ihre Führung ist, desto günstiger sind die Aussichten, den Gegner zu
schlagen.« Seeckt forderte dann: »... hohe Mobilität, zu erreichen durch
den Einsatz von zahlenmäßig starker und in höchstem Maße
schlagkräftiger Kavallerie, durch die größtmögliche Verwendung
motorisierter Transportmittel und durch die Marschkapazität der
Infanterie, ferner die bestmöglichen Waffen und eine ständige
Erneuerung von Männern und Material«. Er schloß keineswegs Tanks
von seinem Inventar aus, obwohl sie nicht namentlich aufgeführt waren;
Seeckt sah sie »auf dem Weg zu einer besonderen Waffengattung
neben Infanterie, Kavallerie und Artillerie« - eine wichtige Einteilung, die
später noch viele Kontroversen auslösen sollte.
Neben dem Truppenamt und den damit zusammenhängenden
Zentralorganen der Reichswehr wurden Inspektionen geschaffen, um
Dinge zu kontrollieren und zu prüfen, die Seeckt als wichtig für die
Zukunft ansah. Unter ihnen befand sich die Inspektion der
Verkehrstruppen unter Generalmajor von Tschischwitz, zu dessen
weitreichenden Aufgaben sowohl ihre taktische Verwendung als auch die
Verwaltungsaufgaben
auf
einer
Reihe
von
Gebieten
wie
Brennstoffbeschaffung, Reparatur und Wartung und Straßenbau
gehörten, von denen keines ernsthaft angepackt worden war außer aus
dem Blickwinkel logistischer Problematik im Stellungskrieg vor 1918.
Eben dieser Inspektion wurde Guderian 1922 zugeteilt. Aber die Art und
Weise seiner Versetzung minderte deutlich, und das aus verständlichem
Grund, seine Zuversicht in das, was die Zukunft für ihn bereithielt.
Einer vagen Nachfrage seines Regimentskommandanten im Herbst
1921 hinsichtlich seines Wiedereintritts in den Generalstab folgte ein
langes Schweigen, bis er im Januar 1922 einen Telefonanruf von
Oberstleutnant Joachim von Stülpnagel vom Truppenamt erhielt, in dem
dieser anfragte, warum er sich nicht zum Dienstantritt bei der 7.
(Bayerischen) Kraftfahrabteilung in München gemeldet habe. Diese
Truppeneinheit war knapp an fähigen Offizieren. Sofort verlangte ein
argwöhnischer Guderian Genaueres zu erfahren. Wie sahen die Dinge
aus? Wie standen seine Aussichten? Zu einem Zeitpunkt, wo es kaum
Beförderungen gab, stellte der Eintritt in eine ferne bayerische
Kraftfahrabteilung alles andere als eine Karriere mit guten
Zukunftsaussichten dar. Die Kommandierung klang eher nach einem
Abschieben auf ein Nebengleis, weit entfernt vom Zentrum des
Geschehens, an das Guderian gewöhnt war und das ein ehrgeiziger
Offizier als Sprungbrett für seine Karriere brauchte.
Stülpnagel beeilte sich zu erklären, daß Guderian dazu ausersehen
war, Generalstabsoffizier bei Tschischwitz zu werden und daß die
Kommandierung nach München ihm zunächst praktische Erfahrung bei
einer Kraftfahrzeugeinheit vermitteln sollte. Er ließ dieser mündlichen
Erklärung am 16. Januar einen Brief folgen, der eine Mischung von
Beschwichtigungen und gutem Rat enthielt:
»Ihre Verwendung bei der Inspektion der Kraftfahrtruppen soll eine
besondere Anerkennung für Ihre bisherigen Leistungen sein. Im
Vertrauen gesagt, sollen Sie bei der Kraftfahrtruppe gerade die
Gedanken des Generalstabes durchsetzen... Sie können sich denken,
daß manche Spezialisten Ihr Kommen ungern sehen. Um so wichtiger ist
es, daß Sie sich mit Takt und Verständnis im großen Interesse
durchsetzen und auch die Anerkennung der Spezialisten finden.«
Zu jener Zeit klaffte in jeder Armee eine Lücke zwischen den
Spezialisten einerseits und den Truppen- und Generalstabsoffizieren
andererseits. Diese Kluft war in der deutschen Armee besonders groß,
weil hier seit jeher eine weitverbreitete Verachtung für »primitive
Mechanik« herrschte. Bei Guderian gab es einen solchen Snobismus
nicht. Sein Dienst bei der Nachrichtentruppe hatte solchen, wenn es ihn
je gegeben hätte, schnell schwinden lassen, und so war seine Wahl für
die neue Aufgabe eine erstaunlich gute Lösung. Er war, wie er schrieb,
sehr froh und von seinem neuen Bataillonskommandeur in München,
Major Oswald Lutz, der ihn in weniger als drei Monaten jede erdenkliche
Erfahrung machen lassen sollte, angenehm überrascht. Lutz kam von
der Eisenbahntruppe. Er war ein Mann von bewundernswerter geistiger
Beweglichkeit, für neue Ideen äußerst zugänglich. Er besaß auch jene
Art absonderlichen Humors, der sich mit Guderians Scherzen messen
konnte. So befahl er einmal den in Ausbildung stehenden
Oberfähnrichen, auf die nächsten Bäume zu klettern. Als sie wieder
herunterkamen, erklärte er, er habe die Anweisung gegeben, um
festzustellen, »ob seine künftigen Zugführer für ihn auf die Bäume
steigen würden«. Sie hatten es getan!
Guderian stand an der Schwelle der letzten Jahre vergleichsweiser
Ruhe in seiner militärischen Karriere. Vor ihm lag ein Jahrzehnt der
Studien, der Entwicklung revolutionärer Ideen und einer Vertiefung
seines Wissens, angestachelt durch die Forderung zu lehren. Es war
kaum von Bedeutung - ja, eher zu seinem späteren Nutzen -, daß zu
Beginn seiner Tätigkeit bei der Inspektion Tschischwitz' Chef des
Stabes, Major Petter, darauf bestand, die Weisungen seines Generals
hinsichtlich der von Guderian zu leistenden Arbeit zu ändern, ein Schritt,
zu dem jeder Chef des Stabes in der deutschen Armee berechtigt war.
Statt Guderian mit der Ausarbeitung von Organisation und Einsatz
motorisierter Truppen im Kriegsfall zu betrauen, ließ man ihn sich mit der
Logistik beschäftigen. Die Aussicht erschreckte ihn. Er protestierte und
wurde zurechtgewiesen; als er darum bat, zum Jägerbataillon
zurückgeschickt zu werden, erhielt er die barsche Antwort, sich, statt
Einwände zu erheben, lieber seiner Arbeit zuzuwenden. Es hätte nicht
besser sein können, wenn alles von vornherein so vereinbart worden
wäre.
Die Vorgänge versetzten Guderians Ego einen heilsamen Stoß und
ließen ihn die Dinge klarer sehen, so daß er von Grund auf völlig neue
Erfahrungen sammeln konnte, weil er für Männer arbeitete, die
entschlossen waren, Herr im eigenen Haus zu bleiben. Der Generalstab
war selbst in seiner neuen versteckten Form eine bemerkenswert eng
zusammenhaltende Organisation mit der Fähigkeit, den besten
Gebrauch von ihren einzelnen Bestandteilen zu machen. Zwar wünschte
Seeckt, daß die Angehörigen sich zusätzlich zu den einheitlichen
Arbeitsmethoden auch zu einem genormten Verhaltenskodex bekannten,
aber bei der letzten Analyse wurde doch sorgsam darauf geachtet, daß
die richtigen Leute die für sie angemessenste Beschäftigung erhielten.
Man muß sich angesichts dieser Tatsache jedoch fragen, ob jemand, der
das Ergebnis der Versetzung des jungen Guderian auf einen ziemlich
entlegenen Posten im Jahre 1922 voraussah, geschwiegen hätte. Denn
Guderian setzte sich für Neuerungen in einem Maß ein, das den
Generalstab und schließlich die ganze Welt atemlos machte.
Durch Hingabe und dynamischen Fleiß, der ihm inzwischen zur
zweiten Natur geworden war, bekam er die Schreibstubenarbeit in den
Griff und delegierte Routinesachen an die Sachbearbeiter. Ohne Zeit mit
Alltagskram zu verlieren, konnte er sich dem zuwenden, was
Tschischwitz - ein strenger Zuchtmeister - schon immer von ihm verlangt
hatte: dem Studium motorisierter Verbände. Guderian versenkte sich in
eine akademische Welt, schloß sich fast vor dem politischen und
wirtschaftlichen Aufruhr, der draußen herrschte, ab - dem Auf und Ab
von Putschen und Gegenputschen; den Auswirkungen der alliierten
Reparationsforderungen auf die Wirtschaft und der damit verbundenen
Besetzung des Ruhrgebietes durch die Franzosen 1923 und der
galoppierenden Inflation der Mark, die den stabilen Schichten der
Gesellschaft schweren Schaden zufügte und die Industrie lähmte; vor
dem Aufstieg der privaten Armeen wie Stahlhelm, Sturmabteilungen und
dergleichen; schließlich vor der Unschlüssigkeit einer geschwächten
Demokratie angesichts der Bedrohung durch starke Männer und
konservative Interessen. Zwar verfolgte Guderian aufmerksam die
politischen Ereignisse, doch war er eifrig bemüht, ihnen aus dem Weg zu
gehen und sich nicht einzumischen, zumal seine Arbeit und sein
Einkommen durchweg konstant blieben.
Zwar konnte er im Zorn mit politischen Ambitionen anderer
sympathisieren und politische Gedanken formulieren, doch als Offizier
war es ihm ohnehin untersagt, sich am politischen Leben zu beteiligen
oder zu wählen. Im Grunde seines Herzens blieb er ein Patriot auf der
Suche nach einem Retter - einem neuen Bismarck - für sein Land, und
als im Jahre 1925 Paul von Hindenburg, ein treuer Monarchist, zum
Reichspräsidenten gewählt wurde und gemeinsam mit Seeckt und
Gustav Stresemann eine Periode der Ruhe einleitete, schien es möglich,
daß die Gestalt, nach der er sich gesehnt hatte, gefunden war. In einem
Brief an seine Mutter vom 21. September 1925 beschrieb er die großen
Ovationen, mit denen Hindenburg beim Besuch der alljährlichen
Heeresmanöver empfangen worden war - den Enthusiasmus der Leute
für diesen Mann, die Fackelzüge und die eigens verfaßten Gedichte, die
an seine Ruhmestaten erinnerten. Er erwähnte nur selten den Politiker
Stresemann, dessen Leistungen natürlich unübersehbar waren. Aber
weil er eben »nur« Politiker war, hatte er in Guderians Wertskala einen
niedrigeren
Rang,
weit
unterhalb
der
»Gottheit«,
dem
Reichspräsidenten.
Doch die deutsche Armee, die in ihrer Geschichte soviel Lorbeer
errungen hatte, war geschwächt, ausgerüstet mit Material, das nur sehr
geringen praktischen Wert im Kriegsfall oder bei zukunftsweisenden
Experimenten hatte. Die Transportfahrzeuge in den Kolonnen waren
weder robust noch beweglich genug, eine Querfeldeinbewegung zu
simulieren, wie sie von voll beweglichen Truppen verlangt wird. Darüber
hinaus waren sie noch verwundbarer als Kavallerie und Infanterie, die im
Verlauf
der
fünfjährigen
Kampfhandlungen
rudelweise
zusammengeschossen worden waren. Irgendeine Form des Schutzes,
ein mit einem Panzer versehenes Fahrzeug beispielsweise, wurde
dringend gebraucht, weil die Soldaten keine Rüstungen tragen können.
Darüber muß sich Guderian von Anfang an klar gewesen sein, obwohl er
in seinen Erinnerungen bei der Schilderung viel Aufhebens von der
allmählichen Entwicklung seiner gedanklichen Prozesse macht. Später
sollte er Klage darüber führen, daß die Kriegsgeschichtliche Abteilung
des Generalstabes versagt habe, weil sie nicht fortlaufend Hinweise an
das Reichsarchiv gab, das sich mit der Geschichte des Ersten
Weltkrieges befaßte.
Guderian schrieb: »Die Fragen moderner Kriegführung, die Fragen
des Luft- und Panzerkrieges wurden geflissentlich übergangen. Die
Geschichtsschreiber waren diesen Aufgaben auch nicht gewachsen.«
Obwohl diese Kritik etwas unfair war (die Historiker beschäftigen sich
völlig verständlich in chronologischer Reihenfolge mit den
Kriegsereignissen), traf Guderian mit seiner Bemerkung: »... die
Geschichte war beim Ausbruch des Zweiten Weltkrieges nicht einmal bis
zur Tankschlacht bei Cambrai gediehen« den Nagel auf den Kopf. Aber
auch die offiziellen britischen Historiker waren bis 1939 kaum weiter
gekommen. So war Guderian gezwungen, sich anderswo nach
Unterlagen umzusehen. Er fand sie in den Berichten einiger deutscher
Überlebender der Tankschlachten, besonders bei Leutnant Ernst
Volkheim, dem erfahrensten unter ihnen, in mehreren deutschen
Handbüchern, aber auch bei den französischen und vor allem bei den
britischen Praktikern.
1923 vollbrachten die Briten etwas bis dahin Einzigartiges; sie stellten
ein Tankkorps auf, das unabhängig von Infanterie, Kavallerie und
Artillerie war. Diese Trennung war das Ergebnis individueller Planung
jener Offiziere, die Ende 1918 die Tanks zu einer entscheidenden
Kriegswaffe gemacht und später Überlegungen angestellt hatten, die
darauf hinausliefen, daß besondere Tankeinheiten gebildet werden
müßten. Diese Ideen gingen von Füller aus, dessen Talent zur Analyse,
Organisation und Aufstellung eindrucksvoller Formeln ihn als
Stabsoffizier besonderer Qualität und als militärischen Genius für
sinnvollste Reformen auswies. Unmittelbar nach dem Krieg hatte er
höchst verständige Artikel geschrieben und die Zukunft der
mechanisierten Kriegführung ausgemalt, in der Tanks und Flugzeuge die
dominierende Rolle spielten.
Um die gleiche Zeit (1919) war von den Gebrüdern Williams Ellis ein
lesenswertes Buch über das Tankkorps veröffentlicht worden. Ebenfalls
in diesen Jahren begann Captain Basil Liddell Hart, sich durch erste
Vorlesungen und Publikationen über taktische Systeme der Infanterie,
die denen sehr ähnelten, die bereits in der deutschen Armee praktiziert
wurden, einen Namen zu machen. Füller war es jedoch, an den sich
Liddell Hart wandte, um sich über Tanks zu unterrichten, und bei Füller
suchte auch Guderian ersten Rat im Hinblick auf die Entwicklung des
Tankkrieges, ungeachtet des Hinweises in einem Absatz zu Beginn
seiner Erinnerungen eines. Soldaten, daß er Liddell Hart die eigentliche
Inspiration verdanke. Übrigens ist dieser Passus nur in der englischen
Ausgabe von Guderians Buch enthalten, für das Liddell Hart ein Vorwort
schrieb, und nicht in der deutschen Originalausgabe. Darüber hinaus
erscheint kein Hinweis auf Veröffentlichungen Liddell Harts in der
Bibliographie von Guderians Achtung - Panzer! (obwohl er zusammen
mit Füller, Martel und de Gaulle im Buch selbst erwähnt wird), während
Bücher von Füller, Martel und de Gaulle in der Bibliographie aufgeführt
sind.
Dazu schreibt Guderians ältester Sohn: »Tatsächlich war es, soviel
ich weiß, Füller, der die meisten Anregungen gab. Mein Vater besuchte
ihn einmal vor dem Krieg. Füller war mit Sicherheit kompetenter als
aktiver Offizier als Captain B. Liddell Hart... Jedenfalls sprach mein Vater
oft von ihm (Füller), während ich mich nicht erinnern kann, zu jener Zeit
(vor 1939) andere Namen gehört zu haben. Die größere Betonung der
Rolle Liddell Harts scheint sich durch Kontakte in der Nachkriegszeit
ergeben zu haben.«
Auf den einfachsten Nenner gebracht, schwebten Füller
mechanisierte
Panzerarmeen
vor,
die
mit
Luftund
Artillerieunterstützung eine befestigte gegnerische Verteidigungslinie
überrollen und dann tief in feindliches Gebiet eindringen konnten, wobei
sie die vordere Artilleriezone ausschalteten, Kommandostellen
zerstörten, Nachschubdepots eroberten und Nachrichtenverbindungen
zerschnitten - kurz, solche Schäden und solche Verwirrung in den
weniger gut verteidigten Abschnitten des feindlichen Hinterlands
anrichteten, daß ein völliger Zusammenbruch der Kampfmoral, der
Führung und des Widerstandes zu erwarten war. Zur Durchführung von
Operationen dieser Art verlangte Füller schwere Tanks zum Durchbruch
durch die Linien, eine Aufgabe, die bis 1918 bei konventionellen
Angriffen Infanterie und Artillerie vollbringen mußten. Gleichzeitig damit
sollten leichtere und schnellere Tanks den Stoß in die Tiefe führen,
Kampfwagen, die ungefähr 32 Kilometer in der Stunde zurücklegen
konnten und eine Reichweite von 240 bis 320 Kilometern besaßen. Sie
sollten von beweglicher Artillerie, mit Traktoren gezogener Infanterie und
Kavallerie unterstützt werden, »... falls die letztere genügend Ausdauer
besaß, eine Verfolgung von mindestens 32 Kilometern pro Tag über eine
Dauer von fünf bis sieben Tagen durchzustehen«.
Für praktische Versuche verfügten die Briten zusätzlich zu den
plumpen Fahrzeugen, die im Krieg eingesetzt worden waren, über eine
neue Generation weitaus beweglicherer schwerer, mittlerer und leichter
Tanks, über gepanzerte Fahrzeuge, geländegängige Transporter und
Mannschaftswagen sowie selbstfahrende Artillerie. Von diesen
Fahrzeugen gab es meist nur Prototypen, aber Mitte der zwanziger
Jahre hatte Großbritannien schon eine wachsende Anzahl von VickersMedium-Tanks - Kampfwagen, die trotz so dünner Panzerung, daß sie
beinahe für normale Kugeln durchlässig war, neue Normen für
Geschwindigkeit und Zuverlässigkeit setzten (wobei über letzteres nicht
viel behauptet werden soll) und neue Abmessungen im Innern hatten,
die der Besatzung bestmöglichen Einsatz ihres einzigen 47-MillimeterSchnellfeuer-geschützes im Drehturm und mehrerer Maschinengewehre
erlaubten.
Mit einer derartigen Ausrüstung, wie keine andere Nation sie bis in die
dreißiger Jahre hinein in genügender Quantität oder Qualität besaß, war
es den Briten möglich, eine führende Rolle in Theorie und Praxis zu
übernehmen. Im Sommer 1927 ließen sie einen komplett motorisierten
Verband aller Waffengattungen in Salisbury Plain aufstellen und setzten
ihn so wirkungsvoll ein, daß eine konventionelle Truppe zu Pferd und zu
Fuß hoffnungslos ausmanövriert wurde, obwohl die motorisierten
Einheiten zahlenmäßig unterlegen waren, über keine langerprobte
Technik verfügten und fast völlig ohne Funkgeräte für die Führung
waren. Das Ausland sah gespannt zu und begann dem nachzueifern,
was es gesehen hatte.
Aufgrund des Versailler Vertrages ( des »Versailler Diktats«, wie er in
Deutschland hieß) durften die Deutschen nur zuhören, zusehen,
studieren und abwarten. Jeder falsche Schritt wurde beobachtet und im
Keim erstickt von den Mitgliedern einer Kontrollkommission, die als
Wächter des Wohlverhaltens fungierte. Aber auch Aufpasser können ihre
Augen nicht überall haben, und Verträge haben Hintertüren; die
Deutschen machten sich einen Sport daraus, sie zu finden. Der
Friedensvertrag verbot den Deutschen nicht, Verbündete zu haben. Was
lag im Rahmen einer vernünftigen Politik für Deutschland näher, als nach
einer anderen »isolierten Macht« Ausschau zu halten und eine Allianz zu
bilden, die von der Entente nicht gern gesehen wurde? Als 1921 Lenin
erste
Schritte
für
einen
deutsch-russischen
Vertrag
über
Zusammenarbeit unternahm, begrüßte Seeckt die neue »Brücke«, wie er
sie 1919 zusammen mit verschiedenen Gleichgesinnten auf russischer
Seite gesucht hatte. Darüber hinaus besaß Seeckt als der mächtigste
Mann in Deutschland auch das politische Gewicht, um den Vertrag von
Rapallo durchzusetzen. Dieses am 16. April 1922 unterzeichnete
Abkommen sah eine neue Zusammenarbeit zwischen den beiden
Staaten vor und förderte besonders die militärische Zusammenarbeit und
hier wieder Projekte moderner Waffentechnik wie Tanks, Gas und
Flugzeuge.
Bald wurden in Rußland drei Ausbildungszentren eingerichtet, in
denen Kriegsmaterial, Fahrzeuge und Techniken erprobt und ein Kader
von Spezialisten herangebildet werden konnten. Nicht nur die in Rußland
gebauten Tanks - der MS I und der MS II mit ihrer 37-Millimeter-Kanone
- wurden weiterentwickelt und hauptsächlich eingesetzt, sondern auch
mehrere deutsche Modelle. Eines davon war ein neun Tonnen schwerer
sogenannter »Leichter Traktor«, bestückt mit einem 37-MillimeterSchnellfeuergeschütz in einem voll drehbaren Turm, der heimlich als
»landwirtschaftliche Maschine« von der Firma Rheinmetall in den Jahren
um 1926 gebaut und in Rußland montiert wurde. Er hatte auffallende
Ähnlichkeit mit dem britischen Medium-Tank. Ein weiterer deutscher
Tank war der 20 Tonnen schwere »Großtraktor«, der um 1929 erstmals
gezeigt wurde und über ein kurzes, langsam feuerndes 75-MillimeterGeschütz in einem voll schwenkbaren Turm verfügte, der auf einen
Rumpf montiert war, der von einem versuchsweise konstruierten Tank
aus dem Baujahr 1918 stammte: dem A 7 V (U).
Die geheimgehaltene Existenz und das schnelle Verschwinden dieser
Fahrzeuge, die in Deutschland fabriziert und sofort zum
Tankversuchsgelände am Kamafluß in Rußland abtransportiert wurden,
war eine Verletzung des Versailler Vertrages. Kleine Tankarbeitsgruppen
wurden von der deutschen Industrie gebildet (Krupp und Daimler-Benz
waren in diesem Stadium mit Rheinmetall vertreten), um grundlegende
Form- und Produktionsprobleme in bezug auf eingebaute optische
Geräte, Bestückung, Panzerplatten, Antriebsmaschine, Getriebe,
Federung und Raupenketten zu lösen. Auch dem schwedischen M 21Tank wurde Aufmerksamkeit geschenkt, der von der Firma Bofors
hergestellt wurde, die ein Abkommen mit Krupp getroffen hatte. Der
M 21 war eine Abwandlung des deutschen LK II, der 1918 nach dem
Vorbild des britischen Whippet-Tanks konstruiert worden war. Er war
veraltet - aber immerhin ein deutsches Modell.
Von Tschischwitz und Lutz ermutigt und von Petter fest auf den
Boden der Realität gestellt, ging Guderian die Motorisierung mit
erfinderischer Begeisterung an. Seine zu konstruktiver Kritik fähigen
geistigen Kräfte, die er bisher nur hatte einsetzen müssen, um Probleme
des Arbeitsalltags, die unter dem Streß des Krieges und der politischen
Wirren entstanden waren, zu lösen, standen neuesten Ideen offen. Aus
dem Krieg war er physisch intakt und geistig unbeeinflußt durch die
lähmenden Erfahrungen des Grabenkrieges heimgekehrt. Er war nicht
verwundet worden und kaum persönlich berührt von der krampfartigen
Furcht, die die begrenzte taktische Routine der Schützengräben mit sich
brachte. So konnte er die künftige Entwicklung der Kriegführung kritisch
aus einer Perspektive prüfen, die ungetrübt war von unauslöschlichen
einseitigen Eindrücken. Er begann, sich selbst als Speicher für
Informationen anzusehen, aus denen er neue Ideen für die
Kampfführung entwickelte und auf ein weitgehend unerforschtes
Operationsfeld vorstieß.
Mit 35 Jahren war er vielleicht ein bißchen zu alt, um originelle
Einfälle zu haben, aber man hatte von ihm bisher ja auch keine
originellen Ideen erwarten können, weil der Krieg ihm die Möglichkeit, sie
zu äußern, verbaut hatte. Wie dem auch sei, jetzt erkannte er mit
wachsender und angeregter Erkenntnisfähigkeit die Mängel der
bisherigen Kriegführung und, was wichtiger war, Wege für eine
gründliche Änderung. Als seine Lektüre ihn immer tiefer in sein
Fachgebiet eindringen ließ, begannen sich als Ergebnis des Studiums
der
alten
und
zeitgenössischen
Geschichte
handfeste
Schlußfolgerungen herauszukristallisieren. Dies führte zur Aufnahme
eines Zeitvertreibs, dem sich der alte preußische Generalstab
hinzugeben pflegte: großartige Beiträge in militärischen Zeitschriften.
Ermuntert von General von Altrock, dem Herausgeber des MilitärWochenblattes, verfaßte er Beiträge (einige von ihnen vermutlich
anonym), die seine Gedanken und seinen Stil widerspiegelten und die
ihm gleichzeitig Geltung verschafften, weil er es verstand, kontroverse
Fragen mit unmittelbarem Bezug auf die aktuelle Debatte über die
Ursachen des verlorenen Krieges klar darzustellen. Durch die Artikel
schuf er sich jedoch auch Feinde, denn in diesem Frühstadium schlugen
die Verfechter der Tankidee eine Umwandlung der Kavallerie in
motorisierte Divisionen vor.
Es gab auch deutsche Generäle, unter ihnen von Kühl, die
behaupteten, der Tank habe für die Alliierten den Krieg entschieden und
der Mangel an Tanks sei entscheidend für Deutschlands Niederlage
gewesen - eine Übertreibung, die hinreichend gefühlsbetont war, um
ernsthaften Widerspruch zu verhindern. Festzuhalten bleibt, daß
Guderian seine Gedanken auf die künftige Entwicklung konzentrierte.
Günther Blumentritt erklärte später: »Wenn man Guderian umwälzende
Ideen vorträgt, wird er in 95 Prozent der Fälle sofort ja sagen.« Doch
auch das war übertrieben.
Bei einem Kriegsspiel, das im Winter 1923/24 unter Guderians
Leitung auf Anordnung von Major Walter von Brauchitsch mit
motorisierten Truppen stattfand, war die Untersuchung der Motorisierung
weiter gegangen als bei der früheren Harzübung. Zusätzlich zu
Marschdisziplin und Führung wurde eine enge Zusammenarbeit mit
Flugzeugen geprüft. Im Lauf der Zeit pflegte man vor und nach solchen
Planspielen Hauptmann Guderians Ansicht als die des Tankexperten
einzuholen, eine sehr bedeutsame Anforderung, bei der Guderian
plastische Beschreibungen geben mußte, weil die deutschen
Erfahrungen mit dieser Waffe minimal waren. Seine präzisen und
überzeugenden Erklärungen, die mit geistreich erzählten historischen
Präzedenzfällen und geschickt herangezogenen Argumenten durchsetzt
waren, machten auf die Zuhörerschaft starken Eindruck. Ausgeprägtes
analytisches Talent und überschäumende Begeisterung machten
Guderians Berichte zu einer Hauptattraktion. Wieder tat sich etwas
Positives in seiner Karriere, als im Jahre 1924 beschlossen wurde, ihn
als Lehrer für Taktik und Kriegsgeschichte einzuteilen - eine
scharfsichtige Versetzung für einen Mann, der sich aus der Grube
herausgearbeitet hatte, in die er gefallen war. Mehr noch: sein neuer
Vorgesetzter war der alte Kommandeur von Tschischwitz, dessen
Aufgeschlossenheit Guderian genügend Spielraum für die Entwicklung
seiner Ideen garantierte.
Vor 1914 hatte Schlieffen historische Präzedenzfälle angeführt, um
die Grundlagen seiner militärischen Angriffstheorie zu verstärken.
Guderian schrieb einmal über ihn, er sei klug, kalt und sarkastisch
gewesen, ein General, der »... durch Klarheit und Festigkeit der
militärischen Planung die Ziellosigkeit und Unentschlossenheit der
Politiker auszugleichen suchte«. Auch Guderian suchte nach
Präzedenzfällen, um die Schaffung einer neuen Angriffstheorie zu
rechtfertigen, mit deren Hilfe rasch die von den gegenwärtigen
Verteidigungspraktiken errichteten Barrieren überwunden werden
konnten. Aber es war bezeichnend, daß es Guderian als
unverbesserlicher Optimist vorzog, Fehlschläge aus der Geschichte
heranzuziehen und anhand dieser Beispiele seine Änderungsvorschläge
zu begründen, während Schlieffen seine Hoffnung auf Erfolge gesetzt
hatte: auf den Sieg der Preußen bei Leuthen und später auf Hannibals
Meisterstück bei Cannae, um zu illustrieren, wie eine Schlacht durch
völlige Umzingelung des Gegners gewonnen werden kann. Nur vergaß
Schlieffen anzumerken, daß keiner dieser Siege tatsächlich einen Krieg
entschieden hatte. Guderian sezierte Niederlagen, um daraus zu lernen
und ließ in seine Vorträge und Aufsätze Bemerkungen und Zitate
einfließen, die mehr verächtlich als bissig waren. Sein Engagement war
ebenso gradlinig wie unverblümt. Vor seinen Schülern machte er mit vor
Begeisterung funkelnden Augen und einem Minimum an demonstrativen
Handbewegungen die einzelnen Punkte seiner Ausführungen durch die
bloße Kraft seiner Begeisterung und seines Wissens klar.
Wie alle guten Pädagogen merkte er, daß der Impuls, sich
mitzuteilen, in sich ein wunderbares Stimulans für die Ursprünglichkeit
der Gedanken war. In seinem Fall übertraf der Drang, sein Bestes zu
geben, noch sein sonstiges hohes Niveau wegen der Verpflichtung, die
Skepsis einiger seiner Schüler - der Elite der Reichswehr - zu
überwinden, was nötig war, wenn er ihnen ausländische Konzepte
darbot. Diesen gutinformierten Offizieren mit schwachen Argumenten zu
kommen, war unmöglich. Gelang es ihm, sie zu überzeugen, hatte er
Jünger aus ihnen gemacht.
Im Mittelpunkt seines Programms stand ein einziges Thema: die
Stoßkraft - und ihre Bedeutung für die Waffen in früherer Zeit und
Gegenwart. Bei der Besprechung des verhängnisvollen preußischen
Feldzuges gegen Napoleon im Jahre 1806 fragte er beispielsweise, auf
die Gegenwart bezogen: »... begeht man nicht den gleichen Fehler, der
die Preußen veranlaßte, ,mit fierte dem Feind, ohne zu schießen,
entgegenzugehen, der Gleichmäßigkeit der Kopfhaltung wegen bei den
Bataillonssalven nicht zu zielen', ja sich im feindlichen Feuer nicht
hinzulegen?«
Er machte sich über das Bajonett lustig: »Merkwürdigerweise gilt man
heute noch als Ketzer, wenn man den heiligen Begriff infanteristischer
Stoßkraft, das Bajonett, anzutasten wagt«, und zitierte als Beispiel den
älteren Moltke: »Er lehrte, ,auch im Angriff das Feuer an den Gegner
heranzutragen und ihn hierdurch zu erschüttern, bevor der
Bajonettangriff durchgeführt werden könne'.« Sarkastisch führte er dann
noch Moltkes Schilderung des »Ehrentages der Landwehr von 1813« an
»mit seinen berühmten Bajonettkämpfen, die dem Gegner ganze 30 bis
35 Tote kosteten...« Dies war seine destruktive Phase, die der
konstruktiven vorausging.
Denn anschließend schickte er sich an zu demonstrieren, wie sehr die
Stoßkraft technologischen Änderungen unterworfen war. Im Jahre 1914
war sie mit der Feuerkraft identisch, »... das heißt, bei der Infanterie in
ihren Maschinengewehren und sonstigen schweren Waffen, im großen
aber, das heißt bei den Divisionen, in der Artillerie. Genügte diese
Stoßkraft, so gelangen die Angriffe, wie im Osten, in Rumänien, in
Serbien und Italien. Genügte sie nicht, wie an der Westfront, so
scheiterten sie... Der Weltkrieg hat den Beweis geliefert, daß Stoßkraft
nicht im Feuer allein besteht... Das Feuer muß vielmehr an den Gegner
herangetragen werden... um die Ziele, die den Angriff am stärksten
behindern, auf nahe Entfernungen aufzusuchen, zu erkennen und im
direkten Richten zu vernichten.«
Die Kavalleriewaffe pflegte Guderian mit einer Floskel abzutun, die
der glich, mit der er das Bajonett ablehnte: »Selbst die berühmten
Attacken der Bayreuth-Dragoner bei Hohenfriedberg und der
Seydlitzschen Reiter bei Roßbach waren gegen bereits erschütterte
Infanterie gerichtet. Die Wirkung von Attacken gegen unerschütterte
Infanterie war nicht durchschlagend, wie die Schlacht bei Zorndorf lehrt.«
Von diesem Ausgangspunkt her konnte er mit der Untersuchung von
Methoden beginnen, wie man mit schnellen Bewegungen
»... das ‚Herantragen des Feuers an den Feind' ermöglicht. Hier konnte
nur die Belebung eines uralten Kampfmittels, des Panzers, helfen. Die
Panzer waren nicht deshalb aus der Mode gekommen, weil man sie
nicht dick genug hätte machen können, um sich gegen
Gewehrgeschosse zu schützen, sondern weil weder Mann noch Pferd
die Kräfte besaßen, sie zu tragen oder zu bewegen!« An dieser Stelle
konnte er dann die Erfindung moderner Kampfwagen schildern und
deren Vorzüge loben: »Was also ist Stoßkraft? Sie ist die Kraft, die den
Kämpfer befähigt, im Angriff seine Waffen auf wirksame Entfernung in
den Feind zu tragen, um ihn zu vernichten. Nur Truppen, denen die
Fähigkeit inne wohnt, sind stoßkräftig, das heißt angriffskräftig. Wir sind
nicht unbescheiden, wenn wir feststellen, daß nach den
Kriegserfahrungen die Panzerwaffe von allen erdgebundenen
Truppengattungen die stärkste Stoßkraft besitzt.« An dieser Stelle rückte
im Lauf der Jahre, als er immer überzeugter von der Richtigkeit seiner
Gedanken wurde, der Geschichtsunterricht in den Hintergrund und
machte der Propaganda für Panzer Platz, in der er zum Experten wurde.
Es waren friedliche Tage, in denen genügend Zeit für eine ruhige und
gründliche Erörterung und Abwägung von Problemen blieb, die in
absehbarer Zukunft keine unmittelbare Auswirkung auf eine Armee
haben konnten, deren Denken tief ging, die sich jedoch in ihrer äußeren
Form kaum änderte. Guderian informierte sich laufend gründlich über die
jüngsten Schritte der Inspektion der Verkehrstruppen, die eine
zunehmend aktive Rolle bei der Zusammenarbeit mit Rußland zu spielen
begann und 1926 die ersten Bestellungen für den schon erwähnten
»Leichten Traktor« aufgab. Es war tatsächlich eine Ironie, daß zur
gleichen Zeit, als Deutschland diese kleinen, aber wichtigen Schritte in
Richtung auf eine spätere Aufrüstung tat, Westeuropa ein Stadium
politischer Ruhe durchmachte, wie es seit mehr als zwei Jahrzehnten
nicht mehr dagewesen war. 1925 wurde das Locarnoabkommen
unterzeichnet, und eine kurze Epoche der gegenseitig garantierten
Sicherheit zwischen den Nationen und der schrittweisen Rehabilitierung
Deutschlands begann. Die Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund
1926 und die Auflösung der Kontrollkommission ein Jahr später führten
zu einer endgültigen Räumung der besetzten deutschen Gebiete.
Auf der anderen Seite waren es die Briten, die als erste 1927 einen
Versuchspanzerverband aufstellten, zu einem Zeitpunkt, als starke
Bestrebungen für eine Abrüstungskonferenz im Gange waren. Und so
kam es, daß die Politiker sich energisch für den Frieden einsetzten und
gleichzeitig auf verschiedenen Seiten Schritte in Richtung auf einen
Krieg durch militärische Demonstrationen unternommen wurden, die
zeigen sollten, wie ein kurzer, entscheidender Feldzug durchgeführt
werden konnte. In Rußland nahmen sie schnell und ungestüm alles auf,
was die Deutschen und andere lehrten; es ist wahrscheinlich, daß die
Russen weitaus mehr von Rapallo profitierten als die Deutschen.
Im Februar 1927 wurde Guderian schließlich zum Major befördert in
einer kleinen Armee, in der die Umstände natürlich den Ehrgeiz
bremsten, und im Oktober desselben Jahres wurde seine akademische
Arbeit beendet durch eine Versetzung ins Truppenamt, das praktisch
(trotz des Versailler Vertrages) der Generalstab war. Hier wurde er der
Transportabteilung zugeteilt, die zur Operationsabteilung gehörte. Seine
Aufgabe bestand scheinbar in der Weiterentwicklung des
Truppentransports mittels Lastkraftwagen. Es war eine weitere kluge und
logische Wahl eines Mannes, der zu einem, wie es heute heißt,
technisch versierten Generalstabsoffizier geworden war und dem man
nun eine Aufgabe übertrug, die sowohl technische als auch operative
Aspekte umfaßte. Es spielte keine Rolle, daß er kein Ingenieur und nicht
besonders im Maschinenbau geschult war. Sein technisches Verständnis
war es, das zählte und eine Persönlichkeit hervorbrachte, die von
höchster Seltenheit in fast jeder damaligen Armee war. Änderungen
lagen in der Luft. Sein Eintreffen beim Truppenamt fiel praktisch mit dem
Dienstantritt eines neuen Chefs, Oberst Werner von Blomberg,
zusammen, dessen Schicksal bald mit einer ganz anderen deutschen
Revolution verknüpft sein sollte.
Auf Guderian wartete eine erschreckende Herausforderung. Das
Truppenamt, das, seit Seeckt es so beharrlich gefordert hatte,
Nachdruck auf Kavallerie und Infanterie unter Hilfe von
Motortransportmitteln legte, sah Straßenfahrzeuge nur als Ergänzung
der Eisenbahn an, wenn auch als eine flexible. Man schien die
Forderung aufzustellen, daß künftig alles, was bereits mit der Eisenbahn
transportiert wurde, von nun an auch über die Straße befördert werden
sollte, um bestehende Organisationen zufriedenzustellen und ihre
Methoden anzuwenden. An hoher Stelle übersah man dabei den
offensichtlichen Nachteil, daß Europas Schienennetz sehr viel besser
ausgebaut war als das Straßensystem, und wollte nicht zugeben, daß
sich die Zusammensetzung von Kampfverbänden in Zukunft stark
ändern mußte. Daher forderte man vom Lastkraftwagentransport, er
müsse die gleichen Ladungen auf dieselbe Weise wie die Eisenbahn
befördern. Diese Fracht bestand aus allem, was eine Kavallerie- oder
Infanteriedivision besaß: Material, Soldaten und Pferde. Mit anderen
Worten: man versuchte, die Lastkraftwagen wie Taxis einzusetzen, um
den Status quo zu erhalten, ohne zuzugeben, wie Guderian es
formulierte, daß die alten Pläne der Vergangenheit angehörten und
völliges Umdenken erforderlich war. Wie er es beschreibt, gab es viele
hitzige Diskussionen und mehr Skeptiker als Optimisten im Hinblick auf
die Erarbeitung einer praktikablen Lösung. Die Tage der Ruhe waren
jetzt endgültig vorüber. Guderian bekundete offen seinen Widerstand
gegen Unausführbares und gegen Konzepte, die die Antithese zu dem
darstellten, was er für wesentlich erachtete. Er blieb hartnäckig bei
seinem Standpunkt und schlug einen Weg ein, der den Lauf der
Geschichte ändern sollte.
Zu ungefähr der gleichen Zeit, als die Kooperation mit Rußland
begann, wurde die Ausbildung von neuem Stabspersonal erforderlich.
Die Abteilung für Kraftfahrtruppen in der Inspektion der Verkehrstruppen
richtete eine eigene kleine Lehrstätte ein, um Offiziere, Zivilangestellte
und Unteroffiziere in Kraftwagenmechanik ausbilden zu lassen. 1928
wurde beschlossen, dem Unterrichtsstoff ein taktisches Fach
hinzuzufügen und den Einsatz von Panzern und ihre Zusammenarbeit
mit anderen Waffen zu lehren. Wer war besser dazu geeignet als
Guderian? Zwar mußte im Herbst 1928, als der Beschluß endlich
verwirklicht wurde, Guderian gestehen, daß er bis zu diesem Zeitpunkt
noch keinen Panzer von innen gesehen hatte. Doch eiligst reiste er 1929
mit seiner Frau Gretel über Dänemark nach Schweden, eine
Gelegenheit, die ihn veranlaßte, in seinen Erinnerungen einen seltenen
Einblick in seine angeborene Vorliebe für schöne Dinge - die Landschaft
und die skandinavischen Städte - tun zu lassen, Eindrücke, für die
Soldaten wie Schlieffen und Erwin Rommel unempfänglich waren.
Als Gast eines schwedischen Tankbataillons, das mit M 21-Tanks
deutscher Herkunft ausgerüstet war, steuerte er das Fahrzeug, lernte es
gründlich kennen und seine Grenzen und Schwächen abschätzen und
wohnte kleinen Übungen bei, in deren Verlauf die Tanks mit anderen
Waffengattungen zusammenarbeiteten und unter Einnebelung Angriffe
fuhren. Der M 21 war ein unzureichendes Fahrzeug, aber die Erfahrung,
die Guderian mit seiner Hilfe sammelte, bedeutete wiederum einen
Wendepunkt in seiner Karriere. Vielleicht dramatisierte er seine
Schlußfolgerungen zu stark, wenn er schreibt, es sei 1929 gewesen, als
er die Überzeugung gewonnen habe, »... daß der Panzer allein und in
der Bindung an die Infanterie niemals zu entscheidender Bedeutung
gelangen könne«, denn seine frühen Vorträge und Studien vermitteln zu
keiner Zeit den Eindruck, er habe geglaubt, daß isoliert vorgehende
Panzer Erfolg haben könnten. Aber in jenem Jahr entwarf und
erarbeitete er ein Drehbuch für alle künftigen Konflikte und legte es bei
den Besprechungen im Generalstab und auf den Exerzierplätzen vor.
Im Sommer 1929 führte er eine Geländebesprechung durch, die eine
Kampfgruppe in Divisionsstärke mit solchen Waffen zum Einsatz
brachte, wie sie eine spätere Panzerdivision aufbot. Es war in
Wirklichkeit eine Kopie des vorausgegangenen britischen Experiments,
wie es auch die Amerikaner und Russen nachzuahmen versuchten.
Das Konzept der Panzerdivision, einer Formation, die in
ausgewogener Zahl Kampfwagen, andere gepanzerte Fahrzeuge,
motorisierte Infanterie, Artillerie und Pioniere umfaßte, war keineswegs
eine deutsche Erfindung. Die Idee war lange zuvor von britischen und
französischen Protagonisten des Tanks geboren worden, die in ihr eine
beherrschende Waffe sahen. Das Thema war in der Öffentlichkeit
diskutiert und mehrfach in einer ganzen Anzahl von Büchern über Tanks,
die nach und nach erschienen, behandelt worden. Tatsächlich war diese
Literatur so reichhaltig, daß sich für die Inspektion der Verkehrstruppen
das Problem der Auswahl stellte, bevor sie Empfehlungen geben konnte.
Die Russen tendierten zu unabhängigen Tankformationen, die die
traditionelle strategische Rolle der Kavallerie übernehmen konnten. Die
Franzosen sahen in den Tanks eine reine Waffe zur Unterstützung der
Infanterie, die sich dem Tempo der vorrückenden Soldaten anpaßte, und
betrachteten Panzerspähwagen als Aufklärer in der Rolle der früheren
Kavallerie. Die Briten bevorzugten ganz eindeutig gemischte
Panzereinheiten, wie ihre Übungen aus dem Jahre 1927 klar bewiesen
hatten,
setzten
aber
auch
gern
Panzerspähwagen
für
Erkundungszwecke und schwere Panzer zur Unterstützung der
Infanterie ein.
Wirtschaftlich konnten sich die Deutschen nur die Umstellung auf ein
System leisten. Obwohl Seeckt 1926 als Chef der Heeresabteilung von
General Wilhelm Heye (einem gemäßigten Schüler Seeckts) abgelöst
worden war, war sein Einfluß immer noch groß und galt weiter seine
Maxime: »Je kleiner die Armee ist, desto leichter läßt sie sich mit
modernen Waffen ausrüsten.« Und obgleich Seeckt 1930 schrieb, er
könne sich nicht vorstellen, »... daß Panzerfahrzeuge dominieren und
der Reiter völlig durch den motorisierten Soldaten abgelöst wird«, ging
der Trend seiner Überlegungen doch in die Richtung der Gedanken
Guderians, wenn er hinzufügte: »... Wir werden nicht länger, wie es
Friedrich der Große am Abend der Schlacht tat, unsere klirrenden
Geschwader über den schwankenden Gegner herfallen lassen. Der
moderne Seydlitz wird seine gut geschonten Truppen mit ihrer
beweglichen Artillerie in die Flanke und in den Rücken des Feindes
führen, um mit der vorrückenden Infanterie und anderen Einheiten
zusammenzutreffen und die endgültige Entscheidung sicherzustellen.«
Dies war, obwohl das provokative Wort »Tank« nicht darin enthalten war,
die von Füller und Guderian erarbeitete Quintessenz.
Füllers Erkenntnisse bewegten die Deutschen sehr. Im Jahre 1936
konnte Guderian in aller Öffentlichkeit bekennen, man habe
beschlossen, sich hauptsächlich auf englische Erkenntnisse zu
verlassen, wie sie im 2. Teil der 1927 herausgekommenen »Vorläufigen
Instruktionen für die Tank- und Panzerwagenausbildung« (Provisional
Instructions for Tank and Armoured Car Training) enthalten waren. Dies
Dokument trug die Handschrift Füllers und enthielt die aus den
Erfahrungen im Ersten Weltkrieg gezogenen Lehren sowie die während
dreijähriger Experimente mit den modernsten Tanks gewonnenen
Erfahrungen. Es war für neun Pence beim Königlich-Britischen
Staatsverlag zu beziehen. Zur rechten Zeit sollten erscheinen
»Mechanisierte und gepanzerte Formationen« (1929) und »Moderne
Formationen« (1931), beides als Geheimdokumente klassifizierte
Veröffentlichungen, die»...weder direkt noch indirekt der Presse oder
irgendeiner Person, die kein offizielles Amt im Dienst Seiner Majestät
bekleidet, mitgeteilt werden dürfen.«
Dessenungeachtet fand jede ihren Weg in nichtautorisierte Hände,
darunter auch in deutsche. Die 1927 herausgekommene Vorschrift
enthielt Guderian zufolge »in ihrer Klarheit die nötigen Anhaltspunkte,
um Versuche einleiten zu können, und ließ dabei doch die erforderliche
Freiheit in der Entwicklung, welche die bekannten französischen
Vorschriften mit ihrer damaligen starren Bindung der Waffe an die
Infanterie zu versperren schienen. Dieser Vorschlag fand die
Zustimmung der Heeresleitung. Nach der englischen Vorschrift erfolgte
bis 1933 die geistige Schulung des Offizierskorps der Kraftfahrtruppe für
die zukünftige Panzertruppe«.
Die »Tank«-Übungen von 1929, denen es an Realität mangelte, weil
echte Kampfwagen fehlten, ließen falsche Schlüsse zu, bestärkten
jedoch den unerschütterlichen Glauben der Anhänger der Panzerwaffe.
Attrappen, kleine Automobile, die, mit Segeltuch bespannt und mit Blech
verkleidet, echte Tanks darstellen sollten, wirkten äußerst dürftig. Ihr
Unvermögen, selbst kleine Anhöhen im Gelände zu nehmen, und der
Lacheffekt, wenn die Infanterie Bajonette durch den Stoff stieß und die
gedemütigten Besatzungen durch hämische Bemerkungen reizte, stellte
gewaltige Anforderungen an die Pioniere dieser Waffe. Alle Erfahrungen
waren schlecht auf einmal auszuwerten, aber zum Glück besaß
Guderian den Optimismus, die Entschlossenheit und das
Einfühlungsvermögen, allen Anforderungen gerecht zu werden und seine
Kollegen mit sich zu ziehen.
»Aber trotz dieser Mängel gewann der Gedanke an die Notwendigkeit
einer eigenen Panzertruppe Boden, und auch auf die zukünftige
Verwendung und Gliederung wurde den Veranstaltern der Versuche klar
und wirkte sich in technischen Forderungen für die Entwicklung des
Gerätes aus.«
In jenem Jahr wurde insgeheim der Bau des »Großtraktors« in
Auftrag gegeben, des schweren Kampfwagens mit dem größeren
Geschütz.
Lutz, der 1931 zum Inspektor der Verkehrstruppen ernannt wurde,
wurde von Guderians Begeisterung mitgerissen. Obwohl ein brillanter
Organisator und ein fähiger Denker, war er nur Partner - hinsichtlich
seiner Leistungen der Juniorpartner - in einem Team. General Chales de
Beaulieu, der Guderians Stab zwischen 1931 und 1933 und später noch
einmal in den Jahren 1935 bis 1937 angehörte, sagt dazu:
»Guderian war das Hirn hinter allem und überdachte im voraus alles,
was einmal von Bedeutung oder Notwendigkeit werden konnte - in
personeller Hinsicht, bei der Ausrüstung und in bezug auf die Führung.
Er war ein idealer Führer.« Lutz wandte seine Autorität und sein
Taktgefühl auf, dabei behilflich zu sein, Guderians Pläne durch die
höheren Gremien zu bringen. Er versetzte Guderian auch zur rechten
Zeit an die richtige Stelle. Im Jahre 1930 entsandte er ihn als
Kommandeur der 3. (Preußischen) Kraftfahrabteilung (ohne Zweifel auf
Guderians eigenen Wunsch). Sie erhielt zu ihrer Ausrüstung alle
Elemente einer künftigen Panzerdivision, allerdings ohne Feldartillerie.
Eine Kompanie Panzerattrappen war vorhanden und ebenfalls eine
Panzerabwehrkompanie mit hölzernen Geschützen. Tatsächlich waren
nur die Panzerspähwagen der Aufklärungskompanie echt. Es fehlte auch
ein weiterer wichtiger Bestandteil der Ausrüstung - die modernen
Fernmeldegeräte, die allein eine Panzerdivision, wie sie Guderian
vorschwebte, zu einer schlagkräftigen Einheit machten.
Als der britische Oberst Ernest Swinton 1916 den ersten taktischen
Leitfaden für Tanks schrieb, schlug er die Lösung des
Nachrichtenproblems so vor: »Jeder zehnte Tank sollte mit kleinen
Funkgeräten ausgerüstet sein, andere müssen bei ihrem Vorrücken
Telefonkabel verlegen und die übrigen mit Sichtzeichen und mit
Rauchraketen ihr Vorankommen signalisieren.« Damals gab es natürlich
noch keine brauchbaren kleinen Funkgeräte; das Kabellegen war
technisch noch nicht sehr entwickelt und funktionierte hundertprozentig
nur über kurze Entfernungen. Jeder, der einmal versucht hat, aus dem
Turm eines Tanks Sichtzeichen zu geben, wird bestätigen, was für ein
äußerst mühsames Unterfangen das ist. Die wenigen, die es während
eines Gefechts unter Beschuß unternahmen und noch am Leben sind,
werden höchstwahrscheinlich das Experiment nicht wiederholen wollen.
Einige wenige Tanks waren gegen Ende des Ersten Weltkrieges mit
Funk ausgerüstet und machten davon beim Einsatz Gebrauch, aber es
blieben Spezialfahrzeuge, weil sie während der Fahrt keine Nachricht
empfangen oder senden konnten. Daher wurden sie gewöhnlich nur als
Meldezentralen eingesetzt.
Während der zwanziger Jahre wurden rasch Fortschritte bei der
Verbesserung der Funkverbindungen erzielt. Die Deutschen hielten auf
diesem Gebiet gut mit, zumal der Versailler Vertrag ihnen in dieser
Hinsicht keine strengen Einschränkungen auferlegte und diese
Vorschriften ohnehin leichter zu umgehen waren. Die enormen
Erfahrungen, die man im Krieg mit Funksendung und -empfang gemacht
hatte, wurden später beim Ausbau des Polizei- und Privatsprechfunks
verwendet. Der Sprechfunk wurde als Nachrichtenmedium so
gebräuchlich wie der Morseverkehr und weitaus unempfindlicher gegen
Störgeräusche, nachdem seine Erfinder die höheren Frequenzbereiche
nutzten. Die Apparate wurden stabiler, kleiner und leichter zu
handhaben, besonders nachdem die Flieger für eine solche Konstruktion
Prämien ausschrieben, weil sie leichte Geräte brauchten. Die Stärke der
Sender wurde ebenso wie ihre Reichweite ständig vergrößert. Die
Erfindung der quarzgesteuerten Oszillatoren um 1920 eröffnete eine
neue Ära der Präzision im Funkverkehr.
1931 fand in England die erste Vorführung einer Tankformation
überhaupt statt, die während der Fahrt von einem einzigen Kontrolltank
über Funk dirigiert wurde. Die benutzten Geräte waren quarzgesteuert.
Wenn auch die Deutschen damals in bezug auf diese technische
Entwicklung noch zurücklagen, so arbeiteten sie doch - hauptsächlich,
weil Guderian immer wieder darauf bestand - intensiv an der Entwicklung
wirksamer Funknetze für Tanks. Guderians Erfahrung von 1914 ließ ihn
nicht daran zweifeln, daß, wenn hochbewegliche räumlich weitgreifende
Kriegsoperationen
präzise
koordiniert
ablaufen
sollten,
die
Funkverbindung genau, prägnant und weitgestreut von den obersten
Kommandospitzen bis hinab auf die unterste mögliche Ebene zu sein
hatte. Wie weitverzweigt das Funknetz war, hing von der Art der zu
bauenden Geräte und den für ihren Ankauf zur Verfügung stehenden
Summen ab. Zunächst forderten Guderian und seine Mitarbeiter, daß die
Funkverbindung bis zur Befehlsstelle der einzelnen Tankkompanien
reichen müßte, obwohl sie wußten, daß die Engländer mit ihrem
Funksystem bereits die Zug- und Gruppenführer und in einigen Fällen
sogar einzelne Tanks erreichten.
Walther Nehring, der viele Jahre lang einer der führenden
Stabsoffiziere Guderians war, erklärte mir, von Anbeginn an sei man sich
klar darüber gewesen, daß das Konzept hoher Beweglichkeit und tiefen
Vordringens der Panzerdivisionen ohne ein zuverlässiges Netz von
Verbindungen undenkbar war. De Beaulieu fügt hinzu: »Die frühzeitige
Verwendung drahtloser Nachrichtenverbindungen, um dem einzelnen
Tank im Gefecht Befehle zu übermitteln, ging auf Guderians
Forderungen zurück. Er hatte einen Blick für das Wesentliche und war
gleichzeitig auch in der Lage, abzuschätzen, wann er zur Erreichung
seines Ziels Druck ausüben mußte. Das war ein wichtiges
Charaktermerkmal bei ihm. Wenige Menschen wissen diesen Augenblick
zu erkennen.«
Vergleichsweise ebensoviel Energie wurde auf die Entwicklung der
Funkverbindung verwendet wie auf die Konstruktion der Kampffahrzeuge
selbst. Die Nachrichtentruppe nahm die Herausforderung mit Eifer an. In
der Tat waren die Deutschen auf dem Gebiet des Fernmeldewesens im
Ersten Weltkrieg führend gewesen und hatten erkannt, welche Probleme
es zu überwinden galt. Aber sie waren auch 1929 ehrlich genug
zuzugeben, daß ihre modernsten Anlagen völlig unzureichend waren,
besonders die für zivile Zwecke konstruierten. Man begann deshalb mit
dem Bau von neuen Geräten, die klein, stoßsicher und völlig zuverlässig
auch bei der Benutzung in rollenden Fahrzeugen waren. Aber die
Möglichkeit feindlichen Einschaltens, die des Abhörens von
Funksprüchen und deren Dechiffrierung - wobei selbst die maschinell
erarbeiteten Kodes entziffert werden konnten - ließ auch die Entwicklung
des Feldtelefons und des Fernschreibnetzes voranschreiten, deren
Leitungen mit solcher Geschwindigkeit verlegt werden konnten, daß man
mit einer 160 Kilometer pro Tag vorrückenden Einheit Schritt halten
konnte.
Diejenigen Verbände, die durch die Umstände gezwungen waren,
sich auf Sprechfunk allein zu verlassen, wurden darauf hingewiesen, daß
die Durchsagen mit fast an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit
trotz Gebrauchs von Schlüsseln und verabredeten Stichworten vom
Feind abgehört wurden und daß daher nur kurzfristige Pläne, deren
Ausführung schnell erfolgen konnte, durchgegeben werden sollten.
Parallel dazu wurden ausgedehnte Abhörnetze geschaffen, um den
gegnerischen Funkverkehr zu belauschen und so Informationen über alle
seine Bewegungen zu erhalten. Guderian fand oft in hoffnungsloser
Lage anhand solcher Durchsagen wertvolle Hilfe.
In dem genannten Rahmen wurden von deutschen Befürwortern
schneller Operationen intensive Erprobungen vorgenommen.
Die wichtigste Einheit war dabei die 3.(Preußische) Kraftfahrabteilung
mit ihrer »modernsten«, wenn auch kaum einwandfreien Ausrüstung.
Jede Phase einer Kriegsoperation mit Tanks wurde bei diesen Manövern
erprobt - Angriff, Verteidigung, Rückzug, Stoß in die Flanke, Direktangriff
mit Infanterie und Kavallerie sowie Zusammenarbeit mit Artillerie und
Flugzeugen.
Heinz-Werner Frank, damals Leutnant in Guderians Abteilung, stellt
es so dar: »So wurden wir fast fanatische Verbreiter der Idee der
Motorisierung und der Wichtigkeit des Aufbaues der Panzerwaffe. Wir
wurden seine (Guderians) begeisterten Anhänger. Dies geschah nicht
durch Befehl, sondern durch leidenschaftlich-starke Überzeugungskraft.«
Aber das sollten sie nach dem Willen von Oberstleutnant Guderian
auch sein, wie er ihnen nach einem winterlichen Skiausflug klarmachte.
Zum Abschluß einer Übung hatten die jungen Offiziere voll Übermut
ihren Kommandeur überholt. Guderian verlor bis zum Abend kein Wort
über den Vorfall. Dann bemerkte er bei einem Umtrunk augenzwinkernd
ganz beiläufig: »Bei der Panzertruppe führt der Kommandeur nicht von
hinten, sondern vorn.«
Nach den Manövern wurde 1931 die Liste der wesentlichen
Voraussetzungen für eine unabhängige Panzertruppe aufgestellt, wie sie
Lutz und Guderian für notwendig hielten. Doch jetzt war in stärkerem
Maß Widerstand gegen ihre Pläne zu spüren, denn ihre Forderungen
taten der traditionellen Rolle der Kavallerie und der Infanterie Abbruch.
Grund dafür war, daß es finanzielle und personelle Sparmaßnahmen
angesichts einer internationalen Wirtschaftskrise unumgänglich machten,
bei Einführung einer Neuerung das Alte abzuschaffen.
Die Kavalleristen waren die ersten, denen die nach ihrer Meinung
»emporgekommenen«
Nachschubtruppen
eine
Scheibe
vom
Operationskuchen abzuschneiden suchten. Die Kavallerie protestierte,
allerdings vergeblich, weil sowohl die Erinnerungen an ihr Wirken im
letzten Krieg als auch die beim Reichsarchiv vorliegenden Fakten gegen
sie sprachen, während Guderians Vorschläge nur schwer von der Hand
zu weisen waren. Vor die Frage gestellt, wie sie ihre künftige Rolle in
einem Krieg sähe, sprach sich 1932 die Kavallerie für die im Licht der
jüngsten Geschichte einzig denkbare Aufgabe aus, für die einer
»schweren« Truppe, die dem Gegner den Coup de grace versetzt,
nachdem die anderen Waffengattungen die Vorarbeit geleistet hatten.
Unwillig und in einer Atmosphäre wachsender Eifersucht überließ man
der Motorisierten Truppe die Aufklärung, bei der die Kavallerie selbst in
der Vergangenheit ständig versagt hatte.
Die Konzessionen seitens der Kavallerie waren natürlich von geringer
Bedeutung angesichts der großen Umwälzungen auf politischem und
wirtschaftlichem Gebiet in aller Welt und in Deutschland. Die Ereignisse
steuerten auf eine Krise zu. Der Strom ausländischen Geldes, der
jahrelang nach Deutschland geflossen war, versiegte plötzlich, als eine
Flaute des Welthandels zu einer riesigen Wirtschaftskrise führte. Die
Arbeitslosigkeit stieg in einem bisher nie dagewesenen Maße und ließ
bei den extremistischen Elementen auf der politischen Szene
Deutschlands die Erkenntnis aufkommen, die Zeit sei reif, um ihre
Machtansprüche anzumelden. Kommunisten und Nazis lieferten sich
erbitterte Auseinandersetzungen in einer Reihe von Wahlen. Die
Regierung schwankte und stand ständig vor einem Zusammenbruch,
während Attentäter mit jedem Monat die Zahl ihrer Opfer steigerten. Im
Jahre 1932, als die Armee sich begnügte, ihre Unabhängigkeit von der
Politik zu erhalten und darauf bedacht war, ihre Stärke und Schlagkraft
zu
erhöhen,
standen
die
Anhänger
Adolf
Hitlers,
die
Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP), kurz davor, die
Regierungsgewalt durch konstitutionelle Mittel zu übernehmen, die hart
an Gewalt grenzten.
Von diesen Vorgängen suchte sich Guderian fernzuhalten; immer
wieder wurde er an die Ereignisse von 1919 erinnert, die in seinem
Gedächtnis eine Narbe hinterlassen hatten. Viele Nazis und Mitglieder
der Sturmabteilungen (SA) hatten den Freikorps angehört. Er selbst
hatte einige Freunde bei den Nationalsozialisten. Im Gegensatz zu vielen
seiner Kollegen war er nicht von Kontakten mit der Umwelt
abgeschnitten, sondern beobachtete und wartete ab in der Hoffnung,
daß die Reichswehr eine entscheidende Rolle beim Finden der
»richtigen Lösung« spielen könne wie einst unter Seeckt. Unter
Hindenburgs Präsidentschaft war Guderian zufrieden. Er beklagte sich
nicht, als 1927 der neue Chef der Heeresleitung, Heye, Nazis den Eintritt
in die Armee verweigerte oder drei Jahre später dessen Nachfolger,
General Kurt Freiherr von Hammerstein-Equord, stark nazifeindliche
Gefühle an den Tag zu legen begann. Als jüngerer Offizier war er nicht
nur fernab der Gedankengänge seines obersten Vorgesetzten, sondern
sah zum damaligen Zeitpunkt auch wenig Sinn in der Vorstellung, daß
die Nationalsozialisten an die Macht kommen könnten oder daß Hitler
zum »starken Mann« - erwünscht oder nicht - der Zukunft werden würde.
1930 machte sich dann ein neuer starker Einfluß durch die Aktivitäten
des Chefs des Truppenamts, General Werner von Blomberg, bemerkbar.
Blomberg hatte 1928 in Zusammenhang mit verschiedenen
gemeinsamen Projekten Rußland besucht und war beeindruckt über die
Vorrangstellung, die dieses Land seiner Armee im Vergleich zu
Deutschland einräumte. Er bekannte später sogar: »Ich war nicht weit
davon entfernt, als überzeugter Bolschewist nach Hause zu kommen!«
Doch 1930 verfiel er dem Bann Hitlers - einem der erbittertsten Gegner
des Kommunismus -, weil dieser als möglicher Kandidat in Frage kam,
als es darum ging, den Mann zu finden, der die Reichswehr stärken
konnte.
Hitler bewies bereits seine magnetische Anziehungskraft und sein
Geschick, zur Erlangung persönlicher Macht jedermann das Blaue vom
Himmel zu versprechen. Und doch sah kaum jemand in ihm eine
unheilvolle Gefahr, denn nur seine engsten Mitarbeiter hatten die
entfernteste Möglichkeit, die Wahrheit zu erkennen. Da er wußte, daß
die Generalität entschlossen war, die Armee nicht nur als eine
Streitmacht wiederaufzubauen, die Deutschlands Grenzen - besonders
die im Osten - verteidigen sollte, sondern auch als Stabilitätsfaktor für
das Reich, versicherte er die Armee und ihre Bestrebungen seiner
Unterstützung. Und wie verhielt sich Blomberg? Er erkannte, als sich die
Wirtschaftskrise ausbreitete und die Arbeitslosigkeit anstieg, daß nur ein
Zusammengehen aller politischen Parteien die Nation retten konnte. Er
war bereit, nationalistische Elemente zur Erreichung dieses Ziels
einzusetzen und für den Fall, daß er damit scheiterte, die stärkste Partei
zu unterstützen. Dennoch muß gesagt werden, daß viele Generäle ihn,
wenn nicht wegen seiner Zielsetzung, so doch wegen der Wahl seiner
Mittel kritisiert haben.
Guderian war wie Blomberg in seiner politischen Einstellung zu den
Nazis und Hitler unentschlossen, obwohl er vermutlich bei der
Beurteilung einen Unterschied zwischen der Partei und ihren Führern
machte. Im Herzen ein Monarchist, hielt er die ehemaligen Verbindungen
zum Hause Hohenzollern hoch, schließlich hatte er 1916 unter dem
Kronprinzen als Stabsoffizier gedient. Aber er erkannte auch, daß eine
Rückkehr zur Monarchie außer Frage stand, und war sich mit der
Bevölkerung in ihrer Unzufriedenheit über die allzu häufig wechselnden
Regierungen der Weimarer Zeit einig. Mit seinen eigenen Worten
ausgedrückt: »... sie haben aber keinen inneren Kontakt mit dem
Offizierskorps zu gewinnen vermocht und die Wehrmacht nicht für ihr
politisches Ideal begeistert.« Die Kommunisten verabscheute er heftig
und hoffte weiterhin beständig auf das Erscheinen einer neuen
Persönlichkeit vom Format eines Bismarck.
Das taten nicht alle Offiziere, wie Guderian es 1948 beschrieb: »Als
nun der Nationalsozialismus mit neuen nationalen Parolen auf den Plan
trat, fing zumal die Jugend des Offizierskorps schnell Feuer für die
patriotischen Gedankengänge, die ihnen die Propaganda der NSDAP
vorhielt. Die völlig unzulängliche Rüstung des Reiches hatte jahrelang
wie ein Alpdruck auf dem Offizierskorps gelegen. Kein Wunder, daß die
beginnende Aufrüstung sie für den Mann gewann, der nach 15jähriger
Stagnation wieder frisches Leben in die Wehrmacht zu bringen
versprach.«
Niemand hatte zu diesem Zeitpunkt die entfernteste Ahnung von dem,
was sich ereignen würde. Die Nazis waren nur Teil einer Szene, auf der
Aufruhr und Furcht ständig wuchsen. Zunächst diskutierte Guderian über
die Ansprüche der Nazis mit den jungen Offizieren, die für diese Partei
eintraten. Wie so viele seiner Generation verehrte er Hindenburg. Beim
Tod des Reichspräsidenten 1934 schrieb er: »Er besaß das Vertrauen
der Welt.« Und wie so viele andere Offiziere im Jahre 1932 war er
höchst ungehalten über die Töne, die in Hitlers Wahlkampf
angeschlagen wurden. Er und sie wären entsetzt gewesen, hätten sie
gewußt, daß im Dezember jenes Jahres Hitler erwog, Hindenburg vor
Gericht zu bringen, um seine Amtsenthebung zu erzwingen, und sie
wären noch beunruhigter gewesen, wenn sie Hitlers pathologischen
Minderwertigkeitskomplex im Umgang mit dem Generalstab geahnt
hätten. Denn schließlich scheute derselbe Hitler in diesen Wochen und
Monaten keine Mühe, den Generalstab zu besänftigen, indem er die
Armee öffentlich überschwenglich pries!
Sechs Millionen Arbeitslose und die wachsende Drohung, daß die
Kommunisten bei den Wahlen erhebliche Stimmgewinne verzeichneten,
konnten jedoch nicht leicht beiseitegeschoben werden. Eine verzweifelte
Situation verlangte drakonische Maßnahmen oder einen Sündenbock.
Männer wie Guderian glaubten, ein Politiker wie Hitler könne die
notwendige Herrschaft mit eiserner Hand antreten und zugleich von der
Armee im Zaum gehalten werden. Der letzte Soldatenkanzler, der
Erzintrigant Kurt von Schleicher, spielte zu hoch, und Hitler wurde an
seiner Stelle am 30. Januar 1933 Reichskanzler. Wenige Stunden später
ernannte Hindenburg von Blomberg zum Reichswehrminister, und
Blomberg bestimmte seinerseits einen der fähigsten Offiziere zum Chef
des Ministeramtes (der Regierungsstelle, die für die Koordination aller
Verteidigungsangelegenheiten im Bereich von Heer, Marine und
Luftwaffe zuständig war und aus der später das Wehrmachtsamt werden
sollte): Oberst Walter von Reichenau. Die Beförderung dieser Männer,
beide Nazisympathisanten, fand die Billigung Guderians. Auf Blomberg
hielt er große Stücke; Reichenau war in seinen Augen ein »moderner
Soldat«, obwohl ein »sehr politischer«. Zwei Dinge waren ihnen gemein:
die Forderung nach Zusammenarbeit der Reichswehr mit den
patriotischsten Elemente und die Förderung der Panzerwaffe, besonders
durch Reichenau, der ständig auf der Suche nach Anwendungsgebieten
für neue Ideen war.
Der von Guderian zu dieser Zeit politischer Gärung vertretene
Standort war nach allen Seiten offen und so eingerichtet, daß er alle
Erwartungen hinsichtlich der Aufgaben erfüllen konnte, die ihn für
Deutschland und die Armee am besten dünkten. Er bewahrte
stillschweigend seinen Glauben an Seeckts Prinzip von der
Nichteinmischung in politische Dinge und stand auf Seiten von
Generälen wie Seeckt, Schleicher, Blomberg und Reichenau (die bis zu
den Knien in der Politik wateten), weil sie die ureigensten Interessen der
Armee zu ihrem Anliegen zu machen schienen und mit aller Macht auf
eine Vergrößerung der Streitkräfte pochten. 1932 kam er in Verbindung
mit Adolf Hühnlein und erhielt diese aufrecht; Hühnlein war inzwischen
Mitglied der obersten Spitze der SA und vermochte im Lauf der Zeit
gefühlsmäßig Hitler von den anderen Mitgliedern der Nazipartei
abzusondern. Er scheint in keiner Weise reagiert zu haben, als
Schleicher 1932 einen - allerdings unwirksamen - Bann über die SA
verhängte. 1933 jedoch war Guderian ein schlichter Oberstleutnant, der
wie die überwiegende Mehrheit der Armeeoffiziere nicht den geringsten
Kontakt zu Hitler hatte. Wie konnten sie die Geheimnisse dieses Mannes
kennen, wenn sogar dessen engsten Mitarbeitern in der Partei die
Einsicht in seine innersten Gedankengänge verwehrt blieb? Und den
Gewaltigen der Armeehierarchie waren sie auch nicht bekannt.
Die Entwicklung der Gefühle, die Guderian für Hitler hegte, ist wichtig
und erkennbar aus den Briefen seiner Frau Gretel, einer geborenen
Goerne, in denen sich auch die Gefühle ihrer Familie widerspiegeln. Die
Goernes waren nicht im mindesten nazifreundlich, wie Auszüge aus
ihren Briefen zeigen, und doch lassen sie keinen Zweifel an ihrem
positiven Glauben an Hitler. Am 23. März 1933, nachdem Hitler
diktatorische Vollmachten gewährt worden waren, beschrieb Gretels
Mutter ihre Begeisterung so: »Nach all den Scheußlichkeiten der letzten
Jahre bekommen Eure Jungens endlich ein Gefühl von Ehrfurcht und
Größe.« Am nächsten Tag fand Vater Goerne lobende Worte, wie »...
herrlich!« Hitler gesprochen habe, und pries dessen »eisernen Willen,
Tatkraft und auch die schönen Worte für die Armee«. Ein Enthusiast
hätte kaum lobendere Worte für Bismarck finden können. Guderians
Schwiegervater beschrieb, wie gut er es fand, daß die neue Regierung
mit dem Ordnungschaffen begonnen habe: »Alles geht ganz glatt ohne
Wunden und Widerstand.« Ein Jahr darauf, am 3. Juni 1934, sang Gretel
noch immer höchste Loblieder und war damit im Einklang mit der
Volksmeinung, als sie ihrer Mutter mitteilte: »... daß Heinzel Dir auch so
begeistert von Hitler berichtet hat, freut mich sehr. Alle Menschen, die
ihn näher kennenlernen, sind doch von seiner Persönlichkeit stark
beeindruckt. Vor allem muß sein Auge, sein Blick etwas Besonderes, ins
Herz Gehendes haben. Ich glaube nicht, daß wir in Deutschland einen
besseren, mutigeren Führer finden können.«
Natürlich war es Guderian inzwischen klar geworden, daß er von
Hitler bei seinem Ziel, eine Panzertruppe aufzubauen, Hilfe erwarten
konnte. So mögen Ehrgeiz und Hoffnung zu seiner Begeisterung
beigetragen haben. Nach 1945 beschrieb er das so: »Alle Vorwürfe, die
nachträglich gegen die führenden Männer der Wehrmacht vom eigenen
Volk und von internationalen Gerichten erhoben werden, gehen an der
entscheidenden Tatsache vorbei, daß die Politik nicht von den Soldaten,
sondern von den Politikern gemacht wurde... und daß die Soldaten sich
mit der bestehenden politischen und militärischen Lage abfinden
müssen.« Typisch für ihn, aber nichtsdestoweniger als Bestätigung
seiner Abneigung aller Parteileute setzte er hinzu: »Leider ist das so,
denn die Politiker pflegen ihren Kopf nicht hinzuhalten, wenn die blauen
Bohnen fliegen; sie bleiben dann gewöhnlich im sicheren Hafen.« Aber
zu diesem Zeitpunkt lag Deutschland schon in Trümmern.
Es ist leicht, die Deutschen im nachhinein zu kritisieren und dabei zu
vergessen, daß den faschistischen Parteien in aller Welt zu jener Zeit
der Hoffnungslosigkeit überall höchst angesehene und ehrenwerte
Männer angehörten. Fast alle wurden von Hitler hinters Licht geführt. Als
die Wirtschaftskrise einen Höhepunkt erreicht hatte, handelte sich
Deutschland als seinen Retter einen skrupellosen Diktator ein. In
Frankreich hielt das Durcheinander an, in Großbritannien wurde eine
sogenannte Nationale Regierung gebildet, und die Amerikaner räumten
Präsident Roosevelt mit seinem »New Deal« beispielslose diktatorische
Vollmachten ein. Im Spiegel einer heutigen Analyse waren es
Aufrüstungsprogramme, die jeder westlichen Nation aus der
wirtschaftlichen Not heraushalfen. Nicht lange nachdem Frankreich 1940
überrannt worden war, hing das Schicksal Großbritanniens unter der
Diktatur Churchills an einem seidenen Faden, und Amerika gelangte erst
nach seinem Kriegseintritt zurück auf den Weg zum Wohlstand,
nachdem es mit Hilfe seiner Verfassung die Macht Roosevelts zwar nicht
zerstört, doch wirkungsvoll beschnitten hatte.
Guderian sprach für andere ebenso wie für sich selbst, als er diese
Epoche schilderte: »Die schriftstellerische Tätigkeit erreichte zwar nicht
das Niveau der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg; der Grund hierfür ist in
dem raschen Aufbau des Heeres zu erblicken, durch den der
Generalstab stark beansprucht wurde, so daß für außerdienstliche
Schriftstellerei keine Zeit blieb.«
Von Ehrgeiz gepackt und von der dringenden Notwendigkeit
überzeugt, die Reichswehr für Verteidigungszwecke, vor allem an den
Grenzen im Osten, zu stärken, waren die älteren Offiziere der deutschen
Armee so in ihre Aufgabe vertieft, daß sie üblen Männern die Erlangung
der Macht erlaubten und sich erst später über die Folgen klar wurden.
Mit der Armee auf seiner Seite, die noch dazu als politische Macht
neutralisiert war, hatte Hitler nichts von den Intellektuellen und von der
Industrie zu befürchten; das Volk war ohnehin voll des Lobes über die
Schaffung neuer Arbeitsplätze.
5
DER AUFBAU DER PANZERTRUPPE
Wenn erstaunliche Ereignisse im Rahmen revolutionärer Vorgänge
über die diplomatische und politische Bühne gehen und das volle Licht
der Öffentlichkeit auf sich ziehen, ist es oft symptomatisch, daß sich
zugleich auch unbedeutende Änderungen von großer Tragweite
vollziehen, oft in aller Stille. Zur gleichen Zeit, als Hitler noch im
Anfangsstadium seines Kampfes um die Eroberung der Macht in
Deutschland war und alle Augen auf ihn gerichtet waren; als die ersten
Untertöne rassistischer Vorurteile unüberhörbar wurden; als Deutschland
im Oktober 1933 aus dem Völkerbund austrat und die
Abrüstungskonferenz verließ; als Andersdenkende wie zum Beispiel von
Schleicher und einige aufsässige SA-Führer am 30. Juni 1934
niedergemetzelt wurden; als Nazis im Juli desselben Jahres den
österreichischen Kanzler ermordeten und als im März 1935 die Existenz
der Luftwaffe enthüllt wurde (nur wenige Tage vor Verkündung der
Allgemeinen Wehrpflicht und der Wiederbegründung des Generalstabes)
- immer fanden gleichzeitig auch andere bedeutsame, aber wenig
spektakuläre Macht- und Akzentverschiebungen statt. Zum Beispiel
ermöglichte es die zahlenmäßige Verminderung der SA und die damit
verbundene Schwächung ihres Einflusses Heinrich Himmlers
Schutzstaffeln (SS), zum starken Arm der Nazimacht zu werden. Die SS
war schon dabei, ihren eigenen militärischen Flügel zu gründen - die
Waffen-SS, die in Zukunft noch eine große Rolle spielen sollte.
Ebenfalls um diese Zeit wurde die Macht des Heeres durch Blomberg
und Reichenau in ihrem Bemühen beschnitten, eine zentrale
Verteidigungsorganisation zu schaffen - aus der die Wehrmacht werden
sollte -, bei der Heer, Marine und Luftwaffe sich einem neuen
gemeinsamen Oberbefehl unterordnen sollten. Hitler ließ insgeheim
Zeichen des Unwillens gegenüber der Armee erkennen, aber dasselbe
taten auch einige Offiziere aus dem Heer selbst. So waren die Schritte
von Lutz, einem schlichten Generalleutnant, und seinem Chef des
Stabes Guderian (der am 1. April 1933 zum Oberst befördert worden
war), eine neue Truppe zu bilden (eine Armee innerhalb der Armee, wie
einige meinten, weil sie Vertreter jeder bestehenden Waffengattung
einschloß), nur ein Vorgang von geringer Bedeutung innerhalb eines
großen Umschwungs, der indessen gute Aussichten auf Erfolg hatte,
weil ein Großteil der Aufmerksamkeit, die ihm hätte gefährlich werden
können, auf andere Ereignisse gerichtet war.
Aber Hoffen und zeitliche Vorteile waren nicht genug für Guderian.
Was er brauchte, war sofortige und positive Unterstützung durch die
höchsten Stellen. Blomberg als Reichswehrminister stand ihm
wohlwollend gegenüber, war indessen in der militärischen Hierarchie zu
weit von ihm entfernt. Es war von Bedeutung, daß Guderian das Gefühl
hatte, in Hitler einen zugänglicheren Mann zu finden; jedenfalls nahm er
das an, als er in seinen Erinnerungen schrieb: »Ich gewann nach dieser
Vorführung die Überzeugung, daß der Regierungschef sich meiner
Auffassung von der Gliederung einer neuzeitlichen Wehrmacht
anschließen würde, wenn es gelang, ihm meine Ansichten zur Kenntnis
zu bringen.«
Anlaß dieser Bemerkung gab Hitlers erste Besichtigung neuen Geräts
in Kummersdorf Anfang 1934. Bei dieser Gelegenheit war es Guderian
ermöglicht worden, eine halbe Stunde lang die Grundelemente einer
Panzerdivision
vorzuführen:
einen
Kraftradschützenzug,
einen
Panzerabwehrzug, einen Zug der ersten versuchsweise gebauten
leichten Panzer (der Pz I basierte auf einem britischen Vickers-Modell
und war unter dem Decknamen »Landwirtschaftlicher Schlepper«
konstruiert und gefertigt worden) und mehrere Panzerspähwagen. Die
Vorführung enthüllte Guderians weitreichendes Konzept einer völlig
umstrukturierten Verteidigungsstreitmacht, in der eine einheitliche
Panzertruppe dominierte, die der Infanterie und Artillerie gleichgestellt
war. In diesem Zusammenhang könnte der oft zitierte damalige
Ausspruch Hitlers: »Das kann ich gebrauchen! Das will ich haben!«
irreführend gewesen sein, denn er sagte nicht eindeutig, warum oder in
welcher Stärke er eine Panzertruppe haben wollte.
In seiner unmittelbaren Begleitung befand sich an jenem Tag
Hermann Göring, der, als Minister mit enormer Macht ausgestattet, dabei
war, die Luftwaffe aufzubauen, eine Aufgabe, die hinsichtlich Kosten und
Aufwand unbedingten Vorrang besaß. Obwohl Hitler in Kummersdorf
eine auf den ersten Blick modern und schnell wirkende Truppe von
sensationell zu nennender Zusammensetzung zu sehen bekam, der man
die Wiedererlangung verlorengegangenen Prestiges zutrauen konnte,
ließ er keine Äußerung fallen, aus der zu schließen gewesen wäre, er
habe die Vision einer völlig neuen Art von Landkrieg gehabt. Viel
wahrscheinlicher war, daß ihm eine Truppe vorschwebte, welche die mit
seiner Machtpolitik verbundenen Drohungen dem Ausland gegenüber
wirkungsvoll unterstreichen konnte. Das Ergebnis war, daß der
Schaffung der Panzertruppe kein besonderer Vorrang eingeräumt wurde
und Guderian weiter wie bisher schwer um Anerkennung kämpfen
mußte*.
*
In einer 1945 gegenüber den Alliierten abgegebenen Erklärung vertrat General
der Infanterie Georg Thomas, der äußerst fähige Chef der Wirtschafts- und
Rüstungsabteilung im Oberkommando der Wehrmacht (OKW), das 1938
gebildet wurde, die Auffassung: »Hitler hatte bis 1937 nicht die Absicht, einen
Krieg zu beginnen, denn er glaubte, mit dem Bluff einer schnellen
Wiederbewaffnung Deutschlands sein Ziel mit friedlichen Mitteln erreichen zu
können. Für Hitler war das Vorhandensein von viel schwerer Artillerie, vielen
Maschinenwaffen und Panzerabwehrwaffen von großer Wichtigkeit. Die große
Bedeutung der Panzer wurde erst nach dem Erfolg im Polenfeldzug erkannt.« In
seiner Stellung konnte Thomas das gut beurteilen.
Allen Überlegungen in Zusammenhang mit der Vergrößerung der
Armee voran - das Ziel von 36 Divisionen war Anfang 1934 von Hitler
gesetzt und 1935 der Welt verkündet worden - stand der Wunsch, eine
Streitmacht aufzustellen, die Deutschlands Grenzen verteidigen konnte.
Die Besetzung des Ruhrgebiets durch die Franzosen 1923, die ohne
Widerstand blieb, weil praktisch dafür keine Kräfte vorhanden waren, war
Grund für die ständige Befürchtung einer Invasion von Westen her, die
allerdings hinter der Gefahr einer Bedrohung aus dem Osten an zweiter
Stelle stand. Hier waren es die neugeschaffenen Staaten Polen und
Tschechoslowakei, die seit ihrer Anerkennung im Jahre 1918 von
Deutschland ängstlich beobachtet wurden, zumal beide schon wiederholt
- Polen mehr als die Tschechoslowakei - bei ihren Nachbarn auf
Beutezug gegangen waren. Es gibt keinen Beweis dafür, daß der
deutsche Generalstab offensive Operationen vor oder während des
Anfangsstadiums der Wiederbewaffnung ins Auge faßte, wenn
möglicherweise auch nur aus dem praktischen Grund, daß er bis 1934
nicht mit einer völlig einwandfreien Streitmacht aufwarten konnte, weil
die finanziellen Voraussetzungen fehlten und die Industriekapazität noch
nicht groß genug war. Diese Hindernisse, zu denen noch die Gefahr
einer neuen Inflation kam, für den Fall, daß man den Fortschritt zu rasch
erzwingen wollte, türmten sich vor der Verabschiedung jedes neuen
Projekts innerhalb des kostspieligen Prozesses der Wiederbewaffnung
Deutschlands auf. Sparsamkeit mußte die Losung sein. Offensivwaffen
standen auf der Wunschliste ganz unten. 1936 äußerte Guderian in
seinem Buch Achtung - Panzer! die Auffassung, die sicherlich seine
innerste Überzeugung war, daß Deutschland es sich nur leisten könne,
einen kurzen Krieg zu führen und dabei zu hoffen, ihn zu einem
annehmbaren Ende bringen zu können, bevor das Land lahmgelegt war.
Das waren nicht die Äußerungen eines kriegshungrigen Mannes.
In Guderians ursprünglichem Konzept, wie er es in Achtung - Panzer!
darstellt, war die Panzerdivision in erster Linie als Verteidigungswaffe
gedacht. Einen Angriff auf Frankreich sah er als hoffnungslos an. Er hielt
die Bedrohung aus dem Osten für weitaus akuter und setzte sich daher
für eine in höchstem Maße bewegliche Truppe ein, die nötigenfalls die
Polen und Tschechen erledigen und die Franzosen im Westen aufhalten
konnte. Verteidigungsorientierte Offensivoperationen hatte er das ganze
Jahr 1933 hindurch bei Manövern erprobt, Übungen, die, wie er sagte,
»... klarere Ansichten über das Zusammenwirken der Waffen schufen
und mich in der Überzeugung bestärkten, daß die Panzer nur dann zu
voller Auswirkung im Rahmen des modernen Heeres kommen könnten,
wenn sie als Hauptwaffe behandelt, zu Divisionen zusammengefaßt und
mit voll motorisierten Ergänzungswaffen gekoppelt würden«. Diese
Waffen, darauf bestand er, »mußten den Panzern ständig zugeteilt
bleiben«.
Die Aufgabe der geplanten Panzerdivisionen, die nach den
Vorstellungen von Guderian zum Dreh- und Angelpunkt werden sollten,
um den sich das übrige Heer drehte, hatte Major Nehring Anfang 1933
im Militär-Wochenblatt definiert: »Umfassender Einsatz gegen Flanke
und Rücken des Gegners - abgesetzt von anderen, langsameren
Verbänden - ist die Hauptaufgabe des Panzerverbandes; doch kann er
auch im frontalen Durchbruch entscheidende Bedeutungen haben. Zur
Verfolgung eingesetzt, kann er die Auflösung des weichenden Feindes
herbeiführen. Dagegen ist er wenig befähigt, gewonnenes Gelände
nachhaltig zu behaupten; hierzu wird meist Zuteilung motorisierter
Infanterie mit Artillerie notwendig werden. Das Wesen seiner
Kampfführung ist nicht die Führung langdauernder Kämpfe, sondern der
Einsatz zu kurzen, zeitlich und räumlich begrenzten Operationen mit
enggefaßten Aufträgen. Sein Einsatz beruht auf dem Grundsatz der
Schwerpunktverwendung
von
Kampfwagen,
das
heißt
der
Konzentrierung höchster Kampfkraft an der entscheidenden Stelle;...
besonders auf dem überall gültigen Prinzip der Überraschung, um die
feindliche Abwehr nicht oder möglichst wenig zur Geltung kommen zu
lassen.«
Zu keinem Zeitpunkt gab es einen beständigen Fortschritt oder war
der Weg durch günstige Umstände geebnet, und Guderian sah häufig
seinen angeborenen Optimismus schweren Prüfungen ausgesetzt. Zu
seinem Bedauern! Seine Duldsamkeit war nicht immer der Aufgabe
gewachsen und eine Neigung zum Jähzorn kam immer mehr zum
Ausdruck, wenn er schwerer Belastung ausgesetzt war. Diejenigen
seiner Zeitgenossen, die behaupteten, er sei wie eine »Bulle« gewesen,
übersahen die Enttäuschungen, die er durchmachen mußte. Sie selbst
hatten längst die alte preußische Tradition aufgegeben, die da lautete:
»Mut vor Königsthronen!« Es gibt viele Soldaten, die sich mit Freude an
Guderians Bereitschaft erinnern, sich ihre Probleme mit Geduld und
Verständnis anzuhören.
Während er völlig in seiner Pilgerfahrt zu neuen Ufern aufging, wurde
die Zeit für die Selbstbeobachtung knapper. Und doch löste etwas in ihm
am 2. August 1934, dem Vorabend der Ablegung des Treueeides auf
Hitler statt auf die Verfassung, ein Warnsignal aus.
An Gretel schrieb er: »Gebe Gott, daß er beiderseits mit der gleichen
Treue gehalten wird zum Wohl Deutschlands. Die Armee ist gewohnt,
ihren Eid zu halten. Möge sie es in Ehren tun können.«
Gretel griff das Thema am 19. August in einem Brief an ihre Mutter
auf: »Soeben ertönt im Radio die Ovation für Hitler... Wir brauchen die
Einigkeit mehr denn je, sie ist unsere einzige Kraft dem Ausland
gegenüber... Der Glaube Hitlers an seine Mission, an Deutschland und
des Volkes an ihn ist fast wie ein Wunder. Manchmal kann man ein
bißchen Angst vor Übersteigerung bekommen.«
Dies waren die ersten Anzeichen nervöser Unruhe darüber, daß die
Dinge einen gefährlichen Lauf nahmen, doch sie blieben oberflächlich.
Zu groß war die Zufriedenheit mit dem Führer, dessen Stellung
unantastbar war. Guderian erwartete von ihm die Rettung. Obwohl er ein
ziemlich frommes Mitglied der altpreußischen Unionskirche war,
besuchte er den Gottesdienst nicht oft, denn seinem Sohn zufolge war er
auch in der Religion »ein ewig Suchender«. Tatsächlich scheint er, als
die Arbeitsüberlastung zunahm, eine grimmige und intensive
Selbstgenügsamkeit beim Anpacken der ihm in den Weg gelegten
Hindernisse gepflegt zu haben.
Enttäuschungen gab es nicht zu knapp. 1933 führte die angespannte
finanzielle Lage der Nation, zum letztenmal unter Hitler, wie sich
herausstellen sollte, zu einer Einschränkung der größeren
Heeresmanöver. Hitler kündigte auch die Vereinbarung über
gemeinsame Ausbildung und Waffenentwicklung mit den Russen auf mit
dem Ergebnis, daß diese fruchtbringenden Kurse beendet werden
mußten, bevor die neuen Ausbildungsanlagen auf deutschem Boden in
Wünsdorf und Putlos voll nutzungsbereit waren. Darüber hinaus mußte
Lutz noch delikate Verhandlungen mit den Russen führen, um
Ausrüstung zurückzuerhalten, die an der Kama zurückgeblieben war.
Andererseits wurde Hammerstein-Equord als Chef der Heeresleitung
durch Fritsch ersetzt, Guderians ehemaligen Vorgesetzten in
Bartenstein. Dies war ein Schlag für die wenigen, die bereits versuchten,
Hitler Widerstand zu leisten, denn es ist vermutet worden, daß
Hammerstein, obwohl er faul war, über die Fähigkeit, Integrität und
Entscheidungsgewalt verfügte, die jederzeit dazu hätte benutzt werden
können, um den Führer seines Amtes zu entsetzen, bevor er zu fest im
Sattel saß. Sei dem, wie es wolle, jedenfalls begrüßte Guderian Fritschs
Ernennung. Er schätzte ihn als Soldaten mit durch und durch gesunden
Auffassungen, der »... eine besondere Reise dem Studium der
Panzerdivision gewidmet hatte«. Zwischen beiden Männern bestand
eine enge Verwandtschaft, obwohl man sich darüber klar sein muß, daß
keiner einen Kreis enger Freunde besaß - abgesehen von den ein Leben
lang dauernden Freundschaften, die sie zu Anfang ihrer Karriere bei
ihren Regimentern geschlossen hatten.
In den darauffolgenden Jahren wurde Guderian durch die
Nazihierarchie benutzt, aber es darf nicht vergessen werden, daß bei der
Suche nach Unterstützung für seine Pläne umgekehrt auch er von ihr
Gebrauch machte. Weil er innerhalb der Armee auf nur wenige offene
Ohren stieß, nahm er Hilfe in Anspruch, wo immer sie ihm zuteil wurde.
Der SA-Führer Adolf Hühnlein, Chef des Nationalsozialistischen
Kraftfahrerkorps (NSKK), einer paramilitärischen Organisation, war dabei
von nicht unerheblicher Bedeutung. In seinen Erinnerungen erwähnt
Guderian von Hühnlein (den er »... einen geraden, aufrechten Mann, mit
dem man arbeiten konnte« nannte), lediglich, dieser habe ihn 1933 mit
zu einer Parteiversammlung genommen. Aber Hühnleins Hauptbeitrag
zu Guderians Bestrebungen war die Ausbildung von Lastkraftwagenund Panzerfahrern in den 24 NSKK-Reichsmotorschulen. Rund 187.000
Soldaten wurden hier zwischen 1933 und 1939 gedrillt und damit das
Problem der Grundausbildung für die Besatzungen hochmotorisierter
Einheiten weitgehend gelöst, alles im Rahmen der Zusammenarbeit mit
der SA, die nach der Säuberungsaktion an ihrer Spitze vom Juni 1934
zustande kam.
Männer, die Obstruktion trieben, gab es für Guderian zu allen Zeiten.
Steine wurden ihm hauptsächlich von drei verschiedenen Seiten in den
Weg gelegt. In erster Linie vom neuen Chef des wiedererstandenen
Generalstabes, Generalleutnant Ludwig Beck, einem Artilleristen wie
Fritsch, aber langsam und zögernd in seinen Entscheidungen und, was
die philosophische Grundhaltung anging, das genaue Gegenteil von
Fritsch. Obwohl die meisten deutschen Generäle, um mit Sir John
Wheeler-Bennett zu sprechen, »... nicht den Krieg als Hauptaufgabe des
Soldaten ansahen, sondern der Auffassung waren, Deutschlands
Wiederbewaffnung müsse in einem solchen Umfang erfolgen, daß eher
die Kriegsgefahr gemindert als erhöht wurde, indem man es unmöglich
machte, daß Deutschland angegriffen oder ungestraft beleidigt wurde«,
interpretierte Beck diese Haltung aus militärischer Sicht und benutzte sie
als hinreichend starkes Argument, um den »hinhaltenden Widerstand«
oder, wie Fritsch ihn nannte, die »organisierte Flucht« beizubehalten.
Doch Fritsch hatte das letzte Wort, und die traditionelle preußische
Angriffsdoktrin
wurde
zu
Guderians
unverhohlener
Freude
wiedereingeführt.
Man hat indessen behauptet, Beck habe die Entwicklung der
Panzerdivisionen aufgehalten, weil er als Mann, der sich dem
Widerstand gegen Hitler anschloß, die immense Wirkung dieses neuen
Kriegsinstruments und seine Fähigkeit, Hitlers Macht zu stärken,
erkannte. Es gibt keinen Beweis, der diese Meinung stützt. Kaum
jemand vom Generalstab hat im Jahre 1934 offiziell den potentiellen
Wert der Panzertruppen erkannt. Der folgende Dialog zwischen
Guderian und Beck, der sich entwickelte, als Guderian Vorschläge
unterbreitete, ist ziemlich typisch für das Verständigungsniveau in jenen
Tagen.
Beck: »Wie viele dieser Divisionen wollten Sie haben?«
Guderian: »Zwei zu Anfang, später zwanzig.«
Beck: »Und wie wollen Sie diese Divisionen führen?«
Guderian: »Von der Front her - über Funk.«
Beck: »Unsinn! Ein Divisionskommandeur sitzt in zurückgezogener
Stellung mit Karten und einem Telefon. Alles andere ist Utopie!«
Eine zweite Quelle für Behinderungen war die Kavallerie, die sich
weiterhin unablässig bemühte, bei der Zuteilung von Soldaten und
Material einen beträchtlichen Anteil zu bekommen. Sie sah Guderian als
Bedrohung für ihre Existenz an, zögerte mit ihrer Opposition aber
lediglich das Unausweichliche hinaus, weil die Männer über ihr längst
beschlossen hatten, den Fortschritt voranzutreiben. Leute, die erklären,
die deutsche militärische Hierarchie sei gegen die Begründung der
Panzertruppe gewesen, irren sich. Aber als solide Berufssoldaten
verlangten sie zu Recht überzeugende Beweise, bevor sie sich für ein
Projekt aussprachen, das riesengroß, kostspielig und unwiderruflich war
zu einer Zeit, in der die Haushaltsmittel begrenzt waren. Guderian mußte
die Hauptbeweislast erbringen.
Indessen begrüßten schon sehr viele Kavallerieoffiziere, vor allem
Vertreter der jüngeren Generation (ein Vorgang, der sich keineswegs auf
die deutsche Armee beschränkte), die Aussichten, die eine
Motorisierung mit sich brachte. Sie hatten schon seit langem das
Vertrauen in die Rolle ihrer Waffengattung bei Kriegsoperationen
verloren. Sie und ihre Soldaten sahen praktischen Nutzen darin, im
Zeitalter des Verbrennungsmotors Neues über motorisierte Fahrzeuge
dazuzulernen. Guderians Abneigung gegen die Kavallerie ging
wahrscheinlich ein bißchen zu weit, aber seine Geduld wurde infolge der
Unnachgiebigkeit seiner Kontrahenten besonders stark strapaziert. Er
machte sich den Standpunkt zu eigen, sie könnten nur schwacher Ersatz
für die von ihrer Aufgabe überzeugten Männer der Kraftfahrtruppe sein
und sprach sich gegen eine Einbeziehung der an Pferde gewohnten
Soldaten in die Panzertruppe aus, die er zu bilden hoffte, obwohl er
bemerkenswerte Erfolge bei der Überredung vieler Kavallerieoffiziere
hatte, einzeln zu seiner Truppe zu kommen. Später waren rund 40
Prozent der Offiziere der Panzertruppe ehemalige Kavalleristen.
Reichenau war sich natürlich der Einwände Guderians gegen die
Beteiligung der Kavallerie wohl bewußt und mag einen
Erleichterungsseufzer ausgestoßen haben, als sich eine Gelegenheit zur
Vermeidung einer Konfrontation im April 1934 durch die gleichzeitige
Abwesenheit von Lutz und Guderian von Berlin zu einem Zeitpunkt
ergab, als die Vorausplanung einer Vergrößerung der Panzertruppe
einen kritischen Punkt erreicht hatte. Reichenau setzte sich mit Walther
Nehring, dem dienstältesten Offizier aus Lutz' Stab, in Verbindung und
machte den völlig neuartigen und unerwarteten Vorschlag, die
Panzertruppe durch Einverleibung der gesamten 3. Kavalleriedivision
aufzubauen. Nehring griff diese Idee sofort auf, und obwohl sie nie voll
verwirklicht wurde, war immerhin das Eis gebrochen.
Das dritte Hindernis beim Aufbau der Panzertruppe bildete später die
Artillerie, nicht so sehr, weil ihr Status oder ihre Stärke in Gefahr geriet,
sondern weil ihre Methoden angezweifelt wurden. Die Forderungen der
Infanterie nach Artillerie waren genauso stark, wie sie 1918 gewesen
waren. Die Artilleristen hatten dagegen nichts einzuwenden - im
Gegenteil:
wenn
die
Infanterie
verstärkte
und
schwerere
Feuerunterstützung brauchte, bedeutete das für die Artillerieeinheiten
eine Vergrößerung und für ihre Offiziere vermehrte Aufstiegschancen.
Aber die Panzertruppe verlangte etwas anderes zu ihrer Unterstützung.
Guderian verlangte eine Artillerie, die
»... in der Lage war, dem unter günstigen Umständen rasch
verlaufenden Panzerangriff mit ihrem Feuer und ihrer Bewegung zu
folgen. Diese Ansicht führte bereits im Jahre 1934 zur Forderung einer
Selbstfahrlafette. Die Artilleristen glaubten jedoch nicht an so schnellen
Gefechtsverlauf. Seit 500 Jahren gewohnt, ihre Geschütze mit der
Mündung nach rückwärts zu ziehen und zum Schluß abzuprotzen, hatten
sie sich dieser Forderung mit Erfolg widersetzt, bis die bitteren
Erfahrungen des Krieges sie veranlaßten, den Anregungen des
Generalinspekteurs (Guderians - K. M.) zu folgen«.
Der Widerstand war innerhalb der Artillerie weit verbreitet, jedoch am
energischsten konzentriert in den höchsten Kommandostellen. Im
Vergleich zu Infanteristen und Kavalleristen waren weniger Artilleristen
im Ersten Weltkrieg gefallen, und diese Bewahrung bedeutete in
Verbindung mit der intellektuellen Qualität des Offizierstyps, den diese
Truppe heranbildete, daß in den dreißiger Jahren verhältnismäßig mehr
Artilleristen als Offiziere anderer Waffengattungen für hohe Posten
verfügbar waren. Alle drei Generäle, die nach 1938 und während des
gesamten Zweiten Weltkrieges die höchsten Posten im OKW bekleiden
sollten - also Wilhelm Keitel, Alfred Jodl und Walter Warlimont - waren
Artilleristen. Im Oberkommando des Heeres (OKH) saßen Fritsch und
Beck von der Artillerie, und von dieser Waffe kam auch Franz Halder,
der Beck 1938 als Chef des Generalstabes ablöste. Von Interesse ist
auch die Feststellung, daß von 1938 an kaum einer der ranghöchsten
Generäle in Hitlers Umgebung mehr adelig war, während Halder, ein
äußerst intelligenter, aber ziemlich schulmeisterlicher Bayer, der erste
Nichtpreuße war, der an die Spitze des Generalstabes trat. Diese
Männer bildeten die letzte Instanz mit direktem Zugang zu Hitler, wenn
die Interessen der Artillerie durch Guderian und seine Mitarbeiter bedroht
wurden, doch waren sie 1934 nicht in Positionen, in denen sie die
Schaffung der Panzertruppe hätten verhindern können. Bei der
Verwirklichung dieser denkwürdigen Neuschöpfung durften weder
Blomberg noch Reichenau und Fritsch übergangen werden.
Die Aufstellung der Panzertruppe im Sommer 1934 mit Lutz an der
Spitze und Guderian als seinem Chef des Generalstabes riß nur eine
Lücke in die Verteidigung ihrer Gegner. Guderian konnte Beck nie von
der Notwendigkeit der Panzervorschrift überzeugen, die von ihm und
seinen Offizieren verfaßt worden war. Der Generalstabschef mag die
Erfordernis eingesehen haben, ohne den Inhalt des Werkes
gutzuheißen, aber bis 1939 war der größte Teil der notwendigen
Bestimmungen der Truppe noch nicht bekanntgegeben worden.
Natürlich sah Beck für die Panzertruppe überhaupt keine Notwendigkeit,
weil Panzer seiner Meinung nach nur als Unterstützung der Infanterie
einen Sinn hatten, wie es auch der französischen Auffassung entsprach.
Es stimmte, daß der Anblick der ersten leichten Panzer - der Pz I, die nur
für Ausbildungszwecke gedacht waren und 1934 zu ihrem ersten
Bataillon unter dem Kommando von Major Harpe zusammengestellt
wurden - wenig dazu beitrug, Vertrauen für die neue Waffe zu schaffen.
Sie ähnelten nicht im mindesten dominierenden Waffen und waren kaum
mehr als Fahrzeuge für den Transport von Maschinengewehren, die in
begrenztem Maß querfeldein fahren konnten. Doch ein Jahr später - im
August 1935 - setzten sich dieses Bataillon und drei andere sowie die
von Lutz und Guderian in einem Zeitraum von fünf Jahren zu
behelfsmäßigen Einheiten zusammengestellten Teile und Teilchen wörtlich und bildlich gesprochen - bei Versuchsübungen an die Spitze
und bewiesen in einem vierwöchigen strapaziösen Experiment die
Brauchbarkeit des großen Systems, dem sie angehörten, und den
ungeheuren Glauben aller ihrer Männer an eine neue Art der
Kriegführung, die so nahe bei der Hand lag. Größere Fehlschläge gab es
meist nur in stark mobilen Situationen, als sich herausstellte, daß die
Nachrichtenverbindungen völlig unzureichend waren. Weitaus genauere
Funksysteme wurden benötigt. Aber die Aufstellung der Panzertruppe
war zu dieser Zeit nur noch eine Formalität und wurde im Oktober formell
vollzogen. Lutz, zum ersten General der Panzertruppe befördert, wurde
ihr Kommandierender General. Drei Panzerdivisionen wurden gebildet zunächst mit wenigen Panzern, weil es immer noch an Ausrüstung fehlte
und erst genügend Offiziere und Mannschaften ausgebildet werden
mußten. Selbst jetzt noch mußte das Vorhaben auf volle offizielle
Anerkennung verzichten, denn Beck verweigerte der neuen Truppe den
gleichen Status wie Infanterie und Artillerie.
Die Ernennung Guderians zum Kommandeur der 2. Panzerdivision
entfernte ihn vom Angelpunkt des Fortschritts und der Entscheidung, wo
er so wertvoll gewesen war. Kaum war er aus dem Weg geräumt, da
bildete Beck, fast ohne daß Einwände laut wurden, eine Panzerbrigade,
deren Aufgabe es war, eng mit den gewöhnlichen Truppen, den
langsamen, bespannten und zu Fuß marschierenden Divisionen,
zusammenzuarbeiten. Diese Verwendungsmöglichkeit hatten Lutz und
Guderian in ihrem 1935 veröffentlichten Bericht als einen von vielen
aufgeführt. Dies war das erste, aber keineswegs das letzte Mal, daß
Guderian von einem Chef des Generalstabs des Heeres kaltgestellt
wurde.
Dies sollte allerdings nicht die Vermutung nahelegen, Beck habe als
Gegner der Panzertruppe allein gestanden oder die Panzertruppe sei
das einzige moderne Konzept gewesen, dem er sich widersetzte. Er
stellte nur den Brennpunkt eines oppositionellen Blockes von
einflußreichen Mitgliedern des Generalstabes dar, die von der
Brauchbarkeit der neuen Waffen und Systeme nicht überzeugt waren ob es nun Panzer, Flugzeuge oder das neue Oberkommando der
Wehrmacht waren, das die alte Vorherrschaft des Generalstabes zu
brechen drohte. Guderian war nicht unfair, als er nach 1945 feststellte,
dieser Typ von Generälen »... beherrschte den Generalstab und sorgte
durch seine Personalpolitik dafür, daß die maßgebenden
Generalstabsstellen in der Zentrale immer nur mit gleichgesinnten
Geistern besetzt wurden«.
Dies ist allerdings in den meisten Armeen der Welt gang und gäbe,
aber es war eine Provokation für ehrgeizige Männer wie Guderian - und
Hitler -, die auch ihre Personalpolitik betrieben. Jeder Vorkämpfer war
voll guter Vorsätze, was ihn selbst betraf.
Aber trotzdem wuchs die starke Organisation, die Guderian ins Leben
gerufen hatte, auch wenn er nicht in der Nähe des Steuerrades stand.
Die Offiziere, die in Rußland ausgebildet worden waren, die Offiziere der
Panzertruppe, die er mit seinen Ideen begeistert hatte, sowie die
ausgearbeiteten Pläne bildeten eine hervorragende Grundlage. Neues
Material kam hinzu. Der Stamm an Ausbildern und unteren Dienstgraden
wurde vom Enthusiasmus ihrer Führer angesteckt. Auch die
Panzerindustrie setzte ihre Kapazität nach Plänen ein, die von Lutz und
Guderian gebilligt worden waren, obwohl sie für die Forschung und
Entwicklung soviel Zeit aufwandte, daß die Fließbandproduktion der
Panzer des erforderlichen Typs noch weit davon entfernt war, einen
nennenswerten Umfang zu haben. Aber das war verständlich, denn
schließlich beschritt die Industrie Neuland, und aus diesem Umstand lief
die Fabrikation nur langsam an. Es gab eine Reihe von Problemen, wie
zum Beispiel das Bearbeiten und die Montage von Panzerplatten. Bei
den anderen Typen der als Unterstützung gedachten geländegängigen
Fahrzeuge traten ebenfalls Probleme auf. Sie resultierten aus den vom
Generalstab erteilten ungenügenden Spezifikationen.
Unvergessen bleibt Guderians Unbesonnenheit, wie er bei einer
verheerend schlechten Vorführung dieser dünnhäutigen Fahrzeuge im
Jahre 1937 auf den damaligen Oberbefehlshaber Fritsch zutrat,
geradeheraus die soeben gezeigten Fahrzeuge mit Zweiradantrieb
kritisierte und mit den Worten schloß: »Wäre mein Rat befolgt worden,
dann hätten wir jetzt eine richtige Panzertruppe!«
Diese Bemerkung ist mehr wegen ihres Inhalts von Bedeutung denn
als Zeichen von Insubordination, bewies sie doch, daß Guderian, als er
nicht nur die sehr hohe Sollstärke von 561 Panzern für die eigentlichen
Panzerdivisionen verlangte, sondern darüber hinaus auch gepanzerte
Infanterietransportfahrzeuge, ein getreuer Schüler Füllers war, der
beständig (und zu Unrecht) wegen seiner beträchtlichen Forderungen
nach Panzern kritisiert wurde. Sowohl er als auch Guderian dachten an
eine völlig gepanzerte Truppe, wenn auch vielleicht Füller das Wort
»Tank« etwas unklar verwendete, wenn er sich auf gepanzerte
Unterstützungsfahrzeuge bezog. Eines Tages, beim Vormarsch in
Rußland, sollte sich dann das Fehlen eines Transportfahrzeuges mit
Vierradantrieb für die deutsche Armee verhängnisvoll erweisen.
Eine nicht enden wollende Debatte über den erforderlichen Panzertyp
warf die Industrie zurück. Die endgültigen Spezifikationen entsprachen
auch nicht allen von Guderian aufgestellten Bedingungen, denn obwohl
er der Schnelligkeit der Panzer die größte Bedeutung beimaß, sprach er
doch 1936 davon, daß ein schwerer Panzer, mit dem »... Festungen
oder befestigte Dauerstellungen gestürmt werden sollen... neben starker
Panzerung und schwerer Bestückung - bis zu 15-Zentimeter-Kaliber große Überschreit- und Watfähigkeit und großes Umwerfvermögen
besitzen« müsse. Diese Kampfwagen, so glaubte er, würden ein
Gesamtgewicht von 70 bis 100 Tonnen haben und vielleicht zu teuer
werden. Sie sollten, so erklärte er, unabhängig voneinander in kleinerer
Anzahl zum Einsatz kommen, doch »... sie sind ein höchst gefährlicher
Gegner und sollten nicht unterschätzt werden«. Bestürzt registrierte er,
daß der schwere französische 2 C-Panzer fast immun gegen
7,5-Zentimeter-Geschosse war.
Doch die infolge der hohen Kosten erforderliche Beschränkung der
Produktionsziffer und Guderians Forderung nach einer großen Zahl von
Panzerfahrzeugen andererseits machte einen Kompromiß notwendig. Er
mußte sich schließlich mit einer kleineren Lösung begnügen, die in
leichteren, schnelleren und billigeren Fahrzeugen bestand. Jedenfalls
mußte ein oberes Gewichtslimit von 24 Tonnen wegen der
Belastungsvorschriften
für
die
existierenden
Pionierbrücken
vorgeschrieben werden. Auf zwei Panzertypen legte man sich 1934 fest:
auf einen leichten Panzer für Aufklärungszwecke als Lückenbüßer;
dieses Pz II genannte Modell hatte eine Spitzengeschwindigkeit von
ungefähr 56 Stundenkilometer und als Hauptbewaffnung ein
2-Zentimeter-Geschütz. Die Aufgabe direkter Feuerunterstützung der
kämpfenden Truppe sollte ein mittlerer Kampfpanzer (der die
Bezeichnung Pz IV erhielt) wahrnehmen, der ursprünglich 18 Tonnen
wog, eine Geschwindigkeit von bis zu 40 Stundenkilometer erreichte und
ein kurzes, ziemlich ungenaues 7,5-Zentimeter-Geschütz als Hauptwaffe
besaß. Dieser Panzer war nicht für den Kampf Panzer gegen Panzer
gedacht. Keiner dieser Typen hatte in seiner ursprünglichen Form eine
Panzerung von mehr als drei Zentimeter Dicke. Daher waren beide nur
gegen Handwaffen und Granatsplitter sicher und nicht gegen
Direkttreffer von Feldartillerie und den damals schon existierenden
Panzerabwehrkanonen. Darüber hinaus schnitten weder die
2-Zentimeter- noch die kurze 7,5-Zentimeter-Kanone auf die normalen
Kampfentfernungen gegen die vorhandenen schweren französischen
Panzer gut ab. Doch da man schon 1935 fest mit Gefechten zwischen
den eigenen und feindlichen Panzern rechnete, wurde ein dritter Typ
Kampfpanzer entwickelt, obwohl man daneben auch viel Vertrauen in
motorisierte Panzerabwehrgeschütze der Infanterie setzte, die in der
Tiefe der Front zum Einsatz kommen und die gegnerischen Panzer
abschießen sollten. Dies war der spätere Pz III, eine etwas kleinere
Version des Pz IV, der in erster Linie als Panzerzerstörer fungieren
sollte, denn weder das von Guderian vorgeschlagene 5-ZentimeterGeschütz noch das schließlich vom Chef des Heereswaffenamtes in
Abstimmung mit dem Inspektor der Artillerie verwendete 3,7-ZentimeterGeschütz vermochte ein zufriedenstellendes Sprenggeschoß abzufeuern
wie etwa der Pz IV mit seinem 7,5-Zentimeter-Geschütz. So mußte sich
die anfängliche Ausrüstung der Panzerdivisionen aus drei einander
ergänzenden Panzertypen zusammensetzen, von denen nicht ein
einziger den von den Franzosen gebauten schwerbestückten und
starkgepanzerten Modellen gleichkam. Zudem war das der Infanterie zur
Verfügung stehende Standardmodell des Panzerabwehrgeschützes
schon
vor
seiner
Indienstnahme
unzureichend.
Doch
die
Gesamtkonstruktion des Pz III und des Pz IV war gut. Beide hatten
allerdings noch genügend Raum für eine Vergrößerung der Bestückung,
Panzerung und Kraftanlage, wenn sich die Notwendigkeit ergeben sollte
- und Guderian wußte aus dem Studium der Geschichte und weil es ihm
sein gesunder Menschenverstand sagte, daß ein solcher Fall eintreten
mußte. Die Anordnung der Sitze für die Panzerbesatzung war
befriedigend gelöst, die optischen Instrumente für die Richtschützen
waren ausgezeichnet. Auf diese Weise war die Kampfkraft der Panzer
sehr groß, und der Kampfgeist der Besatzung wurde durch den Einbau
ausgezeichneter Notausstiege erhöht.
Aber während die geplanten Panzer allein schon verdächtig genug
waren, weil sie ein riesiges Potential darstellten, gab es noch ein
wichtiges Gebiet, auf dem die Deutschen ihren künftigen Kriegsgegnern
weit voraus waren und es blieben: die auf völlig neuen und einmaligen
Gedankengängen, die weit über die extremsten Vorstellungen anderer
Armeen hinausgingen, beruhenden und an Wirksamkeit nicht zu
übertreffenden Führungsverfahren. Gradmesser dafür, wie sehr die
deutsche Denkweise allen anderen militärischen Philosophien voraus
war, war ein Artikel im Militär-Wochenblatt, den Guderian 1935 im
Hinblick auf die aufkommende Kritik an der Motorisierung verfaßte, die in
militärischen und auch nichtmilitärischen Publikationen, so der Berliner
Börsenzeitung, erschien. In seinem Artikel erinnerte Guderian an von
Schlieffens Ruf aus dem Jahre 1909 nach Methoden, die die Existenz
eines »modernen Alexanders« möglich machten. Er stellte den
Vorschlag zur Diskussion: »Nur Führer, die ihren Verbänden tatsächlich
und buchstäblich vorausfliegen oder -fahren, werden in der Lage sein,
den erforderlichen Einfluß auf den Gang des Gefechts zu behalten. Alle
großen Fliegerführer haben im Krieg so gehandelt, und General Elles hat
bei Cambrai den englischen Kampfwagenangriff persönlich geführt.«
Er begann, für die Erweiterung der Typenskala der Funkgeräte
Propaganda zu machen, damit die Funkverbindungen weiter reichten als
nur bis zur Kompanie hinunter (wie es 1936 noch üblich war) und jeder
Panzer ein eigenes Funkgerät bekam. »Ein ‚moderner Alexander' wird
seine Aufgaben nur lösen, wenn er die Errungenschaften der Technik in
seinen Dienst zwingt und seinen Soldaten das Bewußtsein seelischer
und stofflicher Überlegenheit über die Gegner einflößt, wenn er mit
unerschütterlichem Blick auf sein großes Ziel sein Schwert schmiedet für
die ihm vom Schicksal gestellte Aufgabe, die Ehre und Freiheit des
Volkes zu schützen«, schrieb Guderian. Sein Aufsatz wurde von Oberst
Fellgiebel, dem Inspekteur der Nachrichtentruppe, gutgeheißen, der
erklärte, moderne Fernmeldesysteme seien die einzige Möglichkeit, um
die Panzerwaffe schlagkräftig zu machen. Aber ein ungefähr in der Mitte
des Artikels stehender scharfer Satz sagt zusätzlich etwas über
Guderian aus; die Bemerkung »Alexander war König und Oberster
Befehlshaber seines Heeres - nicht Divisionskommandeur!« ist
charakteristisch für seine erstaunliche Ausdrucksfähigkeit und für die
Erkenntnis der schwierigen Aufwärtsstrecke, die noch vor ihm lag. Denn
Beck vertrat wieder einmal eine gegensätzliche Ansicht; für ihn waren
menschliche Wesen und nicht Maschinen die eigentlichen
Kriegsinstrumente, wie er in einer Rede im Oktober 1935 ausführte, bei
der auch Hitler zugegen war.
Das Funknetz, das Fellgiebel für die Panzertruppe konzipierte, hatte
eine Reichweite, die den Anforderungen entsprach, die Guderian für den
Fall weitreichender Operationen einplante. Beide Männer arbeiteten eng
zusammen. Das folgende Schema zeigt die Aufteilung der Geräte, wobei
allerdings Abweichungen vorkamen.
Verbandsebene
Gerätetyp
Korps zu Panzerdivision
1000 W S b
Panzerdivision zu
Panzerbrigade und
einigen PanzerspähFu 12
wagen
80 W S a
Panzerbrigade/Regiment zu
Fu 8
Panzerbataillon
30 W S c
Panzerbataillon zu Panzerkompanien oder Panzern Fu 8 wie oben
oder
Fu 5
10 W S c
oder
Fu 6
20 W S c
Frequenzbereich (in kHz)
Durchschnittlich
maximale Reichweite
(in km)
Sprechfunk Tastfunk
1090-6700
480
1120
1120-3000
40
128
1120 -3000
24
80
2720-3330
6,4
9,6
2720-3330
12,8
16,0
Diese Geräte waren einfach zu handhaben und zuverlässig. Sie
waren in Einheiten gebaut, die leicht an Bodenplatten befestigt oder
miteinander verbunden werden konnten, was einen schnellen Ein- und
Ausbau ermöglichte. Ihre Konstruktion war so gut, daß selbst der Betrieb
mit Feinabstimmung in einem Fahrzeug wie einem Panzer mit seinen
enormen Erschütterungen möglich war. Ein Punkt wurde erreicht, wie
Albert Praun, der eng mit Guderian arbeitete und der später Chef der
Wehrmachtsnachrichtenverbindungen werden sollte, erklärte: »Es war
möglich, eine ununterbrochene strategische und taktische Führung der
Panzerverbände aufrechtzuhalten, gleichgültig, in welcher Art von
Bewegung sie sich befanden; tatsächlich wurde diese Kontrolle
einfacher, flexibler und zuverlässiger als die Kontrolle der
nichtmotorisierten Verbände.« Paradoxerweise war der Stolperstein für
viele Offiziere, die an Guderian glaubten: Das Ausmaß seiner
Voraussicht und Erfahrung ging weit über ihre begrenzte
Vorstellungskraft hinaus.
Paradox war auch die Tatsache, daß die Infanterie trotz der
Halbherzigkeit ihrer Hauptfürsprecher ebenfalls eine Motorisierung
wünschte, zum Beispiel ihrer Panzerabwehrkompanie - gegen den Rat
Guderians, der eine Verschwendung der ohnehin knappen Mittel
befürchtete und darauf bestand, daß diese Geschütze von Pferden
gezogen werden sollten, weil sie zusammen mit der marschierenden
Truppe zum Einsatz kamen. (Mit denselben Bedenken gegen eine
Aufsplitterung der Industrieerzeugung sprach er sich 1938 gegen
Sturmgeschütze für die Infanterie aus.) Aber diese Randerscheinungen
waren nichts im Vergleich zu dem Zerfall, der einsetzte, nachdem
Guderian als Kommandeur einer Division abgestellt worden war und der
kühle und nachgiebigere Oberst Friedrich Paulus seinen Platz als Chef
des Stabes bei Lutz einnahm. Lutz war ohne Guderian nicht imstande,
den Zerfall der Panzertruppe durch Gruppeninteressen zu verhindern.
Wo es Guderian vielleicht noch möglich gewesen wäre, die Einheit der
gesamten Panzerstreitkräfte nach seinen Wünschen zu erhalten, ließen
seine Nachfolger eine Zersplitterung der Truppe zu, so daß zum Beispiel
die Aufklärungseinheiten der Kavallerie und die motorisierten
Schützeneinheiten der Infanterie unterstellt und zugleich motorisierte
Infanteriedivisionen geschaffen wurden. Als weitere Unterteilung wurden
sogenannte Leichte Divisionen gebildet, die nur über ein geringes
Panzerkontingent verfügten, und ebenfalls der Kavallerie unterstellt,
obwohl das mit der Möglichkeit geschah, daß diese Divisionen in den
Rang vollgültiger Panzerdivisionen aufrückten, sobald sie mehr Panzer
zur Verfügung hatten. Die Panzertruppe war in ihrer Verantwortlichkeit
nur noch auf die tatsächlichen Panzereinheiten begrenzt, obwohl das
XVI. Armeekorps als Stab für die Führung aller drei Panzerdivisionen
gebildet worden war und zusammen mit den beiden anderen Korps, die
den Befehl über die Motorisierten Infanterie- und die Leichten Divisionen
ausübten, einem besonderen Gruppenkommando 4 unterstellt wurde.
Diese Gruppe befehligte jetzt General der Artillerie von Brauchitsch, der
1923 die ersten Übungen geleitet hatte, und nun beauftragt wurde, die
Verwendung motorisierter Verbände zu studieren.
Keines dieser Probleme war allzu ernst, wie Guderian feststellte,
vorausgesetzt, es blieb genug Zeit für Experimente. Doch 1936 begann
Hitler, Deutschland auf dem Pfad der Aggression voranzutreiben, einen
Weg entlang, der in gefährlicher Weise einem Drahtseil ähnelte. Im März
jenes Jahres, als die modernen Waffen erst langsam aus den Fabriken
an die Truppen ausgeliefert wurden und die Panzerdivisionen wenig
mehr als Entwürfe auf dem Papier waren, ließ er die Muskeln spielen
und remilitarisierte das Rheinland. Am Jahresende begannen sich die
besser informierten Generäle im OKH darüber klarzuwerden, daß Hitler
auf Krieg aus war. Er prägte des Propagandaeffekts wegen das Wort
»Blitzkrieg« und meinte damit den Blitzschlag von Luft- und
Landstreitkräften gegen das betreffende Land. Feldzüge, wenn nötig,
würden von kurzer Dauer sein, denn General Thomas zufolge verwarf
Hitler »... stets alle Maßnahmen zur Vorbereitung eines längeren
Krieges, die wirtschaftliche Mobilmachung zugunsten der Aufstellung
neuer Divisionen« - vermutlich auch aus Propagandagründen. Thomas
widersprach dem Begriff »Blitzkrieg« in der Tagespresse, in
Militärschriften und in öffentlichen Vorträgen, »... weil ich die
Überzeugung hatte, ein neuer Krieg in Europa würde zugleich einen
neuen Weltkrieg bedeuten, für den die Wirtschaftsreserven
Deutschlands nicht ausreichten, es sei denn, ihm kämen starke
Verbündete zu Hilfe«. Doch Hitler hoffte auf Eroberungen ohne Krieg.
Guderian zählte zu denjenigen, die Thomas' Meinung über den
Blitzkrieg nicht teilten: er glaubte daran. An der Jahreswende 1936/37
gingen seine Bemühungen dahin, die Panzertruppe als Teil einer
Verteidigungsstreitmacht zu erhalten, obwohl allmählich ihr aggressiver
Wert erkannt und ausgenutzt wurde. Im Herbst 1936 hatte Lutz
vorgeschlagen, mit Hilfe eines Buches, das die Gründe für die Bildung
der Panzerdivisionen und ihre Rolle enthielt, für mehr Verständnis in der
Öffentlichkeit zu werben. Im Winter darauf schrieb Guderian in großer
Eile und neben seinen übrigen Pflichten Achtung - Panzer! - eine
Sammlung seiner Vorlesungen, angereichert mit seinen besten Artikeln
und Argumenten, die er während der vergangenen zehn Jahre
aufgezeichnet hatte. Das Ergebnis war, daß der Stil dieses Buches
etwas unausgeglichen war. Aber der Erfolg des Werkes war beträchtlich.
Es wurde zu einem militärischen Bestseller, und die Guderians kauften
von dem Autorenhonorar ihr erstes Auto. Das Buch wurde von den
Spionageabteilungen der Generalstäbe in aller Welt genauestens
studiert und war von 1937 bis 1939 zusammen mit Füllers Büchern
Pflichtlektüre an der Kriegsakademie der österreichischen Armee, deren
führender Panzerexperte Ludwig von Eimannsberger ebenfalls stark zu
Panzerdivisionen riet und auf Füllers Doktrinen aufbaute.
Achtung - Panzer! enthüllte keine Geheimnisse - die Panzertypen
Pz II und Pz IV wurden nicht erwähnt, und auch die neuesten Pläne für
die wichtige Rolle der Panzerdivisionen und ihre Aufgabe, tief in
Feindesland
vorzudringen,
wurden
verschwiegen.
Aber
die
Unterstützung der Hitlerschen Meinung wurde in den Buchabschnitten
deutlich, wo Worte des Führers Guderians Ziele unterstützen konnten. Er
zitierte aus Hitlers Rede bei der Automobilausstellung von 1937:
»Es ist die Bequemlichkeit, um nicht zu sagen, die Trägheit an sich,
die sich zu Protest meldet bei allen umwälzenden Neuerungen, die neue
Anstrengungen in geistiger, körperlicher und willensmäßiger Hinsicht
erfordern« und führte aus derselben Rede weiter an:
»Nur soviel ist sicher: die Ersetzung der animalischen Kraft durch
diese neue Maschine führt zu einer der gewaltigsten technischen und
damit wirtschaftlichen Veränderungen, die die Welt je erlebt hat.« Der
von Hermann Göring überwachte Vierjahresplan wurde beschworen, um
darzulegen, wie in Kürze Deutschlands Abhängigkeit von Erdöl- und
Gummieinfuhren beendet sein und damit ein Haupteinwand gegen die
motorisierten Truppen fast ausgeschaltet sein würde, der da lautete,
Deutschland könne im Kriegsfall nicht für ihren Nachschub sorgen.
Guderians Schlußsatz ging weit über den Ruf nach einer
Verteidigungstruppe hinaus, als er schrieb: »Soviel aber ist zu erkennen,
daß nur starke Völker auf die Dauer bestehen werden, und daß der Wille
zur Selbstbehauptung nur in die Tat umgesetzt werden kann, wenn die
nötige Macht dahinter steht. An der Festigung der deutschen
Machtstellung mitzuarbeiten, ist die Aufgabe der Politik, der
Wissenschaft, der Wirtschaft und der Wehrmacht. Je stärker, je
neuzeitlicher in Bewaffnung, Ausrüstung und Geist der Führung die
Wehrmacht ist, desto sicherer gewährleistet sie die Erhaltung des
Friedens... Jedoch läßt sich nicht abstreiten, daß neue Waffen in der
Regel eine neue Fechtweise in neuen taktischen und organisatorischen
Formen erfordern. Man soll nicht neuen Wein in alte Schläuche schütten.
Taten sind wichtiger als Worte. Nur dem mutig Handelnden wird dereinst
die Schlachtengöttin den Lorbeer reichen.«
Die dreißiger Jahre waren die große Zeit der Propagandaleute unter
Dr. Joseph Goebbels. Guderian hatte bei ihm viel gelernt.
Das Buch schmeichelte Hitler und all seinen Ideen, wie es
wahrscheinlich auch beabsichtigt war. Walther Nehring weist darauf hin,
daß Guderian vor 1939 nicht viele Kontakte zu Hitler hatte. Das wäre
auch überraschend für einen Offizier seines Dienstgrades gewesen;
schließlich war Guderian im August 1936 erst Generalmajor geworden.
Dennoch schnitt er in seinen Beziehungen zum Führer weitaus besser
ab als der Chef des Generalstabes. Guderians Gegenspieler Beck
scheint während seiner Amtszeit von 1933 bis 1938 nur eine private
Begegnung mit Hitler gehabt zu haben, eine Tatsache, die ihn ärgern
mußte.
Konfliktgeladene Gefühle plagten die deutschen Generäle, als
Deutschland dem Entscheidungskrieg näher rückte. Im November 1937
hatte Hitler Blomberg und Fritsch erklärt, er beabsichtige, Deutschland
nach Osten auszudehnen, nötigenfalls durch einen Krieg im Jahre 1943.
Die beiden Generäle hatten ihn durch ihr Erschrecken erstaunt. Hitler
entledigte sich der zwei Männer mit Hilfe von Anschuldigungen
(gefälschte im Fall Fritsch), die die moralische Integrität dieser Offiziere
in Zweifel zogen. Der Rücktritt Blombergs und die Verleumdung von
Fritsch am 4. Februar 1938 trafen Guderian schwer. Doch die daraus
resultierenden Umbesetzungen an den obersten militärischen
Schaltstellen - Hitler selbst machte sich zum Oberbefehlshaber der
Wehrmacht, Wilhelm Keitel wurde Chef des OKW, Brauchitsch
Oberbefehlshaber des Heeres und Reichenau Kommandeur des
Gruppenkommandos 4 (und damit praktisch verantwortlich für die
Entwicklung der Motorisierung) - dürften Guderian kaum mißfallen
haben. Keitel konnte von Nutzen für seine Pläne sein, abgesehen von
den Beziehungen zwischen beiden Familien - Wilhelms Bruder Bodewin
gehörte früher seinem Regiment an, war mit seiner Frau verwandt,
inzwischen zum General befördert worden und auch Chef des
Heerespersonalamtes, in einer Position also, die ihn mit großer Macht
und Einfluß bei Versetzungen und Beförderungen ausstattete. Es spielte
weniger eine Rolle, daß Wilhelm Keitel ein Schmeichler Hitlers war (der
ihn mit dem Ausruf »Das ist genau der Mann, den ich suche!« erwähnt
hatte, nachdem Blomberg, dessen Tochter mit Keitels Sohn verlobt war,
erklärt hatte, Wilhelm sei »nur der Mann, der mein Büro leitet«);
immerhin konnte er als weiterer direkter Kanal zum Führer benutzt
werden, besonders jetzt, da Hitler sich anschickte, das OKW als
persönliches Instrument zur schrittweisen Ausschaltung des OKH zu
benutzen.
Reichenau wurde von Guderian als »fortschrittlich denkender Kopf,
mit dem mich herzliche Kameradschaft verband«, auf seinem neuen
Posten begrüßt. Seine eigene Beförderung zum Generalleutnant und
Ernennung zum Kommandierenden General des XVI. Armeekorps, mit
Paulus als Chef des Stabes, war ihm natürlich auch nicht unwillkommen,
wenn es auch bedeutete, daß er Lutz verdrängte, den man
verabschiedete.
In einem am 7. Februar geschriebenen Brief an seine
Schwiegermutter äußerte Guderian seine Ahnungen und stellte zugleich
klar, daß er nicht einen Augenblick lang Mißtrauen gegen Hitler hegte,
verantwortlich für die jüngsten Ereignisse zu sein: »So schön und
ehrenvoll die neue Verwendung ist, ich gehe gar nicht leichten Herzens
hin, denn voraussichtlich stehen ernste und sachliche Aufgaben und
wohl auch Auseinandersetzungen bevor, die Kräfte und Nerven
beanspruchen werden. Ich werde mir ein dickes Fell anschaffen müssen.
Die Meldung bei Hitler (in Verbindung mit Blomberg und Fritsch - K. M.)
hat mir einen ernsten Einblick in manche Dinge gewährt, die besser nicht
passiert wären. Der Führer hat - wie stets - mit der schönsten
menschlichen Anständigkeit gehandelt. Hoffentlich wird es ihm von
seinen Mitarbeitern (die nationalsozialistischen Führer - K. M.) gelohnt.«
Diesem Brief muß man Anmerkungen Guderians in seinen
Erinnerungen gegenüberstellen, in denen er den 4. Februar als
»zweitschwärzesten Tag des Oberkommandos des Heeres« bezeichnet,
Fritsch in Schutz nimmt und Brauchitsch kritisiert, weil dieser sich nicht
entschließen konnte, ernste Schritte zu unternehmen. Zur gleichen Zeit
wies Guderian darauf hin: »Für die Mehrzahl (der deutschen Generäle)
blieb der wahre Sachverhalt nicht zu durchschauen.« Der Brief lieferte
auch den Beweis dafür, daß er Hitler als einen Mann außerhalb der
Partei ansah.
Nun kamen die »ernsten sachlichen Aufgaben«, ein Befehl, die Spitze
beim überraschenden Einmarsch in Österreich am 12. März 1938 zu
kommandieren. Die Erregung über die Ehre und die Gelegenheit, die sie
gab, die Panzertruppen und ihre Leistungsstärke auf einem langen
Marsch vorzuführen, war unbeschreiblich. Der Anlaß gestattete auch
einer Formation der Waffen-SS, sich erstmals in der Öffentlichkeit zu
zeigen, und es war ein Vorschlag von Guderian, der von Sepp Dietrich,
dem Kommandeur der SS-Leibstandarte, Hitler übermittelt worden war,
daß die Fahrzeuge »zum Ausdruck freundschaftlicher Gefühle« mit
Fahnen und grünen Zweigen geschmückt wurden. Guderian hegte
freundschaftliche Gefühle für Dietrich, den alten Landsknecht, der noch
einen weiteren Zugang zu Hitler ermöglichte und den Hitler »zugleich
gerissen, energievoll und brutal« nannte - eine passende Beschreibung
für die Mehrzahl der besten Krieger der Welt.
Stolz stand Guderian neben Hitler auf dem Balkon in Linz, als der
Führer zur Bevölkerung sprach, und war tief bewegt über diese
Wiedervereinigung deutscher Völker. Auch Gretel war es, die ihren
Gefühlen in einem Brief an ihre Mutter überschwenglich Ausdruck
verlieh: »Man kann es doch noch kaum fassen, daß Österreich deutsch
geworden ist, ein Reich, ein Volk, ein Führer! Wer jetzt nicht begreift,
daß Hitler ein ganz großer Mann und Führer ist, dem ist nicht zu helfen.
Ich bin restlos erschüttert, weinen mußte man vor tiefer Freude... Für
meinen Mann habe ich mich so unendlich gefreut, daß er diese
geschichtlichen Tage in nächster Nähe des Führers miterleben durfte...
Der Führer hat Heinz mehrfach herzlich die Hand gedrückt und war mit
dem überraschend schnellen Einmarsch durch Österreich sehr
zufrieden. Im Radio wurde die Leistung der Panzertruppe auch
besonders belobt.«
Und dann machte sie sich bereit, an der Spitze der Frauen der
Garnison Würzburg die österreichischen Soldaten mit Blumen zu
empfangen, die zur Ausbildung nach deutschen Methoden eintrafen.
Fehler bei der Verläßlichkeit seiner Fahrzeuge (mit einer offiziellen
Ausfallquote von 30 Prozent bei den Panzern, die vermutlich noch höher
lag, dazu noch Versorgungsschwierigkeiten) waren ein Problem, das
Guderian mit gewohntem Elan nach Beendigung der Feiern anging. Er
arbeitete noch fieberhaft daran, die unter seinem Kommando im XVI.
Korps zusammengefaßten drei Panzerdivisionen zu einer einwandfreien
Truppe zu machen, als neue politische Wolken über der
Tschechoslowakei und den deutschen Minderheiten im Sudetenland
aufzogen. Die Herbstmanöver von 1937, bei denen er als Schiedsrichter
fungiert hatte, hatten bereits die logistischen Schwächen des Korps
aufgedeckt, die dann beim Marsch nach Österreich in unangenehmer
Weise bestätigt wurden. Weil der Krieg im Herbst 1938 jeden Augenblick
losbrechen konnte (bereits im Mai hatte Hitler Keitel angewiesen, eine
Invasion der Tschechoslowakei vorzubereiten), war keine Zeit zu
verlieren, aber es war erst eine Handvoll Panzer der Typen Pz III und Pz
IV in Dienst gestellt worden, und mit der Ausgabe von Funkgeräten, mit
denen alle Panzer ausgerüstet werden sollten, haperte es.
Wie gewöhnlich griff die Theorie der Panzeroperationen der
praktischen Anwendung weit voraus. Ein 1937 geschriebenes Papier
(gedacht als Widerlegung der in der Militärwissenschaftlichen
Rundschau, einem Organ des Generalstabes, veröffentlichten kritischen
Bemerkungen) hatte erstaunlich originelle Gründe zur Unterstützung des
Konzeptes einer unabhängigen Kampfführung schneller Panzergruppen
angeführt.
Guderian war es, der das Thema vertiefte und schrieb: »Solange
daher unsere Kritiker uns keinen neuen, besseren Weg zum
Angriffserfolg weisen können als den der Selbstauflösung, werden wir für
unsere Auffassung fechten, daß in den Panzern heutzutage die beste
Angriffswaffe für den Erdkampf zu erblicken ist.«
Seine Zuversicht begründete er mit dem strategischen Tempo: »Alles
kommt also darauf an, schneller in Bewegung zu kommen als bisher und
dann trotz des Abwehrfeuers in der Bewegung zu bleiben, damit dem
Verteidiger der Aufbau einer neuen Abwehrfront erschwert wird.«
Diese Auffassung unterschied sich gründlich von der gemeinhin
bisher vertretenen Strategie, die hohes Tempo als Mittel taktischen
Schutzes gegen feindliches Feuer ansah. Guderian pflichtete diesen
Überlegungen nicht bei, gab allerdings zu, daß »die feindliche Artillerie
die Bewegungen der Panzer nur in besonders ungünstig gelagerten
Fällen ernsthaft behindern wird«.
Wie gewöhnlich konnte er seinen Sarkasmus nicht verhehlen, als er
den Satz einflocht: »Man sagt: ,Der Motor ist keine neue Waffe, sondern
er befördert alte Waffen in neuer Form.' Daß man mit Motoren nicht
schießen kann, ist bekannt...!«
Diese Art Stichelei bei Beratungen oder in Aufsätzen machte ihn bei
seinen Gegnern in der Armeehierarchie, die nicht seinen Sinn für Humor
hatten, nicht beliebter.
Berichte von den Panzerschlachtfeldern der Welt waren Guderians
Sache 1937 nicht gerade dienlich. Italiens leichte Panzer hatten in
Abessinien 1935 gegen miserabel bewaffnete Stammeskrieger schlecht
ausgesehen; die Japaner hatte nur eine begrenzte Anzahl
minderwertiger Fahrzeuge im Fernen Osten erprobt; in Spanien, wo eine
Reihe der nicht sehr wirksamen Pz I - beraten von Major Ritter von
Thoma - als Teil der Legion Condor eingesetzt wurden, war das
Ergebnis ebenfalls alles andere als ermutigend. Deutsche und
italienische Panzer waren auf der faschistischen Seite und russische bei
den Republikanern eingesetzt worden, allerdings beides in geringem
Umfang. Es fehlte die Unterstützung durch andere Waffen, so daß keine
nennenswerten Erfolge verbucht wurden. Thoma, ein Bayer und
Junggeselle,
der
äußerst
launenhaft
in
Stimmung
und
Meinungsäußerung war, verärgerte Guderian mit seinen Berichten, die
andeuteten, die Panzer seien ein Fehlschlag und es bestünde überhaupt
keine Notwendigkeit, jeden mit einem Funkgerät auszurüsten. Diese
Berichte gingen in einem kritischen Augenblick ein, als Guderian gerade
über neue Mittel zum Ankauf neuer Geräte verhandelte, und störten
seine Bemühungen, die Panzertruppe auszubauen. Unerschüttert wies
Guderian auf die Unzulänglichkeit der Fahrzeuge und der Technik ihres
Einsatzes auf unpassendem Gelände hin. In Achtung - Panzer! erklärte
er: »Weder der Krieg in Abessinien noch der Bürgerkrieg in Spanien
kann nach unserer Meinung als eine Art ‚Generalprobe' in bezug auf die
Wirksamkeit der Panzerwaffe gewertet werden.«
Aber damit betrieb er lediglich ein Versteckspiel. Tatsache war, daß
die Operationen der Schwesterwaffe der Panzer, der Bombenflugzeuge,
in Spanien als Generalprobe betrachtet und zu einer Demonstration für
eine kriegsgewinnende Waffe wurden. Blutrünstige Berichte über
Zerstörungen aus der Luft füllten die Seiten der Weltpresse und
unterstützten die Befürworter des Luftkrieges, die diesen, gegen die
Zivilbevölkerung gerichtet, für die Hauptwaffe zur Herbeiführung einer
Entscheidung hielten. Die Panzer konnten das nicht von sich behaupten
und rangierten daher in der Achtungsskala und bei der Verteilung
finanzieller Mittel weiter unten.
Felsenfest an die Berechtigung seiner Forderung glaubend und in der
Befürchtung, seine Gegner könnten Deutschland der Früchte seiner
Arbeit berauben (unzweifelhaft sah er sich in der Rolle eines
militärischen Apostels), begann Guderian unsanft zu reagieren, als sich
der Druck auf ihn verstärkte. Zum Beispiel sah er 1938 rot während einer
Übung, der auch Hitler beiwohnte und bei der er ein schreckliches
Durcheinander zu sehen bekam; Kommandeur und Stab des
Panzerregiments 1 hatten unzulängliche Befehle erteilt. Bei der
Schlußbesprechung ließen Brauchitsch und General Blaskowitz die
Schuldigen ungeschoren; vielleicht genossen sie es, daß es in einer von
Guderians Einheiten zu einem Debakel gekommen war. Aber Guderian
nahm die Schuldigen beiseite und erklärte ihnen in eindeutigen Worten,
was er von ihnen hielt. Sein ältester Sohn, damals junger Offizier, war
dabei und bezeugt, daß es ein niederschmetternder Auftritt war - aber
einer, den seine gleichaltrigen Kameraden hinterher guthießen, weil sie
den Donnerschlag für überfällig hielten. Was jedoch ungewöhnlich war:
Guderian löste nach seiner Philippika zwei Offiziere ab, eine Maßnahme,
die er sonst selten ergriff. Er suchte gewöhnlich, das Beste aus dem
verfügbaren Material zu machen: aus Menschen, Gelände und
Ausrüstung.
Der Druck und der Streß, unter dem seine Vorgesetzten standen, fing
jetzt an, direkt auf ihn zurückzuprallen. Beck, eine tragische Figur, der
sich schwer tat, eine Überzeugung in die Tat umzusetzen, und zu den
ganz wenigen hohen Offizieren gehörte, die die Drohung, die Hitler
darstellte, erkannte, drang in Brauchitsch, sich der Behandlung von
Fritsch zu widersetzen, der im Februar 1938 fälschlich eines
skandalösen Verhaltens beschuldigt worden war. Brauchitsch lehnte das
Ansinnen ab. Vom Unsinn eines Angriffs auf die Tschechoslowakei
überzeugt, bemühte sich Beck als nächstes, Hitlers Absichten mit der
Begründung zu durchkreuzen, Deutschland sei für den Krieg nicht
vorbereitet. Aber Brauchitsch wollte auch diesmal nicht den gewählten
Vertreter des Volkes herausfordern und verriet Becks Hintergedanken an
Hitler. Von jetzt an konnte nichts mehr, was die Generäle taten,
ausgenommen regelrechte Rebellion, Hitler Einhalt gebieten oder ihre
Degradierung verhindern. Beck reichte seinen Abschied ein. Man ging
auf die Suche nach einem willfährigen Generalstabschef.
General Warlimont, der seine Eindrücke von Guderian zwischen 1933
und 1939 hauptsächlich mit den Worten »... ein passionierter
Panzermann, nicht mehr« beschreibt, scheint sich zu erinnern, daß
Guderian als möglicher Nachfolger für Beck ins Auge gefaßt wurde. Es
erscheint unwahrscheinlich, daß dies ein ernstgemeinter Vorschlag war,
obwohl sein bloßes Vorbringen an hoher Stelle feindselige Reaktionen
bei den beunruhigten Generälen hervorrufen mußte. Guderian fehlte das
erforderliche Dienstalter und das Prestige für einen solchen hohen
Posten, zum anderen war er der Vertreter einer militärischen
Minderheitsfraktion, der Hitlers Gunst genoß. Schließlich trat Franz
Halder Becks Nachfolge an. Er setzte die Widerstandspläne gegen Hitler
fort, wenn auch mit gedämpftem Eifer.
Der Dialog zwischen Hitler und Guderian war fast persönlich
geworden. Einladungen zum Abendessen und zum gemeinsamen
Opernbesuch waren mit Diskussionen über Panzerprobleme verbunden.
Die Gewohnheit, Guderian eine führende Rolle bei militärischen
Operationen zuzumessen, wurde fast zur Formsache. So fiel dem
XVI. Armeekorps die Aufgabe zu, das Sudetenland zu besetzen,
nachdem mit Hilfe des Münchner Abkommens ein Krieg verhindert
worden war. In einem Brief an Gretel vom 5. Oktober 1938 beschrieb er
das »grenzenlose Elend und die Unterdrückung«, denen die
Sudetendeutschen unter tschechischer Herrschaft ausgesetzt gewesen
waren. Sie hatten nach seinen Worten »jede Hoffnung verloren«. In
seinen Erinnerungen berichtete er, wie begeisterte Volksmengen den
Führer und seine Truppen begrüßten. Als Hitler bei der Abfahrt in seinen
Wagen stieg, »hat er mir sehr nett die Hand gegeben... Ein ganz großer
Mann!« schrieb Guderian.
»So ein Sieg ohne einen Schwertstreich wurde wohl noch nie in der
Geschichte errungen. Er war allerdings nur möglich mit dem neuen,
scharfen Schwert in der Hand und mit dem Entschluß zum Schlagen,
wenn es im Guten nicht ginge. Aber beides war bei diesem mutigen
Mann vorhanden...«
Er fuhr fort mit einer Schilderung der Besetzung: »...die erste
Festungslinie in unserer Hand, längst nicht so stark, wie wir gedacht
hatten, aber doch besser so genommen als anders« und beschrieb die
»lebhafte
Befriedigung
eines
jeden,
einschließlich
des
Reichsaußenministers von Ribbentrop, daß der Krieg vermieden werden
konnte.«
Über seine gelungene Zusammenarbeit mit Reichenau schrieb er, sie
seien »in guter Übereinstimmung« gewesen. »Sein Stab ist weniger
großzügig, leider.«
Es kann zu dieser Zeit nur wenige Menschen in Deutschland gegeben
haben, die sein Urteil über Hitler nicht teilten. Die Ungerechtigkeit von
Versailles war ohne Einsatz von Menschenleben ausgelöscht worden.
Die langfristigen Auswirkungen der neuen Politik waren zwar
verhängnisvoll, doch Guderian scheint ihnen in diesem Augenblick
weniger Beachtung geschenkt zu haben, so unkritisch war seine
Einstellung zum Führer.
Die Mittel wurden knapp, sobald das Wiederaufrüstungsprogramm
angelaufen war. Das Gespenst der Inflation ging um, als Österreich
eingegliedert wurde, als Hitler nach dem Sudetenland und der
Tschechoslowakei griff und als die finanziellen Manipulationen des
Wirtschaftsministers Dr. Schacht zusammenzubrechen drohten; die
Besetzung Österreichs und des Sudetenlandes trugen eher zu
Deutschlands Schuldenlast bei als sie zu mindern. Im Jahre 1937 hatte
Schacht für die zur Wiederbewaffnung zur Verfügung stehenden
Haushaltsmittel ein Zeitlimit und eine obere Grenze gesetzt; im Januar
1939 riet er, inzwischen Präsident der Reichsbank, dem
Wirtschaftsminister, das Reich für bankrott zu erklären, und verweigerte
die übliche monatliche Vorauszahlung. Auf Geheiß Görings, der für den
Vierjahresplan verantwortlich war, wurde Schacht wegen seiner
unmöglichen Einstellung sofort entlassen. Aber die öffentliche Meinung
der Welt begann, sich gegen Deutschland zu richten. Guderian, der in
diesem Zeitraum einmal Großbritannien besuchte, müßte es gewußt
haben.
Als im März 1939 der Einmarsch in die Tschechoslowakei erfolgte
und anschließend Polen unter Druck gesetzt wurde, konnte bei den
Generälen kein Zweifel mehr bestehen, in welche Richtung es ging. Der
Generalstab des Heeres vertrat - wie die Zivilbevölkerung - verschiedene
Ansichten, die sich in groben Zügen zu drei Standpunkten
zusammenfassen lassen. Da gab es Männer wie Guderian, die, mit den
üblichen Vorbehalten gegenüber Verallgemeinerungen und alle
Schattierungen der Meinungsvielfalt gelten lassend, das Hitler-Regime
als Mittel zur Wiederherstellung von Deutschlands Prestige und Autorität
ansahen, die stolz auf die Armee waren, die sie wiederaufbauen halfen
und deren Faszination den neuen Waffensystemen galt, die sie schufen Männer, die ohne Zweifel und völlig verständlich von dem neugierigen
Ehrgeiz beherrscht waren, festzustellen, ob ihre Ideen sich in die Praxis
umsetzen ließen. Diese Gruppe war vermutlich diejenige, die die Polen
am meisten fürchtete und den Kommunisten feindlich gegenüberstand.
Die Westmächte stellten für sie (wie für die anderen Gruppierungen
auch) ein Gegengewicht zu ihren äußerst lernbegierigen Bestrebungen
dar, weil sie zu stark waren, um sie anzugreifen.
Dann waren da die unzufriedenen Soldaten und Zivilisten, die von
Hitler aus ihren Ämtern entfernt oder zurechtgewiesen worden waren zum Beispiel Hammerstein-Equord, Schacht und Beck, der
hauptsächlich aus dem Grund für den Frieden eintrat, weil er
Deutschland für unvorbereitet für einen größeren Konflikt hielt. Mit
diesen Leuten stimmte Guderian auch überein, kannte er doch gut
genug die Unzulänglichkeiten bei der Panzertruppe und der übrigen
Armee.
Schließlich gab es noch eine dritte Gruppe, die überwiegende
Mehrheit derer, die redlich ihren Dienst versahen. Sie stimmten in ihrer
Meinung mit der zweiten Gruppe überein, aber wollten entweder nicht
abtreten oder wurden nicht entlassen und blieben im Dienst, ohne sich
über die Probleme Gedanken zu machen. Beck und seine
Gesinnungsgenossen begannen, eine aktive Widerstandsbewegung
gegen Hitler ins Leben zu rufen. Halder ließ sich später in Diskussionen
mit den Verschwörern ein und suchte Zeit zu gewinnen angesichts der
Pläne, Hitler im geeigneten Augenblick umzubringen, aber, als es hart
auf hart kam, zog er sich zurück, indem er an die Verpflichtung des am
3. August 1934 auf Hitler abgelegten Eides erinnerte oder an sein
Pflichtbewußtsein gegenüber der Wehrmacht in der Hoffnung, statt eines
Rücktritts durch den Verbleib auf seinem Posten noch etwas Positives
erreichen zu können. Halder seinerseits polemisierte gegen diejenigen
Hitlerschen Pläne, die er mißbilligte, gehorchte aber den Befehlen von
oben und fuhr mit den Kriegsvorbereitungen fort.
Ebenso tat der Oberbefehlshaber von Brauchitsch, dessen zweite
Ehefrau stark zu den Nationalsozialisten tendierte, wenig, um den Sturz
des Generalstabes in den Abgrund zu verhindern, außer, daß er
versuchte, jede Fäulnis, die er in der Wehrmachtshierarchie sah,
auszumerzen. Er hatte Guderians persönliche Triumphe in seinen
Beziehungen zu Hitler in Österreich und im Sudetenland beobachtet und
scheint sich, erst in Übereinstimmung mit Beck und später mit Halder,
entschlossen zu haben, Guderian unschädlich zu machen, wobei nicht
zu klären ist, ob er es aus Furcht vor der Bedrohung tat, die Guderian als
vermeintlicher Anhänger des Nationalsozialismus und Rivale beim
Kampf um die Macht darstellte oder aus Eifersucht. Auf jeden Fall wird
von diesem Augenblick an immer deutlicher, daß die Opposition gegen
Guderian nicht mehr so sehr seine Ziele und Vorstellungen bekämpfte
als nachdrücklich und direkt seine Person.
Es gab da noch einen anderen Faktor, den weder Soldaten noch
Zivilisten ignorieren konnten, wenn er auch zuweilen überschätzt wurde.
Es war die ungeheure Verehrung Hitlers durch einen Großteil der
Bevölkerung, die es ihm dankte, daß er Deutschland aus der Depression
herausgeführt, die Arbeitslosigkeit beseitigt und alle Anstrengungen
unternommen hatte, den Stolz der Nation wiederherzustellen. Goebbels
hob diese Leistungen immer wieder hervor. Es gab ebenso viele
deutsche Durchschnittsbürger, die ihr Land verehrten wie Angehörige
der oberen Schichten. Es zeugt für den wachen politischen Verstand, der
dem Generalstab selten zugetraut wird, daß seine andersdenkenden
Angehörigen an die Notwendigkeit der Unterstützung von seiten der
Bevölkerung bei einem Versuch, Hitler an die Kandare zu legen,
glaubten. Keiner von ihnen hatte den Anblick der aufständischen
Soldaten und Menschenmassen im Jahre 1918 vergessen. Und Hitler
war der erfahrenste Massenredner seiner Zeit, der seine Handlungen
gerissen mit dem Mäntelchen einer durch Popularität erworbenen
Legalität behängte.
Trotzdem können jene hohen deutschen Militärs, die aus eigener
Erfahrung die Freikorpsmethoden kannten und (zwangsläufig) wußten,
daß ein harter Kern der Nationalsozialisten aus alten Freikorpskämpfern
bestand, die nicht imstande waren, sich wieder an ein normales Leben
zu gewöhnen, keine Illusionen hinsichtlich der Absichten dieser Männer
gehegt haben. Sie müssen auch von der Verfolgung der Juden gewußt
haben. Reichenau hat zum Beispiel seine Zustimmung zu dieser Politik
geäußert. Guderian ging der Frage aus dem Weg; es gab keine offizielle
Bestätigung seiner Beteiligung an irgendwelchen rassistischen Greueln,
was kaum verwundert, da er, abgesehen von seinem Abscheu vor den
Kommunisten und dem Ärger über das Wiederemporkommen Polens,
ohne Vorurteile in Fragen der Rasse und Religion war. Nichts in seinen
Papieren läßt darauf schließen - im Gegenteil. Man muß es als Tatsache
nehmen, daß viele deutsche Offiziere blind waren, wenn sie nicht
spätestens 1938 den bevorstehenden mörderischen Krieg sahen, aber
ebenso klar ist es, daß sie nicht imstande waren, die »Endlösung« und
ihre schrecklichen Folgen vorauszusehen, weil das damals ein nicht
auszumalender böser Traum war.
Für Guderian gab es einen Punkt, über den Hitler und seine
Gefolgschaft nicht hinausgehen durften, ohne seine Achtung zu
verlieren. Die Behandlung von Fritsch war solch ein Fall. Guderians
Entrüstung über die Art und Weise, wie der ehemalige Oberbefehlshaber
völlig zu Unrecht mit Schimpf und Schande seines Postens enthoben
und, nachdem seine Unschuld erwiesen war, durch Brauchitsch nur
zaghaft entlastet wurde, war nicht nur für die Seiten seiner Erinnerungen
bestimmt. Die aufrichtige Freude, der er in aller Öffentlichkeit während
der Parade in Groß-Born im August 1938 Ausdruck verlieh, als Fritsch
militärische Ehren erwiesen wurden, ließ niemand in Zweifel daran, wem
sein Herz gehörte. Trotz des Treueeides auf Hitler hielt er sich starr an
den alten preußischen Moralkodex. Später, im März 1939, versagte er
Hitlers Raub der Tschechoslowakei seine Billigung, doch setzte wie
gewöhnlich, wenn kontroverse politische Fragen ihm zu eindringlich
wurden, ein ausgeprägter Sperrmechanismus bei ihm ein. Seine
Erinnerungen enthalten keinen Kommentar zu den Vorgängen in der
Tschechoslowakei, lediglich einen Absatz über seine militärischen
Pflichten und eine Beschreibung der Arbeit, die er mit der Einsammlung
wertvollen Kriegsmaterials aus tschechischen Arsenalen hatte.
Guderian, der sich eines Protestes enthielt, war dennoch später zu
ehrlich, um sich der Rechtfertigung des einem nichtdeutschen Volk
zugefügten Leids anzuschließen. Andererseits konnte er sehr
leichtgläubig sein.
Sein ältester Sohn berichtet darüber: »Wir waren skeptisch, weil
Deutschland den rechtmäßigen Weg verlassen hatte, alle Deutschen in
einem Staat zu vereinen« und erinnert sich, seinem Vater eine
entsprechende Frage gestellt zu haben, die dieser »... mit einem
Argument beantwortete, das glaube ich, von Hitler stammte und besagte,
es sei nötig, den ‚Flugzeugträger' mitten in Deutschland im Hinblick auf
die Haltung der Westmächte auszuschalten«. Nur zu bereitwillig glaubte
Guderian 1939 das, was Hitler so leichthin verkündete.
Gretel hatte indessen eine andere, mehr passive Einstellung auf dem
Höhepunkt der Krise vom September 1938 gewonnen. Etwas von ihrer
Euphorie war verpufft, als sie am 29. September ihrem Mann schrieb:
»Das schönste Geschenk, für das heute ein Hoffnungsstrahl durch die
Zusammenkunft in München besteht, wäre die Erhaltung des Friedens.
Sollte diese erfolglos bleiben, so müssen wir allen Mut und Glauben
zusammennehmen. Ich will mir Mühe geben, eine tapfere Soldatenfrau
und Mutter zu sein.«
Aber obwohl Guderian sich sehr auf sie verließ, wenn er
Schwierigkeiten in privaten Dingen hatte, gibt es wenig Grund zu der
Annahme, er habe auch ihren politischen Ansichten zugestimmt. Zumal
er in jener Zeit wieder einmal zur Figur eines politischen Schachzuges
wurde, zu einem von mehreren ahnungslosen Werkzeugen Hitlers zur
Verunglimpfung der Militärhierarchie. Die Rolle eines Mannes spielend,
der es allen recht machen will, schien Hitler Keile zwischen die einzelnen
Gruppen im Generalstab zu treiben - ob mit Absicht oder nicht, läßt sich
nicht feststellen. Es könnte sein, daß Hitler erkannte, daß Guderian und
die Panzertruppe eine Quelle der Spaltung innerhalb der Armee
darstellten und daß er sie deshalb benutzte, um eine bestehende Kluft
zu vertiefen. Im Oktober 1938 hatte er interveniert, anscheinend, um die
Panzertruppe zu stärken, und in Zusammenarbeit mit Brauchitsch
(vermutlich auf dessen Vorschlag hin) einen Chef der Schnellen Truppen
zu etablieren, der für alle motorisierten Truppen - Panzer, Infanterie und
Kavallerie - zuständig war. Guderian lehnte, ohne zu wissen, daß Hitler
für die Neuordnung eingetreten war, den Posten ab, weil er nicht mit
ausreichender Autorität verbunden war, um sich über den Widerstand
der Traditionalisten im Oberkommando hinwegzusetzen. Diesen Grund
führte er später ausführlich Hitler gegenüber an (nachdem Bodewin
Keitel vermittelt hatte), der ihn beschwichtigte und mit dem Versprechen
umstimmte, er solle persönlich zum Rapport kommen, wenn er auf
Schwierigkeiten stoße. Guderians Beförderung zum General der
Panzertruppe war ein kleiner Trost, aber: »Zu dem unmittelbaren Vortrag
ist es natürlich nie gekommen«, schrieb er, »trotz der sofort
einsetzenden Schwierigkeiten.«
Das ist der Kernsatz von Guderians Version in seinen Erinnerungen.
Aber sein alter Freund Hermann Balck, damals Stabsoffizier bei der In 6,
der mit Oberst von Schell an der Motorisierung arbeitete, sagte heute,
Schell sei es gewesen, der den Posten eines Chefs der Schnellen
Truppen erfunden habe als Antwort auf eine von Brauchitsch und Beck
angezettelte Verschwörung (von Halder nach dessen Dienstantritt
fortgesetzt), die darauf abzielte, Guderian eine einflußreiche Rolle
vorzuenthalten.
Schell,
der
später
Ministerialdirektor
im
Rüstungsministerium wurde, vereitelte Balcks Versuche, die Panzer- und
Motorisierungspolitik zu koordinieren. Balck versuchte deshalb eine
Besprechung zwischen Guderian und Schell herbeizuführen, bei der die
beiden Männer ihre Differenzen ausräumen konnten. »Lachend stimmte
Guderian zu«, erinnerte sich Balck, doch Schell habe den Vorschlag
rundweg abgelehnt - eine Weigerung, die kommen mußte, wenn es eine
Verschwörung gab und er das Werkzeug des Oberbefehlshabers war.
Es ist unmöglich, diese Geschichte auf ihre Richtigkeit zu prüfen.
Guderian scheint von diesem Komplott nichts geahnt zu haben, obwohl
er zweifellos im Lauf der Zeit spürte, daß hohe Offiziere in gefährlicher
Weise gegen ihn arbeiteten. Es ist jedoch interessant, daß er Schell
nichts nachtrug und ihm sogar später in einer mißlichen Lage half.
Jedoch war dies bereits der zweite Versuch, Guderian auf ein
Nebengleis abzuschieben, der rasch auf die Annahme folgte, daß er
möglicherweise Chef des Generalstabes des Heeres werden könnte.
Zu Recht nahm Guderian an, er werde als Generalleutnant und
Kommandierender General des XVI. Armeekorps mehr Einfluß haben.
Es kam nicht unerwartet für ihn, daß alle Versuche, die maßgeblichen
Kreise der Kavallerie mit der Panzertruppe zu versöhnen, anfänglich auf
unnachgiebige Ablehnung stießen. Unvermeidlich wurde er ein
politischer Katalysator anstatt ein militärisches Koagulans. Zur gleichen
Zeit begann er selbst bei seinen Gegnern Anerkennung zu finden als
jemand, auf den der Führer hört, jemand, der in einer Notlage als
Mittelsmann eine sich verbreiternde Kluft in Fragen der Verständigung
und Überzeugung zwischen ihnen und dem Staatschef überspannen
helfen konnte. Zunächst versuchten sie, ihn unter ihrer Fuchtel zu halten,
und wiesen ihm alle Arten von sterilen Aufgaben zu, solange sie ihn nur
vom Zentrum des politischen Geschehens fernhielten. Sie ließen ihm
freie Hand, seine Energie und die seines kleinen und ihm ergebenen
Stabes mit dem vergeblichen Versuch zu verschwenden, die sich
streitenden
Waffengattungen
Panzertruppe
und
Kavallerie
zusammenzuschmieden. Ungeeignet für einen bereitwilligen Kompromiß
beim Angehen dieses Problems, versuchte er eine Integration
herbeizuführen, indem er der Kavallerie neue Ziele im Rahmen einer
modernen Auffassung von dieser Truppe setzte, die sie befähigen sollte,
bei der Art Krieg, wie er ihn sich vorstellte, eine wirksame Rolle zu
übernehmen. Aber die Vorschriften, die er überarbeitet und dem
Generalstab zur Einführung empfohlen hatte, waren nicht angenommen
worden, und die Kavallerie wich mit Erfolg jedem Vorschlag aus, ihr
Gesicht zu verändern, weil sie ihre Pferde nicht verlieren wollte. Sie tat
das mit dem sicheren Wissen, daß Oberbefehlshaber und Chef des
Generalstabes hinter ihr standen.
Zu seinem weiteren Verdruß wurde ihm verkündet, im Kriegsfall
werde er nach der Mobilmachung Kommandierender General eines
Reserveinfanteriekorps. Das hätte ihn zu einer Mitläuferrolle verurteilt
und ihn völlig von den Panzertruppen abgeschnitten, für die er Experte
war. Das Ganze war entweder eine vorausberechnete Beleidigung, die
der Verschwörung gegen ihn nur recht sein konnte, oder es war
grenzenlose Dummheit. Guderian schrieb, es habe »... einer
Beschwerde« bedurft, »um die Verwendung im Rahmen der
Panzertruppe zu erreichen«. Eine solche Beschwerde war sicher
unumgänglich. Mag sein, daß sich bei dieser Gelegenheit die
Verbindung zu Keitel auszahlte. Endgültige Gewißheit darüber, wie seine
Geschicke wieder in die alten Bahnen gelenkt wurden, gibt es nicht,
denn er selbst schweigt über die ganze Angelegenheit. Es nimmt jedoch
kaum wunder, daß angesichts dieses Nullpunktes seiner Karriere seine
damaligen Aufzeichnungen pessimistische Tendenzen erkennen lassen,
die höchst uncharakteristisch für ihn waren. Wahrscheinlich spürte er,
daß die Kräfte der Tradition zu stark waren.
Der Sommer 1939 verging im Wirbel intensiver Vorbereitung auf
einen Krieg, der nur durch ein Wunder zugunsten Deutschlands
entschieden werden konnte. Paraden in Berlin, bei denen Guderians
Panzer in einer Phalanx unter dem Jubel der Menge und respektvoll von
ausländischen
Beobachtern
kommentiert,
die
Prachtstraßen
entlangrollten, während Görings Luftwaffe darüber hinwegbrauste,
stellten nur eine Fassade dar, hinter der wenig Substanz steckte. Aber
sie riefen einen Eindruck hervor, den Hitler als Teil eines großen Bluffs
brauchte, selbst wenn Guderian die Paraden kurz mit der Bemerkung
»ermüdend, statt zu überzeugen« abtat, ohne viel von den politischen
Motiven wahrzunehmen. Wie so viele Angehörige der neuen Generation
der motorisierten Truppen hatte er nur wenig Zeit für Zeremonien,
obwohl er weitsichtig genug war, um die Wirkung einer attraktiven
Uniform auf Soldaten zu erkennen. Seine Panzersoldaten steckten in
eindrucksvollen schwarzen Uniformen und trugen schwarze
Baskenmützen, ähnlich denen, die schon beim British Royal Tank Corps
eingeführt worden waren.
Als die Krise heranrückte, kochte Guderian vor Wut über jedes
Anzeichen von verschwendeter Zeit und Mühe. Der Ehrgeiz beflügelte
ihn, während seine Gegner ihn kühl selbst von seinen nächstliegenden
Zielen abhielten. Selbst wenn er praktisch seine ganze Energie für sein
Streben nach den Höhen militärischer Leistung aufwendete, besaß er
das bemerkenswerte Talent, sich entspannen zu können. Auch wenn er
95 Prozent seiner Zeit militärischen Dingen widmete, so konnte er doch
die Arbeit beiseiteschieben, wenn sich die Gelegenheit bot. Er
vermochte nicht wie Schlieffen den Anblick eines schönen Tals mit der
Bemerkung »...ohne Bedeutung als militärisches Hindernis« abzutun,
und auch nicht, wie Rommel, eine Opernaufführung zu besuchen und
während der Vorstellung Überlegungen anzustellen, wie er in irgendeiner
bevorstehenden Offensive ein zusätzliches Bataillon aufmarschieren
lassen könne. Der Schöpfer der Panzertruppe hatte viel mit seinem
britischen Gegenspieler Percy Hobart gemeinsam, der gleichfalls ein
Mann von großem Schwung und frustriertem Eifer war und der auch auf
ein Abstellgleis geschoben wurde. Beide waren selbst unter
fürchterlichem Streß imstande, gefühlvolle und lebendige Briefe an ihre
Frauen zu schreiben und die Probleme ihrer Arbeit hinter sich zu lassen,
wenn sie die häusliche Schwelle überschritten.
Aber im August 1939 wurde der Weg nach Hause immer weiter. Die
schließlich zur Gärung kommenden Ereignisse sollten sie bald alle in
ihren Bann ziehen.
6
RECHTFERTIGUNG IN POLEN
Während eines Sommers, in dem die Spannungen mit Polen durch
deutsche Stellen stimuliert wurden, waren Guderian und sein Stab mit
der Ausarbeitung von Plänen für große Manöver beschäftigt. Wie noch
nie zuvor sollten die motorisierten Divisionen getestet werden im Verlauf
von Übungen, die die Vorstufe einer Mobilmachung voraussetzten. Die
Ausbildung der Panzerbesatzungen war jedoch in jeder Einheit noch weit
vom Abschluß entfernt, und von den über 3.000 Panzern, die man für
Kriegsspiele zur Verfügung hatte, waren nur 98 vom Typ Pz III und 211
vom Typ Pz IV, die Mehrzahl also leichte Pz I- und Pz II-Modelle. Die
modernsten Funksysteme waren allerdings rechtzeitig installiert worden,
und auch für Probleme des Nachschubs hatte man Verbesserungen
ersonnen. Dann kam eine Wende, die kaum unerwartet eingetreten sein
kann. Am 22. August erhielt Guderian den Befehl, das Kommando des
neugebildeten XIX. Armeekorps (mit Nehring als Chef des Stabes) in
Groß-Born
zu
übernehmen
und
unter
dem
Decknamen
»Befestigungsstab Pommern« Befestigungsanlagen entlang der
deutsch-polnischen Grenze zum Schutz gegen polnische Angriffe zu
bauen. Am nächsten Tag verkündete Hitler die Unterzeichnung eines
Nichtangriffspaktes mit der Sowjetunion und erteilte der Armee den
Befehl, Polen am 26. August anzugreifen. Die Vorbereitungen waren zu
diesem Termin noch nicht abgeschlossen, und die Mobilmachung befand
sich erst im Vorbereitungsstadium, aber die motorisierten Verbände
waren einsatzbereit. Einige waren sogar seit Juli voll mobilisiert.
Die Kraft der Polen zur Verteidigung ihres Landes erwuchs
hauptsächlich aus der grimmigen Entschlossenheit, ihre neugewonnene
Unabhängigkeit zu bewahren. Moderne Waffen besaß das Land nicht
viele: lediglich 225 Panzer, von denen eine Reihe schon veraltet war,
und nur 360 Flugzeuge, die es 1.250 deutschen Kampfwagen
entgegensetzen konnte. In der Kriegstechnik vertraute Polen auf das
Modell einer linearen Verteidigung und eines Stellungskrieges mit
Armeen zu Pferde und zu Fuß nach dem Modell von 1920, eine Taktik,
auf die auch noch immer die Methoden seiner Verbündeten im Westen,
Frankreich und Großbritannien, aufbauten. Von diesen Staaten konnte
Polen allerdings keine schnelle Hilfe erwarten, da sie Wochen brauchten,
um ihre aus einer vergangenen Epoche stammenden Massenheere
mobilzumachen. Auch Polen selbst konnte in der kurzen Zeit, die ihm die
Deutschen ließen, nicht die eigene volle Truppenstärke von 45
Divisionen und 12 Brigaden aufbieten. Binnen kurzem sollte einer
erstaunten Weltöffentlichkeit klargemacht werden, daß aus besonderen
Gründen Polen niemals eine Chance hatte und sechs Panzerdivisionen
und vier Leichte Divisionen mit massiver Unterstützung aus der Luft das
erreichen konnten, was die übrigen 45 deutschen Kavallerie- und
Infanterieeinheiten vielleicht in Wochen nicht fertiggebracht hätten.
Professor Michael Howard hat dazu ausgeführt: »Die Deutschen
waren in den Jahren 1939/40 fast einzigartig wegen der Tatsache, daß
sie mit einem Minimum an praktischer Erfahrung den vollen Umfang der
Verwendungsmöglichkeiten, die die neueste technische Entwicklung der
Militärwissenschaft zu bieten hatte, richtig erkannten und sie in ihre
Ausrüstung und in ihre Doktrin einbezogen. Ich finde auf Anhieb kein
vergleichbares Beispiel. Normalerweise beginnen alle Seiten unter
gleichen Vorzeichen, und alle beginnen falsch.« Hätte Howard den
Begriff »die Deutschen« durch »Guderian und seine Gefolgsleute«
ersetzt, hätte er den Nagel auf den Kopf getroffen.
Eine Ironie des Schicksals, aber zugleich auch bezeichnend war es,
daß Guderian keine Beteiligung an dem ersten großen Panzervorstoß
zugestanden wurde, der, von Generaloberst Gerd von Rundstedts
Heeresgruppe Süd (mit von Manstein als Chef des Stabes) geführt, mit
zwei Panzer- und drei Leichten Divisionen von Schlesien auf Warschau
erfolgen sollte. In einem sogenannten klassischen Panzergelände war
Guderians altes XVI. Korps unter dem General der Kavallerie Erich
Hoepner dazu ausersehen, den Angriff vorzutragen und sich vom
Augenblick des Losschlagens am 1. September an - die Änderung des
ursprünglichen Datums, 26. August, war durch diplomatische Umstände
notwendig geworden - rücksichtslos durchzukämpfen. Guderians XIX.
Korps sollte mit einer einzigen Panzerdivision - der 3. - sowie der 2. und
der 20. Motorisierten Infanteriedivision (die nicht über Panzer verfügten)
als Angriffsspitze der Heeresgruppe Nord (Generaloberst Fedor von
Bock) und der 4. Armee (General der Artillerie Günther von Kluge) gegen
einen weitaus erbitterteren feindlichen Widerstand in weniger lukrativer
Mission in den stark verteidigten Polnischen Korridor hineinstoßen, wo
Befestigungen den hemmenden Effekt zweier Flußhindernisse - der
Brahe und der Weichsel - gut ausnutzten. So gab die Größe einer
unangenehmen Aufgabe Guderian von Beginn an Gelegenheit, mit
einem Minimum an zeitlicher Vorbereitung die Vielseitigkeit seiner
Schöpfung - der Panzerwaffe - zu demonstrieren.
Am 25. August - dem Vorabend der Kämpfe, wie er irrtümlich glaubte
- sandte er einen aufmunternden Brief an Gretel, in dem es hieß: »Wir
werden nun demnächst die Ohren steifhalten müssen und einige
Anstrengungen auf uns zu nehmen haben. Aber ich hoffe sehr, daß es
gutgehen wird und auch schnell. Was die Westmächte machen werden,
ist noch nicht erkennbar. Überraschungen von dieser Seite sind nicht
ausgeschlossen; aber nunmehr kann man auch das mit Fassung
ertragen. Die Gesamtlage hat sich erheblich gebessert, und wir können
voller Vertrauen ans Werk gehen...«
Der letzte Satz bedeutete zustimmende Anspielung auf den
Nichtangriffspakt mit Moskau, den er als Wiederaufbau der Brücke zu
Rußland guthieß. Er wußte genau, wie sehr sich auch ihr Mutterherz um
ihre beiden Söhne sorgen würde, die beide bei der Armee standen und
bald zusammen mit der Panzertruppe ihre Feuertaufe erhalten sollten.
»Sei, wie schon so oft, eine tapfere Soldatenfrau und gib den anderen
Leuten ein Beispiel!« schrieb Guderian weiter. »Wir haben nun einmal
das Los gezogen, in einer kriegerischen Zeit zu leben und müssen uns
damit abfinden.«
Nirgendwo deutet Guderian Mitleid mit den Polen an. Das wäre auch
überraschend gewesen. Polen stellte für viele Preußen eine Mißgeburt
dar, eine Nation, die auf Kosten des preußischen Stammlandes
entstanden war. Seit 1918 hatte der neue Staat eine ständige Bedrohung
der deutschen Ostgrenze bedeutet, und der Grenzschutz Ost war
ebenso stark damit beschäftigt gewesen, Übergriffe der Polen zu
verhindern wie solche der Bolschewiken. Und Guderian war jetzt
besonders froh, daran mitwirken zu können, den alten Familienbesitz
zurückzuerobern. Sein Brief an Gretel enthält den Hinweis, daß »... die
alten Familiengüter und Wohnsitze Groß-Klonia, Kulm und Niemcik jetzt
für mich eine besondere Rolle spielen... Ist es nicht eigenartig, daß
gerade ich diese Rolle übertragen bekomme?«
Dabei kann er wohl kaum Genaueres über die Lagebesprechung der
Oberbefehlshaber bei Hitler am 22. August gewußt haben, wenn er auch
zweifellos erfahren hatte, daß Brauchitsch dem Führer einen »kurzen
Krieg« in Aussicht gestellt hatte. So wahrscheinlich es ist, daß er durch
den üblichen Nachrichtenaustausch in hohen Militärkreisen davon
unterrichtet war, daß die Engländer und Franzosen unnachgiebig bleiben
könnten, so wenig ist anzunehmen, daß er davon gehört hatte, daß Hitler
am 22. August noch ausgeführt hatte: »Ich habe meine ,TotenkopfEinheiten' nach Osten beordert mit dem Befehl, ohne Gnade und
Barmherzigkeit alle Männer, Frauen und Kinder polnischer Rasse oder
Sprache zu töten.«
Selbst wenn er es gewußt hätte - in seiner Position hätte er nicht viel
dagegen tun können, denn der Trend der Entartung der politischen und
militärischen Kräfte Deutschlands war unter den Nazis schon soweit
fortgeschritten, daß es keine Umkehr gab. Alles, was die Wehrmacht
jetzt tun konnte, war abgesehen von einem Akt offener Rebellion, für den
sie weder vorbereitet noch organisiert war, die schlimmsten Auswüchse
des Übels zu mildern, das von dem Ungeheuer herrührte, das sie
hereingelassen und vor kurzem noch in ihrer Mitte willkommen geheißen
hatte. Diejenigen, die nie eine derartige Situation erlebt haben, wie sie in
Deutschland 1939 herrschte, dürfen behaupten, die deutschen Generäle
hätten sich anders verhalten müssen; die Kritiker sollten aber auch die
Dinge aus der Sicht der Generäle sehen und sich fragen, wie viele
alliierte Generäle hörbar protestierten, als sie mit Maßnahmen, die sie
ablehnten - zum Beispiel dem Bombenkrieg gegen die Zivilbevölkerung konfrontiert wurden?
Wie vorauszusehen, beschloß Guderian, den Hauptangriff seines XIX.
Armeekorps durch die 3. Panzerdivision auf der rechten Flanke führen
zu lassen, wo ein tiefes Eindringen ins feindliche Hinterland von dem
Schutz profitieren konnte, den die zwei parallel zum Aufmarschgebiet der
Division verlaufenden Flüsse bildeten. Auf diese Weise würde er auch
die Genugtuung haben, rasch das Familiengut Groß-Klonia besetzen zu
können. Die beiden motorisierten Divisionen wurden angewiesen, in
weniger verheißungsvolles Territorium vorzurücken; man hat beinahe
den Eindruck, daß Guderian ihrer Rolle wenig Bedeutung beimaß.
Er begleitete die vordersten Panzer der 3. Panzerdivision in einem
Befehlspanzer neuester Bauart, der mit Funk ausgestattet war, so daß er
Verbindung mit seinem rückwärtigen Hauptquartier und den anderen
Verbänden halten konnte, wenn er sie benötigte. Der Bericht vom ersten
Kriegstag, den er in den Erinnerungen gibt, spiegelt den ganzen Zorn der
Vorurteile wider, die sich bei ihm nach den Enttäuschungen der
vergangenen zehn Jahre gebildet hatten: seine Wut auf die Artillerie, die
entgegen seinem Befehl in den Frühnebel hinein feuerte, sein Fahrzeug
eingabelte und den erschreckten Fahrer des Halbkettenfahrzeugs in den
Graben fahren ließ; seine Verärgerung, als er an der Brahe eintraf und
alles stehengeblieben war, so daß das Angriffstempo völlig verlorenging,
weil kein höherer Offizier in Sicht war, der das Vorgehen hätte neu
ankurbeln können.
Unweit des alten Familienbesitzes geriet er erneut in Rage, als er
feststellte, daß der Kommandeur des Panzerregiments 6 Halt geboten
hatte, weil er den Fluß zu stark verteidigt glaubte, und der
Divisionskommandeur Generalleutnant Geyr von Schweppenburg
nirgendwo zu finden war. Geyr war nach seiner eigenen Darstellung für
eine Besprechung zur Heeresgruppe zurückgerufen worden - ein kaum
glaublicher Zustand, wenn man bedenkt, daß seine Division gerade
frisch in den Kampf gegangen war und die persönliche Anwesenheit
ihres Kommandeurs brauchte. Es bedurfte des Beispiels eines jungen
Panzerleutnants, der eine unzerstörte Brücke gefunden hatte, und
Guderians eigener Initiative in Abstimmung mit dem Kommandeur der 3.
Schützenbrigade, um die Dinge wieder ins Rollen zu bringen. Bald hatte
die Infanterie, unterstützt von Panzern, fast ohne Verluste den Fluß
überquert.
Auf der Verlustliste stand hauptsächlich Geyrs verletzter Stolz; sein
gereizter Protest war lautstark zu hören, damals wie in späteren Jahren,
als er sich über Guderians Eingreifen beklagte. Natürlich war er
enttäuscht und eifersüchtig auf Guderian, der ihn beim Wettlauf um
Beförderung überholt hatte. Trotzdem hatte er kaum Grund zur
Beschwerde über seine Behandlung am 1. September, wenn er im
Augenblick der Entscheidung abwesend war und es versäumt hatte, die
Befehle seines Kommandierenden Generals auszuführen.
Furcht vor der polnischen Kavallerie bei seinem Stab und einer Reihe
von Infanterieoffizieren stellte Guderian fest, als er das Kampfgebiet
abfuhr und sich bemühte, den Soldaten, die größtenteils keine
Kriegserfahrung hatten und zum erstenmal im Feuer lagen, die Furcht zu
nehmen. Sein Entsetzen über einen Kommandeur, der es für notwendig
gehalten hatte, seine Einheit beim Erhalt der Nachricht von der Präsenz
feindlicher Kavallerie zurückzuziehen, liest sich sehr unterhaltsam: »Ich
war zunächst sprachlos, faßte mich dann aber und fragte den
Divisionskommandeur, ob er schon je gehört hätte, daß pommersche
Grenadiere vor feindlicher Kavallerie ausgerissen seien.« Er erhielt die
Versicherung, daß die Stellungen gehalten würden. Bald darauf war es
seiner persönlichen Führungsrolle bei der Vorhut zu verdanken, daß die
motorisierte Infanteriedivision vor Tuchel zum Angriff überging. Diese
erste 24stündige Kampferfahrung war immens wichtig für das künftige
Selbstvertrauen der Panzertruppen. Guderian, nimmermüde im Einsatz,
um das Einspielen einer Kommandotechnik an der Front zu
beaufsichtigen und sich gleichzeitig auch den Ruf von Furchtlosigkeit
und unübersehbarer Autorität dort zu erwerben, wo die Kämpfe am
heftigsten waren, machte den Erfolg zur Gewißheit. Selbst wenn ein paar
ältere Offiziere murrten und verstimmt waren, so war doch die
überwiegende Mehrheit seiner Offiziere und Mannschaften des Lobes
voll. Alle waren beeindruckt. Tatsächlich entdeckt man von diesem 1.
September 1939 an jenen Ausdruck rückhaltloser Bewunderung auf den
Gesichtern der Soldaten, die im Gespräch mit Guderian fotografiert
wurden.
Der Widerstand, den die Polen leisteten, war zusammenhanglos, aber
im allgemeinen heftig. Die Attacke der polnischen Kavalleriebrigade
Pomorska auf die Panzer der 3. Panzerdivision war nur einer von vielen
tapferen, aber völlig nutzlosen Versuchen, die Katastrophe abzuwenden.
Der polnische Aufmarsch war durch deutsche Luftangriffe auf die
Nachrichtenzentren zusammengebrochen. Deutsche Panzer nutzten
dieses Durcheinander, rollten fast unbehelligt vorwärts, feuerten auf die
feindlichen Kolonnen, die sie auf den Landstraßen antrafen,
unterstützten Infanterie und Pioniere beim Angriff auf Befestigungen und
fuhren querfeldein weitausgreifende Umgehungsangriffe, wenn die
vorgeschriebene Angriffsrichtung blockiert war. Sie waren ständig in
Bewegung und durch und durch eigenständig innerhalb einer mit allen
Waffen ausgerüsteten Panzerdivision.
Nur selten wurden sie wirksam durch eigene Bombenflugzeuge
unterstützt, weil die Luftwaffe hauptsächlich Angriffe gegen Ziele tief im
polnischen Hinterland flog und zum zweiten die Absprache zwischen
Boden- und Luftstreitkräften noch in den Kinderschuhen steckte. Das
kam nicht überraschend, denn die Luftwaffe war nur lau im Bemühen,
das Heer unmittelbar zu unterstützen. In der Luftwaffendienstvorschrift
Nr. 16 war festgelegt: »Aufgabe der Luftwaffe ist es, diesen Zweck
(gemeint ist die Vernichtung gegnerischer Streitkräfte im Rahmen des
Prozesses, den Widerstand des Feindes zu brechen - K. M.) dadurch zu
erfüllen, daß sie den Luftkrieg als Teil des Gesamtplans der
Kriegführung führt.« Und Generalmajor Wolfram von Richthofen, der im
spanischen Bürgerkrieg mit enger Luftunterstützung für Bodentruppen
experimentiert hatte und der sich bald einen Ruf als Kommandeur einer
Luftwaffe erwerben sollte, die die wirkungsvollsten und zerstörerischsten
Bomberoperationen flog in enger Unterstützung von Guderians
Panzerdivisionen, lehnte Sturzkampfbomber ab.
Schwierigkeiten, wie sie die 3. Panzerdivision hatte, lagen mehr in
mangelhafter Ausrüstung und Organisation als in feindlichen
Gegenschlägen begründet. Die kleinen Pz I und auch die Pz II besaßen
bei weitem zu dünne Stahlplatten, um auch nur dem Feuer der leichten
polnischen
Feldartillerie
und
dem
Beschuß
durch
Panzerabwehrgeschütze standhalten zu können. Es war die Handvoll
Panzer der Typen Pz III und Pz IV, in der Mehrzahl mit Männern aus den
Panzerlehreinheiten, die hier Erfahrungen sammeln sollten, bemannt, die
wahre Wunder vollbrachte. Auch störende Nachschubprobleme traten
auf. Die polnischen Gegenangriffe vom 2. September, die die 3.
Panzerdivision am Ostufer der Brahe in zwei Teile zerschnitten, hätten
viel schneller abgeblockt werden können, wenn die deutschen Panzer
nicht infolge Treibstoffmangels steckengeblieben wären. Die
Nachschubkolonnen hatten nämlich keine eindeutigen Befehle erhalten,
rechtzeitig nach dem ersten Kampftag vorzurücken, um die Panzertanks
aufzufüllen. Jeder Fehler und jeder Ausfall wurde notiert und, sofern die
Möglichkeit bestand, vor Nehring und seinem Stab beim
Korpshauptquartier auf der Stelle oder von den Stäben der Divisionen
und kleineren Verbände am 5. September korrigiert, als nach dem
Zusammenbruch des polnischen Widerstandes im Korridor eine
Kampfpause eintrat. Träger des Sieges war Guderians Korps, das die
wichtigsten polnischen Formationen abgeschnitten und es ihnen
unmöglich gemacht hatte, den Kordon zu durchbrechen. Panzertruppen
hatten also alles vollbracht, was sie Guderian zufolge zu leisten
vermochten: sie waren in einem Direktangriff durch die feindlichen Linien
gebrochen, hatten die Verfolgung des Gegners aufgenommen und
fortgesetzt und wichtiges Gelände gegen den Druck des Feindes
behauptet - und sie hatten diese Aufgaben in dem schnellen Tempo
gelöst, das, wie er immer wieder unterstrich, entscheidend war.
In einem Brief an Gretel vom 4. September schilderte er den
Kampfverlauf des ersten Tages, freute sich über seinen Erfolg, beklagte
die Gefallenen und fand auch lobende Worte für den Gegner.
»Ernste Verluste entstanden bei Groß-Klonia, wo eine
Panzerkompanie aus Neuruppin bei plötzlichem Aufreißen des
Morgennebels einen Offizier, einen Junker und acht Mann verlor. (Trotz
der Bombardierung kämpfte die polnische Artillerie oft bis zum bitteren
Ende - K. M.) An der entscheidenden Stelle habe ich mich, um eine
leichte Flaute zu überwinden, persönlich mit Erfolg bemüht. In der Nacht
erreichte die 3. Panzerdivision als erste ihr Angriffsziel... Die anderen
vermochten die zähe kämpfenden Polen nicht so rasch zum Weichen zu
bringen... Zähe und stellenweise verlustreiche Kämpfe im Waldgelände...
Unter Einsatz einer weiteren Infanteriedivision gelang nach mancherlei
Krisen und schweren Gefechten eine völlige Einkreisung des vor mir
stehenden Gegners in den Wäldern nördlich von Schwetz, westlich von
Graudenz. Am 4. September wird der Ring verengert. Mehrere tausend
Gefangene, leichte und schwere Batterien und viel Material sind
erbeutet... Lebhafter Kleinkrieg in den großen Wäldern wird noch eine
Weile dauern, da sehr viele Versprengte sich herumtreiben. Die Truppe
hat sich glänzend geschlagen und ist bester Stimmung.«
Es folgten dann die Namen der toten Offiziere und ein Hinweis auf die
Freude, die er empfand, als er den jüngsten Sohn Kurt an einer Stelle
wiedertraf, »... von wo man die Türme von Kulm sieht.« Kulm war ja
Guderians Geburtsort.
Gretel schloß sich der Begeisterung ihres Mannes an und schrieb am
5. September: »Ich weiß, daß meine Männer die besten Soldaten sind...
Gott erhalte Euch alle heil und gesund. Möchtet Ihr siegreich
heimkehren, daß Deutschland lebe und endlich Ruhe findet... Ich brenne
darauf zu wissen, wo und wie Deine Truppen siegten... Mit meinem
Herzen erlebte ich Dein eisernes Arbeiten und Streben für Deine Waffe;
Gott gebe Dir jetzt all den verdienten reinen Erfolg!«
Ein bedeutsames Ereignis für Guderian war es, am 5. September mit
Hitler, Himmler und ihrer Begleitung durch das Kampfgebiet zu fahren,
wobei die illustre Gesellschaft von einem Offizier geführt wurde, der einst
die Goslarer Jäger befehligt hatte: Erwin Rommel, jetzt in seiner
Eigenschaft als Kommandant von Hitlers Hauptquartier im Feld. Zum
erstenmal bekam der Führer einen teilweisen Einblick in die
Erfordernisse moderner Kriegführung. Einige Illusionen wurden ihm
geraubt, aber der erzieherische Effekt wirkte nur oberflächlich, wie sich
später zeigen sollte. Und doch liegt tiefere Bedeutung in seiner Frage an
Guderian beim Anblick der vernichteten polnischen Artillerie: »Das waren
wohl unsere Stukas?« und in dessen nachdrücklicher und stolzer
Antwort: »Nein, unsere Panzer!«
In jenem Augenblick dämmerte es Hitler schwach, zumal er auch
noch von Guderian erfuhr, daß er nur 150 Gefallene in seinem gesamten
Armeekorps zu beklagen hatte, daß in Wirklichkeit die dominierende
Waffe zu Lande die Panzertruppe sein könnte. Bisher war er von
Görings Behauptung eingelullt gewesen, die Luftwaffe sei allmächtig.
Nun wurde ihm vor Augen geführt, daß die Panzer eine allgegenwärtige,
Leben sparende Waffe waren und die Bombardierung aus der Luft ihre
Grenzen hatte. Das schnelle Vorrücken der übrigen gepanzerten
Verbände bis vor die Tore Warschaus und durch die Berge im Süden
Polens unterstrich diese Erkenntnis noch und ließ niemanden mit
ausgewogener Urteilskraft im Zweifel darüber, daß selbst in ungünstigem
Gelände Panzerdivisionen eindrucksvoll die Entscheidung erzwingen
konnten.
Doch der Feldzug, obwohl bereits gewonnen, war weit davon entfernt,
schon zu Ende zu sein. Am nächsten Tag wurde das XIX. Korps über die
Weichsel geschickt und durch Ostpreußen bis in die Nähe von
Bartenstein transportiert, um den linken Flügel der deutschen Armee zu
verstärken, die sich anschickte, südwärts auf Brest-Litowsk vorzurücken.
Diese bedeutete eine Gelegenheit für den Kommandierenden General,
sich auszuruhen, während sein Stab viel leistete. Es gehörte zu
Guderians Natur, daß er das konnte - und zwar stilvoll. In der Nacht zum
7. September schlief er auf Schloß Finckenstein in dem Bett, in dem
einst Napoleon genächtigt hatte; mit amüsierter Eitelkeit genoß er dieses
Privileg. Am folgenden Abend ging er, während seine Truppen zum
Gefecht anrückten, auf die Hirschjagd und erlegte einen starken
Zwölfender. Glücklich der Stab, der einen solch vertrauensvollen
Kommandeur hat! Wenige Stunden später stand er wieder am
Kartentisch, erhielt seine Befehle von Bock und handelte Änderungen
aus, so daß sein Korps, nun gestärkt durch die Ersetzung der 2.
Infanteriedivision (mot.) durch die 10. Panzerdivision, freie Hand hatte,
vollen Gebrauch von seiner immensen Schlagkraft zu machen. Der
ursprüngliche Plan, der vom OKH am 4./5. September von Bocks
Heeresgruppe Nord vorgeschrieben worden war, war alles andere als
produktiv im Hinblick auf weitausholende, schnelle Panzervorstöße. Das
XIX. Korps sollte sich in unmittelbarer Nachbarschaft der 3. Armee
halten, und sein Tempo wurde dem der Infanterie angeglichen.
Darüber hinaus hielt die Befürchtung einer starken Intervention der
Franzosen im Westen (die Tatsache, daß sie nach der anglofranzösischen Kriegserklärung vom 3. September noch nicht
stattgefunden hatte, war Grund zu einiger Verwunderung) das OKH
davon ab, starke Einheiten zu weit östlich einzusetzen, nachdem es den
Eindruck gewonnen hatte, daß die Polen bereits geschlagen waren. Ein
Vordringen nach Osten über die Linie Wysokie Masowieskie - Warschau
wurde nicht erlaubt. Bock, dessen Konzept von beweglichen
Operationen klug angelegt war, protestierte ohne Erfolg dagegen, lange,
bevor Guderian von den Einschränkungen Kenntnis erhielt und
Gelegenheit bekam, Bock am 8. September temperamentvoll seine
eigenen Einwände vorzutragen. Aber am gleichen Tag wurde plötzlich
bekannt, daß die Heeresgruppe Süd schließlich doch nicht Warschau
hatte erobern können. Sie hatte auch nicht, wie sie behauptete, die
Weichsel überquert. Tatsache war, daß die 4. Panzerdivision in
schweres feindliches Feuer geraten war, als sie versuchte, in die Stadt
einzudringen, und 57 von 120 Panzern verloren hatte. Dazu gab es noch
Anzeichen für eine bevorstehende große polnische Gegenoffensive,
entlang der Dzura antretend Richtung Westen. Unter diesen veränderten
Vorzeichen erhielt Bock nun die Erlaubnis, das XIX. Armeekorps mit
besserer Wirkung einzusetzen, es links von der 3. Armee, seinem Befehl
direkt unterstellt, gegen Brest-Litowsk, weit im Osten und im Rücken von
Warschau, vorrücken zu lassen. Während Rundstedt und Manstein sich
auf eine taktische Einkesselung des Gegners an der Dzura
vorbereiteten, bekam Guderian die ersehnte Gelegenheit, eine
strategische Einkesselung in nordsüdlicher Richtung mit einem
Massenaufgebot von Panzern vorzunehmen.
Das XXI. Armeekorps hatte bereits begonnen, trotz der erbittert
Widerstand leistenden polnischen Narewgruppe den Narew zu
überqueren und war dabei anfangs von der 10. Panzerdivision
unterstützt worden. In dem Augenblick aber, als diese Division
abgezogen und auf der linken Flanke eingesetzt wurde, wo das XIX.
Korps unter Guderian durchstieß, kam der Vormarsch des XXI. Korps
zum Stillstand. Hier wie anderswo hatte die nicht von Panzern
unterstützte Infanterie einen schweren Stand gegen einen
entschlossenen Feind. Dies galt auch für das Schützenregiment der 10.
Panzerdivision. Änderungen der Kampfpläne in letzter Minute trugen
ebenfalls dazu bei, Verwirrung beim XIX. Korps auszulösen, dessen
unerfahrenen Truppen bislang eine gemeinsame Operationsmethode
fehlte. Darüber hinaus vermittelten haltlose Berichte von weiter vorn
operierenden Einheiten, die Geländegewinne meldeten, die sie noch gar
nicht erzielt hatten, ein falsches Bild und waren die Ursache dafür, daß
die Operation aufs Geratewohl erfolgte.
Bei der 10. Panzerdivision passierte also dasselbe wie bei der 3.
Panzerdivision am ersten Tag des Krieges: örtliche Kommandeure
hingen zu weit zurück, um die Situation zu übersehen und in den Griff zu
bekommen. Dadurch kamen die Operationen mangels richtiger Führung
zum Stehen. Während die Panzer auf dem Nordufer des Narew blieben
und auf Fähren oder den Bau einer Brücke warteten, mußte die
Infanterie auf dem anderen Flußufer warten, und erst am 9. September
gegen 18 Uhr war eine ausreichende Anzahl von Panzern
herübergekommen und trug mit der Infanterie einen Angriff vor, der
sofort Erfolg hatte. Guderian war an Ort und Stelle, leitete den Angriff
und ordnete den Bau von Brücken an, um die Panzer am folgenden Tag
nachkommen zu lassen.
Wieder gab es Verwirrung, nachdem er die Front verlassen hatte und
in sein Generalkommando zum routinemäßigen abendlichen Austausch
von Meinungen und Anordnungen mit Nehring zurückgekehrt war.
Während der Nacht forderte der Kommandeur der 20. Infanteriedivision
(mot.), der den Befehl hatte, den Fluß rechts neben der
10. Panzerdivision zu überqueren, für seine Truppen die Brücken, die
Guderian den Panzern vorbehalten wollte, und erhielt sie auch. Der
Vormarsch ging nur langsam vonstatten angesichts äußerst erbitterten
Widerstandes der 18. polnischen Infanteriedivision, die bereits dem XXI.
Korps Kopfzerbrechen bereitet hatte und sich nun in südlicher Richtung
zurückzog. Nun war die Reihe an die 20. Infanteriedivision (mot.)
gekommen, sich mit den Polen auseinanderzusetzen, während die
beiden Panzerdivisionen begannen, in Richtung Bug vorzustoßen.
Unmittelbar darauf wurden die Gefahren für panzerlose Einheiten bei
tiefem Eindringen wieder einmal deutlich. Die 20. Infanteriedivision (mot.)
forderte nach kurzer Zeit Unterstützung an, und die 10. Panzerdivision
mußte deshalb ihre Marschroute ändern. Auch die 3. Panzerdivision, die
auf der linken Flanke die Spitze übernahm, fühlte sich von den
Überresten der polnischen Narewgruppe und der Kavalleriebrigade
Podlaska bedroht, die in der linken Flanke und im Rücken in der
Umgebung von Grodno und Bialystok lauerten.
Guderian verschweigt diese Bedrohung in seinen Erinnerungen, aber
das offizielle Kriegstagebuch (KTB) des XIX. Armeekorps nahm sie nicht
auf die leichte Schulter. Nehring erkannte die Gefahr, aber er wurde in
der Nacht vom 10. zum 11. September mit dem Korpsstab daran
gehindert, Guderian zu folgen, weil polnische Truppen einen Abschnitt
der Verbindungsstraße erreicht und besetzt hatten. Zu Recht gibt
Guderian zu, sein Generalkommando verfrüht über den Narew verlegt zu
haben. Es bestand dazu keine Notwendigkeit, weil die Funkgeräte noch
gut Kontakt zu allen Einheiten herstellen konnten und die Effizienz eines
Stabes, der seinen Standort ändert, immer geschwächt ist. Ferner wurde
auch die Gefahr evident, in der ein Kommandeur schwebt, der in
vorderster Frontlinie herumfährt, dazu noch zu einem Zeitpunkt
energischsten polnischen Widerstandes. An diesem Tag wurde Guderian
selbst eingeschlossen und mußte von Kraftradschützen herausgehauen
werden; am 12. September wurde der Kommandeur der 2.
Infanteriedivision (mot.), der seine Truppe zum Empfang von Guderians
Befehlen vorausfuhr, für mehrere Stunden von polnischen Truppen
abgeschnitten. Das waren die Strafen für allzu große Zuversicht in
Verbindung mit der mangelnden Erkenntnis, daß innerhalb eines
Gefechtes mit starken feindlichen Verbänden der Hauptteil der
Panzerdivisionen in jeder Hinsicht so verwundbar wie andere Truppen
war und daß die relative Sicherheit, die rascher Bewegung innewohnt,
solange nicht bestand, bis die Voraussetzungen ungehinderter
Beweglichkeit geschaffen waren.
Diese Voraussetzungen erfüllten sich am 13. September wieder, als
die 18. polnische Division kapitulierte. Das OKH nutzte nun den Standort
des XIX. Korps tief im feindlichen Hinterland im Osten, um es als
Flankenschutz für die restlichen Verbände in westlicher Richtung
einzusetzen, und begann es durch das XXI. Korps gegen drohende
Flankenangriffe aus den Wäldern im Osten zu verstärken. Sofort traten
gewaltige Probleme in Zusammenhang mit der Kontrolle des
Fahrzeugverkehrs auf: nicht nur der unablässige Strom von
Motorfahrzeugen des XIX. Korps, der von Norden nach Süden auf
unzureichenden Straßen in Richtung Brest-Litowsk floß, sondern auch
die langsamer vorwärtskommenden, von Pferden gezogenen
Transportwagen, des XXI. Korps, die von Westen nach Osten unterwegs
waren und dabei die Achse des XIX. Korps kreuzten, bereiteten den
Verantwortlichen Kopfschmerzen.
Es sprach viel für das System der vor dem Krieg ausgearbeiteten
Verkehrskontrolle und das Verständnis der Stabsoffiziere untereinander,
daß diese Operationen fast reibungslos abliefen. Das XIX. Korps konnte
jetzt unbeirrt seinen Vormarsch fortsetzen und traf am 14. September vor
Brest-Litowsk ein, zwei Panzerdivisionen voran und die motorisierten
Infanteriedivisionen nach rückwärts gestaffelt als Flankenschutz für
beide Flügel. Das Tempo war entscheidend für den Sieg; bei Zabinka
hatte das plötzliche Eintreffen der 3. Panzerdivision die polnischen
Panzer bei der Ausladung überrascht und sie zerstört.
Die polnische Garnison in Brest lehnte eine Kapitulation ab. Sie hatte
sich in der alten Zitadelle gut verschanzt. So erhielt Guderian ein
weiteres Mal die Möglichkeit, die Vielfältigkeit seines Korps durch einen
mit voller Gewalt ausgeführten Frontalangriff zu beweisen, dem nichts
von der Kraft fehlte, die früher stark unterstützte Infanterieverbände
ausgezeichnet
hatte.
Panzer,
Artillerie
und
Infanterie
der
10. Panzerdivision und 20. Infanteriedivision (mot.) wurden am
16. September zum entscheidenden Angriff angesetzt, während die
3. Panzerdivision und die 2. Infanteriedivision (mot.) ihren Vormarsch in
Richtung Süden gemäß der dem Korps erteilten Order fortsetzten.
Während sich ihnen keine Hindernisse entgegenstellten, war die
Überwindung der Fortanlagen von Brest eine andere Sache. Die Polen
wehrten sich hartnäckig und der Widerstand verstärkte sich noch, als die
Polen feststellten, daß das Feuer der deutschen Artillerie zeitweilig in die
eigenen vorderen Linien einschlug, wo die Infanterie stand. Angesichts
dieses Irrtums geriet die Infanterie in Verwirrung und unterließ es, jenem
Teil der Feuerwalze sofort zu folgen, der genau auf dem Feind lag. Am
nächsten Tag wurde dann alles entschieden: der deutsche
Generalangriff erfolgte zur selben Zeit, als die Polen einen verzweifelten
Ausbruchsversuch unternahmen, der jedoch fehlschlug. Das bedeutete
nach Guderians Worten einen gewissen Abschluß des Feldzuges.
Vereinzelte, über das Land verteilte Garnisonen setzten aus Ehrgefühl
noch die Kämpfe fort, aber der Einmarsch russischer Truppen in
Ostpolen ließ etwaige noch bestehende Hoffnungen auf polnischer Seite
schwinden, in diesem Gebiet noch eine zusammenhängende
Verteidigung aufziehen zu können.
In der Schlußphase des Feldzuges war schon das Brausen des
neuen heranziehenden Sturms zu vernehmen. Am 15. September
beschloß von Bock, das XIX. Armeekorps zu halbieren. Die eine Hälfte
wurde nordostwärts auf Slonin in Bewegung gesetzt, die andere in
südöstlicher Richtung. Von Bock glaubte, daß, wenn ein Infanteriekorps
diese Aufgabe in acht Tagen lösen könne, motorisierte Truppen nur
einen Bruchteil dieser Zeit benötigten. Um diese Operation mit dem XXI.
Korps zu koordinieren, setzte er Kluges 4. Armee ein. Guderian
protestierte heftig bei Kluge gegen die Aufsplitterung seines Korps. Sie
verletzte das Prinzip der Konzentration, das ihm und seiner Philosophie
des Panzerkrieges heilig war, und würde auch, so versicherte er mit
Nachdruck, die Führung fast unmöglich machen.
Die Ereignisse verhinderten die Ausführung von Kluges Befehl, doch
war bei Guderian ein Mißtrauen gegen Kluge wachgeworden, das seine
Beziehungen zu diesem Offizier (und zu Bock) während der nächsten
fünf Jahre kennzeichnen sollte. Und doch waren es gerade diese beiden
Männer, die ihn für die Verleihung des Ritterkreuzes zum Eisernen Kreuz
vorschlugen, eine Auszeichnung, die Guderian hoch zu schätzen wußte,
denn »... ich erblickte darin in erster Linie eine Rechtfertigung meines
Kampfes für die Errichtung einer neuzeitlichen Panzertruppe«. Es ist
auch wahrscheinlich, daß Bock und Kluge ähnliche Überlegungen
anstellten und an den Ruhm dachten, der von Guderians Leistungen auf
sie abfärbte. Denn er - und sie - konnten auf einen 320-KilometerVorstoß innerhalb von zehn Tagen gegen harten feindlichen Widerstand
verweisen bei Verlusten, die im Verhältnis niedriger waren als die
anderer Heeresteile. Seit dem 1. September hatte das XIX. Korps nur
650 Gefallene und 1.586 Verwundete und Vermißte verzeichnet - nur
etwa vier Prozent seiner Truppenstärke. 217 Panzer hatte das gesamte
Heer verloren und 8.000 Tote zu beklagen, von denen die weitaus
größte Zahl Infanteristen waren und nur 1.500 der Heeresgruppe Nord
angehört hatten.
Es gab aber auch weniger erfreuliche Dinge nach dem Sieg in Polen.
Guderian teilte die Enttäuschung seiner Soldaten, daß Hitlers
Voraussage sich nicht erfüllte, die Westmächte würden automatisch ihre
feindliche Haltung aufgeben, nachdem Polen erobert war, obwohl er sich
kaum über diese Entwicklung wunderte. In seinem Brief an Gretel hatte
es am 4. September auch geheißen: »Inzwischen hat sich die politische
Lage insofern geklärt, als ein neuer Weltkrieg im Entstehen ist. Die
Sache wird also lange dauern, und wir müssen den Nacken steifen.«
Nun mußten die Deutschen sich für einen Offensivkrieg im Westen
rüsten, vor dem sie zurückschreckten und für den es keinen Plan gab.
Der erneute Einsatz einer Armee, die bei den Kämpfen in Polen nicht
ungerupft davongekommen war, mußte schnell vorbereitet werden. Er
war anfangs als Abwehrmaßnahme gegen eine erwartete französische
Offensive gedacht, die nie kam. Mindestens die Hälfte der Panzer
benötigte eine größere Werkstattüberholung. In der Hast des Abzugs
aus den Abschnitten, die an die Russen übergeben wurden, hatte auch
einiges Material zurückgelassen werden müssen, aber die Hauptmasse
des Heeres (einschließlich Guderian) wurde das Grauen erspart, die
SS-Einheiten bei ihrer tödlichen Vernichtungsarbeit in dem Teil Polens
zu beobachten, der bei Deutschland blieb. Heinz Günther Guderian sah
1941 die Ghettos von Warschau und Lublin und berichtete von ihrem
»kläglichen Eindruck«.
Die Lehren, die aus dem Polenfeldzug gezogen werden konnten,
hätten eigentlich nicht deutlicher sein können, aber obwohl die
Deutschen danach trachteten, relativ kleinere Fehler und Versäumnisse
in bezug auf Ausrüstung, Methoden und Organisationen zu korrigieren,
war es offenkundig, daß die volle Bedeutung ihrer Leistungen selbst
ihren eigenen Kommandeuren nicht klargeworden war. Die
Verständnislosigkeit rührte vor allem daher, daß allgemein angenommen
worden war, die Polen hätten sowieso keine Chance und das mächtige
Deutschland werde mit Sicherheit den unterlegenen Gegner
niederkämpfen - so wie es sich dann bewahrheitete. Dieser Glaube
stand in Einklang zu den zurechtgelegten Argumenten, mit denen die
sich bekämpfenden Gruppen innerhalb der Wehrmacht aufwarteten. Die
Panzerleute erklärten, alle Erfolge seien auf ihr Konto zu buchen.
Dasselbe versicherten auch einige Flieger. Aber die Geschichte lehrt
uns, daß die letzteren zwar eine bedeutende Rolle - innerhalb eines
weitgespannten Konzepts von Luftherrschaft - als Machtinstrument
spielten, doch sie weist auch nach, daß nur Bodentruppen
Geländegewinne erzielen. Und das taten die Panzertruppen mit solchem
Tempo und solcher Wirksamkeit, daß der polnische Widerstand zu
keinem Zeitpunkt die Möglichkeit besaß, sich den veränderten
Bedingungen anzupassen. Gegen die Infanterie brachte die deutsche
militärische Führung verschiedene Vorwürfe vor. Man behauptete, sie
habe nicht mit der Hingabe ihrer Väter gekämpft und es könne als sicher
gelten, daß, wenn die Armee mit Infanterie und Kavallerie, wie Beck es
empfahl, in den Krieg gezogen wäre, der Feldzug so lang gedauert hätte,
daß eine rechtzeitige Entscheidung im Osten ausgeschlossen gewesen
sei, bevor eine Großoffensive im Westen begann. Daraus könnte man
folgern, daß, wenn Guderian nicht die Panzeridee gegen den
Widerspruch der Mehrheit der Militärexperten durchgesetzt hätte, der
Polenfeldzug nicht ausführbar gewesen wäre. Nur wenige zogen diese
Schlußfolgerung, wie Hitler es wohl längst getan hatte.
Wie die Dinge lagen, kritisierte von Bock heftig die Kampfweise der
Infanterie (als Teil seiner Bestrebungen, sie wieder ihrem eigentlichen
Zweck zuzuführen) und verband damit Kritik an der Artillerie, der er
vorwarf, unbeweglich gewesen zu sein und das Feuer bei weitem zu
langsam eröffnet zu haben. Aus diesem Grund forderte er, künftig dürfe
die Artillerie nicht mehr das Vorgehen der Infanterie hemmen und müsse
darüber hinaus in der Lage sein, in vorderster Linie direkt
Feuerunterstützung zu geben. Dies war lediglich eine Wiederholung der
von Guderian viel früher vorgetragenen Argumente für seine Panzer.
Manstein ging noch weiter. Mit Raupenketten ausgerüstete, motorisierte
Sturmgeschütze seien erforderlich, meinte er. Das geschah auch: die
unzulänglichen Pz I wurden nach und nach aus dem Fronteinsatz
gezogen, umgebaut und mit stärkeren Geschützen tschechischen
Ursprungs ausgerüstet, die - nur begrenzt schwenkbar - hinter einem
Schutzschild montiert waren.
Keine dieser Änderungen konnte Guderian ernstlich bemängeln,
obwohl er sich gegen Abweichungen vom Typ des Panzers mit
Geschütztürmen aussprach, weil das seiner Auffassung nach einen
Rückschritt bedeutete. Er hatte das Gefühl, die Panzer hätten ihre Sache
gegen die polnischen Panzer - viele davon waren besser bewaffnet als
seine - gut gemacht. Was er anstrebte, war eine Erhöhung der
Feuerkraft und Bestückung seiner Fahrzeuge. Unzufrieden äußerte er
sich auch über die Güte der Befehlsgebung auf unterer Ebene. Die
Leichten Divisionen mit ihrem niedrigen Panzeranteil hatten versagt, wie
er es vorausgesehen hatte, aber da jetzt die Produktion 125 Stück im
Monat erreichte und gutes tschechisches Panzergerät verfügbar war,
war es möglich, diese Divisionen zu vollen Panzerdivisionen
aufzuwerten. Gleichzeitig fiel es ziemlich leicht, die bizarre Forderung
der Kavallerie abzulehnen, ihre Kontingente zu erhöhen, zumal berittene
Formationen im soeben beendeten Feldzug ihre schreckliche
Verwundbarkeit zur Genüge bewiesen hatten. Und doch hatten die
»großen Manöver« in Polen nicht ernstlich die grundlegenden Einwände
gegen all das beseitigt, wofür Guderian sich einsetzte.
Alles, was er tun konnte, war, neue Vorschläge zu unterbreiten. Er
war ohne direkten Einfluß, denn der Posten eines Chefs der Schnellen
Truppen war unbetrauert bei Ausbruch des Krieges aufgelöst worden,
als der in gewisser Hinsicht panzerfeindliche General der Artillerie Fritz
Fromm als Chef der Heeresrüstung und Befehlshaber des Ersatzheeres
die Vertretung der Panzerinteressen übernommen hatte. Guderian
vertrat die Meinung, die Auswahl und die Befugnisse der nun für die
Panzertruppe Verantwortlichen »... entsprachen nicht immer der
Bedeutung, die die Panzertruppe im neuzeitlichen Krieg besitzt«. Und
wenn schon geschulte deutsche Militärexperten nicht geneigt waren, sich
mit den Veränderungen anzufreunden, die im Verlauf von Hitlers
»kleinem Krieg« in Polen in die Kriegskunst eingeflossen waren - und es
gibt genügend Beweise für die Richtigkeit einer solchen Behauptung
Guderians -, dann konnte es eine ungläubige, schlechtinformierte Welt
schon gar nicht. Denn obgleich die führenden Militärmächte, vor allem
Deutschlands Nachbarn, erkannten, daß Panzer und Flugzeuge eine
wichtige Rolle beim Debakel der Polen gespielt hatten, neigten sie doch
dazu, die Wirksamkeit dieser Waffen mit der Begründung
herunterzuspielen, dies sei ein unfairer Test an einem kraftlosen Opfer
gewesen. Die Vorgänge in Polen könnten sich auf keinen Fall in
Frankreich wiederholen, vermutete man.
Sie sollten nicht lange im Zweifel bleiben, denn der Führer war nach
dem militärischen Erfolg und der damit verbundenen Stärkung seines
Selbstbewußtseins in glänzender Laune und plante entsprechend. Er
hatte die Magie seiner neuen Waffen ihre Wirkung tun sehen; sie waren
kein Bluff. Kaum hatte sich der in Polen aufgewirbelte Staub gelegt, als
Hitler am 27. September den Befehl gab, alle Vorbereitungen für eine
baldige Invasion Westeuropas zu treffen. Das war ein Projekt, welches
eine Reihe deutscher Offiziere, die nicht nur seine Ausführbarkeit
bezweifelten, sondern auch das Risiko befürchteten, damit einen zweiten
Weltkrieg auszulösen, so stark beunruhigte, daß sie den Plan zur
Beseitigung Hitlers erneut aufnahmen. Unter diesen Andersdenkenden
waren Hammerstein, Beck und einige wenige Zivilisten.
Guderian gehörte nicht zu den Verschwörern - er dürfte auch der
Letzte gewesen sein, den sie zur Teilnahme eingeladen hätten -, aber er
war weit davon entfernt, mit der Lage der Wehrmacht zufrieden zu sein;
Sorgen, die noch zu seiner Besorgnis über den Zustand der
Panzertruppe kamen. Im Oktober hatte er bei einem Tischgespräch mit
Hitler nach der Verleihung des Ritterkreuzes etwas verspürt, was er für
die Stimmung des Führers hielt. Zur Rechten Hitlers sitzend, gab er eine
soldatische Antwort auf Hitlers Frage nach seiner Reaktion auf den Pakt
mit Rußland im August. Er erklärte seinem Obersten Feldherrn, daß der
Pakt ihm ein Gefühl der Erleichterung gegeben habe, weil er die
Wahrscheinlichkeit eines Zweifrontenkrieges verringere, der Deutschland
im Ersten Weltkrieg zur Strecke gebracht habe. In seinen Erinnerungen
drückt er seine Verwunderung darüber aus, daß Hitler ihn erstaunt und
unwillig angesehen habe, und schreibt, daß er erst später Hitlers
abgrundtiefen Haß auf Sowjetrußland erkannte. Es ist möglich, daß
Guderians Antwort dem Führer im Augenblick gefiel, weil dieser die
Überzeugung gewonnen hatte, daß die Mehrzahl seiner Generäle mit
ganzem Herzen gegen den Krieg und damit gegen das Abkommen mit
den Russen war. Da mag es ihm ein Trost gewesen sein, einen der
wenigen zu finden, die sein diplomatisches Geschick würdigten und nicht
vor einem Kampf zurückschreckten. Aber Guderian glaubte nun im
Gegensatz zu vielen seiner Offizierskameraden felsenfest an
Deutschlands Kampfkraft und Siege und äußerte diese Überzeugung in
Gesprächen am Vorabend des nächsten Feldzuges. Denn der 12.
November war als Termin für die Invasion im Westen ausersehen, und
die andersdenkenden Generäle hatten Brauchitsch und Halder
bearbeitet, sich mit Festigkeit gegen diesen, wie sie glaubten, fatalen
Schritt auszusprechen.
Am 5. November riet Brauchitsch dann Hitler von einer Invasion ab
und nannte das Winterwetter als Hauptgrund für eine Verschiebung des
Angriffsdatums - ein Argument, dem Guderian beigepflichtet haben
würde, denn der durch endlose Regenfälle entstehende Matsch konnte
die Panzer stoppen oder zumindest verlangsamen. Aber Brauchitsch zog
auch die Kampfkraft der Infanterie in Zweifel, und das brachte Hitler in
Rage. Der Oberbefehlshaber des Heeres wurde zur Zielscheibe einer
bissigen Attacke auf seine eigene Integrität und die des gesamten
Generalstabes. Auf dem Höhepunkt seiner Schimpfkanonade erklärte
Hitler Görlitz zufolge gegenüber Brauchitsch, er wisse, daß die Generäle
»etwas mehr als die befohlene Offensive« planten, ein zufälliger Schuß
ins Dunkel, der Brauchitsch am ganzen Leib erbeben ließ. Ein völlig
demoralisierter Oberbefehlshaber kehrte zu seinem Chef des
Generalstabes zurück und reichte Hitler sein Abschiedsgesuch ein. Hitler
als Oberbefehlshaber der Wehrmacht lehnte die Annahme ab. Auf fast
gleiche Weise beschied er Keitel, der ebenfalls um seinen Rücktritt
einkam, als er spürte, daß er das Vertrauen seines Führers verloren
hatte. Die Disziplin wurde wiederhergestellt. Die Dissidenten mußten
natürlich ihre Verschwörung abblasen. Nicht nur bestand die Möglichkeit,
daß sie entdeckt wurden, sondern Brauchitsch und Halder weigerten
sich auch, weiter mitzumachen, und ohne sie war die Sache
hoffnungslos. Die am 7. November erfolgende Verschiebung der
Offensive kam fast beiläufig - eine von vielen zeitlichen Änderungen, die
sich in regelmäßigen Abständen den Winter über wiederholen sollten.
Am 23. November fühlte sich Hitler veranlaßt, seinen Kommandeuren
eine Standpauke zu halten. Er nahm dabei kein Blatt vor den Mund und
erklärte Guderian (der dabei war) zufolge: »Die Generäle der Luftwaffe
sind unter der zielbewußten Leitung des Parteigenossen Göring politisch
absolut zuverlässig; auch die Admirale werden in meinem Sinn sicher
geführt; aber zu den Generälen des Heeres besteht seitens der Partei
kein unbedingtes Vertrauen.«
Um diese Zeit waren Guderian und sein XIX. Korps bei Koblenz
zusammengezogen worden und standen unter dem Kommando von
Rundstedts Heeresgruppe A in Bereitschaft für die geplante Invasion. An
Generaloberst von Rundstedts Chef des Stabes, seinen alten Freund
Manstein, wandte sich Guderian zuerst und sprach sich mit ihm über die
in Berlin gefallenen Worte aus, die alle erregt hatten. Manstein stimmte
Guderian zu und meinte, daß etwas geschehen müsse. Aber Rundstedt
wollte keinen Schritt in diesem Sinn tun - er hielt sich an die Buchstaben
seines Treueeides. Die gleiche Einstellung fand Guderian bei den
anderen Generälen, die er in seinem Bemühen befragte, einen Protest
aufzusetzen. Schließlich suchte er Reichenau auf, der vorschlug,
Guderian selbst möge Hitler seinen Standpunkt vortragen. Er war es
dann, der eine Audienz beim Führer zustande brachte.
Der Bericht über den Inhalt dieser Unterredung stammt von Guderian
selbst* und entspricht dem Charakter eines Mannes, der die Ehre der
Wehrmacht über alles andere stellte, abgesehen davon, daß er von
einem unbezähmbaren Geist der Aggression beseelt war, wenn ein
Problem auftauchte, das den Kern seiner Glaubensanschauungen traf.
Guderians Korrespondenz beweist eindeutig, daß die Begegnung
wirklich stattfand; und wenn seine Darstellung richtig ist, ist damit
Wheeler-Bennetts Behauptung widerlegt, daß »... keine Stimme laut
wurde, um Kritik zu üben oder auch nur Stellung zu nehmen«. Allerdings
muß auch daran erinnert werden, wie Wheeler-Bennett zu Recht
unterstreicht, daß der Hauptteil von Hitlers Ausführungen mit großem
Beifall aufgenommen wurde, Guderian erklärt, er habe mit Hitler eine
Stunde lang unter vier Augen gesprochen, dabei die Sache der Generäle
verteidigt und erklärt, jemand habe sich äußern müssen, nachdem der
Führer der Generalität des Heeres bedeutet habe, er vertraue ihr nicht.
In seiner Erwiderung schob Hitler alle Schuld auf Brauchitsch, worauf
Guderian entgegnete: »Wenn Sie zum Oberbefehlshaber des Heeres
kein Vertrauen haben, müssen Sie sich von ihm trennen...« Doch
nachdem Hitler ihn ersucht hatte, ihm einen passenden Nachfolger zu
nennen und Guderian von den führenden Persönlichkeiten keinen
vorschlagen konnte, der Hitler zusagte, schwieg der Soldat.
*
Er gab ihn unmittelbar danach Hauptmann Engel wieder, der Guderians Version
bestätigt.
Nun ereignete sich die erste einer Reihe später immer
wiederkehrender Szenen; Hitler hielt es für nützlich, dreißig Minuten oder
mehr mit dem Versuch zuzubringen, einen General zu überzeugen, den
er für anders als die übrigen hielt und vielleicht auch sympathischer. Er
hielt eine lange Schmährede, in der er sich über die Generäle beklagte,
die sich seinen Wünschen während der vergangenen Jahre nicht fügen
wollten, aber letzten Endes kam nichts Konstruktives bei der Aussprache
heraus, um das Problem in einem von Guderian gewünschten Sinn zu
lösen. Der gebrochene und fügsam gewordene Brauchitsch blieb auf
seinem Posten als Oberbefehlshaber des Heeres, und die Spaltung
vergrößerte sich zwischen Hitler und dem OKW einerseits und dem
Generalstab und dem OKH andererseits.
Bezeichnend ist, daß Hitler die Notwendigkeit verspürte, Guderian
von seiner Meinung zu überzeugen. Mag sein, daß er spürte, daß
Guderian infolge seiner »modernen« Einstellung und wegen seiner
persönlichen
Reibereien
mit
der
Heereshierarchie
der
nationalsozialistischen Ideologie näherstand als die meisten preußischen
Militärs (in gewisser Weise könnte er recht gehabt haben, obwohl
Guderian kein Nationalsozialist war). Es kann auch sein, daß Hitler einen
neuen Vasallen gewinnen wollte, der eines Tages, wie Keitel, die
widerspenstigen Mitglieder des OKH ersetzen konnte; wenn dem so war,
täuschte sich Hitler gewaltig, denn Guderian war kein Speichellecker.
Vielleicht hoffte er auch nur, sich den guten Willen einer Schlüsselfigur
der schlagkräftigsten Truppe des Heeres am Vorabend eines Feldzuges
zu sichern, der die bisher schwerste Prüfung darstellen sollte. Aber in
der Praxis sollte sich bald zeigen, daß Hitler die Bedeutung der
Panzerdivisionen noch immer nicht richtig erkannte. Wahrscheinlicher
ist, daß eine Kombination aller drei Motivationen plus einiger mehr, die
sein typisch sprunghafter Scharfsinn ihm eingab, Hitler dazu brachte,
einen Versuch zu unternehmen, Deutschlands umstrittensten
Truppenbefehlshaber auf seine Seite zu ziehen. Es kann auch sein, daß
er Guderian als potentiellen Oberbefehlshaber abschätzen wollte.
Guderian hatte, wie mehrere seiner Kameraden auch, die
Sinnwidrigkeit von Seeckts Forderung bewiesen, die Armee solle sich
aus der Politik heraushalten. Tatsächlich spielte er eine wichtige Rolle
dabei, sie - wenn auch unbewußt und gegen ihren Willen - weiter in das
politische Feld hineinzudrängen. Wenn er, wie manchmal behauptet
wird, an eine Isolierung von der Politik glaubte, dann ist das nur ein
weiteres Beispiel für seine Blindheit gegenüber der Wirklichkeit. Diese
Einstellung distanzierte ihn von denen, mit denen er zusammenarbeiten
sollte, und ließ die Meinungsverschiedenheiten entstehen, die von
Bedeutung für seine Fähigkeit als Truppenführer waren. Denn Guderian
war Zielscheibe des Mißfallens der deutschen Generäle, wenn ihnen die
Gelegenheit dazu geboten wurde.
Verärgert schrieb er am 21. Januar 1940 an Gretel: »Der Abend
neulich bei Herrn v. R(undstedt) begann ganz nett und endete mit einer
durch ihn und Busch (General Ernst Busch, Befehlshaber der 16. Armee)
hervorgerufenen Debatte über die Panzertruppe, die ich in ihrer
Verständnislosigkeit und zum Teil sogar Gehässigkeit doch nach dem
Polenfeldzug nicht mehr für möglich gehalten hätte. Ich ging tief
enttäuscht nach Hause. Die Leute sehen mich nie mehr wieder.
Jedenfalls ist es völlig vergeblich, von der ja sattsam bekannten Schicht
von ‚Kameraden' jemals Verständnis zu erhoffen. Auf diese Leute ist es
auch zurückzuführen, daß unser unersetzliches Gerät nun monatelang
bei der strengen Kälte unbeweglich im Freien steht und verkommt. Der
hieraus zu befürchtende Schaden ist nicht abzusehen. Außer dem
großen Ärger habe ich mir an dem Abend noch eine schlimme
Ansteckung zugezogen und quäle mich mit einem Katarrh und
Schnupfen übelster Art. Im übrigen warten wir weiter...!
Die nächsten vierzehn Tage habe ich mit Ausbildungskursen eine
ganze Menge zu tun. Alles leidet aber unter den schlechten
Übungsmöglichkeiten. Hätte man uns doch im November in unseren
Standorten gelassen! Aber das ist nicht mehr gutzumachen! Es friert, es
schneit, der große Bach führt Treibeis. Meist ist es wolkig und trübe. Die
Wochen und Monate verstreichen, und übrig bleibt ein großes
Fragezeichen?«
Gretel lächelte vermutlich mitleidig, als sie diesen Brief erhielt, denn
sie wußte, daß ihr kranker und mutloser Gatte sich erholen und am Ende
seinen Peinigern vergeben würde. Das Verzeihen fiel ihm in diesem Fall
leicht, wie sich zeigte, denn am 11. Februar konnte er nach einer
Konferenz, bei der der künftige Feldzug als »Planspiel« diskutiert worden
war, voll Freude Gretel berichten: »Herr v. R. war bei den letzten
Zusammenkünften die Liebenswürdigkeit selbst. Anscheinend hat er das
Gefühl, daß ich neulich nicht unrecht hatte, mich meiner Haut zu
wehren...«
Es spielte weniger eine Rolle, daß er im selben Brief klagen mußte:
»Ich leide auch unter Einsamkeit, trotzdem ich hier dauernd mit
Menschen zusammenkomme. Man kann sich aber mit den fremden
Leuten nicht aussprechen und redet banales Zeug, nur um zu reden.
Was einem am meisten am Herzen liegt, bleibt unausgesprochen.«
Aber das Ende der Periode der Isolierung war gekommen.
Rundstedts Sinneswandel markierte eine Schicksalswende für den
Schöpfer der Panzertruppe, denn die Pläne, die erörtert worden waren,
waren diejenigen, die Hitlers Zustimmung fanden und die Guderian als
Erfüllung eines Traumes erschienen.
Die Sympathiebeweise für Guderian, die auch von deutschen
Generälen kamen, waren wie ein Barometer, das die Meinung der
deutschen Bevölkerung anzeigte - nicht nur in bezug auf das umstrittene
Thema der Panzerkriegführung, sondern auch auf Hitlers
Auseinandersetzung mit einer Kriegssituation. Als Politiker hatte Hitler
seine Position gefestigt, aber seinen späteren Anspruch, ein
»militärisches Genie« zu sein, ahnte damals noch niemand. Guderian
hielt einen Schlüssel in der Hand, der imstande war, das Tor zu einer
militärischen Revolution zu öffnen, in deren Verlauf die orthodoxen
Armeen eines vorangehenden Jahrzehnts zerschlagen wurden. Zur
gleichen Zeit konnte er dazu beitragen, den Mut des dilettantischen
Obersten Befehlshabers als gleichrangig mit dem von Berufssoldaten zu
beweisen. Viel mehr als der Ausgang eines einzigen Feldzuges hing von
dem Plan der Invasion Westeuropas ab.
7
GRÜNES LICHT DURCH FRANKREICH
Ohne festen Plan und ohne genügend Zeit, um einen solchen
aufzustellen, weil Hitler die Ausführung für den 12. November 1939
verlangte, begann der deutsche Generalstab am 28. September, den
Angriff nach Westen zu planen. Aber weil von Anfang an Brauchitsch
und Halder wenig Vertrauen in die Durchführbarkeit ihrer Aufgabe
hatten, nimmt es kaum wunder, daß dem Produkt ihrer Beratungen die
Inspiration fehlte. Es war wichtig, so glaubten sie, die Maginotlinie zu
umgehen, die die französische Grenze zwischen der Schweizer Grenze
und Longwy, südlich der belgischen Stadt Arlon, schützte, wo die von
Menschenhand geschaffenen Verteidigungsanlagen mit dem angeblich
starken natürlichen Verteidigungsgelände der Ardennen verschmolzen.
Unstreitig, so beschlossen sie, müsse der Hauptschlag nördlich der
Ardennen, in der Generalrichtung von Namur, geführt werden, während
gleichzeitig Holland auf der äußersten rechten Flanke niederzukämpfen
sei. Ein Schutz der linken Flanke konnte dadurch erzielt werden, daß
man relativ starke Einheiten durch die Ardennen bis zur Maas zwischen
Givet und Sedan vorstoßen ließ. Das waren die Grundzüge des
Angriffsplans, dessen Ausführung immer wieder verschoben wurde, bis
er am 10. Januar 1940 sogar gefährdet schien, als das Flugzeug eines
deutschen Generalstabsoffiziers mit Einzelheiten des Aufmarsches an
Bord eine Notlandung in Belgien machte. (In Wirklichkeit verbrannten die
Papiere vor der Auffindung fast völlig und nur wenige konnten entziffert
werden.)
Schon lange vor Januar war der Plan harter Kritik ausgesetzt
gewesen. Manstein prophezeite, es sei unwahrscheinlich, daß aufgrund
dieser Planung ein vollständiger Sieg errungen werden könne, da mit ihr
nicht die völlige Zerschlagung des nördlichen feindlichen Flügels erreicht
werden könne und keine strategisch günstige Situation geschaffen
werde, aus der heraus man den Angriff fortsetzen könne. Dem Plan fehle
es kurz gesagt an Scharfsinn und Vielseitigkeit. Manstein stellte klar, daß
eine Invasion alle Ziele, und zwar schnell, erreichen müsse, weil ein
Fehlschlag Deutschland einen langwierigen Krieg aufzwingen würde,
den es nicht durchhalten könne. Er setzte sich für eine vernichtende
Einkesselung ein, so wie sie der ältere Moltke zu fordern pflegte, der
jüngere Moltke angestrebt und nicht erreicht hatte und Manstein und
Rundstedt kürzlich in Polen zustande gebracht hatten. Auch Hitler war
mit dem Plan nicht zufrieden, obwohl sein strategisches Verständnis im
Vergleich zu dem Mansteins das eines Anfängers war. Am 25. Oktober
hatte er, bevor Manstein den OKH-Plan gesehen hatte, vorgeschlagen,
den Vormarsch durch die Ardennen dadurch zu verbreitern, daß man
den Hauptangriff über die südliche Maas führte und ihn dann in Richtung
Amiens zur Kanalküste ausdehnte in der Absicht, einen großen Teil des
Feindes abzuschneiden. Am 31. Oktober legte dann Rundstedt völlig
unabhängig von Hitler dem OKH ein fertig ausgearbeitetes Projekt vor,
das dem von Hitler aus dem Ärmel geschüttelten fast aufs Haar glich.
Dies brachte Guderian als den anerkanntesten Experten in die
Debatte, weil seine Qualifikation auf dem Gebiet des Panzerwesens
ungleich höher war als die von Brauchitsch, Halder und den übrigen.
Denn trotz der Heckenschützen unter den Untergebenen dieser Männer,
die noch auf die Panzertruppe schossen, zweifelte in den höchsten
Kreisen keiner daran, daß die kommende Invasion von Flugzeugen und
Panzern abhängen würde. Hauptgründe für das Hinauszögern des
Losschlagens waren tatsächlich Befürchtungen, daß die Flugzeuge bei
schlechtem Wetter nicht eingesetzt werden konnten und daß die Panzer
im Wintermorast steckenbleiben könnten.
Nachdem Hitler seine Idee am 9. November gegenüber Jodl erwähnt
hatte, besprach dieser sie mit Wilhelm Keitel, und dieser wiederum zog
Guderian zur Beratung darüber hinzu, ob schweren Panzerstreitkräften
der Vormarsch durch die Ardennen möglich sei. Guderian erwähnte
diese Vorgänge in seinen Erinnerungen nicht und beschreibt nur eine
ähnliche Diskussion mit Manstein in der zweiten Novemberhälfte. Bis
dahin hatte er Zeit gehabt, die Anforderungen hinsichtlich der
Truppenstärke für das Projekt zu überprüfen. Ohne Zweifel dachte er an
die Erfahrungen am eigenen Leib aus den Ardennen während der
hektischen Tage im Jahre 1914 und seinen Aufenthalt in Sedan während
des Generalstabslehrgangs vier Jahre später, als er Keitel zuversichtlich
darüber informierte, Panzerdivisionen könnten durchaus durch die
Ardennen vorstoßen. Am 11. November erklärte er jedoch, als er erfuhr,
daß sein eigenes XIX. Korps möglicherweise die führende Formation
beim Vormarsch auf Sedan sein würde, daß die dafür vorgesehenen
zwei Panzerdivisionen und eine einzige motorisierte Division für das
Unternehmen völlig unzureichend seien. Kurze Zeit später, als er einer
kritischen Befragung durch Manstein standhalten mußte und ihm der
letztere seinen weitergehenden Plan vortrug, erhöhte Guderian noch
einmal seine eigenen Anforderungen und verlangte sieben schnelle
Divisionen als Angriffsspitze.
Im Lauf des Winters wurde Manstein immer dringender in seinen
Memoranden und persönlichen Vorstellungen beim OKH, bis man sich
schließlich dieses unbequemen Stabsoffiziers dadurch entledigte, daß
man ihm das Kommando über ein Infanteriekorps übertrug. Das OKH
blieb in seiner Meinung schwankend. Die im Januar 1940 von Rundstedt
veranstalteten »Kriegsspiele« bewiesen die Wirksamkeit eines Schlages
gegen Sedan an der Nahtstelle zwischen der starken nördlichen Flanke
und ihrer schwächeren Verlängerung entlang der Maas.
Guderian, der im Gegensatz dazu darauf bestand, daß die
Panzerdivisionen den Angriff in die Ardennen vortragen, die Maas
überqueren und auch tief nach Frankreich hinein die Spitze bilden
sollten, stieß auf ausgesprochene Skepsis, ja sogar Spott. (Die
schmerzliche Erfahrung des »Herrenabends« hatte den Tiefstand seiner
Rolle in der Auseinandersetzung bedeutet, von diesem Zeitpunkt an
begann er dem späteren Sieg den Stempel seiner Persönlichkeit
aufzuprägen.) Halder bestand darauf, die Infanteriedivisionen müßten
die Panzer an der Maas einholen, denn nur sie allein hätten die Kraft,
dieses wichtige Hindernis unter Ausschaltung der vom Feind
vorbereiteten Positionen zu nehmen. Er bezeichnete Guderians
Absichten als »sinnlos« und wurde darin von Rundstedt unterstützt.
Guderian blieb hart und widersprach beiden Männern. Er plädierte für
einen massierten Überraschungsangriff, »... um den Stoßkeil so tief zu
gliedern, daß man keine Sorge um die Flanke zu haben braucht«.
Andere Generäle pflichteten ihm darin bei. Halder begann unschlüssig
zu werden. Dann ergriff Manstein am 17. Februar bei einem
Routinevortrag bei Hitler die Gelegenheit und skizzierte persönlich
seinen Plan. Sofort war Hitler wieder Feuer und Flamme und erklärte am
Tag darauf Brauchitsch und Halder - als wenn es seine eigene Idee
gewesen wäre -, das sei genau das, was er haben wolle.
Jetzt gab es keine weitere Verzögerung mehr. Ein neuer Plan tauchte
auf, der das volle Gewicht des Angriffs auf die Ardennen legte und nur
eine einzige Panzerdivision (die 9. im XXXIX. Korps) in Holland
einsetzte; zwei weitere (die 3. und 4. beim XVI. Korps) wurden
ausersehen, zeitweise den Eröffnungsschlag gegen Belgien nördlich von
Namur zu führen. Das XV. Korps mit der 5. und der 7. Panzerdivision
sollte die Ardennen auf der Nordseite überqueren und in Richtung Maas
bei Dinant vorstoßen, um so die nördliche Flanke des XXXXI. Korps
unter General der Panzertruppe Hans-Georg Reinhardt zu sichern. Als
Schwerpunkt der Offensive war geplant eine spezielle Panzergruppe mit
General der Kavallerie Ewald von Kleist als Befehlshaber, die das
XXXXI. Korps, Guderians XIX. Korps und Wietersheims XIV. Korps
umfaßte und Generaloberst Wilhem Lists 12. Armee unterstellt war, die
ihrerseits zu Rundstedts Heeresgruppe A gehörte. Reinhardt wurden nur
die 6. und die 8. Panzerdivision gegeben. Guderian aber, auf dem alle
Hoffnungen ruhten, hatte die 1., die 2. und die 10. Panzerdivision zur
Verfügung und zusätzlich das motorisierte Eliteinfanterieregiment
»Großdeutschland«.
Die Panzerstärke von Kleists Gruppe belief sich damit auf rund 1.260
Panzer (mit einem größeren Anteil der Modelle Pz III und Pz IV sowie
der ersten Schützenpanzer) bei einem deutschen Panzeraufgebot von
rund 2.800 am Tag der Invasion (10. Mai). Dazu wurde noch vorrangige
Unterstützung aus der Luft während des Vormarsches auf die Maas
zugesagt, verbunden mit einem massiven Bombenangriff während der
Dauer der eigentlichen Flußüberquerung. Dies ersparte die
Notwendigkeit, die schwere Artillerie und die zugehörigen
Munitionskolonnen, die alles verstopften, über die kurvenreichen Straßen
zu schicken, über die schon die vollmotorisierten mobilen Korps
vorrückten.
Als nach dem strengen Winter ein heiterer Frühling begann und die
Wehrmacht die Feldzugsaison mit der schnellen Niederwerfung
Dänemarks und Norwegens begann, steckten Guderian und die übrigen
Militärs noch tief in der Ausbildung und Planung. Planübungen wurden
bevorzugt, denn obwohl die Panzerbesatzungen ein paar Nachtübungen
abhielten und die Fahrt auf schwierigen Landstraßen probten,
verhinderte Treibstoffmangel eine intensive Vorbereitung. Infolge zu
knapper Munitionszuteilung feuerten manche Panzerbesatzungen nicht
ein einziges Mal ihre Geschütze ab, während die Artillerie, einschließlich
der langen 8,8-Zentimeter-Flak, erhebliche Praxis in direktem Beschuß
kleinerer Ziele wie Bunkerschlitzen über ihre herkömmliche Rolle hinaus
erhielt. Immer wieder probten Infanterie und Pioniere die Technik des
Flußübergangs im Sturmangriff mit Schlauchbooten und anschließend
das Übersetzen von Panzern mit Hilfe von Fähren und Brücken, das
erfolgen mußte, nachdem die Infanterie auf dem feindlichen Ufer Fuß
gefaßt hatte. Die Übungen an der Mosel waren besonders realistisch,
weil der Zugang zum Fluß ähnlich beschaffen war wie der an der Maas.
Pausenlos fuhr Guderian von einer Übung zur anderen, trieb seine
Männer zu intensiverer Arbeit an, analysierte fehlerhafte Methoden,
stellte neue Aufgaben und gab Denkanstöße, die Nehring und sein Stab
bei den Einheiten des XIX. Korps und indirekt bei den anderen
Panzerformationen, deren Aussichten er ständig abwog, verbreiteten.
Denn
obwohl
Guderian
seinem
eigenen
Korps
die
Hauptaufmerksamkeit schenkte, so war er doch auch auf das gute
Abschneiden der gesamten Panzerstreitmacht bedacht. Alle Dienstgrade
lernten den rührigen General mit dem ungeduldigen Blick kennen und
schätzen, der zu ihnen kam mit berechtigten Fragen, kurzen und
bündigen Kommentaren und scharfsinnigen Urteilen über ihre
Leistungen. Der schnelle Heinz kümmerte sich um alle und alles mit der
strengen, aber väterlich-gerechten Anteilnahme, die er auch seiner
Familie zuteil werden ließ. Seine heute noch lebenden Leute haben
herzliche und bleibende Erinnerungen an ihn und seine prägnanten
Aussprüche, die die Privilegierten unter ihnen gern im Gespräch mit ihm
wiederholten wie zum Beispiel »Klotzen, nicht kleckern!« und
»Gondelfahren auf der Maas ist verboten!«, um nur zwei zu zitieren. Das
Ergebnis war ein Gefühl unbedingten gegenseitigen Vertrauens, das die
Voraussetzung für eine hervorragende Führung ist.
Wieviel Vertrauen setzte Guderian selbst in das bevorstehende
Abenteuer - ein Unternehmen, das noch vor einiger Zeit so undenkbar
für ihn gewesen war, wie es für viele seiner Zeitgenossen noch immer
war? Er erklärt in seinen Erinnerungen, das Zögern der Franzosen, die
Gelegenheit auszunutzen, als Deutschland im Osten mit Polen
beschäftigt war, spreche für ihre übergroße Vorsicht, genüge aber nicht,
ihnen Unfähigkeit vorzuwerfen. Weit wichtiger war die Feststellung, daß
die strategische und taktische Doktrin Frankreich, zumindest bis
September 1939, eine Art Stellungskrieg nach dem Muster von 1918
vorschrieb. Obwohl allgemein angenommen wurde, daß die Franzosen
der Zahl der Panzer nach überlegen waren (sie und die Engländer
konnten tatsächlich zusammen ungefähr 4200 in den Kampf schicken),
durfte es auch als sicher gelten, daß sie mit diesen Fahrzeugen weder
schnelle Angriffe fuhren noch sie in großer Zahl auffahren ließen und
daß die Reichweite ihrer Funkgeräte gering und damit ohne große
Wirkung war.
Aus diesen Gründen war zu erwarten, daß sie an der Front entlang
verteilt waren und bei schnellen deutschen Operationen langsam
reagierten. Das würde sich, davon war Guderian überzeugt, als fatal
erweisen. Er wußte aber auch, daß viele der neuesten französischen
Panzer, der Somua S 35 und der schwere Char B, eine doppelt so starke
Panzerung besaßen wie seine Pz IV und mit ihren 4,7-ZentimeterGeschützen auch eine wirksamere Panzerabwehrwaffe hatten als alle
seine Panzer. Dadurch waren bei Kämpfen von Panzern gegen Panzer
die Deutschen im Nachteil ebenso wie die Infanterie, deren einziges
Panzerabwehrgeschütz das gleiche 3,7-Zentimeter-Kaliber war, mit dem
der Pz III bestückt war. Der Einsatz von Feldartillerie in Verbindung mit
8,8-Zentimeter-Geschützen an der vordersten Front allein würde diesen
Mangel ausgleichen - er und die Fähigkeit, den Gegner durch Angriffe
auf seine Flanken und durch Eindringen in seinen Rücken
auszumanövrieren und seine Panzerfahrzeuge durch direktes, gezieltes
Feuer auf die kleinsten sich zeigenden schwachen Punkte außer
Gefecht zu setzen - eine harte Prüfung für nervöse Richtkanoniere in der
Hitze der Schlacht.
Die deutschen Kenntnisse von den feindlichen Stellungen in den
Ardennen und entlang der Maas waren ziemlich umfassend und
bedeuteten eine beträchtliche Ermutigung. Man wußte aufgrund
intensiver, mit allen Mitteln betriebener Aufklärungsarbeit, daß die
Verteidigungsanlagen flach und an manchen Stellen unvollständig
waren. Alles in allem bestand für Guderian guter Grund, darauf zu
vertrauen, daß der überlegene, blitzschnelle Einsatz seiner Panzer den
verzweifelten Widerstand im gut zu verteidigenden Ardennengelände
überwinden und sich den Weg über die Maas freikämpfen konnte, bevor
sich der Feind von anfänglichen Verlusten erholte. Er äußerte lediglich
Zweifel, bevor der Angriff losging, ob er mit ausreichender Unterstützung
seiner Vorgesetzten rechnen konnte, obwohl, um ihnen Gerechtigkeit
widerfahren zu lassen, gesagt werden muß, daß nur ein Mann von der
Überzeugung Guderians glücklich über die Aussichten gewesen sein
kann.
Hitler hatte im Bereich professionellen militärischen Denkens den
Boden unter den Füßen verloren. Obwohl seine »Intuition« ihm einen
Weg wies, der sich als der richtige erweisen sollte, unterhöhlten seine
häufig geäußerten Zweifel oft seine Fassung. Brauchitsch und Halder
hatten zunächst so stark geschwankt und sich so spät zu dem neuen
Plan bekannt, daß es unmöglich war, bei Ausbruch einer Krise völlig auf
ihr Durchhalten zu bauen. List wollte Infanteriedivisionen bei der
Überquerung der Maas vorn haben. Rundstedt war unentschlossen
gewesen und hatte mangelndes Verständnis für die Panzer bewiesen,
als er Überlegungen ablehnte, die Panzer über einen Brückenkopf an
der Maas hinaus weit nach Frankreich rollen zu lassen.
Kleist hatte keine Erfahrungen mit der Panzerwaffe, obwohl er als
Kavallerist einen Instinkt für Bewegung besaß und im Erfassen günstiger
Gelegenheiten keineswegs schwach war. Busch glaubte nicht daran,
daß Guderian die Überquerung der Maas überhaupt schaffen würde,
während Bock, dessen Armeegruppe im Norden der ursprünglich
dominierenden Rolle enthoben war, wie sie der erste Angriffsplan
vorgesehen hatte, berechtigte Einwände (nach konventionellen
Vorstellungen) erhob und die Mehrheit hinter sich wußte, als er Halder
vorwarf: »Sie wollen in 15 Kilometer Entfernung von der Flanke der
Maginotlinie nach Ihrem Durchbruch dahinkriechen und hoffen, daß die
Franzosen tatenlos zusehen! Sie stopfen riesige Panzermassen in die
schmalen Straßen der Ardennen, als gäbe es so etwas wie Luftangriffe
gar nicht. Und Sie glauben dann noch, eine Operation bis zur Kanalküste
vorantreiben zu können mit einer offenen Flanke im Süden, die 320
Kilometer lang ist und wo die Masse der französischen Armee steht!«
Hier irrte sich Bock, denn ausreichende Ausspionierung der Absichten
der Alliierten für den Fall einer Invasion Hollands und Belgiens hatte es
während der Wintermonate als fast sicher erbracht, daß die Masse der
alliierten Armeen nach Belgien einmarschieren und so ein Vakuum in
dem Gebiet entstehen würde, in das die Panzergruppe Kleist vordringen
sollte. Es ist dennoch interessant, daß Guderian einmal den Vormarsch
über Amiens nach Abbeville einen »Raid« nannte. Mag sein, daß er das
Wort unüberlegt gebrauchte, mag sein, daß es die Ungewißheit über das
Endergebnis wiedergab und er sich darauf einrichtete, nötigenfalls einen
Rückzieher zu machen - gedanklich war er ebenso flexibel auf rückwärts
gerichtete Panzerbewegungen wie auf Angriffsaktionen eingestellt, wie
das Oberkommando eines Tages erfahren sollte.
In einer Stimmung, die innere Gelassenheit erkennen läßt und
keineswegs Bombast oder Überheblichkeit, teilte er Gretel seine Gefühle
mit, als sein Gefechtsstand sich zum Vormarsch rüstete: »Du hattest mit
Deiner Vermutung recht. Ich sage Dir nun Lebewohl. Wir stehen vor
anstrengenden Tagen und ich weiß nicht, wann ich wieder zum
Schreiben komme. Ich hätte mich so gern noch persönlich
verabschiedet. Nun muß es durch ein nüchternes Stück Papier
geschehen, und all meine Zärtlichkeit bleibt unausgesprochen und
ungetan. Der letzte schöne Urlaub schwebt mir noch vor Augen und im
Sinn; eine nur kurze Wiederholung wäre schon eine Wohltat gewesen.
Doch es konnte nicht mehr sein. In der herrlichen Frühlingslandschaft
entwickelt sich reges Leben, das aber mit all der Blütenpracht nicht recht
harmoniert. Und bei aller Zuversicht beherrscht einen doch daher eine
leise Wehmut. Deine Gedanken werden nun vermehrt zu unseren
Jungens eilen und ich hoffe und wünsche mit Dir, daß Du sie beide nach
siegreichem Feldzug gesund in Deine Arme schließen kannst. Nun
müssen wir unser Denken auf unsere Aufgabe richten. Alles andere tritt
davor zurück... Ich habe mein schönes Quartier verlassen... Aber wenn
nur der große Erfolg eintritt, ist das alles eine Kleinigkeit.«
In einer Tiefe von rund 160 Kilometern von der Spitze bis zum Ende
brachen in der Früh des 10. Mai 1940 das XV., das XXXXI. und das XIX.
Armeekorps auf aus ihren Verstecken in den Wäldern die Straße
entlang, die über die Grenze führten. Die ersten gegnerischen Verbände
wurden unter der überraschenden Wucht des Angriffs buchstäblich
zermalmt; teilweise wurden die Verteidiger im Schlaf von
eingeschleusten Agenten in Zivil überwältigt, die an den
vorangegangenen Tagen in dem betreffenden Gebiet als »Touristen«
umhergereist waren, so viele Sprengladungen wie möglich entschärft
und dadurch Brücken und Engpässe vor der Zerstörung bewahrt hatten.
An der Seite der Kampfgruppen von Panzern und Infanterie waren die
Angriffspioniere und sorgten für schnelle Zerstörung und Räumung der
bestehenden Straßensperren. Überall verlief der Angriff reibungslos und
genau nach Plan. Halder sprach von einer »sehr guten Marschleistung«.
In der Tat bestanden die ersten Aktionen des Krieges hauptsächlich aus
dem verzweifelten Bemühen der Pioniere und Logistiker, Hindernisse zu
entfernen und Verkehrsstauungen zu beseitigen, die sich nicht
vermeiden ließen und hier und da den Vormarsch Guderians
erschwerten. Das Auftauchen einer zur Verschleierung eingesetzten
französischen Kavalleriedivision (zu einer Hälfte auf Lastkraftwagen, zur
anderen in Panzern) kurz vor Erreichen des Semois führte nur zu
geringer Verzögerung, weil die Franzosen samt ihrer Artillerie in einem
kurzen Gefecht weggefegt wurden.
Die deutschen Panzer drangen nach Belieben vor, und der
Schrecken, den sie verbreiteten, wurde durch Gerüchte, für deren
Ausstreuung Nachzügler und Fliehende von der Front bei den noch nicht
eingesetzten Einheiten an den Flanken und im Hintergrund sorgten, zu
einer furchtbaren Lähmung. Dennoch traute auf deutscher Seite der
Kavallerist Kleist logischer- und loyalerweise den französischen Reitern
Tapferkeit zu, die, wie er behauptete, ihnen eigen sein müsse, drehte die
10. Panzerdivision in ein Gelände südlich ihrer geplanten Angriffslinie ab
und zwängte sie so neben Guderians linke Flanke, um einer nebulosen
Kavalleriebedrohung bei Longwy zu begegnen.
Guderian protestierte heftig gegen diesen »Fortfall eines Drittels
meiner Kampfkraft wegen des möglichen Auftretens feindlicher
Kavallerie« (und behielt, wie sich später zeigte, recht, denn die
französische Kavallerie kam nicht), schloß aber einen Kompromiß und
verschob die Achse der Division, um Kleists Befürchtungen
auszuräumen. Bei diesem Bemühen, einen Vorgesetzten zu besänftigen,
unterlief Guderian allerdings ein Irrtum, denn das Verschieben der
10. Panzerdivision wirkte sich ungünstig auf die ihr benachbarte
1. Panzerdivision aus, die zu diesem Zeitpunkt die Hauptstreitmacht des
XIX. Korps bildete und sich zur Überquerung des Semois anschickte. Die
1. Panzerdivision geriet dadurch weiter nördlich der 2. Panzerdivision ins
Gehege und beide zusammen drangen in den Bereich des XXXXI. Korps
ein, wo sie die 6. Panzerdivision zum Stillstand brachten.
Glücklicherweise unternahm der Gegner keine Luftangriffe auf das
Kolonnengewirr, sonst wäre nicht wieder gutzumachender Schaden und
weiteres Chaos die Folge gewesen. Dies war nur der erste und kleinste
Beweis von Unentschlossenheit auf allen Kommandoebenen. Es waren
vollkommen natürliche Reaktionen auf eine bisher nicht dagewesene
Kriegführung - klassische Beispiele für »Friktionen«.
Die Schlacht um den Übergang über den Semois war entschieden,
bevor das XIX. Korps eintraf, denn die Franzosen hatten bereits freiwillig
den Rückzug zur Maas angetreten. Die Infanterie durchwatete den Fluß
in der Nacht vom 11. zum 12. Mai und die Panzer überquerten ihn im
Morgengrauen an einer Furt. Nehring und Guderian richteten ihren
Korpsgefechtsstand im komfortablen Hotel »Panorama« (bei Bouillon)
ein, wo sie »... eine herrliche Aussicht auf das schöne Semois-Tal«
hatten und bezahlten ihre Unvorsichtigkeit mit einem genau sein Ziel
treffenden feindlichen Bombenangriff, wobei Guderian mit Glassplittern
überschüttet wurde und nur um Haaresbreite der Gefahr entging, von
einer über seinem Schreibtisch hängenden und herabfallenden
Jagdtrophäe, einem Keilerkopf, erschlagen zu werden.
Danach waren sie ein wenig mehr auf der Hut, und Guderian wurde
erstaunlich vorsichtig. Wieder tauchte die alte, bisher unbeantwortete
Frage auf, wie und wann man die Maas überschreiten sollte. Eine
eindeutige Antwort war nötig. Die 1. Panzerdivision, die
10. Panzerdivision zur Linken, doch rechts ein bißchen in der Luft
hängend, weil die 2. Panzerdivision infolge von Marschschwierigkeiten
zurückgefallen war, befand sich in Angriffsentfernung zum Fluß. Kleist
hatte inzwischen seine Bedenken überwunden. Berichte von den
anderen
Frontabschnitten
machten
es
deutlich,
daß
die
Hauptkontingente der alliierten Truppen nach Belgien gestoßen waren.
Nachrichten von Panzergefechten bei der Annäherung auf Hannut
zwischen dem XVI. Korps und den französischen Leichten
Mechanisierten Divisionen (die in der französischen Schlachtordnung
den Panzerdivisionen am nächsten kamen) ließen eine technische
Überlegenheit auf deutscher Seite erkennen.
Obwohl die französischen Panzer ausreichend sicher gegen das
deutsche 3,7-Zentimeter-Kaliber waren, war ihr Erwidern des Feuers
langsam und unpräzise infolge der schlechten Konstruktion des
Kampfraumes. Bei französischen Panzern war es Aufgabe des
Kommandanten, auch das Geschütz zu laden und zu bedienen, während
bei den deutschen Modellen der Panzerkommandant nur Befehle gab
und ein anderes Besatzungsmitglied zielte und schoß. Zudem verteilten
die Franzosen ihre Panzer über eine breite und nicht tiefgestaffelte
Front, wie es ihre veralteten taktischen Methoden vorsahen. Die
Deutschen hingegen konzentrierten sich darauf, wichtige Punkte der
Reihe nach anzugreifen und ihre Gegner einzeln außer Gefecht zu
setzen.
Kleist sprach sich dafür aus, »sofort und ohne Zeitverlust«
anzugreifen. Das OKW stellte ihm daraufhin gemäß dem Kriegsspielplan
sofort zwei Luftkorps zur Verfügung. Aber Guderian äußerte Bedenken,
weil er befürchtete, die 2. Panzerdivision werde nicht rechtzeitig
eintreffen, um den gemeinsamen Angriff auf breiter Front zu
unterstützen, was er für wesentlich hielt. Auf jeden Fall war die Zeit für
die Befehlsweitergabe knapp. Kleist verwarf Guderians Einwände.
Dieser Vorfall war nicht ohne Bedeutung, läßt er doch eine gewisse
Unsicherheit in Guderians Verhalten erkennen, zum Teil vielleicht, wie
Alistair Horne meint, durch den Schock ausgelöst, bei dem
Bombenangriff nur knapp dem Tod entgangen zu sein. Das ist
unwahrscheinlich, aber paßt genau zu den Gedanken Füllers aus dem
Jahre 1918, daß die Bombardierung feindlicher Hauptquartiere »klares
Denken lähmen kann«. Der Zwischenfall läßt aber auch erkennen, daß
trotz aller Kritik Guderians Kleist eine klare Vorstellung vom
Panzerpotential hinsichtlich Zeit und Raum hatte. Für Guderian sollten
noch weitere Schrecksekunden folgen. Beim Rückflug von der
Aussprache bei Kleist verlor sein Pilot die Richtung und landete beinahe
in den französischen Stellungen. Nur Guderians schnelles Erkennen des
tatsächlichen Standortes - ein Zurückgreifen auf seine Erfahrungen von
1915, als er bei Aufklärungsflügen eingesetzt war - rettete die beiden
Männer vor der Gefangennahme.
Die Planungen für den Angriff über die Maas waren ein klassisches
Beispiel einer Mischung von Improvisation und alles einkalkulierender
Generalstabsarbeit. Die Gruppe von Kleist sollte am 13. Mai um Punkt
16 Uhr nach vorausgegangenem intensivem Artilleriefeuer und
Luftbombardement anstatt gleichzeitiger Luftunterstützung angreifen,
während die Truppen den Fluß überschritten. Die Zeit reichte nicht für
die Heeres- und Luftwaffenstäbe, um die notwendigen komplizierten
schriftlichen Befehle für eine formelle Maas-Überquerung auszuarbeiten
und auszugeben. Aber Nehring erkannte, daß die Lage derart genau mit
der eines kürzlich veranstalteten Kriegsspiels übereinstimmte, daß man
nur die damals ausgearbeiteten Befehle nehmen und die Uhrzeit von 10
Uhr auf 16 Uhr ändern mußte. Die Befehlsausgabe beim Korps erfolgte
am 13. Mai um 8:15 Uhr früh, bei der 1. Panzerdivision um 12 Uhr
mittags.
Die Luftwaffe, die sich in ähnlicher Zeitnot befand, ignorierte einfach
die Befehle Kleists und hielt sich an den vorausbestimmten, mit
Guderian abgesprochenen Plan. Aber während die Luftwaffe gut
gerüstet und bis ins letzte vorbereitet war, mußte das XIX. Korps damit
rechnen, daß die 2. Panzerdivision nicht fristgemäß an der
Ausgangslinie eintraf, andererseits aber das XXXXI. Korps auch bei
Tagesanbruch den Fluß erreicht hatte. Mit anderen Worten: Der geplante
gleichzeitige Angriff mit fünf Divisionen konnte leicht auf ein stückweises
Vordringen zweier Divisionen zurückgeschraubt werden. Beide Korps
mußten also aus der Bewegung über ein größeres verteidigtes
Wasserhindernis angreifen, eine Operation, wie sie nur wenige
Kommandeure in der Vergangenheit gern angeordnet hatten und vor der
künftig noch viele zögern sollten. Guderian bedurfte keiner
Bombardierung, um einige Vorbehalte in bezug auf den Verlauf der
nächsten 24 Stunden zu haben.
Obgleich die Schlacht um Sedan mit der 1. Panzerdivision an der
Spitze begann, war sie in Wirklichkeit eine Artillerie- und
Luftangriffsoperation, bei der die Panzer nur eine kleine Rolle spielten
und die Infanterie erst Geländegewinne erzielte, nachdem ein
Artillerieduell zugunsten der Deutschen entschieden worden war. Die
deutschen Truppen mußten feststellen, daß sie nicht nur bei
französischem Geschützfeuer den Fluß nicht überqueren konnten,
sondern daß ihre eigenen Batterien beim Vormarsch auf den Fluß im
Nachteil waren. Denn Guderian, der der gewöhnlichen Feldartillerie
gestattete, wie gewöhnlich indirektes Feuer einzusetzen, verlangte vom
Flakregiment 102 die Sicherung des Flußübergangs, »... wozu die Kräfte
weit vorn einzusetzen sind«. In Wirklichkeit wollte er, daß die kraftvolle
8,8-Zentimeter-Flak (ein Typ, mit dem eines Tages seine schwersten
Panzer ausgerüstet werden sollten) die Direktfeuerrolle übernahmen, die
er für Panzer plante. Der Grund dafür war, daß dieses höchst genau
treffende, großkalibrige Geschütz eine weitaus tödlichere Wirkung gegen
kleinere Ziele hatte als die leichteren, weniger akkuraten, damals noch
gebräuchlichen Panzergeschütze. Dies war eine Gelegenheit, bei der ein
schwerer Panzer oder ein gepanzertes Sturmgeschütz gute Dienste
geleistet hätte, aber von letzterem waren erst 55 Stück in Dienst gestellt
worden, die zudem nur das gleiche ungenaue 7,5-Zentimeter-Geschütz
wie die Pz IV hatten.
Hier und da störte französisches Feuer den deutschen Aufmarsch,
doch fast überall war es begrenzt, weil die Franzosen Munition sparen
wollten und den herkömmlichen Glauben hegten, bis zum Angriff würde
es noch vier bis sechs Tage dauern. Pünktlich um 16 Uhr trafen die
ersten Bomberwellen ein. Die schweren Bomber legten einen
Bombenteppich auf ausgewählte Ziele, die Stukas stießen auf
vereinzelte Geschützbunker herunter. In Polen hatte diese Methode nur
vereinzelt zu guten Resultaten geführt, weil die Polen schwer
einzuschüchtern waren. Jetzt bei Sedan waren zweitklassige
französische Divisionen dem Schock nicht gewachsen. Die Soldaten
warfen sich zu Boden, rannten davon oder wurden auf laxe Befehle von
oben abgezogen. Fünf Stunden lang hielt die Bombardierung an; von
Minute zu Minute feuerten die Franzosen schwächer zurück. Ohne
Unterstützung durch die eigene Artillerie geriet die französische
Infanterie in vorderster Front ins Wanken, während diejenigen, die auf
die sich zusammenballende deutsche Infanterie schossen, als diese
Sturmboote ans Flußufer brachte, von 8,8-Zentimeter-Feuer getroffen
wurden, das genau durch die Schießscharten in die Bunker schlug.
Als es Abend wurde, hatte die deutsche Infanterie auf dem anderen
Maasufer Fuß gefaßt und begann, sich weiter landeinwärts
vorzuarbeiten. Die ganze Nacht hindurch wurde am Bau von Fähren für
die Panzer und an Brücken gearbeitet, aber der erste Panzer konnte erst
am frühen Morgen übersetzen. Inzwischen hatte Guderian selbst mit
einem Boot den Fluß überquert und wurde am anderen Ufer von seinem
alten Kameraden Oberstleutnant Hermann Balck, dem frohlockenden
Kommandeur des Schützenregiments 1, mit scherzhaften Vorwürfen
wegen seines »Gondelfahrens auf der Maas« und der Nachricht
empfangen, daß die Bildung eines Brückenkopfes gesichert sei. Balck
brauchte keinen Hinweis darauf, daß Guderian ein weiteres Vorgehen
während der ganzen Nacht wünschte, denn jeder deutsche Soldat wußte
genau Bescheid, worum es ging. Bei Tagesanbruch hatten das
Schützenregiment 1 und das Infanterieregiment »Großdeutschland« zu
seiner Linken einen Brückenkopf gebildet, der ungefähr fünf Kilometer
breit und zehn Kilometer tief war, und damit Guderians zuvor geäußerte,
ärgerliche Bemerkung widerlegt, die Infanterie »... schlafe nachts statt
vorzugehen«.
In diesem Gelände, wo, nach den Worten eines deutschen
Historikers, »... der Kampflärm fast aufgehört hatte«, hatte der Panzer
einen Sieg errungen, obwohl kein deutscher Panzer hier seine Spuren
hinterlassen hatte. Die Furcht vor den Panzern, die in den Jahren 1917
und 1918 die Moral der deutschen Truppen unterhöhlt hatte, war jetzt auf
ihre Urheber übergegangen. Die französische Infanterie gab fluchtartig
unbedrohte Schlüsselstellungen bei der geringsten Andeutung von
Panzergeräusch auf, obwohl die Motoren, die sie hörten und voll Furcht
weitermeldeten, französischen Panzern gehörten, die zur Sicherung
eines Gegenangriffs im Morgengrauen auffuhren.
Wenn dieser französische Angriff stärker gewesen wäre, hätte er die
Kämpfe an die Maas zurückwerfen können, aber die beiden Leichten
Tankbataillone der Franzosen, die eine derartige Unruhe in den eigenen
Reihen ausgelöst hatten, stoppten, um die Panik, die sie schon in der
Nacht bei den zerrütteten Verteidigern erzeugt hatten, nicht noch größer
werden zu lassen. Folglich waren sie in der Früh weit von der Startlinie
entfernt, und als sie weiterfuhren, fanden sie sich deutschen Panzern
und Geschützen gegenüber, deren Absichten todbringend waren und
zielbewußt im Geist von Seeckt, des Generals, der einmal von einem
guten Kommandeur verlangt hatte: »Er wird stets sein Ziel etwas über
den Punkt hinaus legen, von dem er glaubt, daß er zu erreichen ist. Er
wird sich einen Spielraum für Glück lassen, aber weise Zurückhaltung
und ein künstlerisches Gespür sind vonnöten, um ihn davor zu
bewahren, sein Ziel weit über einen vernünftigen Aktionsbereich hinaus
abzustecken.«
Das war ein Ratschlag, den Guderian befolgen mußte, als sich die
Informationen zu häufen begannen, daß die Lücke in der französischen
Verteidigung entstanden war, auf die er gehofft hatte. Im Geiste
schwebte ihm stets der Angriff auf Amiens vor. Aber zuerst sollte es
noch zu dem kommen, was einer der Generalmajore auf britischer Seite,
Bernard Montgomery, eines Tages als »dogfight« bezeichnen sollte. Um
den deutschen Vormarsch zum Stillstand zu bringen, schickten die
Franzosen drei Divisions Legeres Mecaniques (DLM) ins Feld, von
denen jede über 194 Panzer verfügte, darunter die guten S 35-Modelle,
sowie vier Divisions Cuirassees Rapides (DCR) mit je 156 Panzern,
unter ihnen die schweren Chars B; ferner boten sie 25 unabhängige
Bataillone leichter Panzer zur Unterstützung der Infanterie auf.
Die DLM wurden nach Belgien entsandt und schwer vom XVI. Korps
in die Mangel genommen; neben vielen Panzern verloren die Franzosen
den Kampfeswillen und bekamen während des weiteren Verlaufs des
Frankreichfeldzuges einen Schrecken, wenn deutsche Panzer nur
erwähnt wurden. Guderian sah nichts von diesen Divisionen. Auch die
DCR bekam er nicht zu Gesicht, die wie die DLM erst kurze Zeit zuvor
aufgestellt worden waren und denen die Organisation, das Funksystem,
die geistige Einstellung und die Technik der deutschen Panzerdivisionen
fehlte. Sie hatten auch zu wenig Infanterie und Unterstützungswaffen,
weil immer noch dem Konzept einer engen Unterstützung der Infanterie
in linearen Stellungen verhaftet. Darüber hinaus waren sie langsam und
unausgebildet in Aufmarsch und Einsatz. Die 1. DCR war gleichfalls
nach Belgien vorgestoßen und wurde am 14. Mai nach Dinant geworfen,
um den plötzlichen Durchbruch des XV. Korps unter Hoth zu stoppen. In
dreitägigem Ringen wurden jedoch die Franzosen in einer Reihe von
Gefechten buchstäblich weggefegt. Ständig fehlte es ihnen an Treibstoff
(eine Folge logistischen Unvermögens); eine Koordinierung fand wegen
schwacher Führungsverfahren und chaotischer Kontrolle der
Fahrzeugbewegungen nicht statt.
Zwei
der
verbleibenden
drei
DCR
ließen
sich
in
Auseinandersetzungen mit Panzerdivisionen ein. Das Resultat ihrer
Mühen war eine brauchbare Kontraststudie zwischen Tapferkeit und
Zittern, Professionalismus und amateurhafter Einstellung. Die 3. DCR
begann am 14. Mai bei Chemery südlich von Sedan als Teil des
französischen XXI. Korps aufzumarschieren, das Order hatte, Guderian
zurück in die Maas zu treiben. Wieder einmal war die Befehlsausgabe
auf französischer Seite schleppend (genau umgekehrt wie bei Guderian),
und auch der Treibstoffnachschub war schlecht organisiert und ging
langsam vonstatten. Wie die 1. DCR hatte ihre Schwesterdivision dann
keine Möglichkeit mehr, ihre Fehler gutzumachen, denn zunächst rückte
die 1. Panzerdivision auf Chemery vor und später sperrten das
Infanterieregiment »Großdeutschland« und die 10. Panzerdivision durch
energischen Durchstoß zur Hochebene von Bois Mont Dieu der 3. DCR
das Aufmarschgebiet. Die Franzosen erlagen dem Druck ihres Gegners,
stellten sich wieder auf die Defensive um und wurden
auseinandergetrieben. Aber die versprengte 3. DCR ließ sich noch in
einen harten und erbitterten Kampf um das Dorf Stonne ein und löste
dabei ein Manöver auf deutscher Seite aus, das die grundlegende
Berechtigung von Guderians Konzept der Panzerkriegführung nachwies
- und beiläufig auch zu einem neuen Zusammenstoß mit Kleist führte.
Als seine Truppen das Gebiet von Bois Mont Dieu besetzten, lag
Guderian richtig mit seiner Schätzung, daß die etwa 20 Kilometer breite
Lücke, die sich zwischen dieser Hochebene und der Maas aufgetan
hatte, groß genug war, um sein gesamtes Korps nach rechts schwenken
zu lassen und in westlicher Richtung auf den Ärmelkanal vorzurücken.
Der einzige störende Faktor war ein Bericht der Luftaufklärung, wonach
französische Panzer gegen die entblößte Flanke vorrückten. Fair wie er
war, fühlte er sich verpflichtet, beim Kommandeur der 1. Panzerdivision
anzufragen, ob er bereit sei, mit der gesamten Division nach Westen
abzudrehen oder ob ein Flankenschutz zurückgelassen werden solle.
Vom Ersten Generalstabsoffizier der Division, Major Wenck, kam die
Antwort: »Klotzen, nicht kleckern!«
Auf alle Fälle war zu beiden Seiten der 1. Panzerdivision bereits
starker Flankenschutz vorhanden: auf der rechten Seite hatte sich
endlich das XXXXI. Korps nach Überschreitung der Maas bei Montherme
westwärts in Bewegung gesetzt, und die Panzer der 2. Panzerdivision
rollten dicht daneben vorwärts, denn heftige alliierte Luftangriffe auf die
Brücken hatten keinen Erfolg gehabt. Links daneben wehrten
»Großdeutschland« und die 10. Panzerdivision die Angriffe des
französischen XXI. Korps ab, besonders in der Nachbarschaft des
strategisch wichtigen Dorfes Stonne. Hier kämpften während der zweiten
Tageshälfte des 14. Mai und fast den ganzen folgenden Tag über die
3. DCR und »Großdeutschland« um die Vorherrschaft. Die Franzosen
begannen, Panzer zu verlieren bei dem Versuch, ihre vorgeschobenen
Verteidigungsstellen einzunehmen, und wurden zurückgeschlagen.
Wieder einmal waren ihnen die Deutschen allein schon durch das
Tempo ihrer Panzerangriffe überlegen.
In der Früh des 15. Mai konnte »Großdeutschland« Stonne
einnehmen. Um die gleiche Zeit erhielt die 3. DCR noch einmal Befehl,
einen abschnittsweisen Angriff auf Sedan zu unternehmen. Aber die
Division konnte sich, nachdem sie einmal zerstreut worden war, in solch
kurzer Zeit nicht wieder zusammenschließen. Statt dessen erlaubte sie
sich einen stückweisen Gegenangriff auf Stonne und wurde plötzlich von
inzwischen in Stellung gegangener deutscher Infanterie-Pak unter
Beschuß genommen. Ein verzweifelter Kampf entwickelte sich, Panzer
gegen Geschütze und Geschütze gegen Panzer in der Art, wie sie in
Achtung - Panzer! prophezeit worden war. Die Verluste stiegen auf
beiden Seiten. Die Infanterie hockte machtlos in ihren Stellungen. Eine
kurze Zeit lang waren die schweren Chars B der Franzosen drauf und
dran, die Schlacht für sich zu entscheiden, denn gegen ihre Panzerung
vermochten
die
deutschen
3,7-Zentimeter-Geschütze
wenig
auszurichten. Schließlich blieb nur noch ein deutsches Geschütz in
Aktion, aber das erwies sich als genug. Auf eine Entfernung von 100
Metern entdeckte der Richtschütze an der Seite der französischen
Panzer eine winzige, vergitterte Luftöffnung. Auf diese Öffnungen zielte
er und setzte schnell hintereinander drei französische Kampfwagen
außer Gefecht. Dennoch, um 18 Uhr war Stonne wieder in französischer
Hand, denn »Großdeutschland« war erschöpft.
Guderian beobachtete diesen Kampf am 15. Mai, in Sorge, daß seine
riskante Entscheidung vom Vorabend wegen der Eile nicht zu einem
Rückschlag führte, und auch die Tatsache vor Augen, daß er gegen die
Wünsche Kleists handelte, der sich gegen eine zu frühe Schwenkung
des XIX. Korps nach Westen ausgesprochen und dies mit der
Bedrohung begründet hatte, die jetzt immer mehr Gestalt annahm.
Heftige Worte waren gewechselt worden; Guderian hatte Kleists
Verlangen nach Stopp und Neuformierung als »... Plan, der den Sieg
verschenkt« abgetan. Kleist hatte nachgegeben, aber seine
Befürchtungen hatten zu Recht bestanden, wie sich jetzt zeigte.
Guderian konnte vorgeworfen werden, ein übergroßes Risiko
eingegangen zu sein und einen Feind unterschätzt zu haben, von dem
noch längst nicht der Beweis erbracht war, daß er am Ende seiner Kräfte
war. Die Nachrichten von der 10. Panzerdivision waren sehr
beunruhigend. Sie sah sich auf ihrer äußersten linke Flanke einem
schweren französischen Panzerangriff ausgesetzt und konnte kaum ihre
Infanteriereserve entbehren, um »Großdeutschland« bei Stonne zu
verstärken.
Alles lag auf der Waagschale. Ein abgestimmter Stoß der Franzosen
hätte die Auseinandersetzung zu ihren Gunsten entscheiden können,
selbst wenn ihre Offensive nur mit gedämpfter Stärke vorgetragen
wurde. Zwar hätte sie nicht das XIX. Korps völlig zerschlagen können
(denn das XIV. Armeekorps, motorisiert, stand kurz vor Sedan, und im
äußersten Notfall hätten auch die 1. und 2. Panzerdivision
zurückgebracht werden können), aber allein der Hinweis auf ein
Bremsmanöver auf Seiten Guderians hätte die führende Rolle Kleists
neu bestätigt und Guderians weitere Versuche zum Beweis der
Seecktschen Doktrin von einem hochgesteckten Ziel für immer
unterbunden. Aber es kam anders. Die Franzosen hielten ihren Angriff
an, als er kurz davor stand, zum Erfolg zu führen, und die Krise ging für
Guderian vorüber. Am folgenden Tag traf eine frische deutsche
Infanteriedivision ein, um die Front zu stabilisieren.
Innerhalb von fünf Tagen war die Hälfte der französischen
Panzertruppen ausgeschaltet worden.
Als nächste Einheit in der verhängnisvollen Kette war die 2. DCR
betroffen, die sich das gefährliche Verfahren leistete, ihre Panzer in
kleinen Kontingenten mit der Bahn nach Hirson und St. Quentin zu
transportieren und ihre Nachschub-Lkw über die Straße von Chalons
nach Guise und am 15. Mai weiter östlich nach Signy L'Abbaye fahren zu
lassen. Niemand machte sie darauf aufmerksam, daß sie damit genau
der Gruppe von Kleist in die Arme fuhren, weil kein Mensch auf
französischer Seite genau wußte, wie weit Kleist bereits der Vormarsch
geglückt war. Während am 15. Mai die Schlacht um Stonne tobte,
machte Reinhardts XXXXI. Korps rechts von Guderian bei seinem
Vormarsch nach Westen enorm Boden gut und überrannte bereits
französische Einheiten ohne Gegenwehr. Seine 6. Panzerdivision (die
ihre Schwester, die 8. Division, auf dem Ostufer der Maas
zurückgelassen hatte) hatte die von den Franzosen verteidigte Zone
durchstoßen und die von Truppen entblößten Nachschublinien erreicht,
wo sie begann, bei Nachschubkolonnen, Nachrichtenzentralen und
Depots verheerende Verwüstungen anzurichten. Unter den erbeuteten
Lkw waren die zur 2. DCR gehörenden. Die Fahrzeuge, die entkommen
konnten, rasten nach Süden, waren damit jedoch von den Panzern
abgeschnitten, die sie versorgen sollten. Diese Panzer wurden zur
gleichen Stunde aus Güterzügen zwischen St. Quentin und Hirson
abgeladen und standen dann verloren ohne Schutz und Betriebsstoff in
der Gegend herum, ein willkommenes Geschenk für Reinhardt.
Dieser befand sich um Mitternacht in Liart, als die führenden
Einheiten des XIX. Korps noch weit zurück in Poix-Terron lagen, obwohl
es der 2. Panzerdivision inzwischen gelungen war, den feindlichen
Widerstand zu brechen. Das XIX. Korps hatte am schlimmsten bei den
Kämpfen gelitten. Es war gezwungen gewesen, einen Teil seiner
Truppen zur Verteidigung des »Scharniers« an der südlichen Flanke
abzustellen und war dazu noch mit ein paar gutgeführten französischen
Infanterieeinheiten zusammengestoßen, die keinen Meter Boden
abgaben und hartnäckig kämpften. Um das Dorf Bouvellemont
entwickelte sich eine erbitterte Auseinandersetzung, bei der Balcks
erschöpftes Schützenregiment 1 mit Unterstützung durch Panzer
schließlich über einen Teil der französischen 14. Division die Oberhand
behielt, die von einem künftigen Marechal de France - Lattre de Tassigny
- befehligt wurde. Hier brachte es Guderian erneut fertig, in einem
psychologisch wichtigen Moment aufzutauchen - frühmorgens am 16.
Mai, als die Franzosen mit dem Rückzug begannen -, als seine Männer
gerade nach einer Kampfpause lechzten und die Notwendigkeit bestand,
ihnen neuen Mut einzuimpfen und sie die Verfolgung aufnehmen zu
lassen.
In Situationen wie dieser - bei Triumph oder Krise - zeigte sich der
wahre Guderian. Paul Dierichs, der ihn oft begleitete und als »modernen
Seydlitz« bezeichnet, urteilte damals: »Die völlige Beherrschung der
Lage und das Vertrauen auf Führung und Truppen verbreiteten das
Gefühl der militärischen Sicherheit und der persönlichen Ruhe. Es gibt in
dieser Umgebung keine Aufregung und erst recht keine nervösen
Augenblicke. Das soll nicht heißen, daß General Guderian nicht
manchem Offizier Überraschungen bereiten könnte. Wenn er zum
Beispiel auf dem Gefechtsstand einer unterstellten Einheit das zu
erreichende Tagesziel festlegt, ist mancher im ersten Augenblick
vielleicht geneigt, an einen Scherz zu denken. So weit ist das Ziel noch
von den gegenwärtigen Stellungen entfernt. Aber in knappen, klaren
Darlegungen weiß General Guderian die Notwendigkeit dieses Einsatzes
klarzumachen. Er spricht in solchen Momenten faszinierend und
überträgt seinen ungestümen Drang nach vorwärts auf seine weitere
Umgebung.«
Pulsierende Eile war nicht der einzige Ausdruck der Ungeduld, die ihn
gewöhnlich beseelte. Wie schon so oft war er besorgt angesichts der
Kürze der Zeit, die zur Erzielung überzeugender Resultate zur Verfügung
stand - der konstante Fluch der Panzertruppe vom Tag ihres Entstehens
an und der Ansporn für ihre kühnen Ambitionen. Am Abend zuvor hatte
er eine hektische telefonische Aussprache mit Kleist gehabt, der erneut
seine Besorgnis über die Südflanke äußerte. Wiederum hatte Kleist mit
seiner Vorsicht recht. Die Lage in Stonne war immer noch
unübersichtlich und es gab zuwenig Beweise dafür, daß die Franzosen
nicht mehr die Kraft hatten, einen entscheidenden Gegenschlag zu
führen. Weder Kleist noch dessen Vorgesetzte sollten erfahren, daß die
französischen Panzertruppen praktisch erledigt waren, daß nur noch
anderthalb dieser großen Formationen intakt waren oder daß die Moral
des französischen Oberkommandos bei der Erkenntnis des Unheils, das
über ihre Armeen gekommen war, einen Knacks erlitten hatte.
Die deutschen Truppenführer vorn bei der Angriffsspitze, wo diese die
letzten Überbleibsel der linearen französischen Stellungen durchbrach,
mögen nicht so gut mit Statistiken und komplizierten politischmilitärischen Aufklärungsberichten wie ihr Oberkommando beliefert
worden sein, aber sie hatten recht, wenn sie behaupteten, nun sei der
Augenblick für das Eingehen von Risiken gekommen, denn sie konnten
förmlich riechen, wie der Feind auseinanderfiel, und aus Instinkt und
Erfahrung erkennen, daß der Sieg nahe war.
Dergleichen hatte Guderian nicht gesehen, als er 1914 unweit der
Spitze des Durchbruchs an der Marne mitritt, und doch hielt er Kleist
eine Anspielung auf diesen etwas zweifelhaften historischen
Präzedenzfall entgegen, als dieser versuchte, ihn und seine Truppen
zum Halt zu bewegen. Kleist gab nach und bewilligte ihm eine neue
24stündige Frist. Aber Guderian wußte damals nicht (weil Kleist
gegenüber seinem vorgesetzten Offizier unerschütterlich loyal war), daß
Kleist lediglich Befehlen von oben gehorchte - zudem noch Befehlen, die
weder der gegenwärtigen Stimmung im OKH noch der des OKW
entsprachen.
Am 14. Mai waren OKW und OKH übereingekommen, das XVI. Korps
von der Heeresgruppe B in Belgien abzuziehen, um den Erfolg von
Rundstedts Heeresgruppe A in Frankreich noch zu vergrößern. Am 16.
Mai gab Halder seiner Freude über einen Durchbruch Ausdruck, der
»... sich nach fast klassischem Muster entwickelt«, eine Meinung, die
man beim OKW teilte. Rundstedt indessen hatte am 15. Mai gewisse
Bedenken, als der Vormarsch von der Maas nach Westen kaum in Gang
gekommen war. Sein Kriegstagebuch enthält eine Eintragung, in der er
die Notwendigkeit eines Stopps an der Oise mit einer möglichen
Bedrohung von Süden her begründet.
Dem Feind dürfe unter keinen Umständen ein Erfolg gestattet werden,
»... weder an der Aisne noch später im Gebiet um Laon«. Am 16. Mai
zeigte sich, daß diese Befürchtungen zu Recht bestanden.
Guderian stieß an diesem Tag nur mit der 1. und der 2.
Panzerdivision vor und ließ die 10. Panzerdivision und das
Infanterieregiment »Großdeutschland« südlich von Sedan als Schutz
gegen Angriffe aus südlicher Richtung und mit Rücksicht auf Kleists
Besorgnis zurück. Die Franzosen griffen erneut wiederholt den
Angelpunkt Stonne an und verursachten bei der anrückenden deutschen
Infanterie Verluste. Aber sie kamen nicht voran. Die restlichen Verbände
des XIX. Korps stürmten voraus und standen bei Einbruch der Nacht
kaum mehr als 30 Kilometer vor Dercy an der Serre. Zur selben Stunde
traf eine Kampfgruppe des XXXXI. Korps in Guise an der Oise ein und
begann, unter den stehengebliebenen Panzern der 2. DCR
aufzuräumen. Zweckdienlich Kleists 24stündige Frist mißachtend, erteilte
Guderian an diesem Abend über Funk den Befehl, den Vormarsch am
folgenden Tag fortzusetzen. Die Funksprüche wurden in Kleists
Hauptquartier abgehört, das sofort einen diktatorischen Gegenbefehl
erließ und Guderian ersuchte, Kleist am nächsten Morgen zu einer
persönlichen Aussprache zu erwarten.
Am 17. Mai um 7 Uhr früh stieg General von Kleist auf dem
Landeplatz des Hauptquartiers des XIX. Korps aus seiner Maschine und
begann ohne Begrüßung, Guderian heftige Vorwürfe zu machen und ihn
zu beschuldigen, sich absichtlich über Befehle hinweggesetzt zu haben.
Guderian bat sofort um Enthebung von seinem Kommando. Keiner der
beiden Männer war in jenem Augenblick von Vernunft geleitet, beide
waren nervös - Kleist weit mehr, als Guderian es ahnen konnte. Denn
Kleist war innerlich nicht viel mehr für Anhalten als Guderian.
Die Ungewißheit ging von Rundstedt aus. Erneut kommt in dessen
Kriegstagebuch ein Anflug von Zweifel zum Ausdruck, denn unter dem
Datum des 16. Mai steht zu lesen, die Kommandeure der motorisierten
Einheiten seien überzeugt, daß sie über die Oise vorstoßen könnten,
»... besonders die Generäle Guderian und Kleist«, und weiter heißt es
dann: »Aber wenn man die Operationen insgesamt betrachtet, scheint
das einzugehende Risiko nicht gerechtfertigt zu sein. Die ausgedehnte
Flanke zwischen La Fere und Rethel ist zu anfällig, besonders im Gebiet
von Laon... Wenn die Angriffsspitzen für kurze Zeit anhalten, wird es
möglich sein, binnen 24 Stunden eine gewisse Versteifung der
bedrohten Flanke zu erreichen.«
Es liegt auf der Hand, daß Kleist es nicht für notwendig erachtete,
Guderian Rundstedts Gründe zur Besorgnis zu erklären. Ihr Verhältnis
war schon zu sehr angespannt. Aber Rundstedt war erschüttert, als
Guderians Ablösungsgesuch eintraf. Die Dinge waren zu weit gegangen,
wenn ein Günstling Hitlers das tat! Er übermittelte ihm einen kurzen
Befehl, auf seinem Posten zu bleiben und einen Bevollmächtigten zu
erwarten - keinen Geringeren als den Oberbefehlshaber der 12. Armee,
Generaloberst List.
List traf am Nachmittag ein, beschied schnell Guderians Rücktritt
abschlägig und wies ihn im Auftrag von Rundstedt an, »kampfkräftige
Aufklärung« zu treiben, den Korpsgefechtsstand allerdings am
bisherigen Standort zu belassen. Dies gab in der Tat Guderian freie
Hand, eine, die er dadurch noch freier machte, daß er ein Feldfernkabel
zu seinem vorgeschobenen Gefechtsstand legen ließ, so daß er seine
Befehle per Telefon statt über Funk erteilen und nicht mehr von
ranghöheren Offizieren abgehört werden konnte. List bestätigt diese
Vorgänge ebenso wie Guderians Bitte an ihn, sich für ihn bei Kleist als
Friedensstifter zu verwenden.
Zwischen der Niederlegung seines Kommandos und der
Wiedereinsetzung setzte sich Guderian hin und teilte in einem Brief
Gretel seine Sorgen mit. Dieser Brief ist nicht mehr vorhanden, aber sein
Inhalt wird aus ihrer Antwort am 27. Mai ersichtlich, in der sie unter
anderem schrieb: »Es wäre ja geradezu Wahnsinn und Tragik, wenn Du
im Augenblick der Krönung Deines Lebenswerkes abseits stehen
würdest. Trotz all Deiner Not laß Dich bitte nicht zu Schritten verleiten,
die Dir schaden und Dich für Dein Leben unglücklich machen müssen,
Liebster, ich bitte Dich herzinnigst darum. Wenn Du handeln mußt, dann
meine ich direkte Nachricht an den Führer. Alles andere bringt Dir immer
wieder Nachteile.«
Sie schrieb weiter, er möge vorsichtig sein mit dem, was er schreibe »gerade dieser schwerwiegende Brief ist hier von der Zensurstelle
geöffnet worden« -, und schloß daran die Überlegung an: »Ich wollte
schon bei Bodewin (Keitel) um Aufklärung bitten, konnte mich aber doch
nicht recht dazu entschließen und wollte mich noch bedenken, ob es
wohl in Deinem Interesse sein könnte.«
Die Wachsamkeit der militärischen Behörden - es ist
unwahrscheinlich, daß diese Zensur vom Staat angeordnet worden war scheint schlagartig ihr Mißtrauen gegenüber Guderian zu beleuchten.
Die Post eines ranghohen Generals zu öffnen und zu lesen, war selbst
für eine überhandnehmende Bürokratie, gelinde gesagt, ungewöhnlich,
während die Entsendung eines Majors zu Frau Guderian, der diese
ersuchen sollte, Schweigen über den Inhalt des Briefes ihres Mannes zu
bewahren, deutlich ein Unbehagen der offiziellen Stellen über den Vorfall
zeigte. Aber die Unstimmigkeiten, die ihn ausgelöst hatten, waren ein
Sturm im Wasserglas im Vergleich zu dem, was sich zwischen der
Führung von OKW, OKH und Heeresgruppe A zusammenbraute.
Am gleichen Tag fuhr Hitler, von den bisherigen Erfolgen erschreckt,
zu Rundstedt (einem Offizier, der nur zu bereit war, die Befürchtungen
des Führers zu teilen) und erklärte ihm, es sei wichtiger, eine Kette
sicherer Erfolge beizubehalten als ein Risiko einzugehen und zu
versuchen, zum Kanal durchzustoßen. Der Umfang von Guderians
Vormarsch war ein weiteres Mal zu groß für Hitlers begrenzte
Vorstellung mobiler Operationen. Bruchstücke von Hitlers Vorbehalten
machten die Runde beim OKW, nahmen in einigen Fällen die Form
direkter Befehle an einzelne Heeresdivisionen an und erregten den
Unmut Halders, der an jenem Morgen völlig befriedigt darüber war, daß
es »überhaupt keine Gefahr« gab. Er überblickte die Lage mit der
gleichen, präzisen Einsicht wie die Kommandeure der Angriffsspitze und
behielt einen kühlen Kopf, als später Hitler und seine Umgebung
zwischen Euphorie und Melancholie, Überheblichkeit und Angst hin- und
her gerissen wurden.
Brauchitsch seinerseits stellte sich hinter Rundstedts Entscheidung
für einen Stopp zu ungefähr der gleichen Zeit, als List auf Rundstedts
Geheiß Guderians Enthebung vom Kommando rückgängig machte,
während Halder am gleichen Abend Hitler davon überzeugte, daß im
Augenblick die Dinge gut stünden. Die Bremsen wurden wieder
gelockert, aber ein Präzedenzfall war geschaffen worden. Von nun an
quälte Hitler Rundstedt, der sich als nachgiebiger Charakter erwiesen
hatte und der später, wenn er nicht ausnahmsweise einmal wütend
wurde, sich beugte, wenn Hitler tönte.
Fast unbemerkt und mit Gewißheit weder Kleist gemeldet noch mit
entsprechender Aufmerksamkeit beim Hauptquartier des XIX. Korps
registriert, hatte ein Ereignis, dem allerdings ein allzu großer Wert in der
Geschichte des Panzerkrieges beigemessen wird, in dem Zeitraum
stattgefunden, in dem die deutschen Befehlshaber sich hinter der Front
gegenseitig Vorwürfe machten. In schnellem Tempo und ohne
Koordinierung die Landstraße aus Richtung Laon anrückend, hatten ein
französisches Bataillon mit Char B-Panzern und zwei Bataillone leichter
Panzer die linke Flanke der deutschen 1. Panzerdivision erfolgreich
angegriffen. Es war das Verdienst der 4. DCR, einer unvollständigen,
nicht fertig ausgebildeten Einheit, die von de Gaulle befehligt wurde, der
eine knappe Woche zuvor sein Kommando übernommen hatte. In der
Erkenntnis, die Guderian teilte, daß Tempo die einzig richtige Lösung
war, hatte er Guderians Flanke in der Hoffnung angegriffen, hier die
weiche Stelle der Division, deren Stäbe und Troß, zu treffen.
Tatsächlich traf er jedoch auf Muskeln, zwar nur zufällig infolge des
von Kleist verfügten Halts, doch nicht ganz ohne Erfolg. Leichte
deutsche Einheiten wurden weggefegt, und um 16 Uhr, als Guderian in
wenigen Kilometern Entfernung seine Aussprache mit Kleist hatte, hatten
die Franzosen Montcornet genommen und bedrohten die deutschen
Nachschubkolonnen. Doch dann mußten die Franzosen ihren Angriff
einstellen. Infanterie- und Artillerieunterstützung blieben aus, und auch
der Sprit ging zur Neige. Dann hatte sich die deutsche Verteidigung
verstärkt. Die Luftwaffe griff an. Zwar konnte sie nur einen französischen
Panzer abschießen, doch die übrigen rasten über die Straße zurück, auf
der sie gekommen waren. Nach dem Krieg bauschte die gaullistische
Propaganda dieses Gefecht auf, aber in Wirklichkeit hatte es auf
deutscher Seite außer bei der betroffenen 1. Panzerdivision kaum
Aufregung und Alarm gegeben.
Warum auch? Wieder einmal hatten die Franzosen Entschlußkraft
vermissen lassen, und die 10. Panzerdivision befand sich bereits im
Anrollen, um die sich Rethel nähernde Angriffsspitze zu verstärken und
in de Gaulles Flanke zu schlagen. Zudem waren die bereits tief in
Frankreich stehenden deutschen Truppen besser mit Treibstoff und
Munition versorgt als die Franzosen. Die Deutschen errichteten Depots
in der Etappe zusammen mit Instandsetzungswerkstätten, so zum
Beispiel in Hirson. Ihr System wurde mit zunehmender Praxis immer
besser, während die französischen Nachschublinien zerbröckelten. Am
Abend des 18. Mai näherte sich die 1. Panzerdivision Peronne, kaum
ernstlich behindert durch weitere isolierte Anzeichen französischen
Widerstands. Die ersten britischen Gefangenen wurden gemacht und
neugierig gemustert.
Zur selben Zeit gelang es Halder endlich, Hitler davon zu überzeugen,
daß der Weg zum Kanal frei sei mit dem Ergebnis, daß das OKH sich
über Rundstedt hinwegsetzte und Kleist angewiesen wurde, Guderian
die Zügel schießen zu lassen. Paradoxerweise war das ein Zeichen für
Guderian, das Tempo zu verlangsamen, wenn auch unfreiwillig. Die
Panzer mußten gewartet werden, die 10. Panzerdivision war bei Harn
auf Widerstand gestoßen und aufgehalten worden. Da befürchtete man
eine Treibstoffkrise infolge eines Berichts, daß das neuerrichtete
Treibstofflager in Hirson in Brand geraten und zerstört sei, und obendrein
entdeckten
Aufklärungsflugzeuge
eine
größere
französische
Panzereinheit - die 4. DCR natürlich -, die im Gebiet nördlich von Laon
zusammengezogen wurde und Guderians Flanke und Rücken bedrohte.
Guderian erwähnt in seinen Erinnerungen weder die Treibstoffkrise noch
die Notwendigkeit, kürzer zu treten (man kann sich vorstellen, daß er
sich dabei etwas lächerlich vorgekommen wäre) und beschönigt eher
das schleppende Vorwärtskommen, indem er de Gaulle Tribut zollt:
»... einzelne Panzer gelangten am 19. Mai bis auf zwei Kilometer an
meinen vorgeschobenen Gefechtsstand im Holnonwald heran... und ich
durchlebte einige Stunden der Ungewißheit«. Aber er hatte recht, wenn
er fortfuhr: »Die Bedrohung der Flanke war gering« (die Aufklärer hatten
stark übertrieben und aus 150 Panzern mehrere hundert gemacht) und
»... nicht annahm, daß die sich gegen uns in Bewegung setzen würden,
solange wir selber in Bewegung blieben«.
Guderian hatte nicht die Absicht stehenzubleiben; der Angriff der
4. DCR (der einzige, der Aussicht auf Erfolg hatte) wurde abgeschlagen,
ohne daß die Franzosen einen größeren Einschnitt in die Flanke des
XIX. Armeekorps hätten machen können. Eine bessere Gelegenheit
bekamen sie nie wieder, denn bis zum Abend des 19. Mai waren die
Unpäßlichkeiten des XIX. Korps geheilt. Es sickerte auch durch, daß das
Tanklager in Hirson gar nicht in Brand geraten war; der Funkspruch, der
diese Nachricht übermittelt hatte, war falsch entziffert worden; in
Wirklichkeit hatte die Meldung gelautet, das Depot sei bereit, seine
Arbeit aufzunehmen.
Am folgenden Tag, dem 20. Mai, gelang dem XIX. Korps sein
längster, dramatischster Vormarsch innerhalb eines Tages - die weiteste
Distanz überhaupt, die eine Panzereinheit im Frankreichfeldzug
innerhalb von 24 Stunden zurücklegte: 90 Kilometer vom Canal du Nord
bis nach Abbeville an der Küste. Das XXXXI. Korps hielt rechterhand
beinahe Schritt. So konnte sich an diesem Abend Kleist rühmen, drei
Panzerdivisionen auf einem Frontabschnitt von 25 Kilometer Länge
zwischen Abbeville und Hesdin versammelt zu haben, die praktisch
nichts daran hindern konnte, entweder nach Süden in Richtung Dieppe
und Le Havre oder nach Norden gegen Boulogne, Calais und
Dünkirchen zu schwenken. Nicht nur waren die alliierten Armeen in zwei
Hälften aufgetrennt worden; mehr und mehr wuchs die Gefahr, daß sie
von ihren Nachschubbasen abgeschnitten wurden.
Ein Offizier der 1. Panzerdivision berichtete: »Wir hatten ein Gefühl,
wie es vielleicht ein ausgezeichnetes Rennpferd hat, wenn es von
seinem Reiter kühl und mit Bedacht zurückgehalten wird, um dann
plötzlich den Kopf freizubekommen, in flotten Galopp zu verfallen und als
Sieger durchs Ziel zu gehen.« Aber Rennpferde machen, wie Füller
einmal schrieb, »... an der Zielmarke nicht halt«, und Guderian hielt
niemals mit Absicht ein galoppierendes Rennpferd zurück. So hatte er
auch die Notwendigkeit verspürt, die 2. Panzerdivision am 20. Mai
energisch voranzutreiben, als sie ihm mit der alten Ausrede kam, der
Treibstoff gehe zu Ende, um Zeit fürs Ausruhen zu gewinnen. Zweifellos
erinnerte sich Guderian an Richthofens »Hufeisenproblem« von 1914 zur
Zeit des Durchbruchs in derselben Region. Diesmal fruchtete freilich die
Ausrede nichts, und die 2. Panzerdivision »fand« irgendwie das Benzin,
das sie bis Abbeville brachte. Halder war sicherlich überrascht; er
zögerte seine Entscheidung bis zum Mittag des 21. Mai hinaus und
ordnete dann eine Schwenkung nach Norden gegen Boulogne an statt
den erwarteten Vormarsch nach Süden. Um die gleiche Zeit flaute Hitlers
Zuversicht wieder ab, als er auf den Karten die ungesicherte Südflanke
entdeckte und sich in seiner Phantasie ausmalte, welche Bedrohung
bisher geheimgehaltene französische Einheiten darstellen könnten.
Aber der französische Aufmarschplan hatte nichts von offensivem
Wert enthüllt. Es hatte zwar einen Wechsel an der Spitze der Streitkräfte
gegeben (ebenfalls ein Erfolg der Deutschen), und auch eine
Gegenoffensive zum Durchbruch durch den Panzerkorridor war im
Gespräch. Aber Franzosen und Briten wußten bereits, daß diese
Operation praktisch über ihre Möglichkeiten hinausging, und die
Deutschen konnten sich dasselbe ausrechnen, und zwar ebenso genau
anhand von Luftaufklärungsergebnissen, abgehörten Funksprüchen und
Informationen von Agenten und Kriegsgefangenen, darunter mehreren
ranghohen französischen Generälen, die ihnen ins Netz gegangen
waren.
Halder sprach sich für eine Bewegung nach Norden aus, aber es
wurde Abend, bevor Kleist wieder aufbrach und Guderian anwies, in die
Lücke vorzustoßen, die im von der Verteidigung entblößten Rücken der
Alliierten entstanden war, und die Kanalhäfen Boulogne und Calais
einzunehmen. An diesem Tag begann sich die Kette verhängnisvoller
Ereignisse abzuzeichnen. Die Briten griffen in südlicher Richtung bei
Arras mit Panzern an und fügten Rommels 7. Panzerdivision schwere
Verluste zu. Bei Einbruch der Nacht hatte er das Schlimmste
überstanden, weil es dem britischen Angriff an Gewicht fehlte, aber die
Auswirkungen auf deutscher Seite waren beträchtlich. Obwohl Halder
nicht im mindesten beunruhigt war - er begrüßte, wie Guderian auch,
jeden mißglückten Angriff der Alliierten, der dazu beitrug, ihre
Streitmächte im Kampf gegen eine geschmeidige und mit ihren Kräften
haushaltende deutsche Verteidigungslinie weiter zu dezimieren -, ergriff
Kleist die üblichen Maßnahmen und behielt eine Division - die
10. Panzerdivision - als Reserve zurück und schwächte Guderians
Kampfkraft auf diese Weise noch mehr, denn mehrere andere Einheiten
seines Korps hatten in Abbeville und in anderen Schlüsselstellungen
zurückgelassen werden müssen, um die Sommeübergänge zu schützen.
Auch Reinhardt fühlte sich verpflichtet, eine Division nach Osten zu
beordern als Vorsichtsmaßnahme gegen die Bedrohung in Arras. Die
Folge war, daß Rundstedt sich neue Sorgen machte und Hitler, unnötig
zu sagen, unruhig wurde; keiner der beiden konnte sich dazu
durchringen, an einen totalen Sieg zu glauben. Der fügsame Brauchitsch
hatte nicht genug Willensstärke, um sie zu beruhigen oder zum
Schweigen zu bringen. Von den ranghöchsten Offizieren bewies nur
Halder wirkliches Verständnis für Guderian und dessen Kollegen.
Inzwischen waren die alliierten Truppen im Norden auf halbe Ration
gesetzt worden, und eilige Schritte wurden unternommen, um eine
völlige Einkesselung zu verhindern. Kleinere britische Einheiten wurden
von England herübergeschickt, um in Boulogne und Calais in Garnison
zu gehen und den Weg nach Dünkirchen zu versperren, weil eine von
dort erfolgende Evakuierung über See Aussicht auf Erfolg zu haben
schien. Aber es sollte bis zum Morgen des 22. Mai dauern, bevor das
Hauptkontingent der britischen Besatzung in Boulogne einrückte. Daraus
folgt, daß Guderian oder Reinhardt, wäre am 21. Mai sofort ihr
Vormarsch auf Boulogne befohlen worden und hätten sie das gleiche
Tempo vorgelegt wie am 20. Mai, die Hafenstadt praktisch ohne
Verteidigung vorgefunden hätten. Ebenso hätten sie Calais für ein
Butterbrot bekommen, weil auch die Garnison dieses Hafens erst am
22. Mai komplett war. Aber nach Lage der Dinge machte Guderian am
21. Mai keine Bewegung, weil, wie oben erwähnt, weder OKH noch
OKW sich rechtzeitig Gedanken über die Weiterführung der Operationen
gemacht hatten. Guderian war auf diese Weise das Opfer seines
eigenen Tempos geworden. Dennoch reichte die Zeit noch reichlich, um
alle Ziele mit geringen Kosten zu erreichen.
Guderian setzte am 22. Mai um 8 Uhr früh die Bewegung nach
Norden fort. Seine ursprüngliche Absicht war, die 10. Panzerdivision auf
Dünkirchen, die 1. auf Calais und die 2. auf Boulogne anzusetzen.
Diesen Plan mußte er jedoch aufgeben, als ihm Kleist die
10. Panzerdivision wegnahm und er nur die 2. Panzerdivision zur
sofortigen Verfügung hatte, um den Vormarsch auf Boulogne zu
beginnen, die er dann auch in Bewegung setzte, ohne Kleists
Einverständnis abzuwarten, wie das Kriegstagebuch des Korps aufweist.
Man traf unterwegs auf starken Widerstand französischer Einheiten, und
auf den Anhöhen über dem Hafen hielten britische Truppen ihre
Stellungen, die mit schweren Flakgeschützen ausgerüstet waren, die sie
nach Art der vergleichbaren deutschen 8,8-Zentimeter-Geschütze
einsetzten. Nun sahen sich die Deutschen in eine Schlacht verwickelt,
wie sie ihnen bisher nur gelegentlich französische Verbände der ersten
Welle geliefert hatten.
Es dauerte über 36 Stunden, bis Boulogne gesäubert war. Inzwischen
hatte Guderian auch wieder die 10. Panzerdivision zur Verfügung und
erhielt am 23. Mai den Befehl, Calais zu belagern. Obwohl er wußte, daß
britische Truppen im Anmarsch waren, sah er keine vorrangige Aufgabe
in der Einnahme der Hafenstadt, die ohnehin im Lauf der Zeit fallen
würde. Sein Ziel und das von Kleist war, eine solide Barriere zwischen
der Kanalküste und den alliierten Armeen im Osten zu errichten und den
Gegner auf diese Weise zu zwingen, sich den rettenden Weg durch
einen immer dicker werdenden deutschen Ring zu erkämpfen. Als
seinen Beitrag zum Schmieden dieses Rings ließ Guderian am 23. Mai
die 1. Panzerdivision in Richtung Gravelines und Dünkirchen - vor allem
Dünkirchen - vormarschieren. Das Tagebuch des XIX. Korps läßt keinen
Zweifel an dieser Tatsache.
Aus Gründen der Effekthascherei wird in der offiziellen britischen
Darstellung des Frankreichfeldzuges behauptet, Guderian habe diese
Befehle erteilt, ohne zu wissen, in welch schwieriges Gelände er seine
Truppen warf. Dabei wird die Tatsache übersehen, daß Guderian das
Gebiet zu gut aus dem Ersten Weltkrieg kannte (und es aus der Luft
erkundet hatte), um die Risiken für Panzer auf diesem Boden zu
verkennen. Am 23. Mai wurden die Nachteile der Bodenbeschaffenheit
mehr als wettgemacht durch ein Übergewicht an günstigen
Voraussetzungen und Truppenstärke. Die Gruppe von Kleist war (trotz
eines Verlusts von zehn Prozent seit dem 10. Mai) ihren Gegnern zu
diesem kritischen Zeitpunkt an Zahl überlegen und besiegte sie leicht.
Das deutsche Übergewicht war ganz deutlich so groß, daß Guderian im
Kriegstagebuch seines Korps erklärte, es wäre »möglich und
zweckmäßig gewesen, die drei Aufgaben (Aa-Kanal, Calais und
Boulogne) schnell und durchschlagend zu lösen« - ein bezeichnendes
Abgehen, in zuversichtlichen Worten, von seiner üblichen Forderung
nach Konzentration aller Kräfte. Am Morgen des 24. Mai war Boulogne
genommen, der Aa-Kanal von der 1. Panzerdivision überquert (die
britische Panzer beiseite gefegt hatte, die von Calais zu einem Ausfall
angerückt
waren),
und
die
durch
zusätzliche
motorisierte
Infanteriedivisionen verstärkten Panzerdivisionen von Reinhardt und
Hoth brausten heran, um den Angriff der 1. Panzerdivision auf
Dünkirchen zu unterstützen. Eine ansehnliche und vielseitige Streitmacht
war auf diese Weise entstanden. Ferner wurde die südliche Flanke
schrittweise von Infanteriedivisionen gesichert, die im Eiltempo auf
Abbeville zu marschierten, und die Befestigungsanlagen von Boulogne
wurden von alliierten Kriegsgefangenen instand gesetzt - ein Verstoß
gegen die Kriegsregeln.
Und genau zu diesem Zeitpunkt, als Dünkirchen nur noch 25
Kilometer entfernt und reif zur Einnahme am folgenden Tag war (in
britischen Lageberichten wurde der Fall der Stadt für wahrscheinlich
angesehen), erfolgte der berühmte »Halt«-Befehl. Ohne in eine
detaillierte Erörterung der Gründe für diesen Befehl und der sich daraus
ergebenden Kette von Ereignissen einzutreten, genügt es festzustellen,
daß er ursprünglich von Rundstedt am 23. Mai ausgegeben wurde.
Einmal mehr hatte dieser die Nerven verloren und bemühte sich nun
energisch, den Vormarsch aufzuhalten, um seine Streitkräfte
zusammenzuschließen, bevor sie in heftige Kämpfe mit einem
verzweifelten Feind verwickelt wurden - eine Auffassung, der Kluge, der
Oberbefehlshaber der 4. Armee, die vorwiegend aus marschierender
Infanterie bestand, beipflichtete.
Es war reiner Zufall, daß am gleichen Tag Göring Hitler
vorgeschlagen hatte, der Luftwaffe die Ehre zu überlassen, in
Dünkirchen die restliche Arbeit zu besorgen, die vom Heer nahezu
abgeschlossen war. Hitler, der immer noch die Besorgnis hegte, die ihn
am 15. Mai befallen hatte, war hocherfreut, eine neue Lösung zu finden,
zumal dadurch eine naziorientierte Organisation die Möglichkeit erhielt,
sich eine größere Scheibe vom Siegeskuchen abzuschneiden. Am 24.
Mai suchte er vormittags noch einmal Rundstedt auf, erfuhr von dem
»Halt«-Befehl und bestätigte ihn frohen Herzens.
Guderian schreibt dazu: »Wir waren sprachlos. In Unkenntnis der
Gründe hielt es aber schwer, dem Befehl zu widersprechen.« Bald sollte
er erfahren, daß es ein Führerbefehl war. Das hieß, daß ein neuer
Präzedenzfall für die Zukunft geschaffen worden war: Hitler hatte
entscheidend in die Führung einer Schlacht eingegriffen und bei der
Entscheidung über eine Operation den Chef des Generalstabes
überfahren.
Es kam zum Streit. Halder war entsetzt, erhob lautstarken Protest und
wurde überstimmt. Zwei SS-Infanterieverbände, die anrückten, um am
Aa-Kanal Stellungen der 1. Panzerdivision zu übernehmen, stießen am
26. Mai vor, um ihre Positionen zu verbessern und wurden von Guderian
angespornt. Sepp Dietrich, der Kommandeur der Leibstandarte »Adolf
Hitler«, genoß das Vertrauen des Führers. Am Nachmittag dieses Tages
lockerte Hitler völlig unerwartet, vielleicht weil jetzt die nazitreue SS
betroffen war, seine Sperre. Doch inzwischen hatten Briten und
Franzosen ihre Stärke wiedergefunden, der ursprüngliche deutsche
Angriffsschwung war verlorengegangen, und es kam zu erbitterten
Gefechten. Nur geringe Geländegewinne konnten am 27. und 28. Mai
erzielt werden. An beiden Tagen wohnte Guderian auf
Beobachtungsposten in vorderster Linie den Kämpfen bei. Mit der
Befürchtung, die besten deutschen Truppen könnten vergeudet werden,
kehrte er zu seinem Korpsgefechtsstand zurück und erstattete Kleist
Meldung in einem Bericht, den er in seinen Erinnerungen nicht erwähnt
(vermutlich, weil er nach dem Krieg keinen Zugang zum Kriegstagebuch
seines Korps hatte):
»1. Nach der Kapitulation der Belgier (am 27. Mai - K. M.) ist eine
Fortführung der Operationen hier unerwünscht, weil die Fortführung des
Kampfes unnötige Opfer kostet. Die Panzerdivisionen haben nur noch 50
Prozent ihres Panzerbestandes. Dieser Bestand ist dringend
reparaturbedürftig, wenn das Korps in kurzer Zeit für andere Operationen
wieder verwendungsbereit sein soll.
2. Ein Angriff mit Panzern in dem durch den Regen völlig
aufgeweichten Polderland ist zwecklos. Die Truppe ist im Besitz des
Höhengeländes südlich Dünkirchen, sie ist im Besitz der wichtigen
Straße Cassel-Dünkirchen und hat in den Höhengeländen von Crochte
und Pitgam günstige Artilleriestellungen, aus denen sie Dünkirchen unter
Feuer nehmen kann. Außerdem kommt der Gruppe die 18. Armee (Teil
von Bocks Heeresgruppe B - K. M.) von Osten entgegen, die mit ihren
infanteristischen Kräften zum Kampf im Polderland geeigneter ist als
Panzer, und der das Schließen der Lücke an der Küste deshalb
überlassen werden kann.«
Das war die Ansicht, die Hitler und das OKW am 24. Mai geäußert
hatten, als der Weg frei war. Diesmal konnte Kleist nicht umhin,
zuzustimmen und das XIX. Armeekorps als Reserve zurückzubehalten,
um es auf seine nächste Aufgabe vorzubereiten, die in der Erneuerung
der Offensive in südlicher Richtung bestand.
Die offizielle britische Geschichtsschreibung deutet an, Guderian wäre
sicher nicht so darauf aus gewesen, mit seinen Panzern im Gebiet um
Dünkirchen aufzufahren, wenn er über die Bodenverhältnisse Bescheid
gewußt hätte, die am 23. Mai hier herrschten, und zuweilen ist auch
vermutet worden, Guderian sei sich bis dahin noch nicht völlig über die
hemmende Wirkung morastigen Geländes auf Panzertruppen im klaren
gewesen. Keiner der beiden Vorwürfe braucht erschöpfend untersucht
zu werden. Auf den Seiten von Achtung - Panzer! wird die letztere
Andeutung voll widerlegt, und es ist nicht gerechtfertigt, den Zustand der
verstärkten Verteidigung Dünkirchens am 28. Mai mit der kaum
existierenden vom 23. Mai zu vergleichen. Obwohl der Anschein erweckt
wird, als habe Guderian mit Hitler übereingestimmt, so war dies bei
weitem nicht der Fall.
In der Zwischenzeit versuchte die Luftwaffe, durch Bombenangriffe
das zu erreichen, was die Armee durch Besetzung hatte tun wollen.
Guderians Männer genossen dadurch den Vorzug, als Zuschauer dem
ersten größeren Versuch beizuwohnen, aus der Luft eine Landschlacht
mit anderen Vorzeichen allein zu gewinnen - der erste einer Reihe
außerordentlicher Fehlschläge, die noch kommen sollten.
Es konnte keinen Zweifel mehr daran geben, daß die
Panzerdivisionen sich ihre Sporen verdient hatten. Nicht einmal ihre
hartnäckigsten Gegner innerhalb der deutschen Militärhierarchie konnten
sie als dominierende Waffe übersehen. Diejenigen, die immer noch
teilweise Bedenken hegten, bewahrten in weiser Voraussicht Schweigen,
als am 28. Mai Hitler Guderian zum Befehlshaber einer Panzergruppe
machte. Sie bestand aus dem XXXIX. und dem XXXXI. Armeekorps, mit
je zwei Panzerdivisionen und einer motorisierten Infanteriedivision sowie
mehreren zusätzlichen Verbänden. Diese Zusammenstellung machte die
»Panzergruppe Guderian« (deutlich sichtbar gekennzeichnet durch den
großen Buchstaben »G« auf ihren Fahrzeugen) in Wirklichkeit zu einer
Armee, wenn sie auch nicht deren Namen führte. Diese deutliche
Unterscheidung wurde beibehalten, um die ehrgeizigen Panzerleute in
ihren Grenzen zu halten. Den Panzergruppen blieb der volle Status einer
Armee versagt; sie wurden einer Armee zugeteilt - Guderians
Panzergruppe wurde der 12. Armee unter Generaloberst List unterstellt , damit die traditionelle Autorität des alten Systems nicht geschwächt und
entwertet würde.
Der Sieg war den Deutschen sicher. Sie konnten nicht nur die Zahl
der von ihnen zerschlagenen alliierten Verbände und deren zerstörtes
Material genau abschätzen, wenn sie die ausgebrannten Panzer an den
Schauplätzen der Kämpfe und die Gefangenen zählten, sondern sich
auch durch Abhören des gegnerischen Funkverkehrs ein genaues Bild
von den improvisierten Abwehrstellungen machen, die sie zwischen der
Maginotlinie und Abbeville erwarteten. Sie wußten: den Stellungen fehlte
beides, Tiefe und ausreichende bewegliche gepanzerte Truppen. Weil
sie das alles genau wußten, schien ihr Ziel verhältnismäßig leicht zu
erreichen zu sein; schließlich war die Abstimmung ihrer Pläne für die
südwärts gerichtete Offensive harmonisch.
Guderian hatte sich mit Busch und Kleist ausgesöhnt, und beide
waren (zu seiner Freude) außerordentlich aufrichtig in ihrem Lob für
seine Leistungen gewesen. Auch mit Rundstedt, dem jetzt die 12. Armee
und die »Panzergruppe Guderian« unterstellt wurden, gab es keine
Reibereien mehr. Die schwachen Stellen des Gegners waren
offensichtlich. In gelöster Stimmung - fast im Übermut - konnte man sich
Freiheiten herausnehmen. Die Offensive sollte beginnen, sobald die
verschiedenen Heeresgruppen sich von den Strapazen der vergangenen
Wochen erholt und ihren Aufmarsch abgeschlossen hatten. Die
Heeresgruppe B setzte sich am 5. Juni auf dem rechten Flügel in
Küstennähe nach Süden in Bewegung; die Heeresgruppe A wurde bis
zum 9. Juni zurückgehalten. Diesmal wurde der Infanterie Gelegenheit
gegeben, wieder ihren Einfluß zu gewinnen, und zwar durch die
Erlaubnis, die Offensive anzuführen und Breschen für die
Panzerdivisionen zu schlagen.
Das gelang nicht ohne Rückschläge. Die französischen und einige
wenige britische Divisionen kämpften verbittert. Kleists Gruppe erlitt am
6. und 7. Juni südlich von Amiens erhebliche Verluste. Es war Hoths
Korps auf dem äußersten rechten Flügel, an dessen Spitze mit
charakteristischem Elan die 7. Panzerdivision unter Rommel vorging,
dem der erste eindeutige Durchbruch gelang und das einen
Nonstopvormarsch auf Rouen, Le Havre und Cherbourg begann. Aber
die Dinge liefen nicht gut am 9. Juni, dem Tag, an dem Guderian einen
der von Infanterie eingeleiteten Übergang über die Aisne und den
Aisnekanal zwischen Chateau Porcien und Attigny ausnutzen wollte. Bei
Tagesanbruch tat sie sich schwer mit der Überquerung und konnte nur
einen kleinen Brückenkopf bei Chateau Porcien bilden. An anderen
Stellen wurde sie zurückgeschlagen. Es wurde Nacht, bis die vordersten
Panzer der 1. Panzerdivision in den Brückenkopf vorgezogen werden
konnten. Den ganzen Tag über war Guderian pausenlos von einer
Einheit zur anderen gefahren, hatte Erkundigungen über das
Vorankommen der Infanterie eingezogen und versucht, seine künftigen
Operationen mit ihr abzustimmen. Dabei traf er auf Empfindlichkeiten
und hatte eine scharfe Auseinandersetzung (in der er die Oberhand
behielt) mit List, der fälschlich annahm, die Untätigkeit der für den Angriff
eingeteilten Panzerbesatzungen sei ein Zeichen für Guderians
Ungehorsam.
Das war typisch. Während List seinen Irrtum schnell einsah, konnten
viele ranghöhere Kommandeure das Gefühl nicht loswerden, daß
Guderian ihre Pläne sabotierte, um die Überlegenheit seiner Panzer über
die Infanterie unter Beweis zu stellen. Sie waren stets geneigt, Beispiele
für seine Gehorsamsverweigerung zu finden, für die er zu dieser Zeit
längst einen gut begründeten Ruf genoß.
Es spielte keine Rolle, daß Guderian inzwischen an Rang dem
Befehlshaber einer Armee gleichkam. Im Gegensatz zu Kleist in den
ersten Maitagen war er häufig an der Front zu finden, wo er die
Kommandeure sämtlicher Einheiten vom Regiment bis zum Korps
anspornte und ein ermunterndes Wort für die kämpfenden Soldaten
hatte. Dies hätte von seinen Untergebenen leicht als Einmischung in
ihren Befehlsbereich ausgelegt werden können. Tatsächlich geschah
das jedoch selten, denn einmal brauchten sie jetzt wenig Ansporn, und
zum anderen, und das war meistens der Fall, sahen sie ein, daß
Guderians Absicht vor allen Dingen darin bestand, ihr Vorgehen blitzartig
mit den Nachbarn abzustimmen, denn er benutzte sein ausgezeichnetes
Fernmeldesystem dazu, ihnen größtmögliche Unterstützung zu
gewähren. Das konnte er nur durch Kurzschließen der altehrwürdigen,
festgeschriebenen Glieder der Befehlskette.
Einmal mehr erwies sich die bewegliche Panzerwaffe bei den
Kämpfen überlegen, zu denen es in den französischen
Verteidigungslinien südlich Rethel kam. Wo die Infanterie ohne
Unterstützung angriff, wurde sie oft zurückgeschlagen, aber sobald
Panzer eingriffen, liefen die Operationen flüssig weiter. Wenn die
Deutschen Zeit verlorengehen ließen und Gegenstöße französischer
Panzer entwickelten - sogar wenn dabei nur einige wenige Char
B-Panzer in Aktion traten -, kam das Vorgehen zum Stillstand, bis das
Panzergefecht entschieden war. Die französischen Panzerbesatzungen
hatten das klägliche Zögern, das ihre Aktionen bei Sedan so sehr
gebrandmarkt hatte, überwunden und konterten diesmal prompt jedes
deutsche Eindringen. Entschieden wurde die Schlacht schließlich eher
durch die zahlenmäßige Übermacht der Deutschen und ihre bessere
Technik als durch die Überlegenheit ihrer Panzer. An Ort und Stelle
leitete Guderian selbst Versuche mit einem Char B. Er ließ ein
erbeutetes französisches 4,7-Zentimeter-Panzerabwehrgeschütz (das,
wie er wußte, dem deutschen Kaliber 3,7 überlegen war) auf den Panzer
schießen und stellte fest, daß der Char B von vorn unverwundbar war.
Die Geschosse prallten an der französischen Panzerung ab, und die
Wracks deutscher Panzer und Geschütze in der Landschaft um Juniville
bestätigten seine Meinung, daß die deutsche Panzerung zu dünn und
die deutschen Geschütze nicht wirksam genug waren.
Bald wurde der Durchbruch erzielt, und sofort begannen bewegliche
Operationen. Auch wenn die Franzosen noch so sehr versuchten, durch
Aufbietung der letzten Überreste ihrer beweglichen Divisionen die
heranbrausende Lawine aufzuhalten, waren sie verloren - wie sie es seit
dem anfänglichen Rückschlag bei Sedan gewesen waren. Ihre
Kampfmoral brach erneut nach zeitweiligem Wiederaufleben zusammen.
Es ist nicht notwendig, im einzelnen den Wettlauf der »Panzergruppe
Guderian« zur Schweizer Grenze zu verfolgen. Aufs Geratewohl
herausgegriffene Eindrücke genügen. Am 11. Juni konnte er
beobachten, wie die 1. Panzerdivision Bethenville mit einem wahren
Panzer- und Infanterie-Bilderbuchangriff, unterstützt durch die Artillerie,
nahm und sich in der Erinnerung zu jenem Septembertag des Jahres
1914 zurückversetzen, als er hier nach der schrecklichen Niederlage in
der Marneschlacht eingetroffen war, seiner Truppe und aller Dinge außer
seinen Idealen beraubt, und von der Geburt seines ersten Sohnes
erfahren hatte. Jetzt war er der Sieger, war von seinem triumphierenden
Heer umgeben, und der Sohn war schon unter den Verwundeten.
Ein Brief an Gretel, am 15. Juni, einen Tag nach der Einnahme von
Paris, geschrieben, legt kurz und bündig von der Entwicklung der Lage,
wie er sie sah, Zeugnis ab: »Ich schrieb Dir neulich, daß die Front ins
Rutschen kommen würde. Am Tag nach Chalons fielen Vitry-le-Francois
und St. Dizier, gestern Caumont und heute Langres. Wir sind meiner
Ansicht nach durchgebrochen und ich hoffe, heute noch Besanfon zu
erreichen. Das wäre ein großer Erfolg, der auf die ganze Maginotlinie
zurückwirken müßte und wohl auch politische Folgen haben könnte.
Ich bin sehr glücklich, daß trotz enormer Schwierigkeiten durch
ständige Richtungsänderungen diese Leistung erzielt werden konnte.
Der Kampf gegen die eigenen Oberen macht manchmal mehr Arbeit als
der gegen den Franzosen. Das Land ist in katastrophaler Verfassung.
Infolge
der
Zwangsräumung
herrscht
ein
unbeschreibbares
Flüchtlingselend, und alles Vieh geht zugrunde. Alle Orte sind
leergeplündert durch Flüchtlinge und französische Soldaten. Erst jetzt
spärliche Zivilbevölkerung angetroffen. Das Mittelalter war human gegen
die Jetztzeit.«
Dieser in der Hitze des Gefechts geschriebene Brief aus der Feder
eines kriegführenden Generals ist deshalb ungewöhnlich, weil in ihm
Mitleid zum Ausdruck kommt. Erziehung und Umstände lassen Generäle
nur selten sehr tief über die Leidenden nachdenken, wenn sie in einer
Schlacht stehen, Zyniker mögen Guderians Empfindungen leicht als
Krokodilstränen abtun, die ein typisches Produkt der preußischen
Militärmaschinerie vergießt. Aber so eine Einstellung lag nicht in der
Natur Guderians. Aus seinen Briefen spricht stets eine tiefe
Wahrhaftigkeit, die auch in den Abschnitten seiner Bücher, in denen er
zu irgendwelchen Dingen Stellung nimmt, und in seinen Gesprächen
zum Ausdruck kommt und derartige Unterstellungen zurückweist.
Selbstverständlich war er stolz auf seine Leistung, die Truppe mit Erfolg
zur Vernichtung des Feindes geführt zu haben, aber das war eher der
klinisch saubere Stolz des Technikers. Dieser Mann war frei von
Rassenhaß und machte nie ein Hehl aus seiner Abneigung gegen
Zerstörung und die Nebenfolgen des Krieges.
Derselbe Brief macht auch einen Kommentar zu seinem Hinweis auf
»Richtungsänderungen« erforderlich. Unschlüssige Befehle stammten
von ganz oben - von Hitler -, obwohl nur die ranghöchsten Militärs
damals davon wußten. Halder blieb unnachgiebig in der konventionellen
Forderung, daß das »Ziel unserer Operationen die Zerstörung der
restlichen feindlichen Streitkräfte« sein müsse. Hitler andererseits zwang
am 6. Juni Brauchitsch seinen Willen auf mit der Forderung,
»... zunächst sich das lothringische Eisenerzbecken zu sichern, um so
Frankreich seiner Rüstungsindustrie zu berauben« - ein wirklich
unglaublicher Wunsch angesichts ganz eindeutiger Anzeichen, daß
Frankreich niedergeworfen und gar nicht in der Lage war, Deutschland
daran zu hindern, sich das, was es haben wollte, sofort zu nehmen.
Darüber hinaus ignorierte Hitler das logische Argument des
Generalstabes, eine territoriale Besetzung sei ohne Wert, solange nicht
die Streitkräfte des Gegners besiegt seien. Die Konfrontation in dieser
aktuellen Frage wurde dadurch aufgehoben, daß Frankreich wenige
Tage darauf um einen Waffenstillstand bat. Auf längere Sicht war
natürlich ein grundlegendes Prinzip eingeführt worden: künftig würde
sich Hitler routinemäßig in Einzelfragen militärischer Planung einschalten
und einen Generalstabsoffizier gegen den anderen im Bereich von
Strategie und Taktik ausspielen. Der Chef des Generalstabes war erneut
in seiner Macht und seinem Einfluß beschnitten worden, während der
Oberbefehlshaber zu einer Marionette wurde, was zu einem späteren
Zeitpunkt bedeutsame Rückwirkungen auf Guderian hatte.
Für Guderian wurde das fast alltägliche Umschalten von wesentlichen
Zielsetzungen auf Prestigeziele mehr zu einer Quelle des Ärgernisses
als der Besorgnis. An einem Tag sollte er angewiesen werden, eine
Schwenkung zu machen und Verdun einzunehmen, am nächsten St.
Mihiel, Städte, die bittere Erinnerungen an die Vergangenheit
hervorriefen, statt daß er einen gradlinigen Kurs auf Ziele zusteuern
konnte, die zur Vernichtung der gegnerischen Streitkräfte führten.
Natürlich war es leicht, als der feindliche Widerstand nachließ, diese
Schwierigkeiten zu überwinden. Guderian ließ nur das XXXIX. Korps in
strategisch wünschenswerter Richtung vormarschieren und setzte das
XXXXI. Korps ein, um andere Objekte aus dem Weg zu räumen. Eine
flexible Haltung läßt sich leichter einnehmen, wenn Hilfsmittel im
Überfluß vorhanden sind. Am 17. Juni - seinem 52. Geburtstag erreichte das XXXIX. Korps Pontarlier an der Schweizer Grenze, aber
das war mehr eine symbolische Leistung im Vergleich zu der wichtigen
90-Grad-Drehung in nordöstlicher Richtung, die die beiden
Panzerdivisionen dieses Korps am Tag zuvor gemacht hatten. Unter
Einsatz seiner beiden Korps erzielte Guderian an breiter Front einen
Vorstoß ins Elsaß und schloß damit die größte Einkesselung des
gesamten Feldzuges ab. Zusammen mit der 7. Armee, die von Osten her
anrückte,
wurden
über
400.000
französische
Soldaten
gefangengenommen, darunter sämtliche Besatzungen der Garnisonen
der Maginotlinie. Ihr Beitrag zur Verteidigung ihres Landes war wertlos
gewesen.
Guderians Manöver, eine wahrhaft bemerkenswerte Leistung auf dem
Gebiet der Kriegskunst, erfolgte praktisch von der Geschichtsschreibung
unbemerkt - vielleicht deshalb, weil Guderian und Nehring schwierige
Aufgaben dieser Art so einfach aussehen ließen, wahrscheinlicher, weil
größere Ereignisse bevorstanden. Aber wenn Patton oder Montgomery
in den darauffolgenden Jahren ähnliche Änderungen ihrer
Vormarschrichtung vornahmen, wurde ihrer Tapferkeit lauter Beifall auf
den Rängen zuteil. In Wirklichkeit hätte einem anderen Tribut gezollt
werden müssen dafür, die Methoden erarbeitet zu haben, die den
Amerikanern und Engländern Triumphe einbrachten.
Ein Waffenstillstand wurde am 22. Juni in Rethondes geschlossen.
Hitler und Deutschland sonnten sich im Ruhm. Das tat auch Guderian,
denn plötzlich war er überall bekannt, zu einem Helden geworden, den
die Propaganda als einen der Väter des Sieges pries. Die Gruppe
Guderian habe 250.000 Gefangene in einem Zeitraum von 13 Tagen
gemacht, hieß es. Joseph Goebbels und seine Leute stellten Guderian
heraus und ließen ihn über den Rundfunk zur deutschen Bevölkerung
sprechen.
»Wie nett, daß Du meine Rundfunkansprache gehört hast; nun macht
sie mir erst richtig Spaß«, schrieb er an Gretel. Es gab enorm viel
Verehrerpost und ungeheuer viel Korrespondenz zu bewältigen.
»Neulich schickte mir ein ehemaliger Gefreiter aus dem Weltkrieg
eine Ziehharmonika aus seiner Fabrik... Fabelhaft, wie aufmerksam
manche Leute sind.«
Sobald der Frankreichfeldzug vorüber war, wies er seinen
Propagandaoffizier Paul Dierichs an, Filme über den Verlauf der Kämpfe
aufzutreiben und sie den Soldaten vorzuführen. Später wurde aus
diesem Material ein Dokumentarfilm hergestellt, der Guderian als
Kommandeur und die gesamte Panzerwaffe pries. Nie ließ er eine
Gelegenheit aus, für seine Organisation (und damit auch für sich selbst)
Reklame zu machen als Konter gegen die, die ihm den Triumph noch
immer neideten. Aber Dierichs unterstreicht die Tatsache: »Er wußte von
der Bedeutung seines Erfolges, aber das hat ihn menschlich nicht
überheblich gemacht.«
Es gab ernstere Überlegungen anzustellen, darunter solche in
Verbindung mit der begründeten Hoffnung, daß der Krieg zu Ende sei,
weil man annahm, daß Großbritannien aufgeben werde. Diese Hoffnung
sollte sich nicht erfüllen, wie sich bald herausstellte; die Engländer
kämpften weiter, aber ohnehin war auf deutscher Seite weder Guderian
noch sonst jemand sich bewußt, daß Hitler neue Pläne schmiedete, die
keinen Frieden zuließen.
Guderian bewies indessen die gleiche ruhelose Eroberungssucht wie
sein Führer, als er am 27. Juni zu einem Meinungsaustausch mit
General Ritter von Epp zusammentraf, der ihn während einer Visite an
der Front aufsuchte. Er berichtete Gretel, man habe »Kolonialfragen«
erörtert. Das taten die beiden Männer wirklich, denn Epp war Experte für
dieses Thema; aber in der Diskussion wurde auch die einzuschlagende
Taktik für den Fall, daß Großbritannien die Kämpfe fortsetzte, zur
Sprache gebracht und über die Art und Weise beraten, wie der
verbleibende Feind anzugreifen sei. Die entsprechenden Passagen in
den Erinnerungen sind lesenswert als Ausdruck von Guderians
damaliger Einstellung und als Beweis für seine präzise Erkenntnis der
strategischen Situation und des sich verschiebenden Kräfteverhältnisses
zu einem Zeitpunkt, als sich die besiegten Franzosen voll Wut über die
Engländer ausließen und Italien schon an der Seite Deutschlands in den
Krieg eingetreten war. Guderian erklärte nach dem Krieg: »Angesichts
der Unzulänglichkeit unserer Vorbereitungen zur See und in der Luft, die
keinesfalls für eine Landung auf den Britischen Inseln ausreichten,
mußten aber außerdem auch andere Lösungen erwogen werden, wie
man dem seegewaltigen Gegner so weh tun konnte, daß er
verhandlungs- und friedensbereit wurde.«
Er fuhr dann in seinem Buch fort: »Damals erblickte ich den
wirksamsten Weg zur Herbeiführung eines baldigen Friedens in der
unverzüglichen Fortsetzung unserer Operationen zur Rhonemündung,
um sodann - nach Gewinnung der französischen Mittelmeerhäfen im
Zusammenwirken mit den Italienern - zu einer Landung in Afrika und zur
Wegnahme von Malta durch die Luftwaffe mit ihrer vortrefflichen
Fallschirmtruppe zu gelangen. Schlossen sich die Franzosen uns zu
diesem Vorhaben an - um so besser. Wenn nicht, mußte der Krieg von
den Italienern und uns allein weitergeführt werden, und zwar sofort. Die
damalige Schwäche der Engländer in Ägypten war bekannt. Noch
bestanden die starken italienischen Kräfte in Abessinien. Die
Verteidigung Maltas gegen Luftangriffe war unzulänglich. Alles schien
mir für die Fortsetzung unserer Operationen in dieser Richtung zu
sprechen, nichts dagegen. Mit einer Überführung von vier bis sechs
Panzerdivisionen nach Afrika war eine überwältigende Übermacht über
die Engländer so schnell dort zu versammeln, daß der Antransport
britischer Verstärkung zu spät kommen mußte.«
Epp war natürlich ein eingefleischter Nazi, einer der ursprünglichen
Freikorpskämpfer, der sich einen Ruf als gnadenloser Verfolger der
deutschen Kommunisten erworben hatte und von Anfang an geholfen
hatte, die NSDAP zu finanzieren. Als Mitglied des Reichstages und Chef
des Parteiamtes für Kolonialpolitik gehörte er zu den engsten Vertrauten
des Führers, obwohl er insgeheim denen recht gab, die daran zweifelten,
daß es weise gewesen war, Deutschland in einen großen Krieg zu
verwickeln. Guderian versichert, Epp habe seine Gedanken Hitler
vorgetragen, doch dieser habe ein Eingehen auf die Vorschläge
Guderians abgelehnt. Das ist nicht ganz korrekt. Hitler, nicht wenig von
Jodel inspiriert, prüfte nach dem Fall Frankreichs eine Reihe von
Projekten, darunter auch die Zusammenarbeit mit den Italienern bei
einer Invasion Ägyptens. In dieser Frage wurde er jedoch von Mussolini
heftig abgewiesen, der sich ein wenig Ruhm in seiner eigenen
Einflußsphäre sichern wollte. Er streckte auch die Fühler nach Spanien
aus und erkundete die Möglichkeit eines Marsches auf Gibraltar. Ferner
suchte Hitler mit Hilfe der Waffenstillstandskommission seinen
politischen Einfluß auf das französische Nordafrika auszudehnen. Dazu
setzte sich Großadmiral Raeder stark für die Marine ein und legte Pläne
vor, die deutsche Flotte in Verbindung mit einer U-Boot-Offensive
strategische Punkte in Afrika, darunter auch an der Westküste, erobern
zu lassen. Es gibt heute nur noch wenige (und vielleicht gab es damals
noch weniger Leute, die davon wußten), die die Richtigkeit dieser
Seestrategie oder ihre wahrlich sicheren Erfolgsaussichten bestreiten
würden.
Hitler indessen war eine Landratte, die zwar die Reize des Meeres
anerkannte, aber die Abenteuer zu Wasser den Seeleuten überließ. Er
zog es vor, seine Armee auf festem Boden einzusetzen, ausschließlich
in ihrer natürlichen Umgebung, und mit Aufgaben zu betrauen, von
denen er glaubte, er verstünde sie am besten. Ohne daß ein anderer
davon wußte, hatte Hitler nie ein Projekt vergessen, das ihm schon
immer vor Augen geschwebt hatte, und starrte jetzt mit räuberischen
Gelüsten auf die Sowjetunion.
Bis zum 22. Juli waren sowohl Brauchitsch als auch Halder über die
Absichten ihres Obersten Feldherrn unterrichtet worden und hatten
bereits in groben Zügen einen Plan für den Feldzug im Osten entworfen.
Es blieben weder Truppen noch Material für andere Projekte übrig, so
erfolgversprechend sie auch sein mochten. Statt dessen wurde das
Gespenst des Zweifrontenkrieges, das Guderian und jeder vernünftig
denkende Deutsche so sehr fürchteten, wieder ausgegraben.
8
DAS SCHICKSAL EINES HELDEN
Im Morgengrauen des 22. Juli 1941 beobachtete Heinz Guderian,
Liebling der Propagandaleute und Befehlshaber der stärksten von vier
deutschen Panzergruppen, wie seine Korps und seine Divisionen zum
Angriff auf die Sowjetunion antraten. Dicht neben ihm stand ein offizieller
Kriegszeichner, steif mit Uniform und Stahlhelm bekleidet, und
versuchte, auf einem Skizzenblock die zuversichtliche Stimmung
festzuhalten, die sich auf dem Gesicht eines der Propagandahelden von
Goebbels widerspiegelte. Aber wie viele der Männer, die an diesem
Tage »... an dem die Welt den Atem anhielt«, nach Osten marschierten,
fühlten sich von Hitlers Versprechen überzeugt, binnen acht Wochen den
Sieg zu erringen und wie viele waren frei von schicksalhaften
Ahnungen?
Guderian war weit davon entfernt, sich in seiner Haut wohl zu fühlen,
obwohl er wie gewöhnlich alles darangesetzt hatte, seine Pflicht zu tun
und aus einer schlechten Aufgabe das Beste zu machen. Das Jahr der
Begeisterung, das dem Triumph in Frankreich gefolgt war, war auch ein
Jahr der Verwirrung gewesen. Einerseits hatte er sich aufrichtig im
Glorienschein des Erfolges gesonnt, war andererseits aber entsetzt
gewesen, daß die Früchte des Sieges verschwendet wurden.
Am 19. Juli 1940 war er zum Generaloberst befördert worden. Sein
Name stand auf der gleichen Beförderungsliste wie der von zwölf
dienstälteren Generälen, die in den Rang eines Generalfeldmarschalls
erhoben wurden, unter ihnen Brauchitsch, Keitel, Rundstedt, Bock,
Reichenau, List und Kluge. Bei dieser Gelegenheit nicht zum
Feldmarschall befördert wurde (und das fiel allgemein auf und war
Gegenstand für ratloses Staunen) Halder, der sich paradoxerweise zum
Verständnis der richtigen Rolle der Panzertruppe durchgerungen hatte,
wie sie Guderian vorschwebte. Er war jedoch zu seinem Unglück bei
Hitler in Ungnade gefallen. Der Krieg schien für das Heer stillzustehen,
als Marine und Luftwaffe mit völlig unzureichenden Mitteln versuchten,
Großbritannien zu erobern, nachdem es Hitler nicht fertiggebracht hatte,
mit den Engländern Frieden zu schließen. Guderian war an seine alte
Routinearbeit zurückgekehrt, Panzerdivisionen auf einen Feldzug
vorzubereiten, dessen Himmelsrichtung zu diesem Zeitpunkt noch gar
nicht feststand, und bemühte sich, sie stärker und besser auszurüsten.
Die Notwendigkeit dieser Maßnahme lag auf der Hand. Eine
waffenstarrende Welt kopierte fleißig Guderians Methoden, und
Deutschlands Überleben mußte davon abhängen, ob es ihm gelang,
beim Wettrüsten einen Schritt oder zwei vorn zu bleiben. Hitler war
vorübergehend den Panzern verfallen, und seine Begeisterung für
technische Neuerungen schwankte so wild, wie sie es in politischen und
strategischen Fragen tat. Als sich der Feldzug gegen Rußland klar am
Horizont abzuzeichnen begann, forderte er eine Erhöhung der
Panzerproduktion von bisher 125 pro Monat auf 800 bis 1.000 Stück mit
dem Hintergedanken, die Zahl der Panzerdivisionen zu verdoppeln.
Dr. Fritz Todt, Minister für Rüstung und Kriegsproduktion, machte
dem Führer klar, daß ein Programm dieser Größenordnung nicht über
Nacht anlaufen könne, daß sich die Kosten für dieses Projekt auf
schätzungsweise zwei Milliarden Mark beliefen, daß es zusätzlich die
Einstellung von rund 100.000 Arbeitern und Technikern erfordere und
unvermeidlich eine Streichung oder Reduzierung anderer Projekte wie
U-Boot-Bau und Flugzeugkonstruktion mit sich bringe. Es war eine Ironie
des Schicksals, daß die industriellen Kapazitäten der besiegten Nationen
nicht ausreichten, um Deutschland zu helfen, und daß keines der vielen
tausend erbeuteter Panzerfahrzeuge für die deutschen Methoden des
Panzerkriegs etwas taugte. Hitler hörte auf Todt und befahl eine
Verdoppelung der Panzerdivisionen unter gleichzeitiger Halbierung ihrer
Panzerkontingente (auf eine Stärke, die zwischen 150 und 210 Panzern
schwankte) oder anders ausgedrückt, unter Verdoppelung der
infanteristischen Komponente.
Guderian beklagt sich darüber, daß seine Meinung zu dieser
Umstellung nicht eingeholt wurde, aber das hätte auch überrascht. Seine
Ansichten waren wohlbekannt und wurden im Prinzip auch akzeptiert.
Sie waren durch die Berichte bestätigt worden, die er und die anderen
Befehlshaber nach dem Frankreichfeldzug erstellt hatten. Darüber
hinaus war der Plan zum Einfall in die Sowjetunion ein streng gehütetes
Geheimnis, das im Herbst 1940 nur wenige kannten.
Praktisch einstimmig lehnten die Panzerführer die leichten Panzer
Pz I und II - ab, die nur dann im Feld nicht versagt hatten, wenn sie für
Hilfsaufgaben eingesetzt worden waren. Diese Fahrzeuge mußten
ausrangiert werden. Weiter waren sie sich klar darüber, daß die
Panzertypen Pz III und IV bessere Geschütze und eine stärkere
Panzerung erhalten mußten, um sich mit den verbesserten
ausländischen Panzern messen zu können, die bald erscheinen mußten.
Das Wettrennen zwischen Waffe und Schutz war eine historische
Unvermeidlichkeit, der sich die Panzer nicht entziehen konnten. Aber
eine Beteiligung an diesem Rennen führte automatisch zu
Produktionsverzögerungen, gerade als der Ruf nach einer
Heraufsetzung der Herstellungszahlen laut wurde und die
Geheimdienste nichts über die feindlichen Panzer, besonders die
russischen, erfahren konnten, die mehr als nur leicht bewaffnet und
gepanzert waren. OKW und Heereswaffenamt schlossen schließlich
einen Kompromiß - was gewöhnlich notwendig ist, wenn man sich auf
die Spezifizierung einer Waffe einigen will -, demzufolge die Bestückung
des Pz III mit einer kurzen L 42-Kanone vom Kaliber 5 Zentimeter
vergrößert wurde. Dieses Geschütz besaß eine viel geringere
Geschwindigkeit und Präzision als das lange L 60-Modell, das auf
Feldlafetten für die Infanterie eingeführt wurde. Was die Infanterie
innerhalb der Panzerdivision betraf, so erhielt sie ein paar zusätzliche
Schützenpanzerwagen auf Halbkette, obwohl der wirkliche Anteil der so
ausgestatteten Einheiten weniger als ein Drittel betrug, so wie es 1940
gewesen war. Die übrige Infanterie mußte sich weiterhin mit ungünstig
gebauten, ungepanzerten Radfahrzeugen von unterschiedlicher
Geländegängigkeit und einer Kampfeffizienz, die gleich null war,
begnügen.
Trotzdem war die Kampfkraft der Panzerdivisionen 1941 höher als ein
Jahr zuvor. Das lag einmal daran, daß die leichten Panzer durch
mittelschwere ersetzt worden waren, hauptsächlich aber an der
gestiegenen Zuversicht und Erfahrung bei der großen Zahl von
Offizieren und Mannschaften, die durch die Praxis unschätzbare
Einblicke in die Möglichkeiten und Techniken gepanzerter, beweglicher
Kriegführung erhalten hatten. Heldenmut in Verbindung mit einer
Vielzahl von Talenten in den Reihen ihrer Panzerleute hatten die
Deutschen vorangebracht und ihnen einen Vorsprung von drei Jahren
gegenüber ihren künftigen Gegnern eingebracht.
Im November 1940 erfuhr Guderian von dem Plan, in die Sowjetunion
einzumarschieren. Er war verblüfft*. Seiner eigenen maßgeblichen
Meinung nach, die er in Achtung - Panzer! vertrat, besaßen die Russen
1937 rund 10.000 Panzer. Jetzt verlautete aus zuverlässiger Quelle, sie
hätten inzwischen 17.000 Stück. Aber es war die damit in
Zusammenhang stehende Furcht, die er mit jedem gebildeten deutschen
Offizier und vielen anderen Leuten teilte: die Furcht vor den fatalen
Folgen, die die Aufnahme eines Krieges an zwei Fronten mit sich
brachte (wie sie Deutschland im Ersten Weltkrieg ins Verderben gestürzt
hatte) und die bei ihm »Enttäuschung und Entrüstung« hervorrief.
Obwohl das OKW folgerte, dazu werde es nicht kommen, weil die
Sowjetunion längst ausgeschaltet sein würde, bevor Großbritannien
wieder in den Krieg eingreifen konnte, hatten sich die Lehren aus der
Geschichte zu tief in die deutschen Gemüter eingeprägt, um durch eine
glattzüngige Ausrede vergessen zu werden. Krampfhaft hielt der
Generalstab nach Präzedenzfällen Ausschau, indem er Napoleons
Rußlandfeldzug von 1812 untersuchte. Eine Übersetzung von
Caulaincourts Memoiren war seit 1937 in den deutschen
Buchhandlungen erhältlich und wurde 1941 über Nacht zu einer
begehrten und düsteren Lektüre derer, die dabei waren, einen
Vormarsch auf Moskau zu planen. Guderian hatte sein Exemplar vor
dem Krieg gekauft!
*
Gegenteilige Vermutungen einiger Quellen werden durch Guderians private
Aufzeichnungen, besonders die Briefe an seine Frau, nicht bestätigt.
Proteste ließ Guderian mehr als einige andere laut werden. Er sandte
den Chef seines Stabes mit seinen Einwänden zum OKH, aber hier
wollte man ihn nicht anhören. Brauchitsch hatte seit langem seinen
wirksamen Widerstand gegen Hitler und das OKW aufgegeben (er zog in
der Kriegszeit persönliche Ruhe vor), während Halder, der sich darüber
im klaren war, daß er keine Unterstützung bei seinem Oberbefehlshaber
zu erwarten hatte und vielleicht meinte, das Projekt sei realisierbar, sich
mit Mitteln beschäftigte, um eine schnelle militärische Entscheidung
herbeizuführen. Aber der Feldzug gegen die Sowjets sollte nicht das
einzige Projekt des Jahres 1941 bleiben. Ganz andere Dinge kamen
hinzu. Zwei Panzerdivisionen mußten im Februar nach Libyen entsandt
werden, um die Italiener zu unterstützen, die versagt hatten und von
einer kleinen britischen Panzerstreitmacht besiegt worden waren. Eine
Invasion Jugoslawiens und Griechenlands mußte, ziemlich wider Willen,
im April unternommen werden, um eine südliche Flanke zu verstärken,
die verwundbar geworden war, nachdem die Italiener vergeblich
versucht hatten, Griechenland zu erobern. Diese größeren
Zersplitterungen der Kräfte, zu denen sich noch weitere kleinere
Verpflichtungen an einer Vielzahl von Schauplätzen gesellten,
schwächten die Kampfkraft der für das russische Abenteuer
vorgesehenen Kräfte und machten eine totale Konzentration auf das
größte militärische Unternehmen der Geschichte unmöglich. Ein Krieg an
zwei, wenn nicht sogar drei, Fronten war bereits gewiß.
Voll innerer Unruhe wandte sich Guderian den militärischen
Erfordernissen zu, die sich wie gewöhnlich im Lauf der nächsten Zeit
infolge neuer Auffassungen nach langen Diskussionen und Kriegsspielen
dauernd änderten. Drei Heeresgruppen - Nord, Mitte und Süd - sollten
auf Leningrad, Moskau bzw. die Ukraine vorstoßen, aber wie schon in
Frankreich überdeckten Unstimmigkeiten sowohl das Ziel des ganzen
Feldzuges als auch die militärischen Operationsziele im einzelnen. Eine
nebulose Debatte ergab verschwommene Vorstellungen vom Zweck der
Operationen. Einmal sollten sie sich gegen territoriale und wirtschaftliche
Objekte richten, dann wiederum in der Absicht unternommen werden,
russische Streitkräfte zu vernichten. Doch in Wahrheit waren die
divergierenden Zielsetzungen praktisch mit einer Politik identisch. Das
Vorgehen in Richtung auf Leningrad, Moskau oder Kiew mußte mit
Sicherheit die sowjetischen Streitkräfte in den Kampf ziehen. Das
Zusammentreffen politischer und militärischer Notwendigkeiten brachte
Verwirrung. Neben der eingewurzelten Überzeugung von der absoluten
Unerläßlichkeit, die gegnerische Armee zu vernichten, war Guderian
auch von der historisch psychologischen Erfordernis bewegt, sich eines
politischen Zieles zu bemächtigen. Für ihn war die Einnahme Moskaus
das absolute Ende - ein Glauben, den er bis Kriegsende hatte. Doch was
er und so wenige seiner Zeitgenossen erkannten, war die Notwendigkeit,
einen echt psychologisch fundierten, politischen Sieg über ein Land zu
erringen, dessen Größe eine völlige Besetzung ausschloß.
Nach Aussage von Wilfried Strik-Strikfeld, der mit andersdenkenden
sowjetischen Kreisen zusammenarbeitete, deren erklärter Wunsch es
war, das stalinistische Regime zu stürzen, und der 1945 mit Guderian
sprach, hatte dieser bis nach Kriegsschluß nicht die entfernteste Idee,
daß die Eroberung Moskaus nicht den Schlußstrich unter den Krieg
gegen die Sowjetunion bedeuten mußte, sondern erst eine ehrliche
Erklärung über eine Zusammenarbeit mit antistalinistischen Elementen
möglicherweise das gewünschte Ergebnis erbracht hätte.
Die Sowjetunion sollte durch brutale Gewalt unterworfen und ihre
Bevölkerung durch die Nazielemente eingeschüchtert werden, die unter
dem Banner von Himmlers SS eingesetzt wurden. Den Armeen sollten
die Einsatzgruppen folgen, deren von Alfred Rosenberg überwachte
Aufgabe die Ausrottung war, die aber in Wirklichkeit einen potentiellen
Verbündeten vor den Kopf stießen. Denn in der Sowjetunion gab es eine
Unzahl von möglichen Freunden Deutschlands, die nichts sehnlicher
wünschten als die Befreiung.
Die Panzergruppe 2, die durch ein Infanteriekorps und weitere zwei
Infanteriedivisionen für das erste Antreten verstärkt worden war, stellte
folgende Einheiten für die Angriffsverbände:
das XXIV. Panzerkorps, das sich aus einer Kavalleriedivision, zwei
Panzer- und einer motorisierten Infanteriedivision zusammensetzte;
das XXXXVII. Panzerkorps mit zwei Panzer- und einer motorisierten
Infanteriedivision;
das XXXXVI. Panzerkorps, bestehend aus einer einzigen
Panzerdivision sowie der motorisierten SS-Infanteriedivision »Das
Reich« und dem Infanterieregiment »Großdeutschland«.
In bestimmtem Abstand zu Guderians nördlichem Flügel sollte die
Panzergruppe 3 unter Hoth mit ihren zwei Panzerkorps vorrücken. Beide
Panzergruppen sollten gemeinsam Bocks Heeresgruppe Mitte anführen,
deren Aufgabe, wie sie Bock verbindlich festgelegt hatte, darin bestand,
die gegnerischen Truppenkonzentrationen im Grenzgebiet zwischen
Pripjetsümpfen und Punkten nördlich von Suwalki zu überrollen, den
Gegner, wo immer er angetroffen wurde, zu vernichten und einen 650
Kilometer weiten Vorstoß in allgemeiner Richtung auf Smolensk zu
unternehmen ohne Rücksicht auf die Entwicklung in den benachbarten
Abschnitten. Die Instruktionen waren verständlicherweise etwas vage
gehalten, weil Hitler und das OKH die Ansicht vertraten, die Stadt Minsk
in 320 Kilometer Entfernung sollte das erste Ziel sein, während Bock sich
in völligem Einverständnis mit Guderian und Hoth für Smolensk
aussprach. Das Ergebnis war, daß Bock von Anfang an ein Element der
Ungewißheit in den Angriffsplan einfließen ließ, das zur Folge hatte, daß
weder Guderian noch Hoth sich voll über ihr endgültiges Angriffsziel im
klaren waren. Kernpunkt des Problems war eine Verkennung der Rolle
und Kraft schnellbeweglicher Truppen im Verhältnis zu den langsameren
pferdebespannten und zu Fuß marschierenden Divisionen, eine
fundamentale Meinungsverschiedenheit mit Leuten wie Halder, die trotz
der Erfahrung von 1940 aus dem Frankreichfeldzug weiter darauf
pochten, daß die motorisierten Truppen nicht zu weit vor der
marschierenden
Masse
vorrücken
durften.
Quelle
der
Unentschlossenheit war das Zögern des Oberbefehlshabers von
Brauchitsch.
Zusätzlich geriet dann noch Sand ins Getriebe durch die
Wiederanwendung der alten taktischen Regel, daß Infanterieverbände
die Offensive über den Bug bei Brest-Litowsk einleiten sollten, Guderians
Panzergruppe 2 das Ausbrechen aus dem Brückenkopf überlassend.
Der Oberbefehlshaber der benachbarten 4. Armee war Kluge, mit dem
Guderian in gleicher Gegend im September 1939 eine leichte
Auseinandersetzung über das Zerreißen seines Korps gehabt hatte.
Wieder beharrte Guderian auf seinen Grundsätzen. Ein unmittelbarer
und dauerhafter Erfolg werde, so argumentierte er, von der Anwendung
eines Höchstmaßes an Überraschung, Schock für den Gegner, tiefem
Vordringen und Tempo von Anfang an abhängig sein. Dies könnten die
Infanteriedivisionen nicht garantieren, wohl aber die Panzerdivisionen,
wie die Erfahrung an der Aisne im Juni 1940 gelehrt habe. Guderian
setzte sich durch, obwohl ihm gleichzeitig sein gesunder
Menschenverstand sagte, daß ein Infanteriekorps nötig war, um die
Festung Brest-Litwosk mit ihrem wichtigen Nachschubzentrum zur
Übergabe zu zwingen. Zu diesem Zweck wurde ihm vorübergehend der
Befehl über das XII. Korps übertragen.
Wieder einmal führte seine Bereitschaft, bei einer Debatte nicht nur
eigene Vorschläge zu unterbreiten, sondern auch die Anregungen
anderer zu akzeptieren, zu einer fruchtbaren Ideenverbindung, denn
gleichzeitig wurde die Panzergruppe 2 im Anfangsstadium Kluges
4. Armee unterstellt, weil sie in deren Sektor operierte. In den folgenden
Monaten sollte Guderians Gruppe noch mehrfach unter Kluges Befehl
treten und ihn wieder verlassen, aber meist blieb sie indirekt oder direkt
unter Bock bei der Heeresgruppe. So wurde das persönliche Verhältnis
zwischen diesen drei Männern wichtig für die Weiterführung des
Feldzuges und für Guderians zukünftiges Schicksal - eine Beziehung,
die abhängig war vom großen Einfluß Halders bei seinen endlosen
Debatten mit Brauchitsch und Hitler.
Innerhalb der gesamten Armee wurde Bock als »schwierig« im
Umgang mit seinen Vorgesetzten eingestuft und als ein Mann
bezeichnet, dem man es als Untergebener nur schwer recht machen
konnte, obwohl in letzter Hinsicht Guderian auf wenig Probleme stieß.
Gemeinsam brachten sie hervorragende Ergebnisse zustande, weil
beiden eine generalstabsmäßige Auffassung der Strategie zur
Gewohnheit geworden war und Bock darüber hinaus, wie es die Regeln
verlangten, Guderian dessen eigene Taktik anwenden ließ. In seinen
Briefen hob Guderian oft die guten Beziehungen zur Heeresgruppe
hervor. Und dennoch sagt es uns einiges über Guderian, wenn er davon
spricht, daß er Rundstedt den Vorzug gab, trotz dessen offensichtlicher
Schwächen als Oberbefehlshaber. Diese Großzügigkeit läßt sich
erklären mit Guderians natürlichem Hingezogensein zu Männern mit
Herzenswärme,
selbst
wenn
sich
dahinter
sichtliche
Unvollkommenheiten verbargen. Rundstedt strahlte eine solche Wärme
aus; Bock war eher kalt. Ein anderer Grund für Guderians Reserviertheit
gegenüber Bock mögen die Ereignisse von 1938 gewesen sein, denn
Bock zählte zu den Männern, die Brauchitsch beipflichteten, der Fritsch
nur eine lauwarme Verabschiedung aus der Armee zuteil werden ließ,
während Guderians Loyalität gegenüber Fritsch unverändert erhalten
blieb.
Aber was Guderian dazu gesagt hätte, wenn er 1941 erfahren hätte,
daß Bocks Hauptquartier das Zentrum eines Komplotts gegen Hitler
geworden war (was Bock selbst wußte), darüber schweigt die
Geschichte und auch Guderian. Fast sicher ist, daß Guderian in
Unkenntnis war und daß er, wenn es anders gewesen wäre, Schritte
gegen die Verschwörer unternommen hätte, denn sein Glaube an Hitler
war damals noch unerschüttert. Bocks Glaube an den Führer war es
nicht, doch Wheeler-Bennett stellt ihn als Mann von unbedeutendem
Charakter dar, der sich trotz seiner Verachtung für Hitler nicht in die
Verschwörung hineinziehen ließ. Dennoch zählte er zu denjenigen, die
sich entschieden weigerten, den berüchtigten Befehl Hitlers
weiterzugeben, mit dem die Armee aufgefordert wurde, sowjetische
Kommissare an die Wand zu stellen. Auf diese Weise ersparte er
Guderian die Verlegenheit, den sogenannten »Kommissarbefehl«
überhaupt zu Gesicht zu bekommen.
Guderian lehnte indessen die Ausgabe eines anderen gefährlichen
Befehls ab, derzufolge Soldaten straffrei ausgingen, die sich Übergriffe
gegen die russische Zivilbevölkerung zuschulden kommen ließen.
Dadurch, daß er schrieb: »Da die Gefahr einer Schädigung der
Manneszucht nach meiner und meiner Kommandierenden Generäle
übereinstimmenden Auffassung von vornherein gegeben war, habe ich
die Ausgabe des Befehls an die Divisionen verboten...«, gab er die
militärische Begründung (im Gegensatz zu der moralischen, die alle
anderen Generäle anführten, wenn sie solche Befehle ablehnten).
In seinen Erinnerungen heißt es aber weiter: »Die deutschen
Soldaten mußten nach internationalen Bestimmungen und nach den
Gesetzen ihres christlichen Glaubens ihr Verhalten einrichten.«
Generalfeldmarschall von Kluge war ganz anders als Bock;
energischer, aber auch, wenn man Wheeler-Bennett glauben darf,
hinterlistig und nicht erhaben darüber, sich bestechen zu lassen. Zu
seinem 60. Geburtstag im Jahre 1942, als er noch auf der Liste der
aktiven Generäle stand, erhielt er einen Glückwunschbrief Hitlers, dem
dieser einen Scheck über eine bedeutende Summe beigefügt hatte mit
der Erlaubnis, noch mehr für seinen Landsitz aufzuwenden.
Es sei hinzugefügt, daß auch Guderian zu späterer Zeit vom Führer
mit Grund und Boden beschenkt wurde, allerdings zu einem Zeitpunkt,
als sein aktiver Dienst schon vorüber zu sein schien, und daß Rommel
und List Belohnungen ablehnten. Ob dies Bestechungsgeschenke waren
oder nicht, ist eine andere Frage. Wenn sie es waren, dürfte eine
Vielzahl ehemaliger Militärbefehlshaber aller Nationalitäten ein
schlechtes Gewissen gehabt haben, als ihre dankbaren Nationen sie mit
Belohnungen überschütteten. Doch die unglückliche Beziehung
zwischen Guderian und Kluge hatte mit Bestechung und Politik nichts zu
tun, obwohl jeder der beiden zunächst Hitler willfährig war und ihm
später
auf
seine
Art
Widerstand
leistete.
Ihre
scharfen
Auseinandersetzungen waren persönlicher und beruflicher Natur, wie sie
häufig zwischen Generälen vorkommen, die für diese Schwäche anfällig
zu sein scheinen. Kluge, der Artillerist, sah Guderian, den Panzermann,
als Bedrohung für die anerkannten Regeln der Kriegführung an, der
folglich im Interesse der Disziplin in seine Schranken gewiesen werden
mußte. Guderian fühlte sich unbehaglich in Kluges Gegenwart wegen
der eisigen Blasiertheit und Intoleranz des Feldmarschalls, die er zu
spüren bekam; so zeigt Guderian auf Bildern, die kurz nach
Begegnungen mit Kluge aufgenommen wurden, sichtbare Zeichen von
nervlicher Anstrengung im Gesicht. In Kluge (im deutschen Heer überall
unter dem Spitznamen Kluger Hans bekannt) erkannte Guderian eine
Gefahr für die militärischen Prinzipien, die er als Schlüssel zum Sieg
ansah und an denen er festhielt, als die Aussichten auf einen
endgültigen Sieg schon schwanden.
Guderians starke Abneigung und keimendes Mißtrauen gegen Kluge,
das sich in regelrechten Haß verwandelte und sich mit dem Vorwurf der
Unfähigkeit gegen einen Soldaten verband, der weit davon entfernt war,
dies zu sein, stellte im Grunde einen Zusammenstoß zweier
Denkrichtungen dar: zwischen einem wagemutigen Befehlshaber, der
spontan, wenn auch kalkuliert, Chancen wahrnahm und einem
vorsichtigen General, der sein persönliches Wohlergehen neben der
Sicherheit seiner Armee in der Schlacht suchte und dabei die Risiken
lieber verteilte als sie zu konzentrieren. Aber wenn auch zweifellos die
Antipathie zwischen dem Schnellen Heinz (oder Heinz Brausewetter, wie
Guderian auch manchmal genannt wurde) und dem Klugen Hans die
reibungslose Ausführung des zentralen und hauptsächlichen Vorstoßes
nach Rußland hinein störte, so sollte man doch diesem Zwist zwischen
Armeeführern nicht eine Bedeutung beimessen, die ihm gar nicht
zukommt. Es standen längst Spaltungselemente von weitaus größerer
Stärke in Bereitschaft, um die deutsche Kampfmaschine zum Scheitern
zu bringen.
Das Flackern des Geschützfeuers entlang einer 2.400 Kilometer
langen Front, das wie Blitze bei einem Sommergewitter dem Donner der
neuen Kämpfe am 22. Juni kurz vor Anbruch des Tages vorausging,
hätte die Russen nicht überraschen müssen. Sie waren hinreichend vor
dem heranziehenden Unwetter gewarnt, reagierten aber viel zu spät.
Das Ergebnis war, daß viele russische Soldaten, die noch einen Kater
vom Zechen am Abend zuvor hatten, an jenem Sonntagmorgen den
Deutschen ins Netz gingen, ohne einen einzigen Schuß zu ihrer
Verteidigung abgefeuert zu haben. Innerhalb von Stunden hatte die
Luftwaffe eine Überlegenheit gewonnen, die sie während des Jahres
1941 kaum noch einmal abgab, und die drei mächtigen deutschen
Heeresgruppen, vereint zu einer der tüchtigsten Armeen der
Weltgeschichte, rissen in ungeheurem Ansturm die Verteidigungslinien
eines zeitweise verblüfften Gegners auf.
Ein Vergleich zwischen den Leistungen der Panzergruppe 2 (oder der
Panzergruppe Guderian, als die sie besser bei den Soldaten bekannt
war, die stolz auf das »G« waren, das ihre Fahrzeuge trugen) in der
Sowjetunion und dem XIX. Armeekorps in Frankreich ist sehr
aufschlußreich. Im Jahre 1941 befehligte Guderian mit fünf
Panzerdivisionen von nur halb der numerischen Panzerstärke der drei
Divisionen, die ihm 1940 unterstanden hatten, weniger Panzer als in
Frankreich (obwohl der Austausch von leichten gegen mittlere Panzer
das Kräftegleichgewicht wiederhergestellt hatte). In Rußland hatte er
dafür mehr Infanterieeinheiten, von denen einige durch gepanzerte
Sturmgeschütze verstärkt wurden, wenn sie an vorderster Front
kämpften. Während in Frankreich das XIX. Korps nur an
Frontabschnitten eingesetzt wurde, deren Breite selten 40 Kilometer
überstieg, war in Rußland die Front für Guderians Panzergruppe nicht
selten bis zu 160 Kilometer breit.
Im Gegensatz zum Widerstand der Franzosen, der oft unbeweglich
war und zunehmend schwächer wurde, wurden die Operationen der
Russen ständig heftiger, trotz der Unerfahrenheit, mit der ihre
Kommandeure zahlenmäßig überlegene Streitkräfte einsetzten. Weder
die breitere Front noch die stärkere feindliche Gegenwehr waren für
Guderians Operationsführung von Bedeutung. Er lenkte eine
Panzergruppe, wie er ein Korps lenkte - unter persönlichem Einsatz an
der Front über Sprechfunk - und machte den Mangel an Straßen
dadurch wett, daß er seinen Stab und seine Fahrer um so mehr
herannahm in seinem Bemühen, mit den Panzern in vorderster Linie in
Verbindung zu bleiben. Immer wieder geriet er unter direkten feindlichen
Beschuß und kam gerade eben davon. Aber ein Vergleich zwischen den
zurückgelegten Entfernungen zeigt einen wirklich erstaunlichen
Unterschied zwischen den beiden Feldzügen, selbst wenn man die
Tatsache gelten läßt, daß in der Sowjetunion weitaus mehr Raum zu
überbrücken war als in Frankreich.
In Frankreich hatte das XIX. Korps die 240 Kilometer von Sedan nach
Abbeville in sieben Tagen geschafft und als weiteste Tagesstrecke am
Schlußtag 90 Kilometer zurückgelegt. In Rußland brauchte die
Panzergruppe 2 für die 440 Kilometer von Brest-Litowsk nach Bobruisk
ebenfalls sieben Tage und erzielte den Tagesrekord (wiederum am
letzten Tag) mit einer Leistung von 115 Kilometern. Am 16. Juli hatte sie
die 660 Kilometer nach Smolensk trotz anhaltenden sowjetischen
Widerstands und einiger freiwilliger Stopps zur Wartung der Panzer
hinter sich gebracht. Im Verlauf dieses erstaunlichen Vormarsches
waren allein von der Heeresgruppe Mitte riesige Berge feindlichen
Materials erbeutet worden, darunter 2.500 Panzer und 1.500 Geschütze
(der Löwenanteil der Panzer ging an die beiden Panzergruppen). Aber
auch die marschierende Infanterie vollbrachte vorzügliche Leistungen.
Sie legte, angetrieben von Bock und Kluge, enorme Entfernungen durch
staubiges Gelände und unter ungeheurer sommerlicher Hitze zurück,
immer bemüht, Anschluß an die motorisierten Kolonnen zu finden und
Scharen von Russen, an denen Guderians und Hoths Angriffsspitzen
vorbeigestoßen waren, gefangenzunehmen.
Wieder einmal bewegte, indessen noch intensiver als in Frankreich,
das Dilemma der Anpassung des Vormarschtempos an die Zeit, in der
ein überholter und geschlagener Feind eingezingelt oder in die
Gefangenschaft übergeführt werden konnte, die Gemüter der höheren
Befehlshaber. Guderian und Hoth drängten darauf, vorwärtszukommen,
ohne Rücksicht auf das, was sich hinter ihnen tat. Sie waren der
Meinung, durch Bewegung an Sicherheit zu gewinnen und glaubten, daß
der von ihnen herbeigeführte Zusammenbruch der feindlichen Front
kleinere Attacken des Gegners in ihren Rücken belanglos machen
würde. Den Blick auf eine flammende Fackel des Erfolges gerichtet, die
sie vorwärtszog, waren sie blind für die Dinge hinter sich. Doch Hitler
schaltete sich in die Überlegungen mit einer Weisung ein, ähnlich wie er
es bereits in Frankreich getan hatte, und befahl Guderian und Hoth, die
Zange bereits bei Minsk zu schließen statt bei Smolensk, wie Bock,
Guderian und Hoth es wollten - obwohl Guderian den Einwand gelten
ließ, daß eine derart große Ausdehnung in einer einzigen Etappe Risiken
einschloß.
Am 27. Juni wurde der Führerbefehl ausgeführt und dadurch eine
große Masse gegnerischer Soldaten innerhalb eines sich ständig
verengenden Kessels eingeschlossen. Aber obwohl Guderian in seinen
Erinnerungen jubilierte: »Der erste große Erfolg des Feldzuges bahnte
sich an«, war er in seinem Brief an Gretel erheblich reservierter: »Heute,
nach sechs Kampftagen, einen ersten kurzen Gruß und die Nachricht,
daß es mir gutgeht. Wir stehen tief in Feindesland und haben, glaube
ich, recht hübsche Erfolge erzielt.
Tausend Dank für Deine lieben Grüße zum Ausmarsch und
Geburtstag und auch besonders für die Kornblume und Margerite; ich
habe mich daran sehr gefreut.
Am 22. früh ging der Kampf an der Stelle los, wo ich 1939 aufgehört
hatte. Der erste Einbruch erfolgte überraschend und hatte vernichtende
Wirkung. Anschließend gab's einige recht anstrengende Tage, an denen
ich wenig zum Essen und Schlafen und gar nicht zum Schreiben kam...«
Er beklagte in diesem Brief auch die eigenen Verluste, darunter
mehrere Offiziere, die ihm nahestanden und bemerkte dazu: »Das ist
alles sehr traurig. Der Gegner wehrt sich tapfer und erbittert. Die Kämpfe
sind daher recht hart. Man muß es eben durchstehen... Ansonsten gibt
es einigen Ärger, zum Teil ziemlich großen. Aber davon nichts in diesem
Brief. Truppe und Gerät wieder gut; auch sonst alles im Lot. Hitze,
Mücken, Staub. Mein Schlafwagen bewährt sich glänzend. Aber es fehlt
das Bad.«
Der erwähnte Ärger war in erster Linie durch seine unmittelbaren
Vorgesetzten verursacht worden. Am 4. Juli teilte er Gretel mit: »Als
Bremser hat er (Kluge - K. M.) sich sofort äußerst wirkungsvoll betätigt«,
aber im gleichen Brief steht etwas viel Bezeichnenderes, ein Anzeichen
erwachender Erkenntnis der Gefahren von Hitlers Machtmißbrauch:
»Alles erstirbt in Ehrfurcht vor ganz oben und keiner wagt etwas zu
sagen. Das kostet viel unnötiges Blut.«
Dieser Mangel an Sympathie für die Schwierigkeiten, die Brauchitsch,
Bock und Kluge durchmachen mußten, war natürlich die durchaus
verständliche
Einstellung
eines
jeden
Führers
mit
Verantwortungsbewußtsein, dem halbe Sachen ein Greuel waren.
Merkwürdigerweise verzeichnete Halder in seinem Tagebuch unter dem
29. Juni die Hoffnung, daß Guderian den Befehl Hitlers mißachten und
auf eigene Faust losschlagen würde! Vielen Deutschen wäre wohler ums
Herz gewesen, hätten sie nur eine Ahnung von der schrecklichen
Verwirrung gehabt, in die die Russen gestürzt worden waren.
Erst am 30. Juni erfuhren Stalin und das sowjetische Oberkommando
von der Einschließung der Stadt Minsk (so gelähmt war das sowjetische
Nachrichtensystem, das zu keinem Zeitpunkt die Qualität des deutschen
erreichte), und selbst dann erfuhren sie es erst durch einen abgehörten
deutschen Funkspruch. Nicht einmal General Pawlow, der Befehlshaber
der sowjetischen Heeresgruppe, erkannte das Unglück in vollem
Umfang. Er bekam allerdings auch keine Gelegenheit dazu, denn er
wurde am gleichen Tag zusammen mit führenden Offizieren seines
Stabes verhaftet - und erschossen. Soweit waren die Deutschen noch
nicht gegangen - noch nicht.
Was in Frankreich gewesen war, passierte auch in der Sowjetunion.
Ungeheure Erfolge der Panzer, die Guderian als Grund genug ansah,
weiter vorzurücken, zogen Befehle zur Verlangsamung des Tempos
nach sich, während die Kriegsbeute und die noch gegliederten, aber
isolierten sowjetischen Armeen verschlungen wurden. Im Bereich der
Heeresgruppe Mitte (und auch in den Sektoren der beiden
angrenzenden Heeresgruppen natürlich) fanden drei äußerst
verschiedene Arten von Kämpfen, oft weit voneinander entfernt, statt.
Die Infanterieeinheiten griffen entweder die russischen Verbände an
oder umgingen sie, bis sie ausgeschaltet waren oder sich selbst in den
Städten, Dörfern, Wäldern und Sümpfen aufgelöst hatten. Die schnellen
Truppen versuchten, so weit wie möglich voranzukommen, wie es
einschränkende Befehle gestatteten und wie die Infanterie sie einholen
konnte. Und in den immer größer werdenden Räumen hinter den an der
Front kämpfenden Armeen nahmen die SS-Einsatzgruppen ihr Werk der
Unterdrückung und Vernichtung der Bevölkerung unter dem Deckmantel
der Partisanenbekämpfung auf - in einem Land, wo es zu diesem
Zeitpunkt noch gar keine Guerilleras gab und wo auch keine hätten in
Aktion zu treten brauchen, wenn Menschlichkeit an der Tagesordnung
gewesen wäre.
Mehrere deutsche Generäle wußten über die Pogrome Bescheid,
wenn auch nur wenige deren Ausmaß kannten. Fast alle, besonders die
durch die Kämpfe in Anspruch genommenen Kommandeure an der
Front, ahnten nichts davon. Guderian zum Beispiel pflegte nicht die
rückwärtigen Verbindungen zu besichtigen, und Paul Dierichs erinnert
sich an seinen Zorn, als die SS zu Beginn des Feldzuges zwei russische
Zivilisten erschoß. Und am 29. Juni schrieb Guderian hoffnungsvoll und
besorgt an seine Frau: »Wir gelten als Befreier... Hoffentlich erleben die
Leute keine Enttäuschung!«
Bei diesen schnell fließenden Bewegungen wurde der Ablauf der
deutschen Operationen äußerst fahrig. Oberflächlich formulierte, vor
Beginn des Feldzuges ausgegebene Instruktionen, denen die Präzision
eindeutig formulierter Ziele fehlte, wurden in eine Reihe taktischer und
strategischer Improvisationen umgesetzt, deren Ausführung infolge der
bewundernswert aufgebauten Befehls- und Nachrichtenverbindungen
verhältnismäßig einfach war. Kurzfristig konnte Bock am oder um den
28. Juni beschließen, Guderians und Hoths Panzergruppen Kluge zu
unterstellen und die 4. Armee in 4. Panzerarmee umzubenennen. Die
Infanterieeinheiten (die bislang zu Kluge gehörten) unterstellte er
gleichzeitig der 2. Armee. Auf diese Weise erhielt Kluge die nicht
beneidenswerte Aufgabe zugewiesen, ohne klare Direktiven die
rivalisierenden Panzerführer Guderian und Hoth zu befehligen. Der
Wechsel im Kommando war einfach, aber die Formulierung der
Weisungen entbehrte der Kontinuität. Jedermann wollte schnell nach
Osten vorrücken, aber jeweils mit selbstbestimmtem Tempo. Die
anfängliche Ungewißheit jedes Vorstoßes wurde größer und zu einem
gefährlichen Hasardspiel, nachdem Hitlers Einmischung sich in schlecht
koordinierten, direkten Befehlen an einzelne Panzerkorps zu zeigen
begann, Anweisungen, die sie ohne Rücksicht auf die Gesamtstrategie
auf bestimmte feindliche Truppenkonzentrationen ansetzten, sobald die
Aufklärung welche entdeckt zu haben glaubte. Auf diese Weise wurde,
wie Hoth es später ausdrückte, die »... Panzerfaust zu einer gespreizten
Hand« - das Gegenteil von »Klotzen, nicht kleckern«.
Guderian, der ohne klare Befehle war, kam Schwierigkeiten mit Kluge
zuvor und flog gerade, als Kluge am 30. Juni den Befehl übernahm, zu
einer Begegnung mit Hoth in der Absicht, das, was er kommen sah,
abzubiegen
und
private
Vereinbarungen
für
ihre
künftige
Zusammenarbeit bei einer Weiterführung des Vorstoßes nach Smolensk
zu treffen, wie sie ursprünglich von Bock gefordert worden war. Das
System des Umgehens von Befehlen, das sich gegen Schluß des
Frankreichfeldzuges bewährt hatte, wurde erneut angewandt. Während
pro forma einige Panzerverbände zurückgehalten wurden, um
besonderen Anforderungen von oben nachzukommen, ließ man eine
beträchtliche Anzahl von Einheiten als Angriffsspitzen auf den Dnjepr
und Smolensk zu rollen. Die Beresina war am 28. Juni überquert
worden, und am 2. Juli wurde der Dnjepr bei Rogatschew erreicht. Der
Vormarsch wurde langsamer, teils wegen eines entsprechenden Befehls,
teils, weil heftige Regenfälle die Felder in Sümpfe und die unbefestigten
Straßen in unter Wasser stehende Feldwege verwandelten - aber auch,
weil die Russen Reserven aufboten und ihren Widerstand etwas
zusammenhängender organisierten. Dennoch gab es bis jetzt nichts,
was den deutschen Feindnachrichtendienst davon überzeugen konnte,
daß ein einheitlicher feindlicher Widerstand aufgebaut würde - eine
Annahme, die völlig richtig war und täglich durch die bröckchenweisen
Angriffe neuer russischer Einheiten und ihre anschließende schnelle
Ausschaltung bestätigt wurde. Dennoch drohte Kluge Guderian und Hoth
mit einem Kriegsgerichtsverfahren, als am 2. Juli Verbände aus ihren
Divisionen gleichzeitig Vorstöße unternahmen, die sich über die von
Kluge verfügte Haltorder hinwegsetzten.
Schockierender war für Guderian eine Überraschung technischer
Natur, die der Gegner für ihn parat hatte. Die Schwärme russischer
Panzer, die sich ihm zu Beginn des Feldzuges entgegengestellt hatten
und zerstört worden waren, waren nicht unerwartet für ihn gekommen,
und die technische Unterlegenheit des Feindes war ihm ebenfalls
bekannt. Diese Panzer waren weniger weiterentwickelt als die, welche
die Deutschen 1932 bei verschiedenen Vorführungen in der Sowjetunion
und Polen gesehen hatten. Aber in Meldungen der Heeresgruppe Nord
vom 24. Juli 1941 war die Rede von einem außerordentlich
wirkungsvollen schweren Panzer der Russen, der stundenlang dem
Feuer aller Geschütze mit Ausnahme der 8,8 standhielt (dies war der
KW 1 mit seiner neuen 7,6-Zentimeter-Kanone).
Am 3. Juli wurde die 18. Panzerdivision in ein heftiges Gefecht mit
sowjetischen Panzern verwickelt und berichtete ebenfalls von einem
neuen gegnerischen Panzer, dessen Aussehen völlig von den bekannten
Typen abwich. Nehring als Kommandeur der 18. Panzerdivision (er war
im Herbst 1940 als Guderians Chef des Stabes von Oberstleutnant Kurt
Freiherr von Liebenstein abgelöst worden) erkannte schnell die
Bedeutung dieser Beobachtung. Was noch wertvoller war: er konnte bald
darauf Guderian zwei unbeschädigte Exemplare - das eine eine
verbesserte Version des anderen - präsentieren, zwei russische Panzer,
die neben der Straße im Morast steckengeblieben waren. Am 10. Juli
sah und fotografierte Guderian bei Tolotschino seine ersten
T 34-Panzer-Fahrzeuge mit stromlinienförmiger Panzerung, gewaltigem,
7,6-Zentimeter-Geschütz und von ausgezeichneter Geländegängigkeit.
Auf den ersten Blick war zu erkennen, daß sie allen eingesetzten oder
geplanten deutschen Panzern überlegen waren. Nicht einmal die
neuesten mittleren und schweren Panzer, die 1937 beziehungsweise
1939 geplant worden waren, konnten den Vergleich mit den Russen in
jeder Beziehung aushalten.
Das Auftauchen der T 34-Panzer fiel zeitlich mit einer zunehmenden
Krisenstimmung auf deutscher Seite zusammen, als die Lage an der
Front in Rußland sich zu verschlechtern begann. Zwar konnte noch am
30. Juli - dem neunten Tag des Feldzuges - Guderian erklären, seine
Panzergruppe
sei
in
zufriedenstellendem
Zustand,
die
Brennstoffbeschaffung werfe keine Probleme auf, Munitionsversorgung,
Nachschub und ärztliche Versorgung klappten ausgezeichnet, die
Verluste seien nicht hoch und die Zusammenarbeit mit den Jagdfliegern
von Oberst Mölders funktioniere hervorragend, doch es gab bereits
Grund zu ernster Besorgnis wegen technischer Schwierigkeiten. Am
zwölften Tag des Frankreichfeldzuges hatte es die ersten
Verzögerungen gegeben, weil die Panzerstärke unter das
Sicherheitsniveau gefallen war.
Ähnliche Warnungen erfolgten in der Sowjetunion bereits früher, als
dicker Staub zu einer beschleunigten Abnutzung der Motoren führte. Nur
drei Monate vorher hatte Rommel diese Erfahrung bereits in der
afrikanischen Wüste gemacht. Dazu kam, daß jetzt das Austausch- und
Reparatursystem für die deutschen Panzer sich als das herausstellte,
was es war: ein Instrument, das nur für Feldzüge von kurzer Dauer
geeignet war. Es gab keine Ersatzteile in ausreichender Menge und
keine Möglichkeiten für eine größere Überholung der Fahrzeuge an der
Front. Größere Reparaturen konnten durch Instandsetzungskompanien
ausgeführt werden - sofern sie Ersatzteile geliefert bekamen.
Nach den kurzen Einsätzen in Polen und Frankreich waren die
Panzer nach Deutschland zurückgebracht und dort überholt und
wiederhergerichtet worden. Das war 1941 in der Sowjetunion nicht
möglich, nicht nur, weil die Russen die Kämpfe nicht vorzeitig
beendeten, sondern auch weil das russische Eisenbahnnetz, das noch
auf deutsche Spurweite umgestellt werden mußte, im Sommer 1941
weder Nachschub nach Rußland hinein noch beschädigte Panzer zurück
nach Deutschland transportieren konnte. Daraus ergab sich die
Tatsache, daß Ersatzpanzer immer schwerer zu bekommen waren und
die Monteure nicht so schnell arbeiten konnten, wie Reparaturen
anfielen. Und diese Probleme wurden ausgerechnet zu einem Zeitpunkt
akut, als die Russen neue Panzer zum Einsatz brachten.
Die Spannungen zwischen Kluge und Guderian verschärften sich
noch, als der letztere zusammen mit Hoth den Vormarsch auf Smolensk
wiederaufnahm. Am 9. Juli kam es zu einer Auseinandersetzung, als
Guderian sich entgegen den Befehlen anschickte, den Dnjepr zu
überqueren. Kluge war sich völlig im klaren darüber, daß er hinters Licht
geführt und offenkundig erpreßt wurde, als Guderian ihm sanft mit den
Argumenten kam, die Vorbereitungen seien zu weit fortgeschritten, um
zurückgenommen werden zu können und ein Stehenbleiben lade die
sowjetische Luftwaffe förmlich zur Zerstörung ein. Ernste Risiken waren
mit dem verbunden, was Guderian und Hoth taten. Die marschierende
Infanterie lag mehrere Tagesmärsche zurück, und sowjetische
Reservetruppen erschienen in ziemlicher Stärke in Front und Flanke.
Andererseits nutzten erfahrungsgemäß die Russen, wenn man sie
unbehelligt ließ, die Zeit, um starke Befestigungen dort anzulegen, wo
bisher noch keine existierten - eine Erfahrung, die von den Deutschen
nur allzu oft im Ersten Weltkrieg gemacht worden war.
In der Tat behandelte Guderian Kluge herablassend und warf ihm zu
offen seine übertriebene Vorsicht vor. Dennoch waren die beiden
Männer nicht ständig in Fehde miteinander. Zuweilen herrschte auch
unwillige Meinungsgleichheit. Diesmal gab Kluge Guderian zufolge
»widerwillig seine Zustimmung zu meinem Vorhaben«. Aus mehreren
Gründen ist es deshalb interessant, eine Darstellung von Kluges Chef
des Stabes, Oberst Günther Blumentritt, zu lesen: »Im Zeitraum vom
2. bis zum 11. Juni fuhren unsere Panzergruppen in das schwierige
Wald- und Sumpfgebiet der Beresina. Der russische Widerstand wurde
zusehends härter. Auf den wenigen Straßen trafen wir auf die ersten
Minengürtel. Zahlreiche Brücken waren in die Luft gesprengt worden.
Der Feind behauptete sich hartnäckig in den Wäldern und Sümpfen.
Daraus ergab sich ein einzigartiges Phänomen dieses Krieges.
Starke russische Verbände hielten sich einfach in den weglosen
Waldgebieten abseits der Straßen verborgen. Die Infanteriekorps der 4.
und der 9. Armee hatten sich mit diesen feindlichen Einheiten
auseinanderzusetzen. Daraus entwickelten sich tagtäglich erbitterte
Gefechte.
Die ersten Zweifel wurden bei uns wach. Noch war keine
Entscheidung gefallen...
Feldmarschall von Kluge entschloß sich, die beiden Panzergruppen
zu einem Angriff auf breiter Front in östlicher Richtung anzusetzen. Wir
planten eine gemeinsame Überquerung der breiten Flüsse Dnjepr und
Dwina an möglichst vielen Stellen... Diese große Operation der
Panzerarmee von Kluges dürfte immer als strategisches Meisterstück
angesehen werden. Gewiß, er hatte auch zwei Panzerkommandeure von
hervorragender Qualifikation. Generaloberst Guderian besaß neben
allen seinen anderen Vorzügen unerschöpfliche Energie und erfreute
sich der ungeteilten Verehrung durch die ihm unterstellten Einheiten. Er
konnte in seinen Anforderungen hart wie Stahl sein und war kein
angenehmer
Untergebener,
aber
er
war
der
geborene
Panzerkommandeur.
In den Augen seiner Soldaten war er eine Art ,Rommel der
Panzertruppen'. Guderian bedeutete Sieg!
Generaloberst Hoth war ein moderner Panzerkommandeur, der sich
strikt an die Regeln des Generalstabes hielt. Er verband eine feste Hand
mit Umsicht und Scharfsinn. Er war ein angenehmer Untergebener, eine
Art Prinz Eugen.«
Dieser kurze Abschnitt enthält den Schlüssel zur Würdigung der
Operationen, die am 15. Juli mit dem Abschluß einer weiteren
großangelegten Einkesselung der russischen Streitkräfte bei Smolensk
ihren Höhepunkt, zugleich aber auch ein kritisches Stadium des
Feldzuges erreichten. Kluges Schwierigkeiten mit den Russen und mit
Guderian sind klar daraus zu entnehmen, aber der Leser wird kaum in
Zweifel gelassen über die strategische Motivation und darüber, wem
Blumentritt mehr Glauben schenkte - und Blumentritt war im allgemeinen
loyal gegenüber Kluge.
Für Oberstleutnant von Barsewisch, Guderians Luftwaffenoffizier, war
sein Kommandeur ein »Mordsmann, ein Bulle von Energie, klug,
Gedächtnis, dabei liebenswürdig«. Über die Befehlserteilung, die am
11. und 12. Juli erfolgte, schrieb Barsewisch in sein Tagebuch: »Wenn
Guderian entscheidet, ist es, als ob der Kriegsgott selbst über die
Walstatt reitet. Wenn seine Augen wetterleuchten, scheint Wotan Blitze
zu schleudern oder Thor den Hammer zu schwingen.«
Am Abend hörte er eine Unterhaltung zwischen Guderian und Hitlers
Chefadjutanten Oberst Rudolf Schmundt mit an, bei der Guderian
leidenschaftlich ausrief: »Es geht nicht um meinen Ruhm, sondern um
das Deutsche Reich!«
Dies war ein Protest, der eine gewisse Bedeutung hatte, die
Barsewisch damals nicht erkannt haben mag, weil er sich, wie sich
später herausstellte, auf Guderians wachsendes Gespür für seine
schicksalhafte Bestimmung bezog.
Die Operationen Guderians und Hoths beim Vormarsch auf Smolensk
zählen zu den denkwürdigsten des Feldzuges. Sie waren hervorragende
Beispiele beweglicher Angriffsführung in Verfolgung eines strategischen
Ziels gegen hartnäckigen Widerstand eines zahlenmäßig unterlegenen
Gegners. Einen Monat lag hielten die Russen ihre zersplitterten
Gegenangriffe gegen die Heeresgruppe Mitte aufrecht, doch die
Deutschen behaupteten trotz logistischer Beschränkungen ein
beständiges Vormarschtempo, wenn es auch im Vergleich zu den ersten
Tagen des Feldzuges geringer war. Zwischen dem 10. und dem 16. Juli
stieß die Panzergruppe 2 nur 120 Kilometer von Krasnij nach Smolensk
vor, legte aber zahllose Extrakilometer infolge der Notwendigkeit zurück,
den Schwerpunkt zu verlegen, um russische Gegenangriffe abzuwehren
sowie jeweils Schlüsselstellungen in beweglicher Kampfführung zu
besetzen. Sie rückte unbeirrt nach Osten vor und umging unerbittlich die
russischen Verbände oder isolierte sie.
Immer wieder waren es die Deutschen, die als erste wichtige Punkte
mit Panzern und Infanterie eroberten und dann mit Pak und in Stellung
gebrachten Maschinengewehren verteidigten, während die Panzer längst
weitergerollt waren, um neues Gelände zu erobern. Nur wenn es regnete
und die Panzer bis zu den Türmen im Schlamm einsanken, gab es eine
Unterbrechung. Sonst wurde sogar während der Nacht selten Halt
gemacht. Männer und Maschinen begannen Ermüdungserscheinungen
zu zeigen, das Benzin wurde knapp und mit der Munition mußte man
sparsamer umgehen. Aber Guderian war überall; staubbedeckt
entwickelte er ohne Unterlaß seine Pläne.
Auf dem Gipfel seiner Form erreichte er auch neue Höhepunkte in der
Feldherrnkunst und gelangte zu einem noch tieferen Verständnis seines
Berufes. Strategische, taktische und technische Erfahrung brachte er mit
leichterer Hand ins Spiel und erreichte es sogar, daß ihm einer seiner
anfänglich stärkeren Kritiker, der Kommandierende General des
XXIV. Panzerkorps, Geyr von Schweppenburg, Anerkennung zollte: »Wir
arbeiteten mustergültig zusammen dank dem Takt und der Erfahrung
seines Chefs des Stabes und dank Guderians eigener Umsicht und
seines guten Willens. Während sechsmonatiger harter Kämpfe Tag für
Tag kam es zu keiner einzigen Unstimmigkeit.«
Dasselbe kann man nicht von den Beziehungen zu weit hinten
gelegenen Stäben behaupten; mit ihnen mußte ständig gerungen
werden, um ausreichende Truppenverstärkungen und Nachschub für die
schwächer werdenden Panzertruppen zu erhalten. Doch durch ihre
anhaltenden Erfolge straften die Befehlshaber der Panzergruppen alle
verärgert zur Schau getragene Besorgnis Lügen, weil sie es stets
irgendwie fertigbrachten, beweglich zu bleiben, über 300.000
eingeschlossene Russen mit 3.200 Panzern und Bergen von Material in
ihre Hand zu bringen und dazu noch die aus östlicher Richtung
kommenden russischen Angriffe zu stoppen. Hitler, OKW und OKH
waren im Lauf der Zeit tatsächlich gefährlich verwöhnt geworden und
erwarteten wohlgefällig die scheinbar automatisch errungene endlose
Kette von Panzersiegen. Sie brachten es nicht fertig, einzusehen, daß
diese Erfolgsmeldungen gewissermaßen militärische Wunder waren.
Von der Front waren sie so weit entfernt, daß es kaum verwunderlich
war, daß die Beschwerden von den vorn führenden Kommandeuren der
Angriffsverbände mit einem Achselzucken abtaten, wenn diese immer
wieder Erfolge herbeizauberten und dennoch besorgte und verzweifelte
Rufe ausstießen.
Weder das OKW noch das OKH konnten genau Bescheid wissen, wie
von Barsewisch es nannte, »... welche Entbehrungen und
Anstrengungen heute Generäle ertragen müssen«, weil keiner der hohen
Offiziere in seinem Leben jemals etwas Derartiges durchgemacht hatte.
Von Barsewisch vermittelt einen lebendigen Eindruck von Guderian
während einer Krise am 5. August, einem Tag, an dem sein
Befehlshaber von einer Einheit zur anderen jagte und versuchte, den
Ausbruch starker russischer Verbände aus der Einkesselung zu
verhindern. Es traf die Nachricht ein, daß die wichtige Brücke bei Ostrik
vom Feind bedroht sei. »Er rauschte mit uns sofort hin, wutschnaubend,
und schloß die Lücke, indem er ein Bataillon Artillerie, Flak, Panzer
persönlich in den Kampf führte. Ein phantastischer Mann! Neben einem
feuernden MG stehend, trank er aus einer Tasse Mineralwasser: ,Wut
macht Durst!'« Es erübrigte sich fast, daß von Barsewisch weiter
notierte: »Guderian ist in seinem Befehlsbereich von 300.000 Mann fast
überall von Angesicht bekannt - heute erstaunlich! - und wird von den
erschöpften Leuten an der Landstraße überall mit betonter Strammheit
gegrüßt.«
Zweimal schrieb Guderian in diesen Tagen Briefe an seine Frau, in
der er Bemerkungen über sich selbst einfließen ließ. Am 6. August
bemerkte er: »Wie lange Herz und Nerven das aushalten, weiß ich
nicht!« Und am 12. August fragte er in einem Brief, der eine
eindrucksvolle Darstellung der Sorgen eines Befehlshabers an der Front
und seiner eigenen Empfindungen enthält: »Bin ich nicht recht alt
geworden? Diese harten Wochen gehen doch nicht spurlos an dem
Menschen vorüber. Die körperlichen Anstrengungen und die seelischen
Kämpfe machen sich fühlbar. Manchmal habe ich ein ungeheures
Schlafbedürfnis, das ich bisher nur selten befriedigen konnte. Dabei
fühle ich mich an und für sich völlig gesund und - wenn etwas los ist auch frisch und leistungsfähig. Sowie aber die Spannung nachläßt,
kommt der Rückschlag.«
Ungeachtet der bewundernden Anerkennung Guderians durch seine
an der Front stehenden Truppen zog er eine gefährliche Krise über das
OKW und das OKH herauf. Anfang August war klar abzusehen, daß der
Gegner weit davon entfernt war, zu resignieren. Er war stark und zu
längeren Operationen fähig. Am 31. Juli schrieb Guderian: »Der Kampf,
der sich hier abspielt, ist ungleich härter und schwerer als alles
Bisherige... Nun ist klar, daß er noch einige Zeit dauern wird.«
Obwohl weite Gebiete besetzt und ungeheure Armeen zerschlagen
worden waren, war noch nicht die Einnahme politisch oder wirtschaftlich
wichtiger Ziele gelungen und die Russen hatten noch nicht entscheidend
besiegt werden können. Im Gegenteil: in der Ukraine war der Gegner
geschickt der Heeresgruppe Süd ausgewichen und hielt Kiew, während
die Heeresgruppe Nord kurz vor Leningrad stand.
Von Anfang an war jeder Oberbefehlshaber einer Heeresgruppe
bemüht gewesen, das Hauptziel zu erreichen, das innerhalb eines
Kommandobereichs lag. Für Bock war Moskau ein Siegespreis von
unschätzbarem Wert, obwohl er dessen politische Bedeutung nicht hoch
eingeschätzt hatte. Aber inzwischen unterstrich auf deutscher Seite eine
verspätete Erkenntnis der ungeheuren Entfernungen und der
Unzulänglichkeit der zur Verfügung stehenden Mittel, diese Distanzen
zurückzulegen, die Schwierigkeit bei der Verwirklichung der Ziele. Nicht
nur die Kampffahrzeuge brachen unter der Belastung zusammen,
sondern ebenso die Maschinerie der Logistik und auch die innerliche
Einstellung der Kommandeure, die wieder von pessimistischen
Gedanken befallen wurde. Die Wehrmacht war aufs äußerste belastet:
genaugenommen konnte nur ein großes Ziel zu einer bestimmten Zeit
verfolgt werden. Bock unterstützte zusammen mit Kluge, Guderian und
Hoth ohne Bedenken Brauchitsch und Halder in ihrem Bemühen,
Moskau zum Hauptziel des deutschen Vormarsches zu machen.
Beinahe aus Widerspenstigkeit möchte man meinen, schlug Hitler
statt dessen die Besetzung Leningrads und der Ukraine vor. Moskau, so
behauptete er, werde dann von selbst fallen. Als Grund für die
Aufsplitterung führte er die Notwendigkeit der Angriffe auf politische und
ökonomische Ziele an, die, wie er meinte, wichtiger waren als die
Konzentration auf eine rein militärische Aufgabe. Hitler liebte eben
bequeme Argumente, um kurzfristige Ziele zu rechtfertigen, Argumente,
die in diesem Fall schlecht gewählt waren.
Nichts konnte unternommen werden, bevor Hitler nicht nacheinander
jedes Heeresgruppenhauptquartier aufgesucht und die Meinung der
Herren von Leeb, von Bock und von Rundstedt erkundet hatte. Dabei
ließ er wieder seine Persönlichkeit auf sie einwirken und säte Zwietracht,
um möglicherweise ihren Glauben an Halder und das OKH zu
erschüttern. Voll Hintergedanken wirkte Hitler auf die empfindlichen
Stellen der Generäle ein in der Absicht, jeden von ihnen durch seine
persönliche Ausstrahlung zu überzeugen ohne Rücksicht auf die
Korrektheit der Strategie, die er vorschlug.
Was Bocks Hauptquartier betraf, das Hitler am 4. August besuchte, so
sind Gerüchte im Umlauf gewesen, wonach der Ia Bocks, Oberst
Henning von Tresckow, dessen Adjutant Fabian von Schlabrendorff
(Rechtsanwalt im Zivilberuf) und zwei weitere Adjutanten ein Komplott
geschmiedet hatten und Hitler festnehmen wollten in der Hoffnung, daß
sich dadurch eine Kettenreaktion gegen ihn auslösen würde. Diesen
lächerlich amateurhaften Plan (sofern er jemals existiert hatte) schilderte
Schlabrendorff in seinem 1946 erschienenen Buch Offiziere gegen Hitler
(erwähnte ihn aber in einem 1965 veröffentlichten anderen Buch nicht
mehr). Es scheint, daß die Verschwörer erkannten, daß ihr Plan fruchtlos
war, weil sie, allerdings erst im letzten Augenblick, gewahr wurden, daß
Hitler eine zahlenmäßig zu starke Begleitung mitbrachte. Es wird auch
behauptet, daß Tresckow Bock zum Mitmachen bewegen wollte und daß
dieser eine Unterstützung der Verschwörer verweigerte, solange nicht
der Erfolg feststand.
Wheeler-Bennett führte in seinem Buch Nemesis der Macht die
Vermutung an, Guderian habe von dem Anschlag Tresckows gewußt
und ihn dadurch zum Scheitern gebracht, daß er auf Hitlers Vorschläge
einging. Guderian, der alles, was Schlabrendorff 1946 über ihn
geschrieben hatte, als unwahr bezeichnete, hat die Geschichte auf
seiner Seite, während Schlabrendorffs Buch wegen der Ungenauigkeiten
und Darstellung von Dingen, die er nur vom Hörensagen kannte, Rätsel
aufgibt. Zum Beispiel behauptete er, Bock habe nicht auf Moskau
vorrücken wollen, sondern sich für einen Rückzug in die Defensive
ausgesprochen, während Guderian mehr an der Ukraine interessiert
gewesen sei. Beide Darstellungen werden durch damalige Tagebücher
und persönliche Berichte eindeutig widerlegt.
Zugegeben, Hitler befragte jeden Heerführer unter vier Augen, und
niemand weiß genau, was dabei gesagt wurde, aber es gibt keine
Beweise dafür, daß Schlabrendorff recht hat und alle übrigen Personen
sich irren. In Wirklichkeit besteht Guderians einzige bekannte
strategische Meinungsverschiedenheit in dieser Zeit darin, daß er und
Hoth verschiedene Daten für den Aufbruch zum Vormarsch auf Moskau
angaben. Während Guderian damit rechnete, er könne am 15. August
fertig sein, sprach sich Hoth, in diesem Fall vorsichtiger, für den 20.
August aus. Voraussetzung war die Reparatur von defekten Panzern.
Privat gingen die Ansichten von Bock und Guderian hauptsächlich über
die Frage auseinander, welchen grundlegenden Effekt eine Einnahme
der sowjetischen Hauptstadt auf die Russen haben würde. Guderian
äußerte dabei die Vermutung, eine Besetzung Moskaus würde für sich
genügen, um gleichzeitig den Zusammenbruch von Stalins Regime
herbeizuführen; Bock vertrat dagegen die mehr politische und
intellektuelle Auffassung, Rußland könne nur »von den Russen selbst
mit Hilfe eines Bürgerkrieges und unter Bildung einer Nationalen
Befreiungsbewegung« erobert werden.
Unausgegorene
politische
Theorien
standen
bei
einem
Frontbefehlshaber mitten im Einsatz nicht hoch im Kurs. Guderian war
mit seinen Gedanken an der Front und kehrte nach der Konferenz mit
dem festen Vorsatz dorthin zurück, seine Panzergruppe für den Vorstoß
auf Moskau vorzubereiten, der, wie er glaubte, mit Sicherheit kommen
mußte. Ein paar schnelle Anweisungen an seinen Stab und wieder
begab er sich eilig in die vordersten Linien, um die Kämpfe fortzusetzen.
Am 6. August teilte er Gretel mit: »Ich habe eine Schlacht bei Roslawl
geschlagen, diese Stadt genommen, 30.000 Gefangene, 250 Geschütze
und viel sonstiges Zeug, dabei Panzer, erbeutet... Ein schöner Erfolg.
Aber man redet mir nach wie vor in meine Angelegenheiten ein (Bock,
unter dessen direktem Befehl er zu dieser Zeit stand - K. M.) und ist
bemüht, die Panzer zersplittert einzusetzen und durch sinnlose Märsche
kaputtzumachen. Es ist zum Verzweifeln! Wie ich aus diesem Unfug
hinauskommen soll, weiß ich noch nicht, niemand hilft mir... Vor drei
Tagen wurde ich zu einem Vortrag zum Führer gerufen über die
Panzerlage. Die Auswirkung beim OKW und bei der Heeresgruppe
entspricht nicht meinen Erwartungen, obwohl der Führer selbst äußerst
verständnisvoll war. Zu schade, zu schade!«
In den allerhöchsten Kommandostellen, wo der Kanonendonner nur
selten zu hören war und die Zeit ihre Bedeutung verloren zu haben
schien, hielt die endlose Debatte über die künftige Strategie an. Als der
erste Feldzugsommer sich dem Ende zuneigte, waren die einzigen
unmittelbar Betroffenen, die über die Kampfpause glücklich waren, die
deutschen Logistiker, die so die Möglichkeit hatten, an der Front die
Lücken bei den Einheiten mit Reserven aufzufüllen. Hauptnutznießer auf
lange Sicht war natürlich die Rote Armee, die endlich Zeit fand, ihre
Stellungen auszubauen. Wenn die Initiation beider Seiten sich
ausgeglichen hat, ist Inaktivität oft destruktiver für die Gemütsverfassung
der Generäle als die tatsächlichen Kämpfe für die Truppe. Die Belastung
für Halder, der am besten von allen wußte, daß eine obskure Strategie
Deutschlands Totenglocke läutete und unter fast unerträglichen
Bedingungen grübelte und mit sich rang, war entsetzlich. Er war in einem
Strudel von Vorschlägen und Gegenvorschlägen gefangen, besaß
indessen nicht die Autorität und Fähigkeit, daraus positive Maßnahmen
zu entwickeln. Häufig geschmäht und dann wieder einfach ignoriert vom
OKW, zu oft im Stich gelassen von seinem Oberbefehlshaber, dessen
Glaubwürdigkeit beim OKW stark gesunken war, wurde Halders daraus
resultierende Erfolglosigkeit bei besorgten Kollegen auf unterer Ebene
offenbar, die ihrerseits die Zuversicht zu verlieren begannen. Ein
Argument, das in die Mühle von Hitlers politischen Zickzackmanövern
und Intuitionen geriet, war für Halder Anlaß zu ärgerlicher Verzweiflung.
Guderian wünschte lediglich in Bewegung zu bleiben, weil das für ihn
das A und O der Panzertaktik und die Triebfeder des Erfolges war. Am
12. August schrieb er: »Ich möchte im Herbst nicht mehr in der jetzigen
Gegend (Roslawl) sein; sie ist nicht sehr reizvoll... Denn das Warten
bringt immer die Gefahr des Erstarrens im Stellungskrieg, und das wäre
furchtbar!«
Daß er nur zu gut die Schwierigkeiten an der Spitze kannte, zeigt sein
Brief vom 18. August: »Dieser Umstand wirkt sich natürlich bis in die
Truppe nachteilig aus, weil jeder das Fehlen von Harmonie spürt. Daher
rühren unklare Aufträge, häufige Gegenbefehle, Ausbleiben von
Weisungen, manchmal durch Wochen. Das läßt uns manche
Gelegenheit verpassen... Aber es ärgert einen doch, wenn man die
Verhältnisse ein wenig durchschaut. Hieran wird wohl im Verlauf dieses
Krieges nichts zu ändern sein, und wir werden ihn trotzdem gewinnen.
Das sind so die Menschlichkeiten in großer Zeit und bei großen
Männern. Laß Dir nicht zu viel über mich erzählen. Es ist alles sehr
übertrieben, und die Leute machen aus einer Mücke einen Elefanten.«
Denn ins Gerede war er gekommen - wegen seiner Hartnäckigkeit
einerseits, aber zunehmend auch wegen seiner Lauterkeit. Es mehrte
sich nämlich der Eindruck bei einer kleinen und einflußreichen Gruppe,
daß Guderian in den unteren Befehlshaberrängen verschlissen würde.
So schien es jedenfalls Major Günther von Below, dem
Verbindungsoffizier des Chefs des Generalstabes des Heeres zur
Panzergruppe 2, einem glühenden Bewunderer Guderians.
Ihm war wie vielen anderen klar, daß das schlechte Verhältnis
zwischen von Brauchitsch und Hitler verhängnisvoll war und daß
Guderian, vor dem Hitler viel mehr Respekt hatte, der richtige Mann
wäre, um an die Stelle von Brauchitsch zu treten. Da schlug er, einer
Ahnung nachgebend, Major Claus von Stauffenberg, einem
Generalstabsoffizier beim OKH, vor, die Panzergruppe 2 zu besuchen,
um sich persönlich ein Bild von Guderians Eignung für die höhere
Verwendung zu machen. Stauffenberg war, wie die meisten Besucher,
begeistert nach einem Gespräch mit Guderian, und kehrte zurück, und
die beiden Verschworenen suchten nach einer Gelegenheit, den Führer
inoffiziell auf Guderians Vorzüge aufmerksam zu machen.
Zu ungefähr der gleichen Zeit erkundigte sich von Below bei
Guderian, was er dazu sagen würde, wenn er aufgefordert würde, sich
als Oberbefehlshaber zur Verfügung zu stellen, und Guderian hatte,
nicht überraschend, erwidert, er würde »dem Ruf folgen«*. Von Below
sagt, Guderians Chef des Stabes, Liebenstein, habe vermutlich von dem
Plan gewußt, wohingegen Oberst Schmundt in Unkenntnis war.
Aufgrund von Eintragungen in seinem Tagebuch ist anzunehmen, daß
auch Barsewisch Bescheid wußte**. Ob auch Halder informiert war oder
nicht, darüber lassen sich nur Mutmaßungen anstellen, wenn auch der
Chef der Operationsabteilung Oberst Heusinger, eingeweiht worden war
und vielleicht das Gespräch darauf brachte. Ich halte es für sehr
wahrscheinlich, daß Halder von dem Vorgang Kenntnis hatte. Sicherlich
nehmen seine nachfolgenden Kontakte zu Guderian und den Männern,
die den Panzergeneral unterstützten, im Licht dieser positiven Annahme
einen anderen Charakter an, denn bis Mitte August hatte Halder wenig
Grund, Brauchitsch dankbar zu sein, aber desto mehr Anlaß,
Dankbarkeit gegenüber Guderian zu empfinden und daneben
wachsende Enttäuschung gegenüber Hitler, dessen eigenmächtiges
Verhalten immer schlimmer wurde.
*
**
Guderian gibt in seinen Erinnerungen keinen Hinweis auf diese Episode, wenn
auch in seiner Korrespondenz gewisse Beweise dafür vorhanden sind, daß ihm
klar war, daß irgendeine große Veränderung bevorstand. Weil er nach dem
Krieg wiederholt beschuldigt wurde, ein Egoist gewesen zu sein, ist seine
Zurückhaltung in diesem Punkt zwar verständlich, aber doch unnötig. Soweit ich
weiß, ist dieser höchst bedeutsame Aspekt bisher noch nicht in einem
englischen Buch veröffentlicht worden.
Die Eintragung in Barsewischs Tagebuch unter dem Datum des 15./16.
September ist aufschlußreich in bezug auf die Ansicht »Hieran wird wohl im
Verlauf des Krieges nichts zu ändern sein«, wie Guderian in seinem oben
erwähnten Brief an seine Frau vom 18. August zum Ausdruck gebracht hatte.
Am 29. August lautete eine Notiz in Barsewischs Tagebuch: »Allein mit
Guderian... sehr ernste Themen, Clausewitz, Moltke und Schlieffen,
Stellenbesetzung OKH und Generalstab -, so daß für uns alles um uns für eine
Stunde versank.«
Denn nicht nur der Oberbefehlshaber verlor an Prestige oder hatte es
bereits völlig verloren. Selbst der Führer fing bereits an, an Autorität
einzubüßen, und fand es immer schwerer, Zweifler mit freundlichen
Worten von seiner Einschätzung der Lage zu überzeugen. Häufiger als
bisher sah er sich gezwungen, seine Zuflucht zu einschüchternden
Befehlen zu nehmen, um sich über gegensätzliche Standpunkte
hinwegzusetzen. Dabei machte er sich mehr und mehr die Gründlichkeit
preußischer Disziplin zunutze, um den Generälen seinen Willen
aufzuzwingen. Jeder Rückschlag und jedes Anzeichen für eine
Verschlechterung der deutschen Lage machte den Würgegriff dieses
einsamen Diktators noch fester um Deutschland. Da ihm seine engsten
Gefolgsleute und Speichellecker nie ernsthaft widersprachen und es
ihnen gelang, Leute mit anderer Meinung auf Distanz zu halten, hatte
Hitler die Möglichkeit, abstruse Ideen, aufgebaut auf falschen oder
kurzlebigen Voraussetzungen, zu formulieren oder zu verbreiten, die nur
zu oft zu einer fehlerhaften Politik führten.
So fallen beispielsweise die von Guderian in der Interimsperiode
zwischen seinem Eintreffen bei Smolensk und der Zurechtlegung einer
neuen Strategie ausgeführten begrenzten Operationen zeitlich mit Hitlers
Vorschlag zusammen, das Prinzip einer Sicherung des Sieges durch
weitreichende bewegliche Operationen zugunsten kleiner, lokaler
Aktionen aufzugeben (gleichbedeutend mit statischer Kriegführung), um
unwichtiges Gelände in Besitz zu nehmen. Dieses Konzept, das von
Halder befürwortet und von Bock angewendet wurde als zeitweiliger
Notbehelf, um eine begrenzte Mobilität zu erhalten, führte zu einem
wenig wirksamen Vorgehen der 2. Armee auf Gomel, wobei die
Panzergruppe 2 mehrmals wahllos um Beistand ersucht wurde Hilferufe, die Guderian veranlaßten, sich am 18. August über den Wust
von unklaren Befehlen und Gegenbefehlen zu beklagen. Liebenstein
bemerkte erbittert: »Die Truppe muß uns für verrückt halten!« und
vermerkte am 15. August in seinem Tagebuch, daß der Stoß auf Gomel
»nicht in die tiefe Flanke und den Rücken des Feindes führen kann«,
und weiter am 10. August in Zusammenhang mit einer verärgerten
Bemerkung darüber, daß Panzer in vorderer Linie bleiben mußten, statt
durch die Infanterie abgelöst zu werden und sich auf neue Aufgaben
vorbereiten zu können: »...Heeresgruppe scheint nach allem zu
beabsichtigen, auf schmaler Front beiderseits der Straße RoslawlMoskau mit beiden Armeen anzugreifen. Unsere weitere Ausdehnung
nach Süden ist also nicht mehr zweckmäßig.«
Obwohl Guderian wußte, daß der Befehl vom OKW über das OKH
gekommen war, verweigerte er seine Ausführung. Liebenstein zitiert
Guderian, der am 22. August gesagt haben soll, die Entsendung einer
Panzergruppe in dieser Richtung sei »ein Verbrechen«. Doch als die 2.
Armee unter Bocks Antreiben südwärts weiterrückte, entschloß sich
Hitler endlich zum Handeln: er sprach sich mit Nachdruck dafür aus, mit
aller Kraft nach Süden in Richtung auf Kiew vorzugehen. Fast am
gleichen Tag, dem 18. August, setzten Brauchitsch und Halder ihre
Unterschriften unter ein Dokument, in dem ein Vormarsch auf Moskau
verlangt wurde.
Der von den beiden Männern vorgelegte Plan war allerdings insofern
nicht ganz schlüssig, als er den flankierenden Heeresgruppen genügend
Kräfte beließ, um die Hauptziele innerhalb ihrer Abschnitte zu erreichen.
Hitler, der den Plan ablehnte, gab eine politische Antwort: er
beschuldigte das OKH, zu sehr von den Oberbefehlshabern der drei
Heeresgruppen beeinflußt zu sein. Erneut forderte Halder Brauchitsch
auf, mit ihm gemeinsam seinen Posten zur Verfügung zu stellen, aber
wiederum weigerte sich der Oberbefehlshaber. Er wußte, daß es ein
Zeichen zweitklassiger Strategie war, eine auf reinem Opportunismus
basierende Offensive anzuordnen, bei der eine Panzergruppe aus der
Heeresgruppe Mitte herausgenommen und der Heeresgruppe Süd
beigegeben wurde, um eine gigantische Einkesselung der russischen
Armeen, die die Ukraine verteidigten, zu erreichen. Brauchitsch ging in
jeder Hinsicht den Weg des geringsten Widerstandes.
Halder streckte die Waffen nicht und berief ein weiteres Treffen bei
der Heeresgruppe Mitte ein, zu dem die Kommandeure der Heeres- und
der Panzergruppen geladen wurden. Mit energischem Eifer und
Geschick sprach sich Guderian dagegen aus, seine Panzergruppe nach
Süden zu dirigieren. Er deutete die dabei entstehenden logistischen
Schwierigkeiten an und wies auf die Schwächung von Männern und
Maschinen hin. Einige seiner Leute, so erklärte er, hätten die Bedeutung
des Wortes »Ruhe« vergessen. Dann schilderte er die Aussichten eines
Winterfeldzuges, der von den Planungsstäben nie ins Auge gefaßt
worden war und für den auf den ersten Blick keine sichtbaren
Vorbereitungen getroffen worden waren. Der Kern seiner Ausführungen
war der: die Operation Kiew sei zwar möglich, doch schließe sie eine
anschließende Offensive gegen Moskau aus und mache einen
Winterkrieg unvermeidbar.
Damit traf er genau die Meinung von Halder und Bock. Jetzt trat von
Below an Bock heran mit dem Hinweis, Guderian sei der geeignete
Mann, um Halder zu begleiten und beim Führer ein letztes Mal zu
versuchen, dessen Vorhaben zu ändern. Das war ein Projekt, auf das
Halder bereitwillig einging, um so freudiger, kann man sagen, wenn auch
er überzeugt war (und vermutlich war er es), daß Guderian der einzige
Mann war, der dort Erfolg haben konnte, wo Brauchitsch versagt hatte.
Tatsächlich scheint die Annahme logisch zu sein, daß Halder Guderian
unterstützte, weil er in ihm einen Kandidaten für die Nachfolge von
Brauchitsch sah.
Widersprüchliche Darstellungen sind von jedem Aspekt des Besuches
Guderians im Führerhauptquartier Rastenburg in Ostpreußen am
23. August veröffentlicht worden, vielleicht verständlich, wenn man
bedenkt, daß man vor einem Wendepunkt des Krieges stand.
Liebenstein hält in seinem Tagebuch am 23. August folgendes fest (in
einem offenbar kurz danach vorgenommenen Eintrag, vielleicht mit dem
Hintergedanken, Guderians Ruf zu schützen): »Der Befehlshaber fliegt
mit dem Chef des Generalstabes in der Absicht, den Einsatz der
Panzergruppe nach Süden zu verhindern. Er wird dort, wie er nach
seiner Rückkehr erzählt, vom Oberbefehlshaber (Brauchitsch - K. M.) mit
den Worten empfangen ,Der Ansatz nach Süden ist befohlen, es handelt
sich nur noch um das Wie!'«
In seinen Erinnerungen schildert Guderian ausführlich sein
Zusammentreffen mit Brauchitsch an jenem Abend. Dieser habe ihm,
wie er schreibt, verboten, die Frage Moskau mit dem Führer zu erörtern.
Wußte Brauchitsch von dem Plan seiner Absetzung? Wahrscheinlich
nicht, aber Guderian fährt fort mit der Darstellung seines Vortrages bei
Hitler (bei dem weder Brauchitsch noch Halder zugegen waren) und
beschreibt, wie trotz der Warnung von Brauchitsch das Gespräch auf
den Angriff auf Moskau kam und wie er sich mit Nachdruck für die
Fortsetzung der Operationen in Richtung der sowjetischen Hauptstadt
und gegen den Vormarsch auf Kiew ausgesprochen habe. Hitler führte in
Gegenwart der anderen Zuhörer, darunter Keitel, Jodl und Schmundt,
verschiedene Gründe wirtschaftlicher, politischer und militärischer Natur
an, um damit seinen Plan zu begründen, der vorsah, die Ukraine zu
erobern und die Krim zu neutralisieren. Dabei gebrauchte er den
gönnerhaften Satz: »Meine Generäle verstehen nichts von
Kriegswirtschaft.« Alle Anwesenden nickten zu diesem Ausspruch
Hitlers. »Ich stand mit meiner Ansicht allein«, schreibt Guderian.
Angesichts dieser Ausführungen stellte er sich Liebenstein zufolge auf
den Standpunkt, »... er könne mit dem Oberhaupt des Reiches in
Gegenwart dessen ganzer Umgebung nicht über einen gefaßten
Beschluß debattieren.«
Guderian hätte ebenso den Nagel auf den Kopf getroffen, hätte er als
Grund seine Hemmungen in Erkenntnis der Tatsache angeführt, daß
seine Aussichten, Oberbefehlshaber zu werden und vielleicht
Deutschland zu retten, bedroht waren. Ein unbesonnener Streit mit Hitler
bei dieser Gelegenheit hätte diese Chancen in nicht wieder
gutzumachender Weise verdorben. Dadurch, daß er ohne Schärfe über
dieses Thema sprach, konnte er Hitlers Vertrauen in ihn weiter erhöhen
und die Aussicht auf verstärkten Einfluß in naher Zukunft zu einer
Wahrscheinlichkeit
werden
lassen.
Es
ist
eine
traurige
Erfahrungstatsache bei den Beziehungen zwischen den höchsten
deutschen Generälen und Hitler, daß sie stets dazu neigten, wenn sie
vor das Dilemma gegenseitigen Vertrauens zwischen sich und dem
Führer gestellt waren, Konzessionen auszuhandeln in der Hoffnung auf
eine Verbesserung ihrer eigenen künftigen Stellung und jedesmal diese
Hoffnungen scheitern sahen. Einer nach dem anderen erlitt Schaden,
und damit auch das Heer und Deutschland.
Das Ergebnis von Rastenburg war auch ein völliger Zusammenbruch
der Vertrauensbasis zwischen Halder und Guderian, der allmählich
anderen nicht verborgen blieb. Die beiden Männer, die wahrscheinlich
Deutschlands letzte Hoffnung im Kampf gegen die Hitlersche Unvernunft
waren, hatten sich entzweit. Liebenstein schrieb: »Dem Befehlshaber
wird vom Chef des Generalstabes vorgeworfen, er sei umgefallen.« Und
Halder kommentierte verbittert Guderians Verhalten: »Während er bei
der Besprechung bei der Heeresgruppe Mitte erklärt hat, daß ein Ansatz
des XXIV. A. K. nach Süden nicht möglich sei, erklärt er nun heute
morgen, angesichts der bindenden Forderung des Führers, so schnell
wie möglich nach Süden zur Wirkung zu kommen, könne nun das XXIV.
A. K. doch nach Süden angesetzt werden. Es müsse seine Bedenken
zurückstellen... Die gestrige Darstellung sei erfolgt, dem OKH eine
Handhabe zu geben, um die geforderte Operation nach Süden
verhindern zu können. Nachdem er sich beim Führer selbst davon
überzeugt hat, daß er zu dieser Operation nach Süden fest entschlossen
sei, sei es seine Pflicht, auch das Unmögliche möglich zu machen...
Dieses Gespräch zeigt mit erschütternder Klarheit, in welcher
unverantwortlichen Weise dienstliche Meldungen als ,Zweckmeldungen'
abgegeben werden. ObdH erläßt daraufhin einen sehr scharfen Befehl
über Meldungserstattung. Helfen wird er nichts. Denn Charaktere kann
man durch Befehle nicht ändern.«
Guderian schreibt, Halder habe einen »Nervenzusammenbruch«
erlitten, »der ihn zu völlig ungerechtfertigten Beschuldigungen und
Verdächtigungen verleitete«, als er ihm über den Fehlschlag des letzten
Versuches berichtete, Hitler doch noch umzustimmen. Bock bestätigt
diesen Zusammenbruch Halders. Halder hatte zwar Grund, enttäuscht
zu sein, doch bedingt eine überempfindliche Reaktion dieses Ausmaßes
wohl zwingendere Gründe. Einmal war Halder auf den ersten Blick
außerordentlich optimistisch gewesen, wenn er erwartete, ein relativ
rangniedriger Offizier könnte Hitlers Meinung innerhalb von Minuten
ändern, was er und Brauchitsch wochenlang vergeblich versucht hatten.
Und er war mehr als zuversichtlich gewesen, wenn er geglaubt hatte,
gegen einen unabänderlichen Beschluß des Führers könne man
Einspruch erheben auf eine Weise, die völlig dem Kodex preußischer
Disziplin entgegenstand. Halder war auch alles andere als offenherzig zu
Guderian gewesen: er hatte es unterlassen, ihn zu informieren, daß
bereits vom OKH an die Heeresgruppe Mitte der Befehl ergangen war,
mit der Heeresgruppe Süd zusammenzuarbeiten und dabei eine
»... Kräftegruppe, möglichst unter Generaloberst Guderian«,
einzusetzen.
Wenn man voraussetzt, daß Halder von der Überlegung wußte,
Brauchitsch durch Guderian zu ersetzen, wird sein Verhalten
verständlich, denn zunächst einmal muß er einigermaßen - wenn nicht
sogar stark - überzeugt davon gewesen sein, daß Guderian sowohl
besonderen Einfluß auf den Führer hatte als auch entschlossen war, dort
Erfolg zu haben, wo andere versagt hatten. Mehr noch: Hätte Guderian
es fertiggebracht, Hitlers Entschluß zu ändern, hätten sich sicherlich
auch seine Ansichten erhöht, Oberbefehlshaber zu werden. Am
23. August könnte Halder deshalb Guderian gut als seinen künftigen
Vorgesetzten mit allen Vollmachten angesehen haben. Daher müssen
sich seine Wut und Enttäuschung angesichts des Verlaufs von
Guderians Gespräch mit Hitler verdoppelt haben, und nur so ist auch der
Grad des Ausbruchs angestauter Emotionen zu sehen, der von
Beschuldigungen, Guderian habe sich illoyal verhalten und
Bemerkungen am Telefon zu Bock, Guderian habe sie alle im Stich
gelassen, begleitet war.
Tatsache bleibt, daß Halder von nun an Guderians Feind war. Halder
war so haßerfüllt, daß er in den kommenden Jahren die Legende von
dem Einzelgänger Guderian prägte, der sich mit der Elite des
Generalstabes uneinig gewesen sei, und sie nach dem Krieg noch mit
dem Zusatz versah, Guderian sei oberflächlich gewesen. Aber Halder
wurde auch in die Defensive gedrängt, als der König, den er glaubte
ausgespielt zu haben, sich als Bube herausstellte. Denn es gab auch
jene Stabsoffiziere (darunter Oberstleutnant Fritz Bayerlein, Guderians
Ia), die der Auffassung waren, aufgrund der Ereignisse vom 23. August
hätten Brauchitsch und Halder zurücktreten müssen und nicht, wie
Halder und seine Vertrauten forderten, Guderian.
Sei dem wie es wolle, das getrübte weitere Verhältnis zwischen
Halder und Guderian kann nun in neuem Licht gesehen werden und wird
noch mehr erhellt, wenn man sieht, wie die Pläne, Brauchitsch seines
Postens zu entheben, weiter reiften und zugleich die Anhänger
Guderians gleichsam einer Verfolgung durch Halder ausgesetzt waren,
wie der weitere Gang der Ereignisse beweist.
Der Angriff auf die Ukraine verlangte alles von Guderians Scharfsinn,
weil er sich sowohl gegen die Russen als auch gegen die hartnäckige
Opposition Halders durchsetzen mußte. Halders Tagebuch gibt seine
Meinung über die neue Operation wieder, die Guderian in Angriff
genommen hatte: »25. August! Die Absicht der Panzergruppe, mit ihrem
linken Flügel vorzurücken, führt zu weit nach Osten. Jetzt handelt es sich
darum, der 2. Armee über die Desna und dann der 6. Armee über den
Dnjepr zu helfen.«
Mit anderen Worten: der »Schnellen Truppe« wurden wieder einmal
dadurch die Flügel gestutzt, daß sie zur Unterstützung der am
langsamsten vorankommenden Verbände eingesetzt wurde. Halder
notierte am 26. August, also 24 Stunden später: »Die Infanterie schreitet
bei sich versteifendem Widerstand langsam fort« und bestand einen Tag
später in einem Befehl an Bock darauf, »Guderian nicht nach Osten
laufen zu lassen, sondern zum Flußübergang der 2. Armee über die
Desna heranzuhalten«. Geschwindigkeit war wirklich nicht das Wesen
dieser Operation.
Liebenstein registrierte den Protest seines Befehlshabers angesichts
der Aufsplitterung der Panzergruppe infolge des Zurückhaltens des
XXXXVI. Panzerkorps als Reserve. Doch obwohl er jetzt ohne ein Drittel
seiner Truppe auskommen mußte, setzte sich Guderian entschlossen
über die Befehle Halders und Bocks hinweg und versuchte, wie üblich
entscheidende Ergebnisse zu erzwingen. Diesmal war allerdings mehr
Eile als sonst geboten, weil nur nach einem schnellen Abschluß der
Schlacht um Kiew mit dem Vormarsch auf Moskau rechtzeitig vor
Ausbruch des Winters begonnen werden konnte.
Die ersten Vorstöße trafen einen überraschten Gegner an, der keinen
Angriff aus dieser Richtung erwartet hatte, aber der russische
Widerstand wurde täglich stärker, und schwere Kämpfe erforderten von
beiden Panzerkorps die Aufbietung aller Kräfte. Halder erwähnte eine
Nachricht von Bock, als er am 27. August vermerkte: »Guderian tobt, er
käme nicht vorwärts, weil er von rechts und von links in der Flanke
angegriffen sei, und verlangt Zuführung der restlichen schnellen
Verbände seiner Gruppe. Bock glaubt, das nicht tun zu können, weil er
auf die Reserve nicht verzichten kann. Ich bin gleicher Ansicht und bitte
ihn, dem Wunsch Guderians nicht nachzugeben. Außerdem bitte ich ihn,
Guderian scharf an die Zügel zu nehmen...« Und am 28. August schrieb
Halder, nachdem General Paulus, nun Halders erster Mitarbeiter, sich
bei ihm für Guderian eingesetzt hatte: »Die Schwierigkeiten der Lage
sehe ich ein. Aber schließlich setzt sich der ganze Krieg aus
Schwierigkeiten zusammen. Guderian will keinen Armeeführer über sich
dulden und verlangt, daß sich bis zur obersten Stelle alles den
Gedanken beugt, die er sich aus seinem beschränkten Blickfeld heraus
macht. Leider hat sich Paulus von ihm einfangen lassen. Ich denke gar
nicht daran nachzugeben. Guderian hat seinen Ansatz selbst bestimmt.
Nun mag er sehen, wie er durchkommt!«
Die Krise hatte ihren Höhepunkt erreicht, als Halder am 31. August
seinem Tagebuch anvertraute: »Die Morgenlage ist beherrscht von einer
ausgesprochen unbequemen Lage der Gruppe Guderian. (An diesem
Tag mußte Guderian sogar eine Bäckereikompanie einsetzen, um einen
bedrohten Abschnitt zu halten - K. M.)... Nun macht er (Guderian) alle
Welt für diesen unerfreulichen Zustand verantwortlich und wirft mit
Anklagen und Beschimpfungen um sich. Geholfen werden kann ihm nur
durch Infanteriekräfte, das dauert alles einige Tage, und während dieser
Tage sitzt eben Guderian fest. Ich halte es daher für falsch, diesen Weg
der Hilfeleistung zu gehen...«
Bock wollte Guderian jedoch zwei Infanteriedivisionen schicken. Am
gleichen Tag erwähnte Halder noch ein Telefongespräch mit Bock, bei
dem sich dieser über Guderians Ton beschwerte, »... den er sich unter
keinen Umständen gefallen lassen kann. Guderian verlangt, um seinen
Kopf durchzusetzen, Entscheidung des Führers. Das ist eine unerhörte
Frechheit!«
Liebenstein stellte in seinem Tagebuch am 1. September die
Vorgänge anders dar: »... ein Hauptfehler der gegenwärtigen Operation,
daß nicht genügend starke Kräfte von Anfang an angesetzt sind, um
schnell Erfolg zu haben, der notwendig, da die Ziele noch weit sind, die
vor Eintritt des Winters erreicht werden sollten. Dauernde Bitte der
Gruppe um Wiederunterstellung des XXXXVI. Dieser Bitte wird aber nur
tröpfchenweise entsprochen.. Befehlshaber hat den Eindruck, daß die
Heeresgruppe ebenso wie Chef Generalstab an ihrem alten Plan,
Vorstoß auf Moskau, festhalten. Sicher ist, daß der Führer gegen die
Zerschlagung der Panzergruppen ist, wie er dem Befehlshaber am
23. im Hauptquartier sagte. Am 1. September schickt deshalb der
Befehlshaber einen Funkspruch an Heeresgruppe Mitte, in dem er
darlegt, daß die Gruppe angesichts des langsamen Fortschreitens der
2. Armee das große Operationsziel ohne Kräftezufuhr nicht erreichen
kann und schlägt Unterstellung XXXXVI., 7. und 11. Panzerdivision und
14. Infanteriedivision (mot.) vor und erbittet Führerentscheid. Wir
glauben, daß von oben beabsichtigt ist, die Richtung Charkow zu
nehmen.
Wie zu erwarten, schlägt dieser Funkspruch haushohe Wellen! Der
Erfolg ist, daß die SS-Division ,Das Reich' uns sofort unterstellt wird...
Chef Heeresgruppe äußert in einem privaten Gespräch zu mir etwa: ,Es
scheinen Versehen vorgekommen zu sein'.«
Am Tag darauf traf Feldmarschall Kesselring, der Befehlshaber einer
Luftflotte ein. Er bestätigte Liebenstein, der Führer billige Guderians
Vorgehen. Am 3. September notierte Liebenstein: »Heeresgruppe
verweigert Angabe ihrer Ziele. Ausreden!«
Das Komplott verstärkte sich am 4. September. Halder setzte seine
Aktionen fort, indem er bei Hitler gegen Guderian intrigierte. Sein
Tagebuch enthält die Eintragung: Eine große Aufregung hat sich
abgespielt. Der Führer ist sehr ungehalten über Guderian, der sich nicht
von seiner Absicht, nach Süden vorzustoßen, trennen kann. Es ergeht
der Befehl, Guderian auf Westufer zurückzunehmen. Spannung
zwischen Bock und Guderian. Ersterer fordert die Enthebung Guderians
vom Kommando.«
An diesem Tag, als Halders Verbindungsoffizier, Major Nagel,
anläßlich einer Besprechung bei der Heeresgruppe Mitte Guderians
Beurteilung der Lage vortrug, wurde er als »Lautsprecher und
Propagandist« bezeichnet und sofort abgelöst*. Liebenstein, dem klare
Befehle fehlten, war über die Gründe für den Tadel im dunkeln und
schrieb, Guderian sei »tief betroffen« über die offensichtliche
Unzufriedenheit des OKW mit seiner Panzertruppe. »Guderian habe das
Gefühl«, notierte Liebenstein weiter, »von oben werde ein Sündenbock
dafür gesucht, daß es nicht rasch genug vorwärtsgeht, während wir den
Eindruck und die Gewißheit haben, daß es bei rechtzeitiger Zuführung
der verlangten Kräfte geklappt hätte. Befehlshaber ist der Ansicht, daß
dem Führer die Lage einseitig dargestellt wird.«
*
Vielleicht ist erwähnenswert, wenn es auch Zufall gewesen sein mag, daß ein
Großteil der Guderian ergebenen Offiziere um diese Zeit abgelöst und im
Nordafrikafeldzug eingesetzt wurde. Bayerlein war gegangen, Stauffenberg ging
im Oktober, Nehring und Liebenstein wurden 1942 versetzt.
Und bezeichnend war es, daß Liebenstein am 5. September
verzweifelt fragte: »Wann sind wohl endlich Befehle zu erwarten statt nur
Tadel?«
Allen Hindernissen zum Trotz ging es zunächst vorwärts, obwohl die
Straßen von den ersten herbstlichen Regengüssen bald in schlechtem
Zustand waren und die motorisierten Truppen in dem zähen Matsch sich
dem Tempo der marschierenden Kolonnen anpassen mußten. Die
Russen hatten natürlich mit den gleichen Schwierigkeiten zu kämpfen.
Auch sie waren schmutzbedeckt, wenn sie bei widrigem Wetter gegen
die sie umfassenden deutschen Zangen angingen, die von Smolensk
südwärts und von Krementschug unter Kleist (allerdings erst vom 14.
September an) nordwärts vorstießen. Jeder verzweifelte russische
Gegenschlag wurde abgewiesen, wenn auch nicht ohne kurze Krisen
und dramatische Augenblicke. Deutsche Abwehrstellungen, die wie
Perlen an einer Halskette hinter den vorrückenden Angriffsspitzen
aufgereiht waren, wurden oft erst im letzten Augenblick von eilends
heranbrausenden eigenen Panzern gerettet. Am 16. September trafen
die Panzergruppen von Guderian und Kleist bei Lochwiza zusammen
und die Einkreisung der Russen war vollendet. In den Lageplänen wurde
es so dargestellt, als habe die 3. Panzerdivision die Umzingelung
vollendet, was zwar tatsächlich der Fall war, aber soweit es ihre
Panzerstärke anging, war sie nur ein Schatten ihrer selbst: nur noch
zehn fahrtüchtige Panzer waren im Einsatz, und davon gehörten noch
sechs zum veralteten Typ Pz II. Zehn Tage vergingen, bis die ganze
Ernte dieser Operation eingebracht war, Tage, in denen fast eine halbe
Million russische Gefangene, mehr als 800 Panzer und 3.500 Geschütze
erbeutet wurden. Nur wenige Russen entkamen.
Liebenstein begann, wie ein Puzzlespiel das von hohen Stellen in die
Welt gesetzte Intrigenmärchen zusammenzusetzen. Am 13. September
erklärte ihm Bock reumütig, er hätte Guderian gern mehr Divisionen zur
Verfügung gestellt, aber Halder habe den Vormarsch auf Moskau für
wichtiger gehalten. Wer also mißachtete Befehle? Später, am
30. September, berichtete Schmundt laut Liebensteins Tagebuch, daß
»die Absichten des Führers nicht so ausgeführt werden, wie er es sich
denkt, da die unterstellten Kommandobehörden, in diesem Fall die
Heeresgruppe Mitte, nebenher ihre eigenen Ziele, d. h. Stoß auf
Moskau, verfolgen. Auch Führer der Auffassung, daß die Panzergruppen
geschlossen eingesetzt werden sollen, trotzdem hat er eine gewisse
Scheu, (dies) zu befehlen... Er ist schon mit dem Gedanken
umgegangen, sich die Panzergruppen unmittelbar zu unterstellen, wie es
Göring mit dem VIII. Fliegerkorps machte...«
Natürlich wäre es ein beinahe einmaliger Vorgang in der
Kriegsgeschichte
gewesen,
wenn
zwischen
gleichgestellten
Befehlshabern eine einhellige Meinung in Fragen der Strategie
bestanden hätte, und es wäre auch eine Überraschung, hätte es gar
keine Intrigen gegeben. Bemerkenswertester Aspekt von Halders
Verhalten in dieser Situation war seine offensichtliche Bereitwilligkeit,
deutsche Soldaten zugunsten eigener Ambitionen zu opfern. Die
Tatsache, daß er so handelte und ein doppeltes Spiel trieb, war ein
schlechtes Omen für Guderian. Denn Halder verzieh ihm niemals den
angeblichen Verrat vom 23. August, während er seine eigenen Fehler zu
verbergen suchte. Nachdem er den Abschluß der Schlacht um Kiew
verzögert hatte, nahm er nun voller Hast den Vormarsch auf Moskau
wieder auf, obwohl die Jahreszeit für einen Feldzug schon sehr spät war.
Als sich die Zange in der Ukraine schloß, wurden Befehle
ausgegeben, die besagten, der Vormarsch auf Moskau sei endlich
genehmigt und solle unverzüglich in Gang gebracht werden. Am
24. September bestimmte Bock den 2. Oktober als provisorischen
Termin für den Beginn dieses Hauptschlages, behielt sich aber die
Bestätigung bis zum 27. September vor, dem Tag, an dem
unvermeidliche komplexe Umgruppierungen abgeschlossen sein sollten.
Aber es gab noch größere Probleme, die Guderian beunruhigten. Am
27. August war ein Verbindungsoffizier, der nach Berlin geflogen war und
von Schell aufgesucht hatte, um Ersatzteile für die gepanzerten
Fahrzeuge zu beschaffen, mit Schells Antwort zurückgekehrt: »Wir
stehen in dieser Frage am Rand einer Katastrophe. Es fehlt an Stahl,
deshalb muß auch die Neufertigung auf manchen Kfz-Gebieten bis zu
40 Prozent zurückgeschnitten werden. Der Nachschub geschieht oft in
sinnloser Weise; z. B. bekommen wir immer noch bei Mörsermunition
einen hohen Prozentsatz in Betongranaten... oder Kotflügel für Kfz statt
Ersatzteile für Motoren.«
Die Tage wurden kürzer, das Wetter kälter und nasser. Die
Truppenverstärkungen, die Bock zugesagt worden waren, waren vor
ihrem neuen Einsatz zwischen der Front vor Leningrad und Konotop im
Süden verteilt gewesen. Ihre Ist-Stärke lag um 15 Prozent unter der
Normalstärke, und nur noch 75 Prozent ihrer Panzerstärke waren
vorhanden - bei Guderian waren es bereits weniger als 50 Prozent.
Während die Infanterieeinheiten stark dezimiert waren, war die Zahl der
Panzerbesatzungen ausreichend, weil ihre Verluste sich in Grenzen
gehalten hatten. Aber die Treibstoffvorräte gingen zu Neige, der
Transport mit Motorfahrzeugen und Pferdewagen machte auf den kaum
passierbaren Wegen immer mehr Schwierigkeiten und, obwohl die
Ausladebahnhöfe weiter nach vorn verlegt wurden, machte sich Mangel
an rollendem Material bemerkbar. Daher erfolgte der Aufmarsch unter
dem Gesichtspunkt, die Bewegung auf ein Minimum zu beschränken,
und aus diesem Grund sahen sich die Stäbe einzelner Heeresverbände
plötzlich neuunterstellten Einheiten gegenüber, deren Kommandeure sie
nicht kannten. So übernahm beispielsweise Guderian, der das
Kommando über das XXXXVI. Panzerkorps an Hoepners Panzergruppe
4 im Norden hatte abgeben müssen, den Befehl über das XXXXVIII.
Panzerkorps, das bisher zu Kleists Panzergruppe I gehört hatte, weil es
geographisch sinnvoll war. Nur 24 Stunden vergingen zwischen der
Kommandoübernahme und dem Einsatz der Truppe.
Die kürzeste Entfernung nach Moskau hatten mit 320 Kilometern die
Panzergruppen 3 und 4 zurückzulegen, die auf beiden Seiten von
Smolensk aufmarschiert waren. Diese Strecke hätte im Juni für die
motorisierten Einheiten fünf Tage in Anspruch genommen einschließlich
der Kampfhandlungen gegen eine sowjetische Armee, die damals noch
nicht ihre erste Niederlage erlitten hatte. Im September schien daher die
Wahrscheinlichkeit, das große Ziel zu erreichen, innerhalb theoretischer
Machbarkeit zu liegen. Die Russen waren stark geschwächt, hatten
insbesondere einen erheblichen Teil ihrer Panzer verloren und wurden
weiterhin schlecht geführt. Es spielte für die deutsche Planung kaum
eine Rolle, daß die beiden Panzergruppen, die von Jelnja nach Moskau
vorrücken sollten, über eine rund 250 Kilometer lange Front verteilt
waren und Guderians Gruppe im Süden weitere 250 Kilometer von ihnen
entfernt war. Die Deutschen waren daran gewöhnt, Siege mit isolierten
Panzergruppen zu erzielen, die nur lose miteinander verbunden waren.
Wie groß ihre Zuversicht war, läßt sich aus der Art von Guderians
Beitrag zu Bocks Plan ablesen.
In Anbetracht der räumlichen Entfernung zur Panzergruppe 4 auf der
linken Seite entschloß sich Guderian, den Angriff am 30. September zu
eröffnen, zwei Tage vor den übrigen Einheiten der Heeresgruppe. Nur
auf diese Weise konnte er eine bestmögliche Unterstützung durch
Bomber erhalten, weil seine Operation nur zur Unterstützung diente.
Doch ging es ihm in der Hauptsache darum, sich den Weg zu engerer
Tuchfühlung mit den anderen Verbänden zu bahnen, weil die Zeit nicht
für Umgruppierungen näher an sie heran reichte, ohne in
Feindberührung zu kommen. Zudem ging es ihm darum, rechtzeitig das
etwas festere Straßensystem bei Orel zu erreichen, bevor durch den
Herbstregen die schlechten Verkehrsverbindungen zwischen Konotop
und Orel vollends zusammenbrachen. Er wußte so gut wie jeder andere,
daß sie sich ebensosehr in einem Rennen gegen das Wetter und die Zeit
befanden wie gegen die Russen.
Als eine absolut brillante Leistung hinsichtlich Organisation und
Führung ist Guderians Richtungsschwenkung um 90 Grad aus einer
Fesselungsposition im Kessel von Kiew am 26. September zu einem
neuen direkten Angriff am 30. September fast ohne Parallelen. Das
Eintreffen von 50 neuen Panzern bedeutete eine spürbare Hilfe, obwohl
die übermüdeten Besatzungen inzwischen ohne Unterbrechung seit drei
langen Monaten im Einsatz waren und eigentlich dringend Erholung
brauchten. Die Kämpfe begannen früher, als Bock eingeplant hatte;
Guderian setzte das ihm neu unterstellte XXXXVIII. Panzerkorps am
28. September erstmals ein, um den Flankenschutz für den Hauptstoß
seiner Panzergruppe 2 zu übernehmen, die in nordöstlicher Richtung
über Gluchow nach Orel vorrücken sollte. Diese einleitende Operation
verlief erfolglos. Dennoch nahmen alle drei Panzerkorps am
30. September die Gesamtoperation auf und kamen trotz eines starken
russischen Gegenangriffs und trotz des Frühnebels, der die Stukas am
Start hinderte, gut voran. Die Angriffsspitzen legten ein ziemliches
Tempo vor und die marschierende Infanterie konnte ihnen nur mit Mühe
folgen. Der Vormarsch wurde allerdings Guderians Truppen
leichtgemacht, nicht nur, weil die russischen Frontstellungen
zahlenmäßig dünn besetzt waren, sondern auch, weil sie erneut vom
deutschen Angriff völlig überrascht wurden, denn sie hatten ebenfalls
ganz logisch angenommen, die Feldzugsaison sei fast vorbei.
Von Barsewisch vermittelt ein prägnantes Bild von Guderian an der
Front, wie er die Truppe vorantrieb. »Heute erschreckte Guderian die
alten Wackelpapas von der Infanterie, die jetzt zu uns gekommen sind
und unseren Krieg nicht kennen, fürchterlich. Er hat eine stille und
warmherzige Freude daran. ,Zehn Kilometer glauben Sie mit einem
Bataillon nicht abschirmen zu können? Wie schade! Denken Sie mal, ich
habe eine offene Flanke von 300 Kilometern, in der nichts steht, und das
stört mich gar nicht. Also bitte -!'« Bei anderer Gelegenheit, als ihr
Kommandofahrzeug im Schlamm steckengeblieben war, »grinste
Guderian und sagte: ,Nun, mein lieber hochverehrter Herr von
Barsewisch, ist das nicht eine herrliche Seh...?'« - die Bemerkung eines
echten Panzermannes, die Barsewisch ungemein gefiel.
Die Panzergruppe 2 setzte den Vormarsch so schnell, wie es ihr
möglich war, durch dichtbewaldetes Gebiet fort, legte an zwei Tagen 200
Kilometer zurück und nahm Orel. Die russischen Gegenangriffe wurden
abgewiesen und die sich entgegenstellenden feindlichen Einheiten,
deren einziger Gedanke das Entkommen war, niedergemacht. In den
Waldgebieten um Brjansk waren weitere sowjetische Armeen
eingeschlossen, und bald war auch dieses wichtige Verbindungszentrum
und mit ihm die übliche reiche Beute in deutscher Hand. Wieder
schaltete sich Hitler mit den für ihn typischen, die Truppe zersplitternden
Anweisungen ein, die auf schnelles Ernten reicher Früchte abzielten,
statt das strategische Hauptziel - Moskau - weiterzuverfolgen: Kursk
sollte genommen und der Kessel von Brjansk eingedrückt und von den
eingeschlossenen Russen gesäubert werden. Dies bedeutete, daß nach
dem Fall Orels der taktisch wichtige Vormarsch auf Tula nicht die
notwendige Unterstützung erhielt. Erneut wurde die Eroberung Moskaus
zugunsten eines spektakulären, aber örtlich begrenzten Erfolges
zurückgestellt. Das gleiche spielte sich bei Wjasma ab, nachdem Bocks
Hauptangriff gut vorangekommen und eine weitere unübersehbare Schar
Gefangener gemacht worden war.
Erst verschworen sich die Russen, dann der Wettergott, um das
deutsche Kriegsglück zu wenden. Am 6. Oktober war Brjansk gefallen,
aber Guderians die Angriffsspitze führende Division (die 4.
Panzerdivision) stieß bei Mzensk auf die 1. Russische Panzerbrigade mit
ihren KW 1- und T 34-Panzern, nachdem sie ein Viertel der Strecke nach
Tula hinter sich gebracht hatte. Es waren böse Stunden. Zum erstenmal
zeigte sich die Überlegenheit der russischen Panzer in krasser Form, wie
Guderian und Nehring es geahnt hatten, als sie am 3. Juli ihre
Entdeckung machten. Die deutschen Panzer wurden zurückgeschlagen
und der Vormarsch infolge schwerer Verluste zum Stillstand gebracht. In
der Nacht vom 6. zum 7. Oktober fiel der erste Schnee. Daß an diesem
Tag die Panzergruppe 2 die Bezeichnung »Panzerarmee« erhalten
hatte, war ohne jeden Wert.
Mit einemmal wandte sich das Blatt stark zu ungunsten der
Deutschen, und zum erstenmal verlor Guderian die Hoffnung. Die
schmerzlichen Erlebnisse, die er in seinen Erinnerungen bei der
Berichterstattung über diesen Zeitabschnitt schildert, lassen in
eindrucksvoller Weise die Gefühle erkennen, die ihn damals bewegten.
Der Vormarsch kam kaum weiter und lebte nur dann kurz auf, wenn es
der Zustand der Straßen und der angrenzenden Felder erlaubte. Nach
jedem Neuschnee zwang das danach einsetzende Tauwetter wieder
zum Stillstand. Nach solchen Zwangspausen war der Gegner inzwischen
besser vorbereitet, und der Angriff mußte erneut aufgebaut werden. Die
Deutschen konnten jetzt auch nicht mehr beliebig ihre Richtung ändern
und auf Überraschungseffekte vertrauen. Die Russen kamen den
deutschen Absichten zuvor, die sie leicht vorausahnten, und errichteten
ihre Abwehrstellungen geschickt an passenden Abschnitten.
Mit jedem Tag, der verging, dachte Guderian sorgenvoller an die Lage
seiner Soldaten und an die dazu in Widerspruch stehende
Notwendigkeit, sie noch tiefer in die Sowjetunion hineinzutreiben. Jeder
Besuch an der Front lieferte neue Beweise für die Not, die die Truppe
infolge des Fehlens von Stiefeln, Hemden und Wollsocken - kurz:
Winterbekleidung jeglicher Art - litt. Ältere Offiziere begannen
Ermüdungserscheinungen zu zeigen. Er könnte sich selbst gemeint
haben, als er schrieb, »... nicht die körperliche, sondern die seelische
Erschütterung« sei es gewesen, die man ihnen angemerkt habe. Denn
am 21. November ließ er in einem Brief an Gretel, in dem er die Pflichten
eines
Befehlshabers
als
Qual
bezeichnete,
die
gleiche
außergewöhnliche Mischung von Hoffnung und Verzweiflung erkennen,
die ihn bereits 1919 in Bartenstein bewegt hatte. Sogar in den letzten
Zuckungen des deutschen Vormarsches auf Moskau vermochte er
irgendwie das kleinste Anzeichen einer Entwicklung zu seinen Gunsten
zu erkennen - »Schritt für Schritt«.
Am Anfang des Briefes schrieb er: »Die Anforderungen an die Truppe
sind enorm. Um so bemerkenswerter sind nach wie vor ihre Leistungen.
Jede, aber auch jede Unterstützung von oben fehlt. Ich muß ganz allein
fortwursteln... So war ich gestern am Rand der Verzweiflung und mit
meiner Nervenkraft zu Ende. Heute hat mir der unerwartete Kampferfolg
der braven Panzerdivisionen einen neuen Hoffnungsstrahl entzündet; ob
er anhält, werden die nächsten Tage lehren. Wenn die Kampflage es
gestattet, will ich zur Heeresgruppe zum Vortrag über die Gestaltung der
nächsten Zukunft... Ich weiß nicht, wie wir bis zum nächsten Frühjahr
wieder in Ordnung sein sollen. Wir marschieren jetzt auf den Dezember
los, und noch ist kein Entschluß gefaßt.«
Dies war nicht der Brief eines Generals, dessen Blickfeld begrenzt
war, sondern der eines Befehlshabers, der wie ein Oberbefehlshaber
dachte.
In seinen Erinnerungen erwähnt Guderian sarkastisch: »...die
Hochstimmung, in die sich das OKH und das Oberkommando der
Heeresgruppe Mitte versetzt fühlten«, obwohl das ein wenig kraß
ausgedrückt ist. Wohl liest man in Halders Tagebuch zwischen den
Zeilen Zuversicht, zumal es ja notwendig ist, daß ein Oberkommando
gegenüber den ihm unterstellten Truppen und deren Führern eine nach
außen hin zuversichtliche Miene zeigt. Guderian tat das auch. Aber
Halder erkannte, daß sein verspäteter Vormarsch auf Moskau in Gefahr
war und mit ihm sein Ruf. Barsewisch schrieb: »... Guderian gefaßt, aber
im Inneren getroffen durch die ihm angetane Gewalt der Naturkräfte!...«
und zitierte die ermutigenden Worte, die Guderian in einer Rede an die
Truppe gerichtet hatte: »Kameraden! Vertrauen gründet sich bei
Soldaten auf gegenseitige Ehrlichkeit. Einige letzte Ziele sind noch zu
erreichen, einige Wochen müßt Ihr noch kämpfen. Damit sparen wir aber
sonst größere Opfer des nächsten Jahres...!«
Von Brauchitsch hatte kurz zuvor einen Herzanfall erlitten, während
bei der Heeresgruppe Bock mit Magenkrämpfen daniederlag und
trotzdem bis zur Erschöpfung arbeitete. Es dauerte nicht mehr lange, bis
er im Norden bei 30 Grad Frost, die die Kampfkraft von Truppe und
Fahrzeugen auf 20 Prozent herabschraubten (wenn nicht noch mehr), in
Sichtweite von Moskau kam. Doch Guderians 2. Panzerarmee (obwohl
sie zu diesem Zeitpunkt besser vorankam als die übrigen Einheiten) saß
vor Tula im Schlamm fest, und eine Zählung der an den
Kampfschauplätzen liegengebliebenen Panzer ergab zum erstenmal,
daß mehr deutsche als russische Panzer zerstört worden waren. Die KW
1- und T 34-Panzer waren eine tödliche Waffe.
Die Gelegenheit, etwas Entscheidenderes zu tun als mit Hitler nur
offen zu reden, war längst verpaßt worden, und als schließlich ein
Generalfeldmarschall die Geduld verlor, war es zu spät. Rundstedts
Heeresgruppe Süd hatte am 20. November Rostow am Don genommen,
aber ihre vorspringende Verteidigungslinie kam sofort auf beiden Seiten
unter starken russischen Druck. Ohne die Erlaubnis einzuholen, tat
Rundstedt das einzig Vernünftige: er räumte am 30. November Rostow
und verlegte die Front zurück. Es war der erste strategische Rückzug in
der Geschichte des deutschen Militärs seit 1919. Und als das OKW ihn
aufgefordert hatte, seine Maßnahme rückgängig zu machen, ersuchte er
seine Vorgesetzten in einem Zustand überdrüssiger Verbitterung, ihn
ablösen zu lassen. Neuer Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Süd
wurde Feldmarschall von Reichenau - aber der Rückzug ging weiter und
Rundstedts Rücktritt hatte nur zur Folge, daß eine Welle des
Widerstandes gegen Hitlers Autorität schlug. Sogar der SS-Führer Sepp
Dietrich erklärte Hitler, seine Einstellung sei falsch. Am Vorabend einer
großen sowjetischen Gegenoffensive vor Moskau am 6. Dezember
stellten Guderian, Hoepner und Reinhardt dann Bock vor vollendete
Tatsachen und nahmen die vorgestoßenen Truppenteile zur
Verteidigung zurück. Unmittelbar darauf stieg der russische Druck, und
die Deutschen mußten weiter zurückgehen. Es war nicht zu vermeiden,
daß dabei Material, Ausrüstung und eine Reihe von Verwundeten oder
infolge von Erfrierungen kampfunfähigen deutschen Soldaten
zurückgelassen werden mußten. Doch die deutschen Truppen schlugen
weiter zurück und es gab keine Anzeichen einer Auflösung selbst
angesichts der sich abzeichnenden Niederlage.
Fest steht, daß Guderian, der den Dingen nüchtern ins Auge sah und
das bevorstehende Desaster ahnte, sich bemühte, bei einflußreichen
Kollegen Unterstützung zu finden, um die Offensive zu stoppen und die
Truppen in sichere Stellungen zurückzuziehen. Für ihn bedeutete
Bewegung immer Sicherheit, gleichgültig, ob es vorwärts oder rückwärts
ging. Kernpunkt war für ihn stets die Notwendigkeit ausreichender
Versorgung, um die Beweglichkeit der Fahrzeuge zu garantieren und
das Wohlbefinden seiner Soldaten. Am 23. November war er bei der
Heeresgruppe auf Unverständnis für seine Einschätzung der Lage
gestoßen und hatte seinen alten Waffenkameraden Balck (der von
seinem Schreibtisch in Deutschland zu einem Besuch an die Front
gekommen war) gebeten, den Oberbefehlshaber des Heeres,
Feldmarschall von Brauchitsch, über seine pessimistische Beurteilung zu
informieren. Das tägliche Fernsprechbuch der 2. Panzerarmee
verzeichnet genau das Ringen Guderians mit Bock um Beendigung des
Winterfeldzuges. Es ist ein schmerzliches Dokument.
Am 8. Dezember suchte er andere Generäle auf, am 10. Dezember
sandte er Berichte an Schmundt, den Chefadjutanten des Führers, und
an Bodewin Keitel, die versuchen sollten, für ihn bei Hitler Gehör zu
finden. Bei einem Treffen in Roslawl am 14. Dezember mit Brauchitsch
und Kluge (dessen 4. Armee bereits ebenfalls mit der Zurücknahme der
Front begonnen hatte) erbat und erhielt er die Genehmigung, mit der
Armee auf die Linie der Susha und der Oka auszuweichen, die Orel
schützte. Guderian wurde bei dieser Besprechung im Oberbefehl über
den zusammengefaßten südlichen Flügel der Heeresgruppe bestätigt.
Die 2. Armee und seine eigene 2. Panzerarmee bildeten die
»Armeegruppe Guderian«. Am Tag darauf erklärte Brauchitsch unter
Berufung auf Guderian gegenüber Halder, er sehe keinen Ausweg für
die deutschen Truppen.
Am 16. Dezember traf Guderian Schmundt in der Nähe der Front »auf
meine dringende Bitte« und schrieb dann in einem Brief an Gretel: »Ich
erwarte nun um Mitternacht noch den Anruf des Führers, um unmittelbar
über unsere Zustände und die meiner Ansicht nach erforderlichen
Maßnahmen zu melden. Wenn es doch nur nicht zu spät wäre... Wie wir
wieder herauskommen sollen, weiß ich selbst noch nicht. Jedenfalls muß
schnell und energisch gehandelt werden. Ich bin nur froh, daß der Führer
nun wenigstens Bescheid weiß und hoffentlich mit gewohnter Tatkraft in
das verbürokratisierte Räderwerk der Heeres-, Eisenbahn- und
sonstigen Maschinen eingreift. Ich kann mich nicht entsinnen, aus
dienstlichen Gründen jemals so angespannt gewesen zu sein wie jetzt
und hoffe nur, daß ich es aushalte. Meine alte Ischiassache macht mir
viele Beschwerden; nachts liege ich viel schlaflos und zermartere mir
das Gehirn, was ich noch tun könnte, um meinen armen Männern zu
helfen, die in diesem wahnsinnigen Winterwetter schutzlos draußen sein
müssen. Es ist furchtbar, unvorstellbar. Die Leute bei OKH und OKW,
die die Front nie gesehen haben, können sich keinen Begriff von diesen
Zuständen machen. Sie drahten immer nur unausführbare Befehle und
lehnen alle Bitten und Anträge ab!«
Um 3 Uhr früh kam am 17. Dezember Hitlers Anruf durch. Die
Verständigung war sehr schlecht. Weil dieses Telefongespräch ein
weiteres Zeichen für die Zukunft setzte, könnte man es als historisch
bezeichnen. Hitler gab großartige Versprechen von bevorstehender Hilfe
auf dem Luftweg ab und wiederholte dann seinen Befehl, auszuhalten.
Deutschlands Generäle an der Front mußten sich in den kommenden
Tagen an solche Worte und barschen Forderungen gewöhnen, aber
Guderian war der erste, der sie zu hören bekam - und hatte als erster die
Gewißheit, daß er dem Mann zuhörte, der dabei war, das Heer um eine
weitere Stufe abzuwerten. Denn Schmundt hatte Guderian verraten,
Brauchitsch werde in Kürze abgelöst und an seine Stelle trete - nicht
Guderian oder ein anderer Offizier - Hitler selbst. Auf diese Weise sollte
dem Heer der wahre Geist des Nationalsozialismus eingeimpft und das
Staatsoberhaupt und der Oberste Befehlshaber ermächtigt werden, sich
selbst Befehle zu erteilen.
Unterdessen kümmerte sich Guderian ausschließlich um
naheliegende Dinge. Liebenstein schrieb über das Telefongespräch
zwischen Guderian und Hitler: »Der Befehl des Führers zum Halten und
das Verbieten von Ausweichbewegungen entspricht in keiner Weise der
tatsächlichen Lage, da dieser Befehl nicht ausführbar ist, infolge der
ganz ungenügenden Gefechtsstärke. Es ist oben trotz aller Forderungen
und Meldungen nicht begriffen worden, daß wir zu schwach sind, um uns
stark zu verteidigen.« Guderian setzte die Rückwärtsbewegung fort und
ignorierte Hitlers Befehl. Aber schließlich konnte er nun selbst sehen,
woher die Probleme bei der Truppe kamen, obschon er noch immer
glaubte, Hitler werde durch die Optimisten im OKH falsch unterrichtet.
Während sich seine Armeegruppe unter Führung von Kommandierenden
Generälen, die deutlich spürten, welches Risiko sie eingingen, auf einem
geordneten Rückzug befand, erbat sich Guderian am 17. Dezember
Bocks Zustimmung zum Flug nach Rastenburg zu einer persönlichen
Aussprache mit Hitler. Bock ließ ihn ohne Einwände die Reise antreten;
sein Magenleiden hatte sich verschlimmert, und er entschloß sich, sich
am nächsten Tag krank zu melden und an dem Feldzug nicht weiter
teilzunehmen.
Am 17. Dezember war Halder unwirsch, weil er wußte, daß Guderian
widerspenstig war, aber am 19. Dezember änderte sich die ganze
Atmosphäre. Hitler bestellte Halder zu sich und informierte ihn, daß
Brauchitsch abgelöst worden sei und von nun an er - Hitler - selbst die
Führung übernehme. Bock werde durch Kluge ersetzt. Der Chef des
Generalstabes sei künftig nur noch für die Ostfront verantwortlich, die
übrigen Kriegsschauplätze würden von Keitel und Jodl vom OKW
kontrolliert. Hitler behielt sich das Recht vor, Befehle so weit in der
Befehlskette hinunter zu geben, wie er für richtig hielt, während er
anderen die Alltagsarbeit eines Oberbefehlshabers, die ihn nicht
interessierte, überließ. Halder hätte damals auf der Stelle zurücktreten
können - vielleicht sollen. Aber er tat es nicht aus dem altbekannten
Grund: er fühlte sich in erster Linie der Armee verpflichtet. So blieb er auf
seinem soldatischen Posten in größerer Nähe des Führers und führte
Befehle aus, an die er häufig in seinem Innersten nicht glaubte.
24 Stunden nach dem Telefonat mit Hitler, am 17. Dezember um
Mitternacht, erklärte Guderian dem Chef des Stabes der Heeresgruppe,
der »Halt«-Befehl des Führers müsse so befolgt werden, »... daß von der
Armee soviel wie möglich erhalten bleibt. Es wird kein Gelände unnötig
aufgegeben, aber auch nicht gehalten, wenn Truppe dadurch
zerschlagen wird«.
Diese Meldung war nicht ohne Flexibilität, und Guderian fügte hinzu:
»Ich kenne die Auffassung des Führers. Ich werde tun, was ich kann...
Ich brauche volle Handlungsfreiheit und kann nicht fragen, ob ich eine
Division bewegen kann.« Er setzte behutsam das Zurückgehen vor dem
sowjetischen Druck in Übereinstimmung mit der früheren Anweisung von
Brauchitsch, aber in Widerspruch zu Hitlers Befehl, fort.
Die fünfstündige Unterredung mit Hitler am 20. Dezember war völlig
unproduktiv. Jedesmal, wenn Guderian Beweise für die schrecklichen
Zustände an der Front vorlegte, fegte sie Hitler mit unpraktischen
Lösungen vom Tisch. Als Hitler Guderians Sorgen angesichts des ihm
unausweichlich scheinenden Verhängnisses mit einer historischen
Analogie widerlegen wollte, hatte auch Guderian ein passendes Beispiel
aus der Geschichte parat. Die Behauptung Hitlers, die Winterbekleidung
habe die Truppe schon erreicht, wurde von Guderian eindeutig als
Fehlinformation gebrandmarkt. Der leiseste Hinweis darauf, daß das
OKW die Lage an der Front verkenne, stimulierte Hitlers Ungehaltenheit
und Zorn. Auch Vorschläge, Hitler solle fronterfahrene Offiziere ins OKW
berufen, wurden nicht akzeptiert. Keiner konnte den anderen von seiner
Aufrichtigkeit und eigentlichen Absicht überzeugen, und Guderian war
gezwungen, an die Front zurückzukehren und das Beste aus einer
schlechten Aufgabe zu machen: Verteidigungslinien zu halten, wo wegen
des tiefgefrorenen Bodens keine Dauerstellungen möglich waren,
Material zu verwenden, das auseinanderzufallen drohte und Männer zu
führen, die ermattet und niedergeschlagen, wenn auch noch nicht
gebrochen, waren.
Kaum hatte Kluge von Bock übernommen, begann das Geplänkel
zwischen ihm und Guderian. Wesentlicher Inhalt von Kluges
Ferngespräch mit Halder am 20. war eine Klage über Guderians
fortgesetzten Rückzug und die Behauptung, Guderian habe die Nerven
verloren. Kluge sicherte damit seine eigene Position, falls er von Hitler
zur Verantwortung gezogen werden sollte. Dasselbe tat auch Halder. Sie
warteten auf Guderians Gewohnheit, Autorität zu umgehen, eine Taktik,
unter der Kluge oft in der Vergangenheit hatte leiden müssen.
Und
fast
unmittelbar
darauf
begann
Guderian
mit
Rückwärtsbewegungen
an
verschiedenen
Stellen,
doch
die
Telefonkladde der 2. Armee zeigt, wie er peinlich genau jedesmal Kluges
Einwilligung für eine geplante Truppenverlegung einholte. Ihr
Meinungsaustausch wirkt heute bei der Lektüre fast komisch, wenn man
die diskutierten minuziösen Details mit der ausgedehnten Freiheit von
ehedem vergleicht. Kluge sonnte sich an seiner Macht und klang noch
gönnerhafter als gewöhnlich: »Sie haben doch noch einen Sack voll
Reserven. Was haben Sie mit denen eigentlich vor?« fragte er am 24.
Dezember Liebenstein. »Haben Sie nicht von Brjansk aus mit den dort
stehenden Kräften die Wege ständig überwacht? Warum soll plötzlich
wieder alles zurück?« Jede dieser provokativen Fragen beantwortete
Liebenstein ruhig, indem er Einzelheiten anführte und zugleich warnte:
»Eine 25 Kilometer breite Lücke ist entstanden, die aufgefüllt werden
muß!«, worauf Kluge beschwichtigend erwiderte: »Am Oka-Abschnitt
muß gehalten werden... Ich muß noch mit dem Führer oder
Generaloberst Halder sprechen. Ich gebe Ihnen rechtzeitig Bescheid.«
In der Nacht, wenige Stunden später, ging Tschern verloren. Der
Verlust wurde erst am Nachmittag des 25. August vom Korps an die 2.
Panzerarmee gemeldet, die es sofort an die Heeresgruppe weitergab.
Kluge benutzte sofort diese Gelegenheit, um Guderian vorzuwerfen, er
habe die Räumung dieser Stadt schon 24 Stunden vorher befohlen.
Guderian wies den ungerechtfertigten Vorwurf zurück, und es fielen
harte Worte. Kluge fühlte seinen ersten Verdacht hinreichend bestätigt,
als die eingeschlossenen Einheiten, die bei Tschern gekämpft hatten,
den russischen Ring durchbrechen und ohne Verluste die eigenen Linien
erreichen konnten. Kluge beschuldigte Guderian rundweg, ihm mit
Absicht eine falsche dienstliche Meldung erstattet zu haben und kündigte
an, er werde dem Führer über Guderian berichten. Guderian bat
daraufhin spontan um Enthebung von seinem Kommando. Doch Kluge,
der in seinem Kriegstagebuch notierte: »Ich bin grundsätzlich ganz auf
seiten Guderians, daß man sich nicht einfach totschlagen lassen kann,
aber er muß gehorchen und mich orientieren«, kam ihm zuvor und
beantragte sofort beim OKH die Ablösung Guderians.
Auch bei Hitler gab es keinen Augenblick des Zögerns. Für ihn war
Guderian in diesem Augenblick ein weiteres aufsässiges Produkt des
Generalstabes der alten Schule, die, wie Goebbels sich ausdrückte:
»... unfähig sind, harte Belastung und starke Charakterprüfungen zu
ertragen«. Über 30 weitere Generäle wurden im Dezember 1941 in diese
Kategorie eingestuft und in den Rang der Unzufriedenen eingereiht.
Eine Ironie des Schicksals war es, daß Guderian in diesen
Augenblicken tiefsten Unglücks sein Bestes gegeben hatte - nie zuvor
und niemals wieder zeigt sich so vorteilhaft seine Persönlichkeit als
Heerführer und sein angeborenes Verständnis für Operationen, die
dringlich waren. Unter seiner Anweisung bewiesen die Einheiten der
2. Panzerarmee, daß ein flexibles Zurückgehen bei winterlichen
Wetterbedingungen im Bereich ihrer Möglichkeiten lag. So konnte
Guderian die Hitlersche Behauptung Lügen strafen (die so bereitwillig
von einer großen Anzahl deutscher Generäle sowohl vor als auch nach
den Ereignissen um Guderian mit Beifall aufgenommen worden war),
daß es zu einem Unglück von größerem Ausmaß, als es die Franzosen
anno 1812 erlebten, gekommen wäre, wenn die deutschen Truppen
insgesamt den Rückzug hätten antreten dürfen. Sein Geschick in der
Führung wurde jedoch noch übertroffen von seinem Bemühen, Verluste
zu vermeiden, eine Einstellung, die dazu führte, daß er seine eigene
Karriere im Dienst dessen opferte, was er für rechtmäßig hielt. In dieser
Hinsicht ging er seinen Zeitgenossen voran und schlug einen Kurs des
Widerstandes ein, der immer schärfer auf Kollision mit dem Führer zulief.
Paul Dierichs bestätigt, daß Guderian im Abschiedsbefehl an seinen
Stab harte Kritik an Hitlers Entscheidung übte. Aber zunächst blieb ihm
nichts anderes übrig, als sich aus dem Streit zurückzuziehen und voll
Zorn der weiteren Entwicklung zuzusehen.
9
DIE STRASSE NACH LÖTZEN
Nach und nach erfuhr man in aller Welt und zuletzt auch in
Deutschland von der Massenentlassung der Heerführer, die vor noch
nicht allzu langer Zeit solch großartige Siege errungen hatten. Von den
30 Kommandeuren, die auf die Straße gesetzt wurden, fand keiner in der
Öffentlichkeit große Aufmerksamkeit mit Ausnahme von Brauchitsch,
und dies nur, um Hitlers Ruf als Oberster Befehlshaber zu heben.
Guderians Ablösung, die er selbst seiner 2. Panzerarmee durch
Tagesbefehl mitgeteilt hatte und die seine unterstellten Kommandeure
betrübt ihren Truppen verkündeten, wurde der deutschen Bevölkerung
nicht bekanntgegeben, so daß bereits neue Kriegshelden von der
Propaganda gefeiert wurden, als in Deutschland allmählich die Nachricht
durchsickerte, einer der ganz Großen sei nicht mehr an der Front. Zu
den neuen Heroen zählte Erwin Rommel, dessen Gegenstoß in der
Cyrenaika im Januar 1942 nach einem ernsten Rückschlag durch die
Engländer um die Jahreswende viel dazu beitrug, die Aufmerksamkeit
des breiten Publikums von den Unstimmigkeiten in der deutschen
Truppenführung auf dem russischen Kriegsschauplatz abzulenken.
Guderian machte sich wenig aus dem Verlust seiner persönlichen
Popularität. Als ein Journalist im September 1941 Nachforschungen
anstellte mit der Absicht, eine kurze Biographie über ihn zu schreiben,
hatte er in einem Brief Gretel zur Vorsicht gemahnt und sie gebeten,
dem Mann keine vertraulichen Unterlagen auszuhändigen, denn: »... ich
möchte unter gar keinen Umständen eine Propaganda a la Rommel mit
meiner Person getrieben wissen!« Doch wenn man wie er gewohnt ist,
unermüdlich zu arbeiten und jahrelang Nerven und Körper in einem
Zustand von Hochspannung und Unbequemlichkeit gehalten und nicht
geschont hat, kann ein plötzliches Ausspannen in Verbindung mit
Untätigkeit so schädlich sein wie anhaltender Streß. In Guderians Fall
trat im März 1942 ein Herzleiden auf, das sich im Herbst des gleichen
Jahres verschlimmerte.
Belastungen anderer Art ersetzten die Strapazen der Front und die
Reibereien, die ihm am meisten zu schaffen gemacht hatten. Zur an ihm
zehrenden patriotischen Besorgnis angesichts des schwindenden
deutschen Kriegsglücks kam die Erkenntnis einer neuen Gefahr: das
Bewußtsein, daß er von verschiedenen Kategorien Neugieriger
beobachtet wurde. Da waren einmal die Vertreter des Nazitums, die
seine Reaktion auf die Bestrafung beobachten, dann die Historiker, die
auf Informationen akademischer Natur aus waren, und später die
Abgesandten der Widerstandsbewegung, die erkunden wollten, ob er
gewillt war, sich an der Verschwörung zu beteiligen. Darüber hinaus
machte ihm auch Gretel Sorgen, die im Frühjahr infolge einer bösen
Blutvergiftung monatelang bettlägerig war.
In diesem Zustand innerer Unruhe sucht er vorsichtig nach einer
dauernden Bleibe in der Sonne und war drauf und dran, ein kleines Haus
am Bodensee zu erwerben. Es hatte den Anschein, als gäbe es für ihn
keine andere Beschäftigungsmöglichkeit, denn im September 1942 hatte
er erfahren, daß Hitler einen Vorschlag Rommels, Guderian als den
dafür am besten geeigneten Mann das Kommando der Panzerarmee in
Nordafrika übernehmen zu lassen, ungünstig aufgenommen hatte. Aber
weil Hitler nicht die Absicht hatte, Guderian wiederzuverwenden, bot er
ihm Landbesitz im Warthegau, der einst zu Preußen gehört hatte und
1939 von den Polen zurückerobert worden war. Die Schenkung erfolgte
in der Form einer Dotation des Reiches an einen ruhmreichen
ehemaligen Kommandeur, dem am 17. Juli 1941, als der Rußlandkrieg
fast schon gewonnen zu sein schien, das seltene Eichenlaub zum
Ritterkreuz des Eisernen Kreuzes verliehen worden war. Guderian
erklärte sich einverstanden und nahm im Oktober 1942 in Deipenhof
Besitz von einem großen Hof mit 4.000 Morgen guten Ackerlandes.
Nach dem Krieg erhobene Vorwürfe, die ihn als habgierig darstellten,
veranlaßten ihn, die Übernahme dieses Gutes in seinen Erinnerungen
damit zu begründen, daß er in Berlin ausgebombt worden war und keine
andere Bleibe hatte. Sein Sohn ist da offener. Auch er streitet jeden
Verdacht persönlicher Bereicherung ab und gibt offen zu, die Rückkehr
in die alte Heimat und die Absicht, die deutsche Bevölkerung des
Warthegaus zu verstärken, hätten für die Familie eine Rolle gespielt.
Es ist aufschlußreich, den Eifer zu beobachten, mit dem sich
Guderian der traditionellen Rolle eines Landjunkers hingab. Zum Teil
wollte er seinen wachen Geist beschäftigen und sich dadurch erholen,
aber der Berufswechsel war zugleich auch eine willkommene
Gelegenheit zur Pflege des Familienlebens. Mit nur den allergröbsten
Kenntnissen von der Landwirtschaft und kaum irgendwelcher
Vorbereitung mit Ausnahme der Lektüre einschlägiger Literatur begann
er mit der Viehhaltung und Viehzucht und ließ der neuen Beschäftigung
den gleichen hingebungsvollen Enthusiasmus angedeihen, den er für
das Soldatenleben gehabt hatte. Er steckte sein Ziel weit und plante mit
peinlich genauer Gründlichkeit. Seine Briefe an Gretel sind voller
Ratschläge für die Verwaltung des Hofes. Schafe und Zuchtvieh sollten
die Haupterzeugnisse von Gut Deipenhof werden. Ein preisgekrönter
Bulle (namens »Panzergrenadier«), den ihm die Bauernschaft
Schleswig-Holsteins schenkte, verhalf ihm zu einem guten Anfang. Er
erlernte die bäuerlichen Grundregeln und war wie gewöhnlich voll
Optimismus. Es ist bezeichnend, daß Soldaten in aller Welt den hehren
Gedanken zu hegen scheinen, eine militärische Karriere sei eine gute
Voraussetzung für die Eignung als Landwirt. Obwohl die
Konkursstatistiken dagegen sprechen, finden sich immer wieder
pensionierte Militärs, die bereit sind, ihr Glück zu versuchen. Ob
Guderian Erfolg gehabt hätte, wo andere scheiterten oder nicht - weder
Zeit noch Ereignisse erlaubten ihm den Abschluß des Versuches. Der
Krieg drängte sich dazwischen.
Er gab nie die Hoffnung auf Wiederverwendung völlig auf, denn
Hoffnung war etwas, was er niemals preisgab. Im September 1942 hatte
er in Berlin in wehmütiger Stimmung Bodewin Keitel aufgesucht. Doch
Gretels Vetter erklärte ihm erneut, die Aussichten auf seine
Wiederverwendung im aktiven Dienst stünden schlecht, schlechter als je
zuvor. Bodewin mochte zwar der Bruder von Wilhelm Keitel sein, aber
sein Einfluß war in letzter Zeit stark gesunken, und wenige Tage später
wurde er auch von Schmundt abgelöst. Als es mit Deutschland bergab
ging, fiel die Macht in die Hände von Männern, die der alten Ordnung
feindlich gegenüberstanden. Die Revolutionen von 1919 und 1933
trugen schließlich doch noch Früchte, aber es waren saure. Jetzt war es
darüber hinaus bekannt, daß in den engsten Regierungskreisen der
geringste falsche Schritt eines Heeresoffiziers, der Opposition vermuten
ließ, zur sofortigen Absetzung, wenn nicht noch mehr, führte. Jodl war im
September 1942 mit Mühe und Not davongekommen und hatte nach
einer schmerzlichen Abfuhr durch Hitler Warlimont zu verstehen
gegeben, »man dürfe einem Diktator keine von ihm verschuldeten
Irrtümer nachweisen, da man sonst das Selbstvertrauen beeinträchtige«.
Warlimont selbst war im November 1942 von Wilhelm Keitel zeitweilig
abgesetzt worden, weil er sich für einen diensthabenden Offizier
eingesetzt hatte, einen Major, der Hitler widersprochen und Rommels
Integrität verteidigt hatte. »Nur mit knapper Not war der Major der
Erschießung innerhalb von zehn Minuten entgangen«, schreibt
Warlimont.
Künftig war der leiseste direkte Widerstand von seiten eines Offiziers
gegen Hitler Anlaß für furchtbare Gegenmaßnahmen. Deshalb taten
Guderian und andere Männer mit gesundem Menschenverstand das
einzig Richtige, indem sie hauptsächlich indirekten Methoden der
Auflehnung gegen das Regime den Vorzug gaben und die seltenen
günstigen Augenblicke zur direkten Konfrontation nutzten. Was nützte
eine vergebliche Selbstaufopferung, fragten sie sich, wenn sie besser
daran taten, zunächst nachgiebig zu sein und vielleicht später
Gelegenheit fanden, die Dinge durch einen Vorwand zu beeinflussen?
Gretels Rat: »Das Vaterland wird Euch später mehr gebrauchen als jetzt;
der Augenblick ist noch nicht gekommen«, war 1942 ebenso gültig, wie
er es 1919 gewesen war.
Besondere Befürchtungen hegten die Generäle angesichts der
Zunahme der Himmlerschen SS. Die ursprünglichen Waffen-SSEinheiten waren zu einem riesigen Privatheer geworden, das aus
Divisionen bestand, aber bald auch Korps und später Armeen bilden
sollte. Selbst Görings Luftwaffe erfreute sich weiterhin großen Prestiges,
das ihr viele Vorteile einbrachte, obwohl sie bei Luftkämpfen den
kürzeren zu ziehen begann, als ihre Technik hinter der ihrer Gegner
zurückblieb. SS und Luftwaffe, die alle Vorzüge genossen, wie sie
nazifreundlichen Organisationen gewährt wurden, erhielten die besten
Soldaten und bekamen den Löwenanteil der Industrieproduktion. Erst
Ende 1941, als die Katastrophe, die von Schell prophezeit hatte,
abzusehen war, erhielt das Heer die gleiche Priorität wie die Luftwaffe
bei der Belieferung durch die deutsche Industrie.
Die erfolgreiche Abwehr sowjetischer und britischer Offensiven im
Winter 1941/42 weckte natürlich noch einmal die deutschen Hoffnungen
und führte im Sommer darauf zu weiteren tiefen Vormärschen, die die
Deutschen nach Stalingrad, in den Kaukasus und bei El Alamein bis auf
wenige Kilometer an den Suezkanal heranbrachten. Keiner dieser
Erfolge brachte indessen eine entscheidende Wende - ganz im
Gegenteil. Einem Halt im Herbst auf allen Schauplätzen folgten im
Winter rasch Rückschläge. Zunächst warf der englische Gegenstoß bei
El Alamein in Verbindung mit der Landung der Alliierten in
Nordwestafrika die logistisch vernachlässigten Achsenkräfte bis nach
Tunesien zurück. Dann brachte eine russische Gegenoffensive
blitzschnell die Isolierung der deutschen Truppen in Stalingrad und
machte die Aufgabe ihrer Stellungen im Kaukasus notwendig. Zu diesen
Katastrophen kamen noch die bereits geschilderten Ausfälle Hitlers und
seine fortgesetzten Stimmungsschwankungen. Das alles belastete den
Generalstab schwer. Das Leben wurde für Halder unerträglich, und es
war für fast alle eine Erleichterung, als er am 24. September 1942
abgelöst und durch den sehr jungen General Kurt Zeitzier ersetzt wurde.
Zeitzier stand in dem Ruf, Hitler sympathisch zu sein, und besaß auch
unbestreitbar eine vom Führer hochgeschätzte Tugend: einen durch
nichts zu erschütternden Optimismus.
Fast unmittelbar nach seinem Dienstantritt machte er Hitler ein
Zugeständnis für das Heer, wozu alle Neulinge auf diesem Posten sich
verpflichtet fühlten. In diesem Fall war es die Verkündung der
Hitlerschen Anforderungen an einen Generalstabsoffizier: »Ich verlange
einen Generalstabsoffizier, der unbegrenzten Glauben an den Führer hat
und den Glauben an den Führer, an den Sieg und an seine Arbeit auf
seine Umwelt ausstrahlt.« Niemand wagte es, dagegen Einspruch zu
erheben.
Wie seine Vorgänger geriet auch Zeitzier bald mit dem Führer in
Fragen der Führung und Verwaltung aneinander. Hitler entschloß sich,
bei der Besetzung von Spitzenpositionen in der Heeresführung selbst ein
Wort mitzusprechen und übernahm deshalb Bodewin Keitels
Personalamt. Obgleich dieser jetzt nicht mehr imstande war, ein Wort für
Guderian einzulegen, war dies kein entscheidender Nachteil. Guderian
stand weiterhin auf freundschaftlichem Fuß mit dem mächtigen
Schmundt, Hitlers Chefadjutanten, den er als vornehmen und
vernünftigen Offizier schätzte, und unterhielt nützliche Verbindungen zu
einflußreichen Angehörigen der Waffen-SS und der Luftwaffe. 1942 war
Sepp Dietrich, der alte Landsknecht und Freikorpskämpfer und jetzige
Kommandeur der »Leibstandarte«, über seinen eigenen Schatten
gesprungen und hatte Hitler offen erklärt, Guderian sei im Dezember
1941 Unrecht getan worden. Im Frühjahr 1942 hatte er in aller
Öffentlichkeit seinem alten Kommandeur Hochachtung bekundet und ihn
aufgesucht. Auch Guderian seinerseits mochte Dietrich. Er war für ihn
ein Sinnbild jener Männer, die er damals im Jahre 1919 als »echte
Kämpfer« und »Deutschlands letzte Hoffnung« angesehen hatte. Es
kümmerte ihn nicht, daß dies zu seinem Ruf beitrug, ein Sympathisant
der Nazis zu sein.
Guderian hatte also Freunde und auch Feinde »bei Hof«, obwohl man
bezweifeln muß, daß die Feinde wirklich so allmächtig waren, wie er das
manchmal in seinen Erinnerungen andeutet, ohne Namen zu nennen.
Da gab es die Männer mit althergebrachten Ansprüchen, die sich ihm
widersetzten; er war ungern bei den Traditionalisten gesehen, und die
Art und Weise, wie er einst rücksichtslos die Gefühle von Kavallerie,
Infanterie und Artillerie verletzt und die Männer, die ihm Hindernisse in
den Weg legten, wie die Angehörigen der Ausbildungsabteilung,
beiseitegeschoben hatte, wurde ihm niemals verziehen. Offiziere, deren
Empfindsamkeit gelitten hatte und die schließlich aufgeatmet hatten, als
sie ihn den Rücken kehren sahen, waren nicht im mindesten auf sein
Wiederkommen erpicht. Außerdem glaubten die Artilleristen allen
Ernstes, endlich die Möglichkeit gefunden zu haben, ihre alte
Vorherrschaft wieder antreten zu können. Sie hatten sich nicht nur mit
einer Art Panzer - dem gepanzerten Sturmgeschütz - ausgerüstet,
sondern besaßen auch einen neuen Typ von Panzerabwehrgranate mit
niedriger Geschwindigkeit, die nach dem Prinzip der Hohlladung
funktionierte und, wie sie Hitler erklärten, den Panzer über Nacht
überholt machen könnte. Sie übersahen dabei natürlich etwas das
Problem, kleine Ziele mit Projektilen von niedriger Geschwindigkeit zu
treffen - aber Hitler war begeistert, und das war es, worauf es ankam.
Die Produktion und Entwicklung der Panzer war ebenso von Hitlers
Launen und unfachmännischen Erkenntnissen abhängig wie Strategie
und Taktik. Wie viele Politiker war er damit zufrieden, die Dinge laufen zu
lassen, wie sie waren, bis plötzlich offenbar irgend etwas schiefging.
Dann forderte er ein sorgfältiges Allheilmittel zur Behebung der Krise.
Voraussicht war wenig gefragt. Daß das Auftauchen der russischen
T 34-Panzer im Juli 1941 kaum als Gefahr angesehen wurde, ist bereits
an anderer Stelle dargestellt worden. Erst als diese Fahrzeuge ungefähr
drei Monate später in großer Anzahl bei Kämpfen eingesetzt wurden,
nahm man Guderians seinerzeit geäußerte Warnung ernst und machte
sich im November 1941 auf Guderians verzweifeltes Drängen hin
energisch
daran,
das
bis
dahin
bestehende,
träge
Neuausrüstungsprogramm zu beschleunigen. Er hatte auf kampfkräftige
Panzer gedrängt und außerdem auf Panzerabwehrkanonen auf
Selbstfahrlafetten - Panzerjäger. Das brachte ihm eine erstaunliche
briefliche Erwiderung vom OKH ein: »Ich bedaure nur, daß Sie diese
Forderung bezüglich der Panzer nicht schon vor sechs Jahren gestellt
haben, dann würden wir heute anders dastehen.« Dies faßte Guderian,
wie aus Liebensteins Tagebuch ersichtlich ist, als persönliche
Beleidigung auf. Liebenstein trug damals unter dem Datum des
3. November ein: »Es hat ja kein Offizier der Wehrmacht so um die
Panzer gekämpft wie er (Guderian), und seine Forderung auf vier
Zentimeter Panzerstärke wurde vom Waffenamt als damals nicht
durchführbar abgelehnt. Dasselbe trifft für Bewaffnung zu - 5-ZentimeterKanonen waren schon vor 1934 gefordert.«
Der Rückschlag vor Moskau schockte Hitler in jeder Hinsicht. Die
Entwicklung neuer Panzer gehörte zu den Themen, die plötzlich sein
Interesse fanden. Als Führer verlangte er jetzt augenblicklich Wunder:
eine Produktionssteigerung und einen neuen, viel stärkeren Panzer, der
den T 34 schlagen konnte. Im Januar 1942 legte man ihm die
Konstruktionspläne für einen Panzer vor, der, wie man hoffte, sogar den
Nachfolger des sowjetischen T 34 ausstechen konnte - einen neuen
mittelschweren Panzer mit der Bezeichnung VK 3.000, ein Fahrzeug,
das ein langes 7,5-Zentimeter-L 70-Geschütz erhalten und nach seiner
Fertigstellung 45 Tonnen wiegen sollte. Als Name wurde »Panther«
gewählt. Ferner wurde der bereits 1939 konzipierte schwere Panzer, der
auf Guderians Vorkriegsvorstellungen von einem »Durchbruchspanzer«
basierte, eilends in Produktion gegeben; es war dies der »Tiger« mit
einem Gewicht von 56 Tonnen und einer 8,8-Zentimeter L 56-Kanone.
Aber lange vor Anlaufen der Produktion dieser starkgepanzerten
Fahrzeuge (ein paar »Tiger« waren im Herbst 1942 fertiggestellt, die
ersten »Panther« im Frühjahr 1943) mußte etwas getan werden, um
noch 1942 das Panzergleichgewicht wiederherzustellen. Dies war, wie
sich herausstellte, sehr leicht möglich durch Erhöhung der Panzerung
(1943 genügte kaum noch eine Stärke von acht Zentimeter für die Pz III
und Pz IV) und durch stärkeres Geschützkaliber: eine lange
5-Zentimeter(L 60)-Kanone für den Pz III und ein langes
7,5-Zentimeter(L 46)-Geschütz für den Pz IV. Zusätzlich sollte die Zahl
der Geschütze auf Selbstfahrlafetten - Panzerjäger, Sturmgeschütze und
Artillerie - erhöht werden, um der Infanterie größere Panzerunterstützung
zu geben und die Panzerabwehr zu verstärken.
Dieses riesige Programm - das noch im Sommer 1940 als
undurchführbar abgelehnt worden war - setzte enorme Umstellungen
voraus, denn die Produktionsausweitung für die bestehenden
Panzermodelle mußte zur gleichen Zeit wie die Entwicklung neuer
Fahrzeuge mit radikalen Änderungen erfolgen. Aber die Einführung
neuer Modelle bedeutete eine Störung und schließlich ein Anhalten der
laufenden Produktion. Im Dezember 1942, als die Panzerdivisionen in
Rußland unerträglichem Druck ausgesetzt waren und die alliierten
Kriegserfolge eine bisher nicht dagewesene Höhe in einer vorwiegend
als Panzerkrieg verlaufenden Auseinandersetzung in Nordafrika
erreichten, wurde der Pz III aus der Produktion genommen. Zunächst
befolgte Hitler den Rat, der ihm von den Offizieren, die auf höchster
Befehlsebene für die Panzer verantwortlich waren, und von führenden
Industriellen zuteil wurde. Sie formulierten die Ansicht, die
Panzerkonstruktion müsse - der Dringlichkeit nach geordnet - von
Bewaffnung, Geschwindigkeit und Panzerung ausgehen. Dies
widersprach keineswegs Guderians Anschauungen, obgleich er es
bedauerte, daß viele an der Entwicklung und am Bau von Panzern
beteiligte Offiziere des Heeres »keine auf eigener Erfahrung beruhende
Auffassung über das Wesen und die weitere Entwicklung neuzeitlicher
Panzertruppen und ihrer Erfordernisse« hatten. Unglücklicherweise
waren weder diese Offiziere noch die Industriellen völlig Herr (oder
beherrscht) im eigenen Haus noch hatten sie genügend Übersicht.
Am 8. Februar 1942 war der Reichsminister für Rüstung und
Kriegsproduktion, Dr. Fritz Todt, bei einem Flugzeugabsturz ums Leben
gekommen. Sein Nachfolger wurde Hitlers Favorit, der Architekt Albert
Speer. Dieser war ein bemerkenswerter Mann und ein glänzender
Organisator, hatte jedoch keine Ahnung von Panzern und anderen
Waffen. Er mußte sich auf die Experten verlassen, die ihre alten
Interessen verfolgten. So rangen zum Beispiel die Vertreter der Industrie
miteinander, um ihre Lieblingskonzepte und die Entwürfe ihres Hauses
durchzusetzen. Bei der Fertigung des Prototyps zweier konkurrierender
Panzermodelle konnte es durchaus geschehen, daß Material von extrem
hoher Qualität beim Bau dieser Testfahrzeuge verwendet wurde, obwohl
man wußte, daß bei der Fließbandproduktion diese Werkstoffe nicht
annähernd in ähnlichem Umfang zur Verfügung standen. Und wenn ein
hervorragender Konstrukteur von der Feinnervigkeit und den Ambitionen
eines Dr. Porsche, um das bekannteste Beispiel zu nennen, seinen
Willen in einem Ausschuß oder auf dem Versuchsstand nicht
durchsetzte, war es ihm ohne weiteres möglich, direkt an Hitler
heranzutreten, dessen Empfänglichkeit für das Hochdramatische
allgemein bekannt war.
Getreu diesem Bild erging Hitler sich das ganze Jahr 1942 hindurch
ohne Rücksicht auf die im Januar festgelegte Reihenfolge der Prioritäten
im Panzerbau in den gewohnten Abschweifungen. Irgendeine von
beliebiger Seite geäußerte Idee oder der Hinweis auf eine zu erwartende
Bedrohung lösten neue Befürchtungen bei ihm aus. Das Ergebnis war,
daß es zu Diskussionen über ganze Bündel von Gegenprojekten kam,
einige davon vernünftig, viele phantastisch und nutzlos, wobei aber die
Gefahr bestand, daß schlechte Pläne in die Tat umgesetzt wurden. Mit
knapper Not und durch den entschlossenen Einsatz der wenigen
Einsichtigen wurde jedoch das zentrale Programm aufrechterhalten und
verbessert. Kampffähige Panzer gelangten zu den Truppen an der Front.
Trotzdem betrug die Gesamtproduktion der Pz IV im Oktober 1942 erst
100 Stück. Zu dem schrecklichen Durcheinander an einer
überstrapazierten und schlecht organisierten industriellen Basis trug
auch eine Vielzahl von verschiedenen Abwandlungen der
Selbstfahrlafettengeschütze bei. Eine außerordentlich hohe Zahl von
Variationen wurde unter Verdopplung der Panzerstärke erprobt mit dem
Ziel, jeden feindlichen Angriff abwehren zu können. Die Konstruktion
eines Panzers von über 100 Tonnen Gewicht machte Fortschritte, und
es war sogar ein wirklich gigantisches Ungeheuer von 1.000 Tonnen im
Gespräch.
Während Speer mit Erfolg eine rasch und erstaunlich wirksame
Umorganisation der Industrie vornahm, war er nicht in der Lage, ihre
Produkte zu kontrollieren, denn niemand vermochte Hitlers militärische
Intuition zu zügeln, die neue phantastische Höhen erreichte. So kam es,
daß im Februar 1943 die Panzerdivisionen in Rußland, die unter dem
Ansturm der gegnerischen Offensive zurückwichen, durchschnittlich
nicht mehr als 27 Panzer je Division aufbieten konnten. Und doch
herrschte trotz der übertriebenen Hoffnungen der Artillerie die allgemeine
Auffassung vor, daß Panzer weiterhin den Schlüssel für das Überleben
im Bewegungskrieg darstellten, wie er an weiten Fronten ausgetragen
wurde.
Guderian schreibt in seinen Erinnerungen: »Von einigen wenigen
einsichtsvollen Leuten aus der militärischen Umgebung Hitlers wurde
nach einem Mann Ausschau gehalten, der in der Lage wäre, das
drohende Chaos in letzter Stunde zu vermeiden. Man legte Hitler meine
Vorkriegsschriften auf den Tisch und erreichte, daß er sie las. Dann
machte man ihm den Vorschlag, mich kommen zu lassen. Man
überwand schließlich das Mißtrauen Hitlers gegen meine Person so weit,
daß er einwilligte, mich wenigstens einmal anzuhören.«
Ein leichter Anflug von Geheimnis umgibt die Namen der Offiziere, die
sich für Guderian einsetzten, aber alle Vorgänge werden erhellt durch
eine Eintragung vom 28. Februar 1943 im offiziellen Tagebuch des Chef
des Heerespersonalamtes, der inzwischen Schmundt hieß, nachdem
Bodewin Keitel hatte gehen müssen: »Der Führer verfügte die Schaffung
der Stelle des Generalinspekteurs für die Panzertruppe. Zum
Generalinspekteur wird Generaloberst Guderian ernannt.
Chef HPA hatte seit längerer Zeit den Führer auf Generaloberst
Guderian aufmerksam gemacht unter Hinweis darauf, daß er einer
seiner getreuesten Gefolgsmänner in der Generalität ist. Während einer
längeren Aussprache zwischen dem Führer und Generaloberst Guderian
am 25. und 26. Februar auf dem vorgeschobenen Gefechtsstand des
Führerhauptquartiers in Winniza überzeugt der Führer sich selbst davon,
daß er Generaloberst Guderian diese verantwortungsvolle Stellung
übertragen kann.«
Oberstleutnant Engel hatte zwar auch seine Hand im Spiel gehabt,
doch war es ganz offensichtlich Schmundt, der den Faden dort wieder
aufnahm, wo von Below 1941 gescheitert war. Guderian hat daher recht,
wenn er den Eindruck erweckt, es sei schwierig gewesen, Hitler zu
überreden, ihn zurückzuholen, denn sein tiefverwurzeltes Mißtrauen
gegenüber Leuten, die ihn einmal herausgefordert hatten, konnte er nie
ganz ausräumen. Trotzdem war Hitler fähig, wenn es in seine Pläne
paßte, vorzutäuschen, er habe seinen Widersachern vergeben. Das war
der Fall bei Rundstedt gewesen, der 1938 verabschiedet und 1939
zurückgeholt worden war. Rundstedt hatte er 1942 dessen
Unbesonnenheit vom Jahr zuvor verziehen. Darüber hinaus fühlte Hitler
jetzt, daß er etwas Stärkeres als nur gute Ratschläge benötigte. Sein
Selbstvertrauen war durch die Fehlschläge der Operationen erschüttert,
die er selbst angeordnet hatte. Seine Eingebung hatte sich als fehlbar
erwiesen. Er brauchte unabhängige Vollstrecker. An der Ostfront
gewährte er mit einemmal Manstein ungewöhnliche Bewegungsfreiheit,
damit dieser in der Ukraine die anstürmenden Russen zurückschlagen
konnte. Am 20. Februar konnte Manstein sie mit Hilfe der
Panzerverbände seiner Heeresgruppe Süd bis Charkow zurückwerfen,
als ihr Brennstoff zur Neige ging.
Am Nachmittag dieses Tages wurde Guderian, der zuvor Schmundt
die Bedingungen für seine Wiederverwendung im Rahmen eines
selbstabgesteckten Aufgabenbereichs mit dem Titel Generalinspekteur
der Panzertruppen genannt hatte, vom Führer zum Vortrag empfangen.
Guderian stellte fest, wie sehr Hitlers Stimmung von Ungewißheit
geprägt war, und zitiert die Worte, mit denen er die Unterhaltung
eröffnete: »Unsere Wege haben sich 1941 getrennt. Es gab damals eine
Reihe von Mißverständnissen, die ich sehr bedauere. Ich brauche Sie!«
Es ist möglich, daß dieser unaufrichtigste aller Politiker in einem
sorgenvollen Augenblick einmal die Wahrheit sagte. Es könnte aber
auch sein, daß er Guderians Vertrauen zurückgewinnen wollte und
genau spürte, daß dieser Mann, den er früher nicht zu überzeugen
vermocht hatte, nur durch Bescheidenheit und Verzicht auf große Worte
zur Hilfe zu bewegen war.
Als Ergebnis dieser Unterredung und nach einer Reihe von
Gesprächen mit führenden Persönlichkeiten entwarf Guderian dann eine
Dienstanweisung, die ihm die Autorität verlieh, die man ihm 1938
verweigert hatte und die Hitler wenige Tage später genehmigte und
unterschrieb. Im ersten Punkt mußte Hitler bestätigen, daß der
Generalinspekteur der Panzertruppen »... mir verantwortlich ist für eine
der kriegsentscheidenden Bedeutung entsprechende Weiterentwicklung
der Panzertruppe. Der Generalinspekteur untersteht mir unmittelbar. Er
hat die Dienststellung eines Oberbefehlshabers einer Armee und ist
oberster Waffenvorgesetzter der Panzertruppe«.
Zu Guderians selbstbestimmten Pflichten gehörten Organisation und
Ausbildung nicht nur der Heereseinheiten, sondern auch, wo
angemessen, der Einheiten der Luftwaffe und der Waffen-SS. Enge
Zusammenarbeit mit Albert Speer wurde bei der technischen
Weiterentwicklung der Waffen gefordert und auch die Aufstellung neuer
Einheiten sowie die Formulierung neuer taktischer Doktrinen. Guderian
wurde dazu der Oberbefehl über alle Ersatztruppen seiner Waffen
einschließlich der Schulen und Lehrtruppen übertragen. Schließlich
wurde er autorisiert, Vorschriften zu erlassen. In der Tat hatte er endlich
sein Ziel erreicht, eine eigenständige Kampftruppe innerhalb der
Wehrmacht aufzustellen, die viel von dem militärischen Status, den SS
und Luftwaffe bereits genossen, mitbekam und sogar, wie sich eines
Tages zeigen sollte, ein gewisses Maß an politischer Macht.
Guderians Dienstanweisung sieht einem Dokument auffallend ähnlich,
das sein Gegenspieler in England - Percy Hobart - im Herbst 1940
verfaßte zu einem Zeitpunkt, als der Zustand der britischen Armee und
ihrer Panzerstreitkräfte unmittelbar nach der Niederlage von Dünkirchen
ähnlich kritisch war wie der Deutschlands nach dem Debakel von
Stalingrad. Hobart hatte Winston Churchill die Schaffung des Postens
eines Commander of the Royal Armoured Corps vorgeschlagen, der
einem Army Councillor gleichgestellt werden und Befugnisse haben
sollte, wie sie später Guderian für sich erreichte. Churchills oberste
Generäle - die Generäle Dill und Brooke (beide von der Artillerie) widersprachen diesem Plan, und der Premierminister war nicht willens,
sie auf die gleiche Art zu übergehen, wie Hitler es mit seinen Militärs tat,
obwohl er später sein Bedauern äußerte, es nicht getan zu haben. In
Großbritannien wurde daher ein Panzertruppensystem entwickelt, das
dem glich, wie es sich in Deutschland 1938 herauskristallisiert hatte.
Zwischen Hobart und Guderian bestand ein Unterschied in der Art und
Weise, wie sie ihre Aufgabe anpackten. Während Hobart sich selbst
nicht (aus dem Grund, daß ihm bestimmte Persönlichkeiten dreinredeten
und ihn zermürbten) für das höchste Amt geeignet hielt, zweifelte
Guderian keinen Augenblick daran, daß er allein der richtige Mann war,
ohne Rücksicht auf Opposition. Nach dem Krieg schrieb er über seine
Dienstanweisung: »Nachteilige Folgen dieser Einrichtung sind nicht
bekannt geworden.«
Nicht jeder hätte diesem Glaubensbekenntnis zugestimmt. Die
Artilleristen murrten und brachten es fertig, Guderian - zu dessen
unaussprechlichem Ärger - die Sturmgeschütze aus den Klauen zu
reißen, aber der größte Teil der kämpfenden Truppe stieß einen Seufzer
der Erleichterung aus, als man erfuhr, daß Guderian wieder in Amt und
Würden war. Das tat auch Speer, der sich zu guter Letzt einem Mann mit
alleiniger Verantwortung gegenübersah, dessen Gespür für Dringlichkeit
und systematische Arbeit ihm eine Hilfe war und von dem er wußte, daß
er fest zu logischen Ideen und Verpflichtungen stand. Bald sollten es die
an der Front stehenden Soldaten, die, auf die es ankam, spüren: »Der
Schnelle Heinz ist wieder da!« Mit seiner Rückkehr verbanden sie die
Hoffnung, daß die Verbesserungen, die sie forderten, bald
vorgenommen würden.
Guderian trat sein neues Amt am 1. März an. In einem Schriftstück,
das er kurz nach dem Krieg für die Amerikaner anfertigte, beschrieb er
Methoden und Organisation seiner Generalinspektion. Darin hieß es: »Je
ein Generalstabsoffizier bearbeitete Ausbildung und Organisation. Jede
Gattung der Panzertruppen, also die Panzerregimenter und -abteilungen,
die Panzerjäger, die Panzergrenadiere, die Panzeraufklärung, ferner von
den anderen Waffen Panzerartillerie, Panzernachrichtentruppen,
Panzerpioniere, das Sanitätswesen, die technische Entwicklung und das
Kraftfahrwesen waren durch kriegserfahrene, meist infolge schwerer
Verwundung nicht mehr voll felddienstfähige Offiziere oder Beamte
vertreten, deren Aufgabe die Entwicklung ihres Waffenzweiges und die
Herausgabe der Vorschriften war, welche durch von Fall zu Fall berufene
Vorschriftenkommissionen aus Offizieren mit frischer Fronterfahrung
geschrieben
wurden.
Diese
arbeiteten
unter
Aufsicht
der
Vorschriftenstelle an der Panzertruppenschule.«
Durch seine Hartnäckigkeit, in seinen Stab nur kriegserfahrene
Offiziere zu berufen, gelang es Guderian, das zu praktizieren, was er seit
Jahren vergeblich dem OKW und dem OKH gepredigt hatte, dessen
oberste Stabsoffiziere, wie er behauptete, hoffnungslos der Wirklichkeit
entfremdet waren, weil sie am aktiven Dienst seit 1918 nicht mehr
teilgenommen hatten. Zum Chef seines Stabes bestimmte Guderian
Oberst Wolfgang Thomale, »einen begeisterten Panzermann« und
Stabsoffizier von immenser Fähigkeit. Ihre Partnerschaft war perfekt weitaus mehr vielleicht, als allgemein angenommen wird. Ihre
Aufgabenbereiche hatten sie präzise abgegrenzt. Bei Dienstantritt hatte
Guderian grinsend gesagt: »Einer von uns muß reisen und einer muß
arbeiten. Ich werde reisen!« Es steht eindeutig fest, daß Guderian
seinem neuen Amt einen weiteren Spielraum beimaß, als es bei dessen
Schaffung beabsichtigt gewesen war. Bei seiner Befragung durch die
Amerikaner sagte er nach 1945, während er »es als seine Hauptaufgabe
betrachtete, selbst zu sehen und aufgrund des bei der Truppe
gewonnenen eigenen Augenscheins seine Vorschläge zu machen und
seine Anordnungen zu treffen, wurde der Stab in der Nähe des
Führerhauptquartiers und des Chefs des Generalstabes des Heeres
eingerichtet, um in ständiger Führung mit der Leitung der Wehrmacht
und des Heeres zu bleiben«. Für die erste Zeit brachte Thomale seine
Dienststelle in der Bendlerstraße in Berlin unter. Für ihn begann jetzt
eine der arbeitsreichsten Zeiten, wie sie sich ein Chef des Stabes nur
denken kann, aber er war voll Begeisterung für einen Mann tätig, den er
als »Deutschlands besten und verantwortungsvollsten General«
beschreibt.
Dies sind nicht die Leistungen eines Mannes, der durch seinen
schlechten Gesundheitszustand übermäßig behindert war, obwohl dieser
Faktor in Verbindung mit Guderian untersucht werden muß. Krankheiten,
oft die Folge von Überanstrengung und der zähen Entschlossenheit,
ohne Rücksicht auf die Folgen auf dem Posten zu bleiben, haben die
Arbeitskraft vieler hoher Offiziere, und nebenbei gesagt, auch vieler
Staatsmänner, vermindert. Sie werden es auch in Zukunft tun. Hugh
L'Etang stellt in seiner Untersuchung The Pathology of Leadership
Guderians Herzleiden als Schwäche hin und bemerkt dazu
verallgemeinernd: »Erschöpfung tendiert dazu, zum Verhängnis für die
Ehrgeizigen, die Gewissenhaften oder die Idealisten zu werden. Sie wird
nur selten von den Schlauen, den Faulen oder den Geschickten
empfunden, die nicht unbeträchtliche Mühe dafür aufwenden, diesen
Zustand zu vermeiden«.
Dem Leser bleibt es überlassen, den leicht hypochondrischen
Guderian einzuordnen, aber es gibt kaum Beweise dafür, die vermuten
lassen, daß ein Herzleiden, so schwer es auch war, seine
Leistungsfähigkeit beeinträchtigte. Wenn er gelegentlich einen Kollaps
erlitt, so geschah das gewöhnlich nach einer Marathonleistung bei einer
Besprechung, auf der er sich hervorgetan hatte. Wahrscheinlich
erreichte er dieses Stadium, weil er sich in dem vorhergehenden
Jahrzehnt ausgebrannt hatte, und vielleicht erhöhte dies die Heftigkeit
seiner Wutausbrüche. Aber die Produktion von Galle bei der Darstellung
seiner Politik der »absoluten Offenheit« war inzwischen schon zum
festen Bestandteil geworden. Sein ältester Sohn, der seinem Vater sehr
nahe stand, glaubt nicht, daß sich die Herzkrankheit sehr auswirkte, und
nimmt ebenfalls an, daß sein Vater das tat, was er getan hätte,
gleichgültig, wie es um seine Gesundheit bestellt war. Übrigens starb
Guderian später nicht infolge seiner Herzbeschwerden.
In weniger als einer Woche fieberhafter Arbeit war ein Rahmen für die
Panzerkonstruktion und den Neuaufbau der Panzertruppen geschmiedet
worden, der Hitler vorgelegt werden sollte. Einsparungen waren oberste
Forderung. Bizarre Projekte wurden beiseitegeschoben und für den
Pz IV eine außergewöhnliche Anordnung aufgehoben, die einen
Produktionsstopp für diesen Typ wie für den Pz III vorsah, noch bevor
die »Panther« und »Tiger« voll in Produktion gegangen oder auch nur
erfolgreich erprobt worden waren. Hauptpunkte des Plans waren neue
Kriegsgliederungen für die Panzerdivisionen, die das neue Gerät
berücksichtigten, das zufließen sollte, und der Versuch, die weitere
Aufstellung von Panzerdivisionen der Luftwaffe und der Waffen-SS zu
verhindern. Während die Panzerdivisionen des Heeres, theoretisch
jedenfalls, nur über 190 Panzer verfügen sollten (in der Mehrzahl Panzer
vom Typ Pz IV), waren für die Waffen-SS weit über 200 vorgesehen.
Dennoch kamen später alle möglichen Varianten vor, weil die
Kombination von Krieg und Nazihierarchie kein einheitliches System
zuließ.
Ohne Vorbehalt unterstützte Guderian die Einführung der langen
7,5-Zentimeter- und 8,8-Zentimeter-Kanonen. Fast jegliche Art von
stärkerer Geschützausstattung war ihm willkommen, so auch die
Montage von 2-Zentimeter- und 7,5-Zentimeter-Kanonen auf gepanzerte
Mannschaftswagen - das Ergebnis von Gesprächen mit der Truppe an
der Front. Die meisten Kontroversen gab es wegen der Sturmartillerie.
Nachdem Guderian jetzt selbst davon überzeugt war, daß die
Sturmgeschütze notwendig waren, äußerte er nun den Wunsch, daß ihre
Beschaffenheit genormt werde, so daß die Panzerproduktion nicht leide
(zu Recht war er der Ansicht, daß ein Panzer mit einem Drehturm eine
weit potentere Allzweckwaffe war als ein Fahrzeug mit einem Geschütz
von nur beschränktem Schwenkbereich), und daß ihm sämtliche
Sturmgeschütze unterstellt wurden. Hinsichtlich der Beschaffenheit der
Geschütze setzte er in jeder Beziehung seinen Willen durch, aber ihre
Unterstellung unter die Generalinspektion führte zu Schwierigkeiten.
Guderian legte dann am 9. März seine Pläne Hitler vor. Es war ein
Vortrag vor einer großen Versammlung interessierter Personen, was
seine Hoffnung völlig zunichte machte, seine Angelegenheiten im
kleinsten Kreis besprechen zu können und auf diese Weise eine
ausführliche Diskussion zu vermeiden, in die ihm feindliche,
althergebrachte Interessen eingebracht wurden. Nach einer
viertelstündigen
Redeschlacht
behielten
Bürokratie
und
Gruppeninteressen die Oberhand. Hinterher brach Guderian zusammen.
Seine Bilanz sah so aus, daß er die Unterstellung der Sturmgeschütze
nicht durchsetzen konnte und auch seine Bemühungen fehlgeschlagen
waren, die Schaffung von Waffen-SS- und Luftwaffen-Panzerdivisionen
zu blockieren. Sein Hauptziel war es ja gewesen, die alten und erprobten
Heeresdivisionen zu stärken, statt neue, unerfahrene Divisionen auf die
Beine zu stellen. (Es ist interessant, Guderians Reaktion auf diese
Niederlage auf den Seiten seiner Erinnerungen nachzulesen, denn
während er über die Artilleristen und Schmundt herzieht, übt er lediglich
milde Kritik an der SS und der Luftwaffe, die ihn ja auch enttäuscht
hatten. Tatsächlich vermittelt er an dieser Stelle seines Buches den
Eindruck, als hätten sie ihm beigepflichtet; erst später erwähnt er einen
fruchtlosen Versuch, sowohl bei Himmler als auch beim Chef des
Generalstabes der Luftwaffe, doch noch seine Vorstellungen
durchzusetzen.)
So mußte er wieder einmal mit einer zweiten Wahl vorliebnehmen. Er
begann eine lange Reihe von Besuchen bei Panzerschulen, Fabriken,
Erprobungsabteilungen und natürlich bei den Einheiten an der Front.
Anhand dieser zahlreichen und umfassenden Kontakte und dazu noch
der von seinem Stab gesammelten Fülle von Informationen machte er
sich ein klares Bild von Deutschlands geschwächter Position und den
vernunftwidrigen Methoden, die angewandt wurden, um dem zu
begegnen. Vor allem aber erkannte er endlich wie nie zuvor, selbst nicht
in den letzten Tagen des Jahres 1941, den verderblichen Einfluß Hitlers
und seiner engeren Umgebung. Obwohl er es nicht offen zugibt, läßt sich
kaum bezweifeln, daß mit dieser zunehmenden Einsicht ein verspätetes
Verständnis der Gründe verbunden war, warum so viele Dinge in der
Vergangenheit danebengegangen waren. Endlich konnte er die
Schwierigkeiten ermessen, die Brauchitsch, Halder, Rundstedt, Bock,
Kleist und die übrigen durchgemacht hatten; er hätte sogar Gnade vor
Recht ergehen lassen und Kluge Mitgefühl bekunden können.
Aber während Guderian mit den meisten ehemaligen Widersachern
Frieden schloß, war er unglücklicherweise nie imstande, die zwischen
ihm, Halder und Kluge existierende Kluft zu überbrücken. Nach dem
Krieg, als er und Halder in amerikanischer Gefangenschaft waren,
scheiterte ein (von Guderian ausgehender) Versöhnungsversuch an
Halders Weigerung. Der Tod verhinderte eine Aussöhnung mit Kluge,
obwohl bezweifelt werden muß, daß jemals eine Verständigung möglich
war. Im Mai 1943 waren sie einander in einer Atmosphäre offener
Feindschaft zum erstenmal nach ihrem Zusammenstoß vom Dezember
1941 begegnet. Guderian erklärte dabei Kluge mit gespielter
Gleichgültigkeit - »meinem speziellen Freund«, wie er ihn einst
bezeichnet hatte -, wie sehr ihn die Entlassung getroffen habe und daß
er trotz der inzwischen erfolgten Klärung der damaligen Situation nie
Genugtuung erhalten habe. Kluge verstand das Wort »Genugtuung« in
der engsten preußischen Bedeutung in Beziehung zu »Ehre« und bat
Hitler schriftlich um Erlaubnis, Guderian zu einem Duell herausfordern zu
dürfen, wobei Hitler als sein Sekundant fungieren sollte. Hitler erklärte
den beiden Generälen sinngemäß, sich nicht länger wie Kinder
aufzuführen und ihren Streit beizulegen; Guderian ersuchte er, sich zu
entschuldigen.
Guderians Neigung, manchen Leuten zu sehr zu vertrauen, stand in
scharfem Gegensatz zu seiner unversöhnlichen Feindschaft gegenüber
Menschen, an denen er Fehler entdeckt hatte. Dieses Verhalten bildete
einen markanten Eckstein seines Charakters und hatte in einem
bestimmten Fall sogar Auswirkungen auf den Gang der Geschichte.
Während seines vorübergehenden Ruhestands waren im Jahre 1942
Vertreter des Widerstands an ihn herangetreten und hatten wissen
wollen, ob er bereit sei, sich ihnen anzuschließen. Besonders der
General der Infanterie Friedrich Ulbricht war mit einemmal besonders
freundlich zu ihm und versuchte, ihn in das Komplott hineinzuziehen,
obwohl Guderian damals den Grund für dieses Verhalten nicht verstehen
konnte, denn ihre bisherigen Beziehungen waren nicht sehr eng
gewesen. Schlabrendorff führt in seinem Buch von 1946 richtig an, daß
Dr. Karl Goerdeler, von Tresckow und der General der Artillerie Friedrich
von Rabenau Kontakt zu Guderian aufnahmen. Wheeler-Bennett, der
sich in seinem Buch The Nemesis of Power sehr stark auf
Schlabrendorff stützt, irrt sich hingegen, wenn er erklärt, Guderian habe
»... diese führenden Kontakte nicht erwähnt«. In den Erinnerungen
werden die Gespräche mit Goerdeler und Tresckow ziemlich ausführlich
dargestellt und das mit Rabenau indirekt wiedergegeben. Der Inhalt der
Begegnungen mit Goerdeler war Gegenstand einer von Guderian nach
dem Krieg abgegebenen eidesstattlichen Erklärung. Wenn jedoch
Guderian recht hat mit seiner Behauptung, Goerdeler habe ihm im April
1943 versichert, Hitlers Ermordung sei nicht vorgesehen, steht dies in
eindeutigem Widerspruch zur Aussage der Verschwörer. Schlabrendorff
zufolge war bereits im März ein Versuch zur Beseitigung Hitlers
unternommen worden, der allerdings fehlschlug und in den er tief
verwickelt gewesen sein will - und dessen einziger überlebender Zeuge
er 1946 war.
Mehr als alles andere stieß Guderian die Mitteilung Goerdelers
zurück, Führer der Verschwörung sei niemand anders als Generaloberst
Beck - ein Offizier, dessen lauteren Charakter Guderian nicht bestritt,
aber dessen Zaudern und Unfähigkeit, schnelle Entscheidungen zu
fällen, nicht in Einklang mit den Erfordernissen eines riskanten
Staatsstreichs zu stehen schienen. Goerdeler, den Schlabrendorff als
Mann mit der »Gabe, sich mit Leuten aus allen Gesellschaftsschichten
unterhalten und bei jedem die richtigen Worte finden zu können, um sie
auf
seine
Seite
zu
ziehen«,
charakterisiert,
gelang
es
eigentümlicherweise nicht, Eindruck auf Guderian zu machen und auf
einige weitere nüchterne, im aktiven Dienst stehende hohe Offiziere, zu
denen auch Manstein zählte. Offiziere wie Witzleben und Höppner, die
von Hitler brüskiert worden waren, machten ab 1943 gemeinsame Sache
mit den Verschwörern, während von denen, die ihren Dienst noch
versahen, Kluge abwechselnd zusagte und wieder absprang.
Guderian machte keinen Hehl aus seiner Einstellung in der damaligen
Zeit: »Die Mängel und Mißstände des nationalsozialistischen Systems
und die Fehler der Person Hitlers lagen damals klar zutage - auch für
mich; man mußte danach streben, sie abzustellen. Bei der gefahrvollen
Lage, in der sich das Reich aber infolge der Katastrophe von Stalingrad
und durch die Forderung auf bedingungslose Kapitulation bereits befand,
mußte ein Weg gewählt werden, der nicht zu einer Katastrophe des
Reiches und des Volkes führte. Ich kam zu dem Schluß, das Vorhaben
Dr. Goerdelers als schädlich und praktisch undurchführbar abzulehnen.
Wie das gesamte Heer fühlte auch ich mich durch den Fahneneid
gebunden...«
Immerhin gibt Guderian an, sich auf Goerdelers Bitten hin bei
verschiedenen Generälen an der Front umgehört und ihre Stimmung
erkundet zu haben. Später mußte er dann Goerdeler versichern, er habe
keinen General getroffen, der geneigt gewesen wäre, auf seine Pläne
einzugehen, aber er fügt hinzu, er habe Goerdeler sein Wort gegeben,
über die Aussprachen zu schweigen, und versichert, er habe dieses
Versprechen gehalten, bis er 1947 die Vorgänge in Schlabrendorffs
Buch dargestellt fand. Schlabrendorff erklärte seinerseits 1946, Rabenau
habe es für notwendig erachtet, Guderian mit der Enthüllung seiner
eigenen Beteiligung an der Verschwörung zu drohen, um ein
Durchsickern der Pläne zu verhindern - eine Version, die er in der
Neuauflage seines Buches im Jahre 1951 und in seinem zweiten Buch
1965 nicht wiederholte. Gretel teilte ihrem ältesten Sohn mit, Rabenau
habe Guderians Leben bedroht. Auf alle Fälle zeigt es, wie wenig die
Verschwörer Guderian kannten, wenn sie glaubten, er könne auf diese
Weise zum Schweigen gebracht werden - oder daß Drohungen vonnöten
gewesen waren, wenn er einmal sein Wort gegeben hatte.
Keiner der Generäle, die angesprochen wurden und eine Mitwirkung
verweigerten, verriet die Bedrohung an Hitler weiter. Das war kaum
verwunderlich so kurze Zeit nach Stalingrad, denn schon war die Schrift
an der Wand deutlich sichtbar - sogar für Optimisten wie Guderian. Jeder
versuchte, auf seine Weise eine Lösung für die aussichtslos scheinende
Situation zu finden, aber die große Mehrheit bevorzugte dabei
rechtmäßige und gewaltlose Methoden. Und als disziplinierte Soldaten
schlossen sie, daß es ihre Pflicht sei, die Bedingungen militärischer
Stabilität als Voraussetzung für die Politiker zu schaffen, die dann eine
stärkere Stellung bei Verhandlungen einnehmen könnten. Es ist
unwahrscheinlich, daß auch nur ein einziger hoher Offizier, abgesehen
von Kriechern wie Keitel, eine Träne vergossen hätte, wenn Hitler - legal
oder illegal - abgesetzt worden wäre, und es ist ein wesentlicher Aspekt
von Guderians Lebensgeschichte, daß er zu denen gehörte, die bemüht
waren, dies durch einen stufenweisen Prozeß von Abgrenzung durch
Einschränkung der Verantwortlichkeit des Führers zu erreichen. Er darf
nicht mehr für das Scheitern seiner Bemühungen kritisiert werden als die
Verschwörer für den Fehlschlag ihres Unternehmens; die Unfähigkeit der
Letzteren, ihre Pläne auszuführen, hatte bis dahin den Anschein von
Feigheit gehabt. Während sie das Attentat vorbereiteten, stellte Guderian
neue, unwiderlegbare Beweise für die Notwendigkeit einer Änderung der
Methoden und der gegenwärtigen Führung zusammen und gelangte zu
der Auffassung, daß das fast unüberwindbare Problem darin bestand, all
dies zu erreichen. Und doch mochte auch für ihn einmal ein Augenblick
der Verzweiflung kommen, da fast jede Entlastung von der Treulosigkeit
eine Wohltat bedeutete.
Die Überprüfung der Loyalität der Frontbefehlshaber kann nicht sehr
viel von Guderians Zeit beansprucht haben, als er durch Europa reiste in
der Absicht, schnelle Lösungen für Tausende von Problemen zu finden,
von denen eine ganze Reihe viel zu lang liegengeblieben war. Überall
war die Stimmung von der allgegenwärtigen Krise geprägt. Obwohl die
Lage an der Front in Rußland einigermaßen stabil geworden war, war
doch nicht zu verkennen, daß mindestens ebenso großen Anteil daran
wie die deutsche Tapferkeit das Versagen des logistischen Systems der
Russen hatte. Eine stetige Auffrischung der deutschen Panzertruppen
wurde ständig durch übergroße Vergeudung behindert. Die Einheiten an
der Front waren zu schwach und nur in sehr geringem Umfang mit
neuen Panzern ausgerüstet worden. Die im Einsatz befindlichen Panzer
waren durch das Fehlen von Ersatzteilen gehandikapt, denn, wie Speer
schreibt: »Hitler bestand auf dem Vorrang der Neuproduktion, die um 20
Prozent geringer hätte sein müssen, falls man die ausgefallenen, aber
reparaturfähigen Panzer einsatzbereit gemacht hätte.« In Wirklichkeit
war es so, daß die Instandsetzungskompanien an der Front alles aus
den ausgefallenen Panzern ausbauten mit dem Ergebnis, daß, wenn die
Panzerrümpfe zur Ausbesserung nach Deutschland kamen, praktisch
kein wertvolles Teil mehr vorhanden war und eine komplette,
kostspielige Generalüberholung erforderlich wurde.
Eine fruchtbare und sehr wichtige Beziehung entwickelte sich
zwischen Guderian und Speer. Beide Männer waren willens,
Deutschlands Reserven besser auszunutzen für das Wohl der
Allgemeinheit, wie sie es sahen. Guderians Überredungskünste waren
so wirksam, daß es ihm tatsächlich glückte, für die Panzerwaffe
Rohstoffe und Herstellungskapazitäten zu bekommen, die vorher
ausschließlich der Luftwaffe vorbehalten gewesen waren. So fand sich
die Luftwaffe, die unter der fehlerhaften Führung durch Göring und den
Irrtümern einiger seiner Günstlinge litt, eines Teils ihres Potentials
beraubt, als die Luftangriffe auf die deutsche Industrie immer heftiger
wurden. Für die Flieger, die auf den Traum von der Allmacht in der Luft
eingeschworen waren, bedeutete dies einen vernichtenden Schlag
gegen Deutschlands Hoffnungen aufs Überleben, obwohl gleichfalls
feststeht, heute wie stets in der Vergangenheit, daß auch sie im
Interesse ihrer Sache übertrieben.
Weitaus zersetzender als das Chaos im Verwaltungsapparat war
indessen der unabänderliche und wiederholte Einsatz von
Heereseinheiten in verlorenen Situationen. Bis wenige Tage vor dem
endgültigen Zusammenbruch der Streitkräfte der Achsenmächte in
Nordafrika in der ersten Maiwoche 1943 wurden weiter frische Truppen
über das Mittelmeer gebracht. Ein Plan, in letzter Minute das
Schlüsselpersonal der Panzertruppe auf dem Luftweg zu evakuieren, der
nachhaltig von Guderian unterstützt worden war, wurde dann doch nicht
ausgeführt mit dem Ergebnis, daß Männer, die gut die Kader für viele
neue Einheiten und Verbände hätten bilden können, verlorengingen.
Ungefähr zur gleichen Zeit diskutierte man die Pläne für eine Offensive
gegen die Russen.
Der Chef des Generalstabes des Heeres, Zeitzier, hatte Hitler einen
Umzingelungsangriff auf den russischen Frontvorsprung bei Kursk
vorgeschlagen, der so einladend nach Westen hinausragte.
Als dieser Gedanke im April von Manstein vorgetragen worden war in
der Absicht, ihn Anfang Mai in trockenem Gelände mit den zu dieser Zeit
relativ schwachen Panzerstreitkräften zu verwirklichen, waren die
sowjetischen Verteidigungsstellen noch nicht genügend ausgebaut und
boten somit durchaus eine Erfolgschance. In den ersten Maitagen schien
es jedoch offensichtlich, daß die Russen eine Vorwarnung erhalten
hatten (wie es wirklich der Fall war), weil die Abwehr mit einemmal
sichtbar verstärkt wurde. Aber bald war Hitler von Begeisterung ergriffen
und forderte aus Gründen politischer Propaganda einen dramatischen
Sieg, bei dem möglichst viele neue »Tiger«- und »Panther«-Panzer zum
Einsatz kommen sollten. Diese Voraussetzung führte zu Verzögerungen,
weil die Fahrzeuge erst in großer Zahl aus den deutschen Fabriken in
die Sowjetunion transportiert werden mußten. Plötzlich sah sich
Guderian einer direkten Konfrontation mit Zeitzier und Hitler gegenüber
und wies dabei nicht nur auf die fortgesetzten und unvermeidlichen
Mängel hin, die an den Getrieben der neuen Panzer und bei den mit den
neuen Modellen noch nicht vertrauten Besatzungen auftraten, sondern
auch auf die Nutzlosigkeit des Angriffs auf Kursk überhaupt.
»Glauben Sie, daß ein Mensch weiß, wo Kursk liegt?« gibt er an,
Hitler gefragt zu haben. Und Hitler - der einmal gesagt hatte, er wisse,
»bei welchen meiner Leute ich mir diese (verächtliche Geringschätzung)
erlauben kann und bei welchen nicht« - hatte wieder seine GuderianAblenkungsmaschinerie in Bewegung gesetzt und so getan, als ob er auf
dessen Bedenken einginge, während er in Wirklichkeit unbeirrt das
fortsetzte, was er gefühlsmäßig vorzog.
Guderian verfolgte immer das Ziel, zu den Stellen vorzudringen, wo
die Entscheidungen getroffen wurden, um dort die Gesamtstrategie
beeinflussen zu können. Obwohl er wieder einmal an die Front fahren,
sich mit den Panzerbesatzungen unterhalten und die Panzer in Aktion
sehen konnte - wie er es tat, als schließlich nach mehrfacher
Verschiebung die Kurskoffensive am 4. Juli begann -, viel wichtiger war
die Tatsache, daß er jetzt über dem Kriegsschauplatzniveau stand und
mit Nachdruck darangehen konnte, Hitlers Vorstellungen sowie die des
OKW und des OKH zu ändern.
In Kursk schilderten ihm übermüdete und verschmierte Panzerfahrer
Dinge, die er befürchtet und erwartet hatte. Besonders die »Panther«
hatten Kummer gemacht: ihr Getriebe wurde oft schadhaft, und die
optischen Instrumente gestatteten den Schützen keine einwandfreie
Bedienung der ausgezeichneten langen 7,5-Zentimeter-Kanone. Auch
die »Tiger« fielen aus, während eine Anzahl der neuesten, äußerst stark
gepanzerten »Ferdinand«-Panzer taktische Rückschläge erlitt wegen
ihrer Unfähigkeit, die russische Infanterie abzuwehren, sobald sie einmal
von ihrem Begleitschutz getrennt wurden. Denn obwohl sie
unverwundbar gepanzert und mit einer 8,8-Zentimeter-Kanone auch
stark bewaffnet waren, hatten sie nur ein einziges Maschinengewehr für
den Nahkampf an Bord. Im besonderen aber lag der Grund für das
Scheitern vor Kursk in einem fehlerhaften Plan, dem die Elemente der
strategischen und auch der taktischen Überraschung völlig fehlten.
An den Schaltstellen der Macht begegnete Guderian Männern, deren
Ziele und Methoden oft seinen völlig entgegenstanden. Nach seinem
Urteil war die Niederlage von Kursk entscheidend, denn »... die mit
großer Mühe aufgefrischten Panzerkräfte wurden durch schwere
Verluste an Menschen und Gerät auf lange Zeit verwendungsunfähig«.
Der verlorene Krieg resultierte aus dieser Niederlage noch mehr als aus
der von Stalingrad. Die Russen hätten verhältnismäßig geringe Verluste
gehabt und nach dem deutschen Angriff zurückgeschlagen und dabei
weitere Durchbrüche erzielt, die die deutschen Truppen gezwungen
hatten, sich noch weiter zurückzuziehen.
»Ihre rechtzeitige Wiederherstellung für die Verteidigung der
Ostfront«, so schrieb Guderian, »erst recht aber für die Abwehr der im
nächsten Frühjahr drohenden Landung der Alliierten an der Westfront
war in Frage gestellt...« Hauptzielscheibe seiner Enttäuschung über das
Mißlingen der Offensive von Kursk war Zeitzier, aber dieser litt lediglich
an den Übeln, die ihm seine Vorgänger hinterlassen hatten. Das
erkannte Guderian jetzt in aller Deutlichkeit. Albert Speer, der Guderian
durch dick und dünn unterstützte und ihm sogar dabei behilflich war, den
Einfluß der Mitglieder von Hitlers Umgebung zu beschneiden, fungierte
jetzt auf Bitten Guderians als Vermittler für eine Aussprache mit Zeitzier
in seinem eigenen Haus auf dem Obersalzberg. Offensichtlich sollten
dabei »... Mißstimmungen, die aus ungeklärten Zuständigkeiten
herrührten«, beigelegt werden.
»Es stellte sich heraus«, schrieb Speer später, »daß Guderian mit der
Zusammenkunft weitergehende Absichten verband. Er wollte eine
gemeinsame Taktik in der Frage eines neuen Oberbefehlshabers des
Heeres absprechen.«
Speer fuhr dann fort: »Die Gegensätze zwischen Zeitzier und
Guderian wurden schnell unwichtig (es läßt sich mit Sicherheit
feststellen, daß ab September 1943 Guderian in seiner Haltung
gegenüber Zeitzier nachsichtiger wurde - K. M.); das Gespräch
konzentrierte sich auf die Situation, die dadurch entstanden war, daß
Hitler den Oberbefehl über das Heer zwar übernommen hatte, ihn aber
nicht ausübte: die Interessen des Heeres müßten den zweiten
Wehrmachtsteilen und der SS gegenüber energischer vertreten werden,
meinte Zeitzier.«
Kurz gesagt: die beiden Generäle stimmten in der Ansicht überein,
Hitler müsse dazu gebracht werden, weniger parteiisch zu sein und für
den Posten des Oberbefehlshabers jemanden zu ernennen, der
persönlichen Kontakt zu den Kommandeuren an der Front pflege und
sich um die Bedürfnisse der Truppen kümmere. Man vereinbarte, daß
Speer und Guderian unabhängig voneinander mit Hitler über dieses
Thema sprechen sollten, aber unglücklicherweise wußten beide nicht,
daß sowohl Kluge als auch Manstein vor kurzem genau das gleiche
getan hatten. Hitler schloß fälschlich daraus, alle vier trieben ein
abgekartetes Spiel, was sie natürlich dem Sinn nach taten. Tresckow
hatte bereits bei Guderian vorgefühlt, wahrscheinlich auf Geheiß Kluges,
um festzustellen, ob eine Aussöhnung zwischen den alten Widersachern
möglich war, die einen ersten Schritt für ein gemeinsames Einwirken auf
Hitler beim Versuch, eine Verminderung seiner Macht zu erreichen,
darstellen sollte. Guderian hatte abgelehnt wegen der »genauen
Kenntnis des schwankenden Charakters des Feldmarschalls von
Kluge...«
Es ist gut möglich, daß Tresckow als einer der Hauptverschwörer
Kluge hart zugesetzt hatte, dies Angebot zu machen (wie er es ohnehin
tun mußte, um Kluge zu bewegen, überhaupt Widerstand zu leisten),
aber Guderian könnte trotzdem einen Fehler begangen haben, als er
den Vorschlag ablehnte, wenn auch seine Beurteilung des
unentschlossenen Kluge richtig war. Zu diesem Zeitpunkt hätten die
vereinten Bemühungen der höchsten Befehlshaber der deutschen
Wehrmacht vielleicht die kommende Tragödie noch abwenden können,
so aussichtslos auch die Hoffnungen sein mochten. Guderian indessen
fühlte sich gezwungen, auf eigene Faust vorzugehen. Gewohnt, bei
seinen Vorgesetzten und Kollegen auf Ablehnung zu stoßen, rechnete er
kaum damit, innerhalb der Hierarchie bleibende Verbündete zu
gewinnen.
Die bedrückende Atmosphäre von Intrige und Umständlichkeit, die
Hitlers Hauptquartier erfüllte, prägte auch die dortige Stimmung.
Innerhalb dieser Wände waren persönliche Beziehungen ebenso
schwankend wie die Politik. Loyalität und Beständigkeit mußte man mit
der Lupe suchen. Widersprüchliche Beurteilungen waren mehr Regel als
Ausnahme. Im Jahre 1943 herrschte in den allerinnersten Kreisen der
Macht die ziemlich starke einhellige Meinung vor, daß Guderian, wie
Warlimont es mir gegenüber schilderte, »politisch einen stärkeren
Anschluß an die Partei suchte, als es unter den Offizieren üblich war«.
Dies wird zu einem großen Maß von Goebbels in seinem Tagebuch
bestätigt. Am 6. März 1943 zitierte er Seyß-Inquarts Ausspruch: »Unsere
Generalität wird manchmal etwas schwach in den Knien« und fügte
hinzu: »Das bestätigt mir auch eine ausgedehnte Unterredung mit
Generaloberst Guderian... Wir sprechen uns ausführlich über die
Mißstände in der Wehrmacht aus. Guderian ist einer der schärfsten
Kritiker dieser offenbaren Schäden. Guderian macht einen
außerordentlich frischen und aufgeweckten Eindruck. Er hat ein klares,
vernünftiges Urteil und ist mit gesundem Menschenverstand gesegnet.
Mit ihm werde ich sicherlich gut arbeiten können. Jedenfalls sage ich ihm
meine vollste Unterstützung zu.«
Nach eigener Darstellung versuchte Guderian, Goebbels dazu zu
bewegen, auf Hitler einzuwirken und Wilhelm Keitel als Chef des
Wehrmachtsgeneralstabes durch einen Offizier zu ersetzen, »der
operativ zu führen verstünde und dieser Aufgabe besser gewachsen sei
als Feldmarschall Keitel«, doch aus diesem Treffen ergab sich nichts von
Bedeutung. Goebbels zählte nie zu denjenigen, die den Führer
verärgerten. Genausowenig Erfolg hatte Guderian bei einer anderen
Besprechung mit Goebbels am 27. Juli. In dessen Tagebuch liest sich
das so: »Er schildert mir seine Sorgen über die gegenwärtige Kriegslage.
Er plädiert für neue Schwerpunktbildung. Wir dürfen nicht an allen
Fronten aktiv werden. Er beklagt sich über die Inaktivität des OKW. Dort
sei kein einziger führender Kopf zu entdecken. Guderian machte bei
dieser Unterredung wieder den besten Eindruck. Jedenfalls ist er ein
glühender und uneingeschränkter Anhänger des Führers.«
Es ist möglich, daß der ansonsten so offene Guderian den heiklen
Versuch unternahm, die nationalsozialistische Führung aufzusplittern,
indem er geringe Dosen des Hitlerschen Virus einsetzte - ein paar süße
Worte hier, ein bißchen Gift dort, alles in der Absicht, Hitler von allen
Seiten unter Druck zu setzen und so seine eigene Stellung zu
verbessern. Er versuchte sogar, auf Himmler Einfluß zu nehmen. Göring,
der »nicht gern arbeitete«, suchte er nicht auf. Innerhalb eines Jahres
sollte Goebbels in einem entscheidenden Augenblick eine kraß
unterschiedliche
Meinung
von
dem
Generalinspekteur
der
Panzertruppen bekunden, doch das war in einem Augenblick, als das
ganze Kartenhaus der Nationalsozialisten einzustürzen drohte. Es
stimmt unzweifelhaft, daß Guderian sich selbst als den Mann sah, dem
es noch gelingen konnte, das Heer und die Nation zu retten.
In der Zwischenzeit war jegliche Hoffnung verflogen, sofern es jemals
eine gegeben hatte, »eine neue Schwerpunktbildung« vorzunehmen.
Deutschland hatte die Initiative lange Zeit vor dem Desaster von Kursk
eingebüßt. Die Zerschlagung des letzten deutschen Brückenkopfes bei
Tunis am 12. Mai hatte das Sprungbrett dargestellt, von dem aus im Juli
die Engländer und Amerikaner mit der Invasion Siziliens begonnen
hatten, ein Ereignis, das Hitler bewogen hatte, die Offensive vor Kursk
abzublasen. Die Absetzung Mussolinis folgte und im September die
Landung der Alliierten in Italien zu einem Zeitpunkt, als Deutschlands
Hauptverbündeter bereits um Frieden bat. Ein Partisanenkrieg, der seit
1941 auf dem Balkan flackerte und jetzt in helle Flammen ausbrach,
machte den Einsatz starker deutscher Truppenverbände notwendig, die
ein riesiges Gebiet befrieden und gleichzeitig eine alliierte Invasion
verhindern sollten.
In der Sowjetunion rollten die Wogen einer fast unaufhaltsamen Flut
von Offensiven in Richtung Westen und ließen die deutschen
Heeresverbände und Einheiten untergehen, deren Kampfkraft
inzwischen zwar wiederhergestellt worden war, aber deren richtiger
Einsatz immer wieder an Hitlers Verbot, Gelände preiszugeben,
scheiterte. Eine beginnende Unfähigkeit Hitlers, einzusehen, daß
Mobilität ebenso ein Teil der Verteidigung wie des Angriffs war, hinderte
ihn daran, seinen Befehlshabern zu gestatten, die volle
Leistungsfähigkeit der Panzerdivisionen zu nutzen, die, wenn sie
gelegentlich
die
Möglichkeit
dazu
erhielten,
hervorragende
Verteidigungskraft bewiesen hatten.
Die Panzerdivisionen wurden gezwungen, die defensive Rolle zu
spielen, die Seeckt und Guderian ursprünglich den zahlenmäßig
begrenzten deutschen Streitkräften zugedacht hatten - Operieren aus
der Tiefe mit wendiger Zielsetzung, um den Gegner in einem vom
Verteidiger gewählten Gelände zu vernichten. Mehr noch: das deutsche
Heer in Rußland war den ganzen Sommer des Jahres 1943 über weitaus
besser in der Lage, das zu erreichen, wovon man in den zwanziger
Jahren geträumt hatte. Es verfügte nicht nur über genügend Raum, um
eine unbegrenzte Anzahl von taktischen Varianten anzuwenden,
sondern auch seine Beweglichkeit und Schlagkraft war sehr viel höher
als alles bisher Dagewesene. Die neuen Richtlinien, die damals vom
Stab des Generalinspekteurs erlassen wurden, gingen aus von den
Bedingungen des Schlagens aus der Nachhand, das sich auf vorherige
sorgfältige Aufklärung stützte. In dieser Hinsicht löste der Abbau der
Aufklärungsabteilungen nach 1941 tiefe Enttäuschung bei Guderian aus
und veranlaßte ihn, energisch ihre Bedeutung zu unterstreichen. Mit Hilfe
dieser Erdaufklärung konnte in Zusammenarbeit mit Fliegern jeder
feindliche Vorstoß beobachtet und verfolgt werden. Wenn Stärke und
Richtung jeder Bedrohung bestätigt waren, war es Aufgabe der
Infanteriedivisionen, mit Hilfe von Geschützen auf Selbstfahrlafetten
lebenswichtige Punkte zu halten. Dann konnten die Panzerdivisionen mit
vollem Tempo zu Schlüsselstellungen, vorzugsweise in der Flanke,
vorstoßen, aus denen heraus sie zunächst den Feind zersprengten, wie
in einem Hinterhalt, und dann zwischen den zerschlagenen Resten
herumfuhren, um ihnen den Gnadenstoß zu versetzen. Danach sollten
sich die Panzerdivisionen zurückziehen, um bereitzustehen und bei der
nächsten feindlichen Bedrohung einzugreifen.
Leider schaltete sich Hitler allzuoft ein und störte die anlaufenden
Operationen. Dadurch wurden sie entweder zu lange hinausgezögert
oder zu früh begonnen und ihre Wirkung vermindert. Befehle für den
Panzereinsatz können eben nur an der Front gegeben werden. Oder
aber Hitler opferte nach einem Erfolg den Vorteil wieder, indem er gegen
eine anschließende Neugruppierung Einspruch erhob oder angesichts
des gewonnenen Patts eine Entscheidung zu lange hinauszögerte. So
ließ er unweigerlich ökonomische Pläne durch Zeitvergeudung
unwirksam werden.
Guderian faßte seine Eindrücke so zusammen: »Die unglücklichen
und verlustreichen Kämpfe des Jahres 1943 hatten alle Bestrebungen
zur Hebung der Kampfkraft der Panzerdivisionen vereitelt. Lediglich die
Güte der einzelnen Panzer konnte verbessert werden. Die Zahl der
Panzer
sank
erheblich.
Im
September
1943
besaßen
14 Panzerdivisionen je eine Panzerabteilung, acht Panzerdivisionen je
zwei
Panzerabteilungen,
zwei
Panzerdivisionen
je
drei
Panzerabteilungen und zehn Panzergrenadierdivisionen je eine mit
Sturmgeschützen bewaffnete Panzerabteilung. Die Sollstärke der
Kompanien war zwar auf 22 Panzer festgesetzt, konnte aber tatsächlich
nur auf 17 gebracht werden.«
Andererseits stellte Guderian die stark erhöhte Schlagkraft der neuen,
präziseren Geschütze mit hoher Anfangsgeschwindigkeit zu wenig
heraus und verschweigt auch, daß bei der Ausbildung sehr viel mehr
Wert darauf gelegt wurde, die Treffsicherheit der Schützen zu erhöhen.
Vor 1939 war das Panzerschießwesen stark vernachlässigt worden.
Jetzt wurde viel mehr Zeit und Mühe darauf verwendet, die
Schießtechnik zu verbessern. Man übte dabei besonders das
Scharfschießen auf realistischen Gefechtsschießbahnen. Künftig trafen
die deutschen Richtschützen präziser als ihre Gegner, und diese
Fähigkeit ist, in Verbindung mit verbesserter Ausrüstung und den
vorhandenen taktischen Fertigkeiten, zu den größten Errungenschaften
der Generalinspektion unter Guderian zu rechnen. Ohne diese
erstaunliche Leistung an Organisation und Inspiration wäre das deutsche
Heer viel früher zusammengebrochen, als es tatsächlich geschah.
In zunehmendem Maß machte sich Guderian Gedanken über das
Funktionieren der obersten Führung und begann, stark an den
Fähigkeiten des Führers zu zweifeln, obwohl er zunächst noch weit
davon entfernt war. Erwin Rommel hatte zum Beispiel bereits im
November 1942 das Vertrauen in Hitler verloren, als der ihm untersagt
hatte, eine verlorene Stellung bei El Alamein aufzugeben. Nachdem
dadurch eine Reihe völlig unnötiger Verluste eingetreten war, hatte
Rommel kein Blatt vor den Mund genommen, Hitler kritisiert und war
deshalb aus Afrika abgezogen worden. Er stellte jetzt für den Führer eine
Quelle des Unbehagens dar, doch fühlte sich Hitler verpflichtet, an
seinem höchstdekorierten und von der Propaganda der Öffentlichkeit am
häufigsten präsentierten General festzuhalten. Rommel erhielt
bedeutungslose Beschäftigungen, eine Berufung in den persönlichen
Stab des Führers und später die Aufgabe, die Pläne für den Fall einer
Kapitulation Italiens zu überarbeiten. Aber erneut enttäuschte Rommel
Hitler, weil er verlangte, Italien aufzugeben und statt dessen die
Verteidigung Süddeutschlands in die Alpen zu verlegen. So ging der
Posten eines Oberbefehlshabers für Italien nicht an Rommel, sondern an
Albert Kesselring von der Luftwaffe, der zugänglicher war.
Diese Ereignisse interpretierte Guderian auf die ihm eigene Weise
und setzte sie in Verbindung zu einem weiteren schwerwiegenden
Fehler, den Hitler sich anschickte zu begehen - einem schlecht
vorbereiteten Gegenangriff bei Kiew im November. Am 9. November,
dem Tag, an dem Hitler diese Operation vorschlug, schrieb Guderian
einen Brief an Gretel, in dem er deutlich seine Ahnungen zum Ausdruck
bringt und übrigens in den gleichen enttäuschten Ton verfällt, der in
seinen Erinnerungen die Schilderung dieser Zeit kennzeichnet.
Unter Hinweis auf die ernste Lage an der Front und die Tatsache, daß
»die Erkenntnis der wahren Lage damit nicht Schritt hält und die Folge
ein fortgesetztes Nachhinken mit den Entschlüssen ist...«, fuhr er fort:
»Wie lange ich unter diesen Umständen mein Amt noch weiterführen
kann, ist im Augenblick nicht zu übersehen. Allzu optimistisch bin ich in
dieser Hinsicht nicht. Wenn ich bedenke, daß Ro(mmel) wegen eines an
sich richtigen Vorschlags seine Heeresgruppe abgeben mußte, habe ich
nicht allzuviel Hoffnung, daß es mir besser ergehen wird. Trotzdem
stehe ich in diesen Stunden vor der Notwendigkeit, mich kritisch äußern
zu müssen, wenn ich mich nicht vor der Truppe und vor mir selbst einer
Unterlassungssünde schuldig machen will, was ich mir später nie
verzeihen könnte. Kneife also den Daumen, daß es gutgehen möge!«
Dies war der Geist von Bartenstein aus dem Jahre 1919, und so
sahen die Gefühle eines Mannes aus, der willens war, sich selbst für die
Sache seines Landes zu opfern. Wenn auch sein Einschwenken auf
diese Linie ziemlich spät erfolgt sein mag (offensichtlich ein ganzes Jahr
nach Rommel), so kann man dem entgegenhalten, daß Rommel volle
18 Monate unter Hitlers direktem Befehl litt, bevor er die Zuversicht
verlor, während Guderian kaum sechs Monate brauchte, um zur gleichen
Erkenntnis zu gelangen. Ein Vergleich zwischen dem Verhalten von
Rommel und Guderian ist zweifellos angebracht. Jeder der beiden
Männer war nach hervorragenden Schlachterfolgen in der Öffentlichkeit
in den überschwenglichsten Tönen gefeiert worden; jeder war auf seine
Weise fotogen und ein dankbarer Gegenstand für die Propagandaleute;
keiner von ihnen erhob Einwände gegen einen Platz im Rampenlicht.
Doch Rommel, der kämpfende Soldat par excellence, hatte nicht die
gleiche Voraussicht wie Guderian und besaß noch weniger ein Talent für
Organisation und Verwaltung.
»Vor dem Krieg«, so sagt Ronald Lewin in seinem Buch Rommel as
Military Commander, »hatte seine Karriere einen beständigen, aber
konventionellen Aufwärtstrend«. Rommel hätte niemals die voller
Einsichtsreichtum steckende Panzertruppe ersinnen und mit all ihren
Verzweigungen durchsetzen können und wohl auch nicht das Talent für
derart geschickte Verhandlungen besessen. Aber er war eben nicht als
Generalstabsoffizier ausgebildet worden, und seine Operationen im
Krieg hingen viel mehr an einem Faden als die Guderians. Beide waren
selbstverständlich Männer mit unvergleichlicher Erkenntnis der
Anforderungen und Möglichkeiten an der Front und großartige Taktiker,
obwohl der besser ausgebildete Guderian die Risiken gründlicher
abwog, und in dem Bestreben, seine Auffassung bei Verhandlungen
durchzusetzen, diplomatisches Geschick entwickelte sowie, falls
erforderlich, die Geduld besaß, einmal nachzugeben oder eine
günstigere Gelegenheit abzuwarten. Guderian war es auch, der einmal
ironisch und zugleich betrübt Rommel (den er bewunderte) so
charakterisierte: »Er wollte immer seinen eigenen Willen durchsetzen.«
Sie waren sich einig in ihren Ideen, ein Preuße und ein Schwabe - beide
hatten die gleiche Einstellung zur Unverletzlichkeit des Eides und der
Ehre, beide scheuten nicht vor Kritik an Hitler zurück (obwohl Rommel
weitaus indiskreter dabei vorging), waren aber dagegen, ihn gewaltsam
zu beseitigen. Ein Attentat stand dabei für beide völlig außer Frage.
Guderians Verhandlungsmethoden werden gut erhellt durch seine
Gespräche mit führenden Persönlichkeiten, als er versuchte, den Einfluß
Hitlers auf das Heer herabzusetzen. Wie seine strategischen und
taktischen Maßnahmen eröffnete er sie mit indirekten Vorstößen, schloß
sie jedoch mit Forderungen, die wie Hammerschläge wirkten und direkt
das Ziel trafen. Nachdem er sich des Wohlwollens von Speer und
Dietrich versichert hatte und zumindest auf gutem Fuß mit Goebbels
stand (während er Göring überging, den er wegen seiner Faulheit für
wenig brauchbar hielt), begann er bei Himmler zu sondieren, »stieß aber
auf eine undurchsichtige Haltung«. Das war kaum überraschend bei
einem Mann, den man als tödlichsten Feind des Heeres bezeichnen
konnte. Wahrscheinlich war sich Guderian darüber vorher nicht im klaren
gewesen. Trotzdem beweist er dadurch, daß er zuerst Himmler
aufsuchte, politischen Realismus, sah er doch in der Person des
Reichsführers SS den mächtigsten Mann nach Hitler.
Nachdem er an der Spitze gescheitert war, stieg er eine Stufe tiefer.
Wenige Tage darauf begab er sich zu Jodl und legte ihm einen
Vorschlag für eine Reorganisation des Oberbefehls vor, dessen
Hauptinhalt darauf abzielte, daß Hitler nicht mehr die tatsächliche
Leitung der Operationen ausüben sollte, sondern »... auf sein
eigentliches Betätigungsfeld, die Oberleitung der Politik und
Kriegführung, beschränkt worden wäre«. Obwohl er annehmen mußte,
daß diese Vorschläge Hitler zu Ohren kommen würden, und in voller
Erkenntnis der Reaktion des Führers war, legte Guderian mutig seinen
eigenen Kopf auf den Richtblock. Das Ende dieses Gesprächs mag für
ihn eine Überraschung gewesen sein. Jodl, der ein Anhänger der
uneingeschränkten Führung durch das OKW und von unerschütterlicher
Loyalität gegenüber Hitler war, setzte lediglich eine undurchdringliche
Miene auf und fragte: »Wissen Sie einen besseren Obersten
Befehlshaber als Adolf Hitler?« Guderian schildert, daß er daraufhin
seine Papiere zusammenpackte und das Zimmer verließ.
Aber obwohl dieses Verhalten von verärgertem Ungestüm zeugte,
war nichts Ungestümes an seiner Forderung, wenn es auch ohne Zweifel
manch einen in der Hierarchie gab, der es dafür hielt, weil das eben ihre
gewöhnliche Beurteilung von Guderians normalem Verhalten war. Er
wäre außerordentlich naiv gewesen, wenn er nicht angenommen hätte,
daß Hitler ein Bericht über sein Vorgehen vorgelegt würde. Daher
wartete er nun auf seine Entlassung. Aber nichts geschah fürs erste; er
durfte die Auffrischung der Panzertruppen fortsetzen und nach Belieben
seinen Einfluß auf ein verfallendes System geltend machen. Ob Himmler
oder Jodl Guderians Bemerkungen weitergegeben hatten oder nicht jedenfalls kam von Hitler nichts als Schweigen.
In der Tat gab es außer Guderian keinen anderen General, von dem
Hitler einen solchen Affront eingesteckt und ihn trotzdem nicht entlassen
hätte. Im Januar 1944 schuf er sogar die Möglichkeit, das Thema einer
neuen Handhabung des militärischen Oberbefehls zu diskutieren, als er
Guderian zu einem privaten Frühstück einlud. Die Diskussion begann mit
einem Streit über die Zweckmäßigkeit der Errichtung starker rückwärtiger
Verteidigungszonen an der Ostfront. Hitler argumentierte mit einem
Schwall von Zahlen, die er auswendig gelernt hatte, daß dies nicht
möglich war. Guderian bestand darauf, daß man es bewerkstelligen
konnte. Das Gespräch berührte dann das Problem des Oberbefehls. Wir
haben nur Guderian als Zeugen für das, was jemals über diese
Unterredung unter vier Augen bekannt wurde, aber es hat den Anschein,
als habe er davon Abstand genommen, Hitler ins Gesicht zu sagen, er
möge seine Vollmachten einschränken, »da meine Vorschläge auf
direktem Weg gescheitert waren«. Statt dessen schlug er vor, Hitler
möge einen General seines Vertrauens zum Generalstabschef der
Wehrmacht ernennen. Natürlich erkannte Hitler darin den nur schlecht
verhüllten Versuch, seine eigenen Funktionen zu beschneiden, und
lehnte ihn, wie vorauszusehen war, ab.
Guderian schloß daraus, daß es überhaupt keinen General mehr gab,
dem Hitler traute, und begann sich selbst die Frage vorzulegen: An wen
würde sich Hitler später um Hilfe bei der Führung des Heeres wenden:
einen Soldaten, einen Flieger oder ein völlig unqualifiziertes
Parteimitglied? Konnte es vielleicht ein Soldat sein, der nach außen hin
loyal zu Hitler, aber trotzdem Deutschland völlig ergeben war?
Eine dumpfe Atmosphäre des Verhängnisses belastete Deutschland.
Luftangriffe brachten bei Tag und Nacht Tod und Zerstörung, während
die Nachrichten von den immer weiter zurückverlegten Fronten ein noch
furchtbareres Schicksal verhießen, sobald die feindlichen Armeen
Deutschland erreichten, was sie noch im gleichen Jahr tun mußten,
wenn nicht ein Wunder geschah. Angesichts der bevorstehenden
Invasion im Westen würde sich die Zahl der Fronten erhöhen und das
ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, als Deutschland schon seine letzten
Reserven aufbot. Mit diesen schrecklichen Erwartungen vor Augen und
in dem Bewußtsein, daß der Mann am Steuer nicht dazu gebracht
werden konnte, einen anderen Kurs einzuschlagen, machten sich
diejenigen, die seine Entfernung betrieben, noch verzweifelter ans Werk,
um ihr Ziel auf verschiedenen Wegen zu erreichen.
Die aktivste Gruppe der Verschwörer, die Beck anführte, hatte neue
Kraft gewonnen, als ihr im Mai 1943 als führender Kopf ein Mann
beigetreten war, der 1941 versucht hatte, Guderian zum
Oberbefehlshaber zu machen: der fanatische Nazigegner Oberst Claus
von Stauffenberg. Obwohl er seit 1941 mehrfach verwundet worden war,
ging dieser ausgezeichnete Generalstabsoffizier mit Überlegung an die
detaillierte Vorbereitung eines Staatsstreichs, der eine Übernahme der
Regierungsgewalt durch die Armee vorsah, nachdem zuvor Hitler einem
Anschlag zum Opfer gefallen und die führenden Mitglieder der Partei und
natürlich auch der SS verhaftet worden waren. Als Deckmantel für den
Putsch wurde ein Plan - genannt »Unternehmen Walküre« - ersonnen,
demzufolge die Wehrmacht mit einer Meuterei der SS oder Unruhen
unter den in Deutschland tätigen Fremdarbeitern fertigwerden mußte. Es
war nicht zu vermeiden, daß außer dem inneren Kreis der Verschwörer
eine Menge Leute am Rand ins Vertrauen gezogen werden mußten. Die
Folge war, daß das Risiko einer Aufdeckung im Interesse der Erzielung
einer weitreichenden Wirkung der Verschwörung sich vergrößerte, denn
diejenigen Generäle, die man für regimetreu hielt, durften unter keinen
Umständen etwas erfahren.
Es ist bezeichnend, daß ohne Rücksicht auf das, was Goebbels von
Guderian annahm, die Verschwörer ihm eine politische Einstellung
dieser Art nicht glaubten. Er wurde ständig an ihr Vorhandensein
erinnert, nicht nur durch die sporadischen Kontakte zu Goerdeler,
sondern auch durch Thomale. Denn obwohl sich weder Guderian noch
Thomale zu einer Mitwisserschaft bekennen, liegt eine Bemerkung vor,
die Thomale im August 1943 gegenüber einem Mitglied des inneren
Rings der Verschwörer, Generalmajor Helmuth Stieff, fallen ließ:
»Guderian weigerte sich ausdrücklich, an der Verschwörung
teilzunehmen, weil eine direkte Aktion gegen Hitler verlangt würde.«
Ferner war es Thomale, der die Begegnung Tresckows mit Guderian in
der Wohnung des letzteren herbeigeführt hatte, und Thomale war auch
derjenige, der Tresckow geraten hatte, Kluges Beteiligung an der
Verschwörung nicht zu erwähnen. Aber, um mit den Worten von
Guderians Sohn zu sprechen: »Tresckow nannte den Namen Kluge und
mein Vater explodierte in seinem Krankenbett... Damit war die
Diskussion zu Ende.« Es ist somit klar, daß Thomale bis zu einem
gewissen Grad eingeweiht war und auch das Dilemma seines Chefs sah
- die Gewissensbisse wegen seines Treueeides auf Hitler und das
Bewußtsein, Komplize eines Mordes zu sein; das insgeheime Abwägen,
ob die Pläne der Putschisten überhaupt durchführbar waren, und für den
Fall, daß sie fehlschlagen, die schreckliche Vorstellung, welcher
Schaden entstehen würde. Es wäre merkwürdig, ja unmöglich gewesen,
wenn die Beziehungen zwischen einem Befehlshaber und seinem Chef
des Stabes anders ausgesehen hätten.
Und wieder geriet Guderian mit Hitler in Kollision. Aus seinem
Mißfallen über »Hexenjagden« auf Generäle, die an der Front versagt
hatten - oder den Anschein erweckt hatten -, machte er kein Geheimnis.
Auf diese Weise trug er zum Widerstand bei (vielleicht ohne es zu
wollen). Er zögerte Ermittlungen solcher Art hinaus, für die er die
Verantwortung trug. Was die Strategie an den Fronten anging, so sprach
er sich nicht nur scharf gegen die gegenwärtig unternommenen
Operationen in der Sowjetunion aus, sondern lehnte auch entschieden
die Verteidigungsvorbereitungen in Frankreich ab, wo Hitler Rommel in
seinem Bemühen bestärkte, die beweglichen Truppen in der Nähe der
Küste aufzustellen. Guderian trat für Rundstedts Ansicht ein, der unter
dem Einfluß von Geyrs diese Truppen in Zentralfrankreich in Bereitschaft
halten wollte. Das Ergebnis war ein Kompromiß zwischen beiden
Auffassungen, die beide ihre Vor- und Nachteile hatten, weil das
Argument, die Panzertruppe müsse nahe der Küste stehen, auf
Rommels Furcht vor alliierten Luftangriffen basierte. Damit hatte
Guderian weit weniger Erfahrung als Rommel, obwohl er zugibt, mit
eigenen Augen beobachtet zu haben, wie feindliche Flugzeuge im
Westen unbehindert die Ausbildungszentren überflogen und nach
Belieben mit Bomben belegten.
Eine Tragödie für Rommel bahnte sich an. Innerlich war er bereits
entschlossen zu versuchen, separate Waffenstillstandsbedingungen im
Westen auszuhandeln und eine Lücke für die Alliierten zu öffnen.
Darüber hinaus hatte er auch Kontakte zu den wichtigsten Verschwörern
aufgenommen. Während er etwas doppeldeutig in seinen Antworten war,
hatte er ihnen erklärt: »Ich glaube an meine Pflicht, Deutschland zu
retten.« Daraus schlossen die Verschwörer, daß er bereit war, in einer
künftigen deutschen Regierung ein hohes Amt zu übernehmen und,
obwohl er widersprüchliche Aussagen in diesem Punkt gibt, scheint es
fast sicher zu sein, daß er sich dieser Gedankengänge bewußt war und
sie nicht vorderhand abwies.
Wovon er dagegen nichts ahnte und was er erst erfuhr, als es zu spät
war, war die Tatsache, daß seine ihn belastenden Worte schriftlich von
Goerdeler niedergelegt worden waren. Schließlich rüstete sich Rommel
zu einer Konfrontation mit Hitler, indem er dem Führer am 15. Juli einen
schlechterdings herausfordernden Bericht übersandte. Die alliierte
Invasion in der Normandie hatte am 6. Juni 1944 begonnen, und durch
die verzweifeltsten Bemühungen auf deutscher Seite war es gelungen,
sie bislang auf einen relativ schmalen Brückenkopf zu begrenzen.
Gegenüber Hitler erklärte Rommel nun mit Kluges Billigung (der zum
neuen Oberbefehlshaber West ernannt worden war): »Die Truppe
kämpft allerorts heldenmütig, jedoch der ungleiche Kampf neigt sich dem
Ende entgegen.« Zu seinem Chef des Stabes bemerkte er: »Ich habe
ihm (Hitler) jetzt die letzte Chance gegeben. Wenn er sie nicht
wahrnimmt, werden wir handeln« - womit er den Abschluß eines
separaten Waffenstillstandes an der Westfront meinte. Es steht
allerdings nicht fest, ob Kluge in diesen Teil des Planes eingeweiht
worden war. Soweit wäre Guderian nicht einmal allein gegangen,
geschweige denn mit Kluge.
Doch schon in den ersten Julitagen war von den führenden
Exponenten des Attentats eine separate und endgültige Entscheidung
getroffen worden. Der aus der Bedrohung durch eine mögliche
Aufdeckung resultierende Druck lastete schwer auf den Männern.
Alliierte Angriffe an allen Fronten schienen zu einem völligen
Zusammenbruch der Wehrmacht zu führen, und inzwischen waren noch
weitere Befehlshaber überzeugt, daß der Krieg verloren war. Diese
Offiziere, zu denen Rundstedt (der sein Kommando an Kluge abgegeben
hatte), Kluge selbst und Fromm, der Befehlshaber des Ersatzheeres in
Deutschland, gehörten, machten sich in weiser Voraussicht die
Einstellung Bocks zu eigen, der zunächst geäußert hatte: »Wenn Ihr
Erfolg habt, werde ich mich Euch anschließen, aber vorher habt Ihr keine
Hilfe von mir zu erwarten; wenn Ihr scheitert, muß Euch der Himmel
helfen, denn ich werde es nicht!«
Am 17. Juli wurde Rommel bei einem Luftangriff schwer verwundet
und war damit zu einer Beteiligung an der Verschwörung nicht mehr in
der Lage. Dadurch war eine Schlüsselfigur ausgeschaltet, ein Mann, der
als Propagandaidol die Bevölkerung zur Unterstützung der Verschwörer
hätte veranlassen können. Guderian war natürlich auch eine solche
Persönlichkeit. In den Erinnerungen heißt es, am 18. Juli sei »ein mir
früher bekannter« Luftwaffengeneral zu ihm gekommen und habe ihm
mitgeteilt, Kluge beabsichtige, ohne Wissen Hitlers einen
Waffenstillstand mit den Westmächten zu schließen. Soviel steht fest,
aber es ist nicht die ganze Wahrheit. Sein Informant war in Wirklichkeit
niemand anders als von Barsewisch, Guderians Verbindungsoffizier zur
Luftwaffe im Jahre 1941 in Rußland; der Mann, der Guderian 48mal zur
Front geflogen und der deshalb ein besonderes Verhältnis zu ihm hatte;
ein Offizier mit Ehre und Gewissen, der nach Guderians Entlassung auf
eigene Gefahr den Führer kritisiert hatte, indem er - in Guderians
Abwesenheit - ihm zu Ehren eine Parade veranstaltete und ihn in einer
Rede in Berlin von jeder Schuld freisprach; ein Offizier, der seither
ununterbrochen mit Guderian in Kontakt geblieben war und die
Einstellung seines alten Kommandeurs kannte, daß Hitler Deutschland
ins Verderben führte.
Barsewisch kam jetzt zu Guderian als Abgesandter der Verschwörer
(auf einen Vorschlag von Major Cäsar von Hofacker hin), um in letzter
Minute zu versuchen, Guderian dazu zu bringen, offenen Widerstand zu
leisten. Die Nachricht von der bevorstehenden Ermorderung Hitlers, die
Barsewisch ihm nun mitteilte, ohne das Datum zu nennen (weil die
endgültige Entscheidung vom 19. Juli noch bevorstand), erschütterte
Guderian gründlich. Aber sie fruchtete nichts. Obwohl er die Richtigkeit
der Überlegung Barsewischs zugab, nachdem sich die beiden Männer
bei einem vierstündigen Waldspaziergang außer Reichweite von
Ohrenzeugen ausgesprochen hatten, stand Guderian dennoch fest zu
seiner bekannten Einstellung, daß er nicht seinen Eid brechen könne
und seine Pflicht als Offizier tun müsse.
Jeder Hinweis darauf, daß das Attentat auf Hitler bei dem Gespräch
zwischen Guderian und Barsewisch überhaupt zur Sprache kam, fehlt in
Guderians Erinnerungen. Nur das Thema Waffenstillstand wird geschickt
dargestellt und die Überlegung daran angeknüpft, daß er, wenn er das
Gehörte Hitler meldete und die Information sich als falsch erwies,
»... Feldmarschall von Kluge zu Unrecht einem schweren und falschen
Verdacht aussetze... Behielt ich aber die Nachricht für mich..., dann
machte ich mich zum Mitschuldigen an den schlimmen Folgen, die sie
nach sich ziehen mußte«. Er fügte hinzu, daß er die Geschichte nicht
glauben konnte und sich zum Schweigen entschloß.
Dieser Aspekt der Bombenattentatsgeschichte, der bisher nicht
bekannt war, wirft ein flackerndes Licht auf Guderians Rolle. In einer
Beziehung - der Auslassung der ganzen Wahrheit aus seinen
Erinnerungen (vielleicht aus Gewissensbissen, aber ebensogut aus
echten »politischen« Beweggründen) - scheint er von seiner normalen
Verhaltensweise abzugehen. Aus einem anderen Blickwinkel gesehen ist
er voll in das Komplott verwickelt. Er wußte, welch ungeheuren Schaden
Hitler anrichtete, und er tat nichts, um die Ermordung Hitlers zu
verhindern, indem er entweder Barsewisch auf der Stelle verhaften ließ
oder die ganze Angelegenheit weitergab. Statt dessen verfolgte er eine
wohlüberlegte Politik, die sich den neuen Gegebenheiten anpaßte.
Innerhalb nur weniger Stunden beschloß er, offensichtlich unter dem
Einfluß
ungewöhnlicher
seelischer
Spannungen,
auf
eine
Inspektionsreise zu gehen, und brach am kommenden Tag, dem 19. Juli,
zu einem eilig zusammengestellten Besichtigungsprogramm bei
Einheiten auf, die (war es ein Zufall?) in Reichweite von entweder Berlin,
seinem Wohnsitz Deipenhof, Hitlers Hauptquartier, dem OKH und OKW
in Rastenburg oder der Generalinspektion in Lötzen stationiert waren.
Als er Panzerjäger in Allenstein besuchte, rief ihn Thomale an und erbat
seine Zustimmung zu einem Ersuchen General Olbrichts (inzwischen
einem der führenden Köpfe des Widerstandes), den Befehl zum
Abtransport der Panzerlehrtruppen von Berlin nach Ostpreußen zu
verschieben, damit sie am folgenden Tag an einer Übung im Rahmen
des »Unternehmens Walküre« teilnehmen konnten, das unter seinem
Decknamen Guderian nur als Übung zur Abwehr feindlicher
Luftlandungen oder innerer Unruhen bekannt war. Er gab »innerlich
widerstrebend« seine Zustimmung, was gut möglich war, da diese
Angaben ihn praktisch wissen ließen, daß der Anschlag auf Hitler für den
nächsten Tag vorgesehen war. Jeden Augenblick konnte er jetzt mit
Entscheidungen von außerordentlicher Tragweite konfrontiert werden.
Am nächsten Vormittag, dem 20. Juli, inspizierte er weitere Truppen
und begab sich dann nach Deipenhof. Um 12:50 Uhr explodierte eine
von Stauffenberg gelegte Bombe in Hitlers Konferenzraum und tötete
eine Anzahl von Offizieren (darunter Schmundt), verletzte den Führer
jedoch kaum. Ohne sich zu vergewissern und in der Annahme, Hitler sei
tot, flog Stauffenberg nach Berlin. Um 16 Uhr ließen die Verschwörer
dann ihren Plan anlaufen. Sie riefen telefonisch wie vereinbart bestimmte
Personen im Reich und in den besetzten Gebieten an und verlangten die
Verhaftung der Nazis. Aber zum Unglück für die Verschwörer arbeitete
die allerwichtigste Telefonzentrale weiter, die in Rastenburg, die General
Fellgiebel zerstören sollte (der führende Offizier für Fernmeldewesen im
OKW, dessen Leistung bei der Entwicklung der Fernmeldetechnik zu
ihrer jetzigen Höhe Guderians höchstes Lob gefunden hatte). Fellgiebel
hatte, als er feststellte, daß Hitler noch lebte, seine Aufgabe verpfuscht,
ohne seine Mitverschwörer zu instruieren, und enthüllte beiläufig auch
die Unfähigkeit von Generalstabsoffizieren für diese Art Arbeit, als er das
Schicksal des Unternehmens besiegelte.
Um 16 Uhr* war auch Guderian außer Reichweite. Er befand sich auf
einem langen Spaziergang weit entfernt von seinem Haus und jagte
einen Rehbock, während er das Gut inspizierte. Aus dieser Einsamkeit
wurde er durch einen Kraftradfahrer nach Hause geholt und gebeten, in
Kürze am Telefon ein Gespräch aus dem Führerhauptquartier
entgegenzunehmen. Kurz darauf hörte er im Radio von dem Attentat auf
Hitler.
*
Guderians Zeitangaben sind seiner eidesstattlichen Erklärung entnommen.
Man sollte Vermutungen (von denen es eine Menge gibt) nicht zuviel
Gewicht beimessen, obwohl vieles, was sich am 20. Juli ereignete, nur
auf Vermutungen beruht. Es muß jedoch Guderian wohlbekannt
gewesen sein, daß ein von ihm verehrter alter Kommandeur in kritischen
Augenblicken, wenn er nicht erreicht zu werden wünschte, einen
Spaziergang als Ausbruchsaktion unternahm. Dieser Befehlshaber war
Rüdiger Graf von der Goltz gewesen. Geht man von der Voraussetzung
aus, daß Guderian einen Hinweis auf ein bevorstehendes und
gefahrvolles Ereignis erhalten hatte und damit zugleich die Gewißheit,
daß in Kürze eine schwerwiegende Entscheidung von ihm verlangt
wurde, so war es wesentlich für ihn, daß er sich ein Maximum an Zeit
vorbehielt, um der Verschwörung Gelegenheit zu geben, sich zu
entwickeln. Unter diesem Vorzeichen hatte also der einsame
Spaziergang ein Beispiel in der Geschichte und stellte einen
ausgezeichneten Vorwand für eine nützliche Sicherheitsmaßnahme dar.
Als um Mitternacht Thomale am Telefon durchkam, war die
Verschwörung bereits zerschlagen und eine Entscheidung Guderians
nicht mehr erforderlich. Beck, Stauffenberg und einige der übrigen
Männer waren tot, weitere waren verhaftet worden. Den rachsüchtigen
Reden des Führers war zu entnehmen, daß kein auch nur entfernt an
der Verschwörung Beteiligter auf Gnade hoffen konnte, aber es war ja
auch nie daran zu zweifeln gewesen, daß der Preis für einen Fehlschlag
eine Massenvernichtung sein mußte.
Rommel hatte keine direkte Rolle gespielt, aber binnen kurzem sollte
seine Verbindung zu den Verschwörern aufgedeckt werden und hatte
sich, von Zweifeln geplagt, zurückgehalten, aber er war fatal in die
Ereignisse verwickelt und beging wenige Wochen später Selbstmord.
Vermutlich durch Glück, aber eher aufgrund der Vorsicht und der
sorgfältigen Überlegungen, die er seit einem Jahr zur Maxime seines
Handelns gemacht hatte, hatte es Guderian vermocht, sich der
Ansteckung zu entziehen. Und darüber hinaus hatte er es fertiggebracht,
sich selbst dadurch, daß er den Dingen nachging und gut informiert
blieb, ein hieb- und stichfestes Alibi zu verschaffen. Wäre es sein Ziel
gewesen, sich selbst für eine heilige Aufgabe - die Verteidigung
Deutschlands und der alten Wehrmacht - bereitzuhalten, hätte er es
nicht umsichtiger und geschickter anfangen können. Er sah keine
Notwendigkeit für Märtyrer und lehnte es ab, selbst in diese Rolle zu
schlüpfen.
Und dennoch hing sein Schicksal einen dramatischen Augenblick lang
an einem Faden. Als die Nachricht von dem Attentat Speer in seinem
Berliner Büro erreichte, war seine erste Annahme: »Ich dachte freilich
nicht daran, daß Stauffenberg, Ulbricht, Stieff und deren Kreis den
Putsch ausführten. Eher hätte ich dem cholerischen Temperament eines
Mannes wie Guderian eine solche Tat zugetraut.« Speer erinnert sich,
daß Goebbels und ein Major Remer sich bemühten, den Aufstand mit
den loyalen Truppen, die sie auftreiben konnten, niederzuschlagen.
In seiner Biographie ist ein melodramatisches Ereignis, das um
19 Uhr eintrat, so geschildert: »Der Erfolg war wieder in Frage gestellt,
als Goebbels kurz darauf gemeldet wurde, daß auf dem Fehrbelliner
Platz eine Panzerbrigade eingetroffen sei, die sich weigere, den
Befehlen Remers zu folgen. Sie unterstünde allein Generaloberst
Guderian: ,Wer nicht gehorcht, wird erschossen!' lautete die militärisch
knappe Auskunft. Ihre Gefechtskraft war so überlegen, daß von ihrer
Einstellung nicht nur das Schicksal der nächsten Stunde abhing.«
Diese Truppen waren natürlich im Rahmen der »Walküre«-Operation
alarmiert worden, um einen SS-Aufstand niederzuschlagen. Auch hatten
sie recht, wenn sie behaupteten, unter Guderians Befehl zu stehen, denn
das taten alle in der Heimat stationierten Panzereinheiten der
Dienstanweisung zufolge. Der Kommandeur dieser Einheit war darüber
hinaus noch von Thomale angewiesen worden, nur von Hitler, Keitel
oder Guderian Befehle entgegenzunehmen. In diesem Moment der
Verwirrung, als niemand Freund und Feind auseinanderhalten konnte,
waren plötzlich falsche Schlüsse unvermeidbar.
Speer schrieb: »Auch Goebbels und Remer hielten es für denkbar,
daß Guderian am Putsch beteiligt sei. Die Brigade wurde durch Oberst
Bollbrinker angeführt. Da ich mit ihm gut bekannt war, versuchte ich
telefonisch, den Kontakt mit ihm aufzunehmen. Die Auskunft war
beruhigend: die Panzer waren gekommen, um den Aufstand
niederzuschlagen.« Sie sagten natürlich nicht, welchen Aufstand, denn
sie kannten die Umstände nicht. Dies wirft die wichtige Frage nach der
Loyalität auf. Die Panzeroffiziere waren in jenem Augenblick bereitwillig
an einer Operation für Hitler beteiligt, aber sie nannten als erstes ihre
Zugehörigkeit zu Guderian, um so lieber vermutlich, da sie annehmen
mußten, daß er auf Seiten des Führers stand. Das unterstreicht nicht nur
die wesentliche Notwendigkeit für die Verschwörer, glaubwürdige
Heerführer auf ihrer Seite zu haben und nicht vergessene und in
Mißkredit geratene Männer vom Schlage Becks, sondern beweist auch,
wie recht jene hatten, die Guderian für eine mögliche Schlüsselfigur der
Krise hielten. Der Vorgang zeigt aber auch die Gültigkeit von Guderians
Feststellung: »Damals glaubte ein sehr großer Teil des deutschen
Volkes noch an Adolf Hitler.«
Ohne ihnen persönlich loyal ergebene Truppen hinter sich hatten die
Verschwörer überhaupt keine Chance. Und auch Guderians Gewicht,
wäre es, wie Barsewisch es forderte, in letzter Minute in die Waagschale
geworfen worden, hätte nichts mehr retten können. Das Komplott wäre
trotzdem Stümperei geblieben, und die Folge wäre gewesen, daß auch
Guderian hingerichtet und der Rolle beraubt worden wäre, in der er sich
für Deutschland sah.
In Rastenburg las Hitler die Trümmer auf und gab die Befehle, die zur
Abschlachtung der Andersdenkenden führten und dem Heer die letzten
Kränkungen zufügten. Soweit es Guderian anging, war es weder das
erste noch das letzte Mal, daß er von den Diensten seines Chefs des
Stabes profitierte, der ihm so unerschütterlich treu ergeben war wie zum
Beispiel seinerzeit Nehring. Es war Thomale, der am 20. Juli um 18 Uhr
als erster aufgefordert wurde, Guderians Abwesenheit zu begründen.
Und er war es auch, der eine Stunde später zum Führer befohlen wurde,
um weitere Fragen - zufriedenstellend - zu beantworten*. Er wurde
angewiesen, Guderian sofort zu instruieren, das OKH in Lötzen
aufzusuchen und die Geschäfte des Chefs des Generalstabes
wahrzunehmen. Das Schicksal hatte dabei seine Hand im Spiel, denn
Hitler hatte zuvor beschlossen, sich von Zeitzier zu trennen, dessen
Einwände zu stark wurden und ihn beunruhigten, und ihn durch General
Buhle zu ersetzen. Zeitzier war aus gesundheitlichen Gründen
zurückgetreten, aber Buhle war bei der Explosion der Bombe im
Führerhauptquartier verwundet worden und für die nächste Zeit
außerstande, einen Posten zu übernehmen.
*
Darstellung aufgrund einer von Thomale nach dem Krieg abgegebenen
eidesstattlichen Erklärung.
Ganz zufällig und aus dem zweiten Glied erreichte Guderian das, was
Warlimont »das langjährige Ziel seines Ehrgeizes« nennt. Warlimont
könnte in seiner Beurteilung recht gehabt haben, wenn er von einem
ambitiösen Mann sprach, doch, wie Guderian schreibt: »... eigentlich
könnten sich die Gerüchtemacher selber sagen, daß es nicht verlockend
war, sich im Juli 1944 freiwillig zur Bearbeitung der Angelegenheiten der
Ostfront zu drängen«. Denn da gab es Leute, die dem Klatsch Glauben
schenkten, wie es Schlabrendorff tat: »Als Guderian am Abend des 20.
Juli nach Mißlingen des Staatsstreichs zum Chef des Generalstabes des
Heeres ernannt wurde, war es allen Eingeweihten klar, wie sich
Guderian diesen Posten erschlichen hatte.« Die Tatsache, daß Buhle
schon für dieses Amt ausersehen war, spricht hinreichend gegen diese
Anschuldigungen, ohne daß es notwendig wäre, Guderians Verteidigung
anzuhören, der anführt, daß ihm befohlen wurde, diesen schweren
Posten anzunehmen, und gesteht: »Ich wäre in meinen eigenen Augen
ein Schuft und Feigling geworden, wenn ich nicht den Versuch
unternommen hätte, das Ostheer und die Heimat - Ostdeutschland - zu
retten.« Das waren Gründe genug, aber es gab noch einen weiteren,
den er erst später seiner Familie, Strik-Strikfeld und guten Freunden
anvertraute. Er hielt es für erforderlich zu verhindern, daß ein SS-Mann
Chef des Generalstabes wurde und sah die absolute Erfordernis, den
Exzessen Heinrich Himmlers und seiner Trabanten Einhalt zu gebieten,
als sie sich für den Mord an der alten Armee rüsteten.
Einen bezeichnenden Hinweis auf die innersten Gedanken und
Absichten Guderians enthält ein Brief Gretels vom 20. August 1944. Sie
schreibt darin: »Wir haben ja oft zusammen über diese gefürchtete
Entwicklung gesprochen und daß Dir dabei eine große Aufgabe zufallen
würde. So ist es nun gekommen. Auch daß wir in ernstester Stunde
getrennt sein würden und getrennt marschieren müßten, war uns klar.
So muß nun jeder auf seinem Posten aushalten und hoffen, daß wir in
einer nicht zu fernen und besseren Zeit wieder vereint und glücklich sein
können. Unser so selten inniges Verstehen und innerliches
Zusammenleben gibt mir auch die Kraft dazu. Die verbotenen Emotionen
werden sich leider auch fernerhin nicht vermeiden lassen, wenn ich
denke, was so alles auf Dich einstürmt, wird mir himmelangst. Ein
großes Glück ist die gute Zusammenarbeit mit dem Führer, Gott erhalte
Dir sein Vertrauen! Das ist zu allem die Grundlage...«
Dieser durch Boten zugestellte Brief wirkt notwendigerweise durch
seine Andeutungen reserviert, doch muß man bedenken, daß damals
jede briefliche Mitteilung gefährlich war. Aber es scheint ganz offenbar
zu sein, daß die Guderians gemeinsam ein Gespür für den Lauf der
Dinge gehabt und vorausgesehen hatten, daß er eines Tages Chef des
Generalstabes des Heeres werden würde. Die Anspielung auf
»verbotene Emotionen« bedarf der Erläuterung, betrifft aber, das kann
man mit fast an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit annehmen,
den Rat seines Arztes, Gefühlsaufwallung und Aufregungen in
Streßsituationen zu vermeiden. Die Hinweise auf Hitlers Vertrauen
bedeuten indessen keine enge Gefolgschaft Hitlers, sondern deuten
eher die Erfordernis an, sich an jeden Strohhalm zu klammern, um zu
überleben. Dieser Brief hätte natürlich auch als Ausdruck
unverbrüchlicher Treue zum Führer gelten können, wenn er in falsche
Hände geraten wäre. Nie zuvor, daran sollte man denken, kam der
Drang zum Überleben so stark bei Gretel zum Ausdruck wie in diesen
Zeilen.
10
DER LETZTE IN DER REIHE
Die Aufgabe, die Guderian als amtierenden Chef des Generalstabes
des Heeres erwartete, war unglaublich weitgesteckt und in ihrer
Ungeheuerlichkeit geradezu widersinnig. Eine Analyse seiner Pflichten,
denengegenüber die des Generalinspekteurs der Panzertruppen jetzt
ganz zurücktrat, gibt nur einen ungefähren Begriff davon, wie sehr die
Rolle des Generalstabschefs entwertet war. Erstens und militärisch hatte
Guderian die Verantwortung für den Ablauf der Operationen an der
Ostfront, wobei er einer immer lästiger werdenden Beaufsichtigung durch
Hitler und das OKW unterworfen war. Die entwürdigende zweite Auflage
bestand darin, daß er zum Mitglied des Ehrenhofs ernannt wurde, der
von Hitler eingesetzt worden war, um die Dossiers derjenigen Offiziere
zu untersuchen, die für Handlungen im Zusammenhang mit dem Putsch
verantwortlich gemacht wurden, und um sie aus dem Heer auszustoßen,
damit sie vor den Volksgerichtshof gestellt werden konnten. Hinzu
kamen als selbstauferlegte Pflichten seine Bemühungen, den Status des
Heeres und den des Generalstabes zu erhalten und weiteren Übergriffen
von Seiten des OKW und der SS im Bereich des OKH vorzubeugen;
außerdem jede erdenkliche Anstrengung, um Unschuldige oder nur am
Rand Beteiligte vor der Gestapo oder anderer summarischer Justiz zu
retten. Um Guderians Verbleiben zu garantieren, wurde ihm ausdrücklich
untersagt, seinen Rücktritt anzubieten, wie es Zeitzier nicht weniger als
fünfmal getan hatte!
Im Vergleich zu der Aufgabe Guderians war die des Herakles, den
Augiasstall zu säubern, eher leicht, denn dieser konnte immerhin einen
in der Nähe befindlichen Fluß nutzen, während die Guderian verfügbaren
Hilfsquellen auszutrocknen begannen. Auch hatte Herakles die Hände
frei, wogegen die Guderians gebunden waren und zudem seine Autorität
eingeschränkt war. Er konnte bitten, soviel er wollte, »... mir in allen
Dingen, welche den gesamten Generalstab angingen, ein Weisungsrecht
an alle Generalstabsoffiziere des Heeres zu verleihen«, Hitler, Himmler,
Keitel und Jodl waren auf die Abschaffung des Generalstabes aus und
gaben darin keinen Pardon. Andererseits fühlte Guderian sich
gezwungen, größere Zugeständnisse zu machen als irgendeiner seiner
Vorgänger.
Am 23. Juli erklärte er in einer Rundfunkansprache an das deutsche
Volk: »Einige wenige, teilweise außer Dienst befindliche Offiziere hatten
den Mut verloren und aus Feigheit und Schwäche den Weg der Schande
dem allein dem anständigen Soldaten geziemenden Weg der Pflicht und
Ehre vorgezogen. Volk und Heer stehen fest verbunden hinter dem
Führer! Ich bürge dem Führer und dem deutschen Volk für
Geschlossenheit der Generalität, des Offizierskorps und der Männer des
Heeres in dem einzigen Ziel der Erkämpfung des Sieges und unter dem
Wahlspruch, den der ehrwürdige Feldmarschall von Hindenburg uns oft
einprägte: ,Die Treue ist das Mark der Ehre!'«
Und am 29. Juli erließ er einen berüchtigten Befehl (von dem Görlitz
übertreibt, wenn er sagt, er habe »einen Riß durch das Offizierskorps
des Generalstabes bewirkt, der unheilbar wurde«) mit dem Wortlaut:
»Jeder Generalstabsoffizier muß ein NS-Führungsoffizier sein, das heißt,
er muß sich durch vorbildliche Haltung in politischen Fragen, durch tätige
Unterweisung und Belehrung jüngerer Kameraden im Sinne des Führers
auf dem politischen Gebiet ebenso als Angehöriger der ‚Auslese der
Besten' zeigen und bewähren wie auf dem Gebiet der Taktik und
Strategie.«
Um diese Zeit wurde auch der »Deutsche Gruß« auf Hitlers
Anweisung für die Wehrmacht vorgeschrieben. Daß ein Riß entstand, ist
nicht zu leugnen, obwohl wahrscheinlich richtiger gesagt werden muß,
daß er durch die sich überschlagenden Ereignisse nach dem 20. Juli und
nicht nur durch den Befehl vom 29. Juli verursacht war.
Weder die Rundfunkansprache noch dieser Befehl sind in Guderians
Erinnerungen erwähnt. Man kann annehmen, daß die Ansprache im
Radio auf Betreiben Goebbels' (und durch dessen dynamische Aktivität)
zustande kam und der letztere unter dem Druck Hitlers, dessen
Entrüstung über die Wehrmacht keine Grenzen kannte. Durch das
stillschweigende Übergehen in seinen Memoiren läßt Guderian sein
Mißbehagen an den Maßnahmen, zu denen er gedrängt wurde, deutlich
werden: hätte er sich zu einer Kommentierung bereitgefunden, so hätte
er es wahrscheinlich darauf abgestellt, daß das angestrebte Ziel die
Mittel gerechtfertigt habe. Es blieb ihm nur übrig, mit Hilfe
zurückhaltender Maßnahmen Zeit für Prestige einzuhandeln, um ein
militärisches Patt anzustreben, mit dessen Hilfe ein erträglicher Friede
erreicht werden konnte. Mit voller Absicht stellte er sein Land über die
eigene Person und die Wehrmacht - und erwies ausgerechnet dadurch
Hitler seinen womöglich größten persönlichen Dienst. Denn obgleich der
Führer und sein treuer Schatten Himmler (der anstelle Fromms zum
Befehlshaber des Ersatzheeres ernannt wurde) auf dem besten Weg
waren, die Wehrmacht durch die Waffen-SS zu ersetzen, waren ihre
Vorbereitungen noch nicht weit genug gediehen.
Unterdessen verabscheuten und beargwöhnten die Offiziere des
Heeres quer durch alle Reihen von Herzen ihre »Kameraden« von der
Partei. Indem sich Guderian im gegenwärtigen Zeitpunkt mit Armee und
Partei identifizierte, sicherte er Hitler die Loyalität des Heeres.
Wahrscheinlich gab es zu dieser Zeit keinen anderen aktiven Offizier
(außer Rundstedt), der dazu das nötige Prestige besaß. Guderian sah
nun einmal die Notwendigkeit einer völligen Wiederherstellung des OKH,
der Disziplinierung von Offizieren, die (im Schutz der neuen
nationalsozialistischen Atmosphäre) aufsässig wurden und der
Einbeziehung zuverlässiger Gefolgsleute aus der Vergangenheit in
seinen Stab, darunter Praun als Chef des Heeresnachrichtenwesens im
OKH und der begeisterungsfähige Generalleutnant Walter Wenck (der
1928 bei der Entwicklung der Panzertaktik mit ihm zusammengearbeitet
und ihn bei Sedan beflügelt hatte). Nach dem Attentat bestand ein
dringender Bedarf an Generalstabsoffizieren, die, wie Guderian forderte,
»täglich eine gute Idee haben sollten«.
Die üblichen Anfangszugeständnisse waren der Preis, der für die
Festigung von Guderians Position bei Hitler zu zahlen war. Offensichtlich
glaubte er an eine gewisse Chance für einen Umschwung. Am 30. Juli
hatte Gretel in einem Brief, der in der Hauptsache von zu Hause
handelte, geschrieben: »Mein Gefühl, daß man Dich eines Tages doch
an die verantwortungsvollste Stelle des Heeres rufen würde, hat sich nun
doch bewahrheitet. Möchte es Dir trotz der verteufelt schwierigen Lage
gelingen, die Horden der Bolschewisten dem Land fernzuhalten. Möge
vor allem das Vertrauen des Führers Dir erhalten bleiben und Du
dadurch die Möglichkeit haben, Dich voll auszuwirken.«
Es gab Gründe genug, des Führers Vertrauen in Zweifel zu ziehen:
ihn nahm jetzt niemand mehr beim Wort, und auch er traute keinem
mehr. Guderian hatte Gretel am 18. August geantwortet:
»Schwierigkeiten sind dazu da, überwunden zu werden. Darin besteht
meine tägliche Arbeit. Es ist allerdings darin sehr viel zu tun, und die
Erfolge sind vorerst spärlich. Ich hoffe, durch zähes Festhalten an
meinen Zielen durchzukommen. Es ist sehr schwer, jahrelange
Versäumnisse wiederaufzuholen.«
Im Grunde blieb nur noch die Hoffnung. Obwohl Guderian noch
zögerte, sich die totale Niederlage einzugestehen, erkannte er doch, daß
ein Sieg unmöglich war. Als er sein Amt antrat, war die Front in der
Normandie im Wanken, die in Italien im ständigen Rückzug begriffen,
während im Osten die russischen Armeen weite Gebiete überrannt
hatten, im Norden auf die baltischen Staaten zustießen, in der Mitte auf
Warschau und im Süden auf Rumänien. Alle vier Heeresgruppen in
Rußland befanden sich ebenso in Auflösung wie die im Westen. Zur
gleichen Zeit wurden deutsche Städte und Industrieanlagen durch
Luftangriffe in Trümmer gelegt. In dieser bestürzenden Lage war
bezeichnend für Guderians innerste Überzeugung von der
hereinbrechenden Katastrophe, daß er, um seinen Optimismus
wiederaufzurichten, auf ein Beispiel aus verzweifelter Vergangenheit
zurückgriff. Er nahm als Modell die Ereignisse des Jahres 1759 mit der
unglücklichen Schlacht von Kunersdorf und dem, was sich im Anschluß
ereignete. Damals hatte Friedrich der Große seine Abdankung erwogen,
schließlich aber die Situation gerettet, indem er durchhielt, bis wie durch
ein Wunder die russische Kaiserin starb und ihr Nachfolger den Krieg
beendete, als Preußen schon in den letzten Zügen lag. Im wesentlichen
erstreckte sich Guderians eigenes hoffnungslos optimistisches Kriegsziel
auf die Stabilisierung einer erstarkten Ostfront und den Abschluß eines
Friedens im Westen, der möglichst durch einen Teilerfolg begünstigt
werden sollte.
Typisch für jene Belastungen und Anspannungen von innen und
außen, die die Wiederherstellung der Front und Führungsmaßnahmen
erschwerten, war der Kampf um Polen, der sich im August und
September auf die Schlacht um Warschau konzentrierte. Am 1. August,
als die russischen Armeen, fast am Ende ihrer Kraft, nach einem Vorstoß
von 480 Kilometer Tiefe bis in die Nähe der polnischen Hauptstadt
vordrangen, erhob sich die polnische Untergrundarmee und zerschnitt
wichtige deutsche Nachschubverbindungen, während die Armeen vorn
im Kampf lagen.
Der Aufstand richtete sich jedoch nicht eigentlich gegen die
Deutschen, von denen man annahm, sie seien völlig geschlagen, als sie
anfingen, Warschau zu evakuieren; ohne diese Tatsache wäre die
Erhebung niemals befohlen worden. Die Polen versuchten in
Wirklichkeit, einen Prestigeerfolg zu erringen, um noch vor der Ankunft
der
Russen
ihre
politische
Existenz
zu
dokumentieren.
Nichtsdestoweniger konnten die Deutschen dabei nicht tatenlos
zusehen, besonders da Guderian sich anschickte, Kräfte zur
Verteidigung der Weichsel heranzuziehen. Damit stoppte er die
panikartige Räumung, die nach dem 22. Juli begonnen hatte, und
entsandte Verstärkungen gegen die Flanken der russischen Stoßkeile.
Er verlangte, daß die Stadt zur Operationszone des Heeres erklärt und
somit vom Generalgouverneur und der SS, die unter Himmler für jede Art
von Partisanenbekämpfung zuständig war, übergeben würde. Aber
Himmler, durch Hitler ermutigt, verweigerte die Übergabe und schickte
statt dessen am 5. August seinen Beauftragten für die
Bandenbekämpfung, den SS-Obergruppenführer Erich von dem BachZelewski, um den Kampf gegen die Polen aufzunehmen. Auf diese
Weise war die Befehlsgewalt zwischen der SS im Stadtkern und der
Armee in den Außenbezirken aufgeteilt.
Die Kämpfe, die über Warschau hereinbrachen, boten alle Härten der
Partisanenkriegführung und riefen die wildesten Kämpfer auf den Plan,
deren Vorläufer die Roten des Jahres 1917 und die Freikorps waren. Sie
hatten Rückwirkungen auch für Gretel: Mitte August erhielt sie eine
Warnung, daß einige Leute auf ihrem Gut der »Warschauer
Organisation« angehörten und ihr Schaden zufügen könnten. Sie
schrieb: »Ich bin nicht ängstlich, Liebster, schlafe jetzt auch noch unten
allein.«
Sie behielt ihren Wohnsitz dort, bis im Januar 1945 die Russen vor
der Tür standen. Hitler verlangte die Ausrottung der Polen und die
Zerstörung Warschaus, Anweisungen, denen Bach-Zelewski mit Absicht
nicht nachkam. Natürlich wußte Guderian um die gnadenlose
Partisanentätigkeit, die in wechselndem Umfang fast jeden Winkel
besetzten Feindesland unsicher machte, aber hier hatte er zum
erstenmal vom Oberkommando aus mit all ihren Erscheinungsformen zu
tun. Hätte er nicht vorher schon Kenntnis von den rigoros
durchgreifenden und mörderischen Vorschriften gegen die Partisanen
gehabt, die von Zeit zu Zeit von Hitler und dem OKW ausgegeben
wurden, so wäre ihm spätestens jetzt jeder Zweifel an der Verderbtheit
beider Seiten genommen worden. In den Kriegsverbrecherprozessen
nach 1945 sollte die Schuldigen an der Schreckenszeit in Warschau ihre
Strafe erwarten. Guderian als Chef des Generalstabes des Heeres war
unter denen, die die Polen in ihre Hände bekommen wollten. Es trifft zu,
daß Einheiten der Armee in den Straßen Warschaus unter der Leitung
von Bach-Zelewski kämpften, und natürlich war es das Heer unter dem
Befehl Guderians, das die Russen vor Warschau zum Stehen brachte
und ihren Zusammenschluß mit den polnischen Partisanen verhinderte,
wodurch der Aufstand schließlich erstickte. In seinen Erinnerungen
betont Guderian ausdrücklich sein Eingreifen, um die Ausschreitungen
einiger der grausamsten Bandenbekämpfungseinheiten unter BachZelewski abzumildern, und seine Versuche, einen Widerruf des
Führerbefehls zu erreichen, nach dem Gefangenen nicht das volle
internationale Kriegsrecht zugestanden werden sollte. Er stellt ebenfalls
heraus, daß die schlimmsten Vergeltungsbefehle durch SS-Kanäle und
nicht durch diejenigen des Heeres gelaufen seien. Die SS, um Ansehen
bemüht, war stolz auf diesen ihren Sieg. Guderian gelang es, sich von
der Anklage des Verbrechens zu entlasten, und die Amerikaner lehnten
es nach dem Krieg ab, ihn an Polen auszuliefern.
Noch während der Schlacht, die zur Niederlage der Russen bei
Warschau führte, begann Guderian Hitler gegenüber seine Taktik des
»zähen Festhaltens an seinen Zielen« zu entwickeln. Am 15. August
hatten sie einen erhitzten Streit, als Guderian in seiner Eigenschaft als
Generalinspekteur der Panzertruppen zur Lage im Westen anmerkte:
»Die Tapferkeit der Panzertruppe allein ist nicht in der Lage, den Ausfall
zweier Wehrmachtteile - der Luftwaffe und der Kriegsmarine wettzumachen.«
Warlimont schrieb, daß »... Guderian sich seiner neuen Aufgabe in
schwierigster Lage sogleich mit aller ihm eigenen Tatkraft annahm, ohne
sich erst wie seinerzeit Zeitzier um die Rückgewinnung der übrigen
Kriegsschauplätze für den Generalstab des Heeres zu bemühen... Diese
Anschauung (vom Vorrang der Ostfront. Der Übers.), der er in seiner
ungestümen, temperamentvollen Art auch oft in den Lagebesprechungen
starke Worte lieh, verbunden mit den persönlich bedingten Spannungen,
machten es schon sehr bald deutlich, daß der Wechsel in der Person
des Generalstabschefs des Heeres selbst unter dem äußersten Druck
der Kriegslage keinen Wechsel in dem leidigen Verhältnis zwischen den
beiden Generalstäben an der Spitze der Wehrmacht mit sich bringen
würde. Man stand sich gewiß offener gegenüber als vorher, aber einer
gemeinsamen Front oder Fronde gegen die Fortsetzung des verlorenen
Krieges mußten in diesem Kreis der unmittelbar an der obersten
Führung beteiligten hohen Offiziere des Heeres selbst die gedanklichen
Grundlagen fehlen.«
Diese Feststellung ist einigermaßen irreführend, wenn man sich an
die Versuche von Heeresoffizieren erinnert, eine gemeinsame Front zu
bilden, und an die vielen Gelegenheiten denkt, bei denen es das OKW
vorgezogen hatte, entgegen dem Rat des OKH eigene Ziele zu
verfolgen. Warlimont versucht hier lediglich, die »Unfehlbarkeit« des
OKW herauszustreichen.
Ob Guderians Methoden realistisch waren oder nicht, mag
dahingestellt sein; tatsächlich täuschte er sich wohl, als er schrieb, er
glaube, eine Verbesserung erreicht zu haben. Aber er war immer ein
überzeugter Anwalt für ein einheitliches Kommando gewesen und hatte
seit den frühesten Tagen unter Blomberg und Reichenau Versuche
unterstützt, die verschiedenen, oftmals konkurrierenden Strömungen in
der Wehrmacht in Einklang zu bringen. Die Effektivität des OKW war
nach seiner Ansicht durch die Unzulänglichkeit Wilhelm Keitels
beeinträchtigt, der praktisch gezwungen war, nichts anderes als Hitlers
militärisches Sekretariat daraus zu machen. Nach dem Krieg machte
Guderian Hitlers nachlassende Gesundheit für den militärischen
Mißerfolg verantwortlich, zu der sich Hitlers »seelische Reizbarkeit«
gesellte, »... die zu einer weiteren Zersplitterung des militärischen
Oberbefehls führte«.
Nichtsdestoweniger war Warlimonts Hinweis auf Guderians
Anschauung und seine »persönlich bedingten Spannungen« angebracht.
Niemand ist ohne Schattenseiten. Eine der Schwächen Guderians war
das Festhalten an seiner Verurteilung Kluges; anderen konnte er
vergeben, aber niemals Kluge, nicht einmal in seinen Erinnerungen.
Innerhalb von Stunden, nachdem er Chef des Generalstabes geworden
war, unternahm Guderian den Versuch, Kluge von seinem Kommando
im Westen zu entfernen, indem er (erfolglos) Hitler seine Ablösung
nahelegte, da »er keine glückliche Hand in der Führung großer
Panzerverbände besitze«. Guderians Argument war, abgesehen von
Kluges Verwicklung in den Putsch, zu dieser Zeit keineswegs
angebracht, noch weniger, als er nach dem Krieg (und lange nach
Kluges Selbstmord Ende August 1944) fortfuhr, Kluges Umgang mit der
Panzerwaffe in Mißkredit zu bringen. In den Verhören beklagte er sich
darüber, Kluge habe die Panzerdivisionen zersplittert, sie kleckerweise
zum Einsatz gebracht und sei vollkommen dabei gescheitert, mehr als
die Hälfte der verfügbaren Panzer auf den Gegenschlag gegen die
Amerikaner bei Mortain zu konzentrieren.
Wenn es auch stimmte, daß Kluge im Osten zeitweise Formationen
aufgespalten hatte, so waren doch die Bedingungen im Westen andere.
Die zermürbende Wirkung der alliierten Luftangriffe auf die
Nachschublinien und die so entstehenden Schwierigkeiten, überhaupt
Kräftekonzentrationen zustande zu bringen, schlossen Guderians alte
Taktiken der Konzentration aus. Es muß daran erinnert werden, daß
Guderian während der Schlacht in der Normandie nicht zugegen war;
noch trug er für die dortigen Operationen die Verantwortung. Auf jeden
Fall hatte Kluge ebensosehr wie jeder andere Oberbefehlshaber unter
Hitler zu leiden. Seine zahlreichen Beweise mutigen Widerstandes
gegen Hitlers wahnwitziges Beharren auf selbstmörderischen
Gegenangriffen seitens der Panzerdivisionen bei Mortain sprachen
schon vom Abschied eines verzweifelten Mannes.
Eine von Hitlers vorgefaßten Anschauungen zu ändern, erforderte
zähes Ringen und endlose Geduld, wo es um Zeit ging. Kluges
Operationen in der Normandie wurden durch Hitlers Einmischungen
zunichte gemacht. Guderian seinerseits führt den starren Widerstand
des Führers gegen seine eigenen Vorschläge an, ein System von
Befestigungen entlang der deutschen Ostfront zu errichten, und seine
energischen Anstrengungen, dies im Herbst mit widerwilligem
Einverständnis Hitlers in die Tat umzusetzen. Allein das war schon ein
Kunststück, denn Hitler verschloß sich der Drohung im Osten, sobald die
russische Offensive bei Warschau zum Stehen gekommen war, und
widmete sich nur noch der unmittelbaren Drohung im Westen, wo der
Westwall von den anglo-amerikanischen Armeen auf die Probe gestellt
wurde und das Ruhrgebiet als wichtigstes Industriezentrum in Gefahr
war. Sobald Guderian frische Verteidigungseinheiten im Osten aufgebaut
hatte, ließ Jodl, besorgt um die Ruhr, diese Truppen zum Westen
verlegen. Als Guderian die Freigabe erbeuteten Kriegsmaterials forderte,
bestritten Keitel und Jodl, daß diese Waffen existierten. Aber sobald
ihnen Guderian das Gegenteil bewiesen hatte, belegte Jodl das Beste
mit Beschlag und schickte es gleichfalls in Richtung Westen. Guderian
wurde nicht an der geplanten Westoffensive beteiligt, er konnte, von
Reserven entblößt, im Osten nur abwarten und zusehen, wie zum einen
die Russen an Stärke gewannen und zum anderen Himmler das
Menschenreservoir aus der Industrie durchkämmte, um noch eine
weitere deutsche Armee aufzustellen - ein mit nationalsozialistischen
Idealen
getränktes
Volksheer,
das
aus
sogenannten
»Volksgrenadierdivisionen« oder ähnlichem bestand.
Sobald Guderian zu der Einsicht gelangte, daß direkte Opposition
gegen Hitler und seine Umgebung zum Scheitern verurteilt war, kam er
auf Methoden zurück, derer er sich im Feld schon früher erfolgreich
bedient hatte, als übergeordnete Kommandeure seinen Plänen im Weg
standen. Entweder ignorierte er ihre Befehle oder aber er versuchte, sie
zu umgehen. Manchmal gelang dies, manchmal nicht. Eine Zeitlang
konnte er sich der Teilnahme am »Ehrenhof« entziehen, dessen Vorsitz
Rundstedt hatte, bis Keitel darauf bestand, daß er sich wenigstens dort
sehen ließ. Es war gut, daß er erschien, da er aus erster Quelle mit
anhören konnte, zu welchen Methoden sich die Gestapo verstiegen
hatte, um Heeresoffiziere zu verurteilen. Es gab wenig genug, was getan
werden konnte, um die zu retten, gegen die auch nur der leiseste Beweis
der Verschwörerschaft vorlag oder die Hitler zu bestrafen entschlossen
war.
Als äußerstes Mittel benützte Hitler General Burgdorf, einen Ersatz für
Schmundt von geringerer Qualität, einen Offizier, dem Guderian
schlechtes Benehmen vorwarf und den er den »bösen Geist des
Offizierskorps« nannte. Dieser Mann war ein willfähriges Werkzeug für
Himmlers Pläne. Als »fanatischer Parteianhänger« (Guderians Worte)
war er des Führers persönlicher Abgesandter an Rommel mit der
Botschaft und dem Gift, mit dem dieser im Oktober Selbstmord beging.
Guderian tat, was er konnte*, und einige der Verschwörer konnten
gerettet werden, unter ihnen Rommels Chef des Stabes, Hans Speidel,
dessen stereotype Unschuldsbeteuerungen (obwohl er Anteil am Putsch
gehabt hatte) nicht entkräftet werden konnten. Er war es, der in späteren
Jahren eine führende Rolle beim Aufbau der Bundeswehr spielen sollte.
*
Dem Autor aus privater Quelle bestätigt.
Deutschlands Verbündete fielen ab, als die Russen näher kamen oder
auf ihr Gebiet vordrangen. Rumänien, Finnland und Bulgarien
wechselten zwischen August und September der Reihe nach die Seite,
und der Herbst ließ noch Schlimmeres vorausahnen. Ungarn befand sich
in Auflösung, aber sein Regent, Admiral Horthy, hatte Guderian kurz vor
dem Zusammenbruch seiner Nation eine Lehre mitzugeben, die die
politische Anpassung betraf: »Sehen Sie, Herr Kamerad, in der Politik
muß man immer mehrere Eisen im Feuer haben.« Es ist wiederum
lehrreich, daß Guderian diese Bemerkung in seinen Erinnerungen
zitierte, zweifellos um zu zeigen, wie er selbst darüber dachte.
Die Luftwaffe der Westmächte konzentrierte ihre Angriffe auf
Ölraffinerien, nachdem die Ölfelder von Ploesti in die Hände des Feindes
gefallen waren. Der Brennstoff für die bewegliche Verteidigung wurde
schnell knapper, und die deutschen motorisierten Truppen kamen
allmählich zum Stillstand. Die Panzerdivisionen waren ohnehin
improvisierte Schattengebilde.
Bereits im Sommer konnte nur selten die letzte, auf kärgliche 120
Panzer geschrumpfte Stärke nach Weisung voll zum Einsatz kommen.
Dagegen operierte eine Flut von Panzerfahrzeugen russischer,
amerikanischer und britischer Herkunft fast nach Belieben, es sei denn,
sie trafen auf ausgebaute Befestigungsanlagen an lebenswichtigen
Punkten. Auf deutscher Seite hatte nichts lange Bestand. Die nächste
Verteidigungslinie, die durchbrochen werden würde, war diejenige, die
von der Heeresgruppe Nord notdürftig gehalten wurde. Dies war Gebiet,
das
preußisches
Heimatland
schützte
und
wegen
seiner
Geschichtsträchtigkeit Guderian besonders teuer war. Im August
entlockte er Hitler eine rasche Entscheidung dadurch, daß er dessen
Gewohnheit Rechnung trug, so zögernd zu reagieren, bis aus einer
Drohung ein Verhängnis geworden war. Er erhielt die Erlaubnis,
Verstärkungen von der Südfront Rumäniens (wo die Schlacht noch
äußerst kritisch werden sollte) nach Norden heranzuholen. Dies war die
einzige Alternative, da vom Westen nichts abgezogen werden konnte
(wo bald darauf die Vorbereitungen zur Dezemberoffensive in den
Ardennen in Gang kamen) und das OKH keine Reserven besaß.
Aber nachdem er in der Folge die Russen gezwungen hatte, in der
Nähe von Riga haltzumachen, und einen Korridor geöffnet hatte, durch
den die großen deutschen Verbände, die in Estland und den übrigen
baltischen Staaten eingeschlossen waren, hätten entkommen können,
wurde die Gelegenheit zu einer völligen Evakuierung vertan, weil Hitler
sie untersagte. Im frühen Oktober griffen die Russen erneut an,
erreichten diesmal die Ostsee nahe Memel und riegelten wirksam die
Reste der Heeresgruppe Nord auf der Halbinsel Kurland ab, wodurch
eine Versorgung nur noch von der See her möglich war. Desgleichen
setzten russische Truppen erstmalig den Fuß auf den geheiligten Boden
Ostpreußens. Der Donner der Geschütze war in Lötzen und Rastenburg
zu hören. Wenig später war Hitler gezwungen, sich in sein letztes
Hauptquartier, die Reichskanzlei in Berlin, zurückzuziehen.
Die Einkreisung der Heeresgruppe Nord in Kurland, so tragisch sie
war, stellte nur einen weniger bedeutsamen Abschnitt in der Geschichte
von Hitlers Fehlstrategie dar. Ihr Anteil am Ausgang des Krieges war
militärisch unerheblich im Rahmen eines Kapitels totalen Mißerfolgs.
Was Guderian betraf, geriet er nicht nur in helle Empörung wegen der
unverantwortlichen Verschwendung starker, dringend benötigter Kräfte
durch die Aufrechterhaltung einer zu langen Kampflinie, sondern er
nahm diesen Vorgang zum Anlaß, seine Sympathie und Ergebenheit
gegenüber den Soldaten zu bekunden, deren schreckliches Schicksal in
russischer Gefangenschaft besiegelt war. Dabei hatte es wenig zu
bedeuten, daß jetzt in den Kämpfen im Osten eine weitere Pause
eintreten sollte und die Stellungen verstärkt werden konnten. Hitlers
Interesse richtete sich auf die Ardennen und den längst überholten
Traum, einen zugleich militärisch und diplomatisch bedeutsamen Sieg zu
erringen. Er wiegte sich selbst und ein paar Leichtgläubige in der Illusion,
die westlichen Alliierten seien einzuschüchtern. Aber diese Illusion war
kurioserweise zum Teil durch Speer und Guderian als Generalinspekteur
der Panzertruppen entstanden, denn diese Männer waren es, die eine
Flut neuer Panzerfahrzeuge heranschafften und die Panzerwaffe fast
wieder auf Normalstärke brachten. Der Haken bei der Sache war der
Brennstoffmangel, der sie lahmlegte.
In Übereinstimmung mit fast allen übrigen höheren Offizieren sah
Guderian wenig Hoffnung, daß das Ardennenprojekt sich in irgendeiner
Weise auszahlen würde. Da er von dessen Planung ausgeschlossen
war, hatte er sich nur mit dem Verlust von Soldaten abzufinden, die
seinem Kommando entzogen wurden, um die Reihen der Armeen im
Westen aufzufüllen, und durfte die täglichen Nachrichtenberichte lesen,
die ein baldiges Scheitern anzeigten. »Ich hätte ihr (der Angriffsschlacht
im Westen) im Interesse meines Volkes einen vollen Erfolg gewünscht«,
schrieb er. »Nachdem aber am 23. Dezember zu übersehen war, daß
ein ganz großer Erfolg nicht mehr erkämpft werden konnte, entschloß ich
mich, ins Führerhauptquartier zu fahren und das Abbrechen der
nunmehr schädlichen Kraftanstrengung zu verlangen.« Er führte seine
Absicht am 26. Dezember aus.
Sein Anliegen wurde, laut Guderian, wie so viele vorher abgewiesen,
und die gespannte Atmosphäre, die gewöhnlich seine Begegnungen mit
Hitler kennzeichnete, steigerte sich noch. Er erhielt jedoch einige
Verstärkungen*. Diese Zusammenkünfte waren Paradebeispiele für
Zeitvergeudung und Bedeutungslosigkeit, wie sie nur wenige Kabinette
gekannt haben dürften. Diskussionen über hohe Politik waren grotesk
vermischt mit banalen Einstreuungen, wenn Hitler seine Kenntnisse von
den Leistungen einzelner Waffen zum besten gab oder bis ins kleinste
gehende Darstellungen lokaler Begebenheiten oder Erinnerungen an
Triumphe, Fehltritte und Pannen vergangener Jahre beisteuerte.
*
Kürzlich wurde die Ansicht vertreten, Guderian habe seine Forderung nach
Verlegung des Gros der Verteidigungsstreitkräfte erst gestellt, nachdem der
russische Angriff erfolgt war. Das Beweismaterial hierfür ist allerdings
akademischer Natur und keineswegs überzeugend.
Die Protokollniederschriften bieten häufig eine bizarre Lektüre, da sie
mit den Ängsten des Nazitums in seinem Todeskampf angefüllt sind. Der
Tonfall der Stimmen geht bei schriftlicher Fixierung zwar verloren, aber
die Provokation des Heeres durch Hitler und seine Gefolgschaft hebt
sich sonderbar auffällig von Guderians geduldigem und ausdauerndem
Bemühen ab, die Unterhaltung auf Wesentliches zurückzulenken.
Warlimont spricht - mit eigenem Kommentar im Schrägdruck - von
Guderians Vorstelligwerden im September, um einen Erlaß Hitlers vom
Juli in Kraft treten zu lassen, nach dem Marine, Luftwaffe und Wirtschaft
den Panzerdivisionen dringend benötigte Lastwagen überlassen sollten.
Guderian: »Da müßte nur der Reichsmarschall dazu seine
Genehmigung geben.«
Hitler: »Die Genehmigung gebe ich sofort. Wir haben doch schon so
eine Art Reichsverteidigungsgeneralstab. Wir haben eine Einrichtung,
um die uns alle Staaten der Welt beneidet haben: das OKW. Das hat
sonst niemand. Das hat sich nur noch nicht herumgesprochen, weil
der Generalstab die Geschichte nicht gern sah.«
Keitel (ihm nach seiner Art mit gesteigertem Ausdruck ins Wort
fallend): »... schärfstens bekämpft hat!«
Hitler (Keitels Ausdruck aufnehmend): »Schärfstens bekämpft hat!
Nachdem wir jahrelang bekämpft worden sind wegen dieser
Einrichtung...«
Guderian: »Die Luftflotte drei hat noch so viel Lkw.«
Thomale: »Die muß geflöht werden!«
Kreipe (Chef des Luftwaffengeneralstabes): »Wir haben derartig viel
verloren beim Heereseinsatz...« (lehnt ab)
In der ersten Januarwoche, als Hitler immer noch auf seiner Idee
bestand, die Offensive im Westen wieder anzukurbeln und untrügliche
Beweise für eine bevorstehende russische Offensive auftraten,
verschlechterte sich das Klima der Zusammenkünfte. Um die
unentbehrliche Kräftekonzentration entlang der deutschen Ostfront zu
erreichen, ertrug Guderian diese Konferenzen verbissen und meldete
sich nur dann scharf zu Wort, wenn das eigentliche Thema
angesprochen wurde oder das Wohl von Offizieren und Soldaten in
Gefahr war. Er besuchte die Fronten, um eine übereinstimmende
Auffassung der Heeresbefehlshaber herbeizuführen, und kam zu dem
Schluß, daß der Krieg hoffnungslos verloren war. Deutschland war nicht
nur zahlenmäßig kraß unterlegen, »... wir hatten nicht mehr die Führer
und Truppen von 1940.. « Am 9. Januar 1945 entschloß er sich zu einer
Bilanz und legte einen detaillierten Bericht der Nachrichtendienste über
die Feindlage vor, der jenseits allen Zweifels das Heranrücken der
russischen Offensive bewies wie auch das zunehmende Übergewicht
gegenüber der deutschen Wehrmacht im Osten. Hitler verlor die
Beherrschung und wies den Bericht zurück. Er erklärte, der Mann, der
ihn aufgestellt habe, Generalmajor Gehlen, sei ein Verrückter und
gehörte in eine Anstalt.
Guderian sagte, auch er habe jetzt die Geduld verloren und Hitler
entgegengehalten,
»Gehlen
sei
einer
seiner
tüchtigsten
Generalstabsoffiziere... Wenn Sie verlangen, daß General Gehlen in ein
Irrenhaus kommt, dann sperren Sie auch mich gleich dazu«. Er weigerte
sich, Gehlen zu entlassen, und damit war die Sache ausgestanden.
Gehlens Schlußfolgerungen wurden jedoch nicht zur Abstellung von
Mängeln ausgenützt, so daß, als die Russen drei Tage später angriffen
(genau wie Gehlen und Guderian es vorausgesagt hatten), neues Unheil
über die Truppen hereinbrach, deren notwendig gewordene
Umgruppierung Hitler verweigert hatte. Gegen Ende der Sitzung
versuchte Hitler wieder einmal, Guderian mit sanften Schmeicheleien
und Dankbarkeitsfloskeln zu versöhnen, aber das verfing nun nicht mehr.
Nach seinen eigenen Worten teilte Guderian dem Führer mit: »Die
Ostfront ist wie ein Kartenhaus. Wird die Front an einer einzigen Stelle
durchstoßen, so fällt sie zusammen!« Die Bestätigung folgte, obwohl
sich daran wahrscheinlich auch nichts mehr geändert hätte, wenn
Verstärkungen aus dem Westen eingetroffen wären.
Die Einbrüche an der Front veranlaßten allzu spät die längst fälligen
Gegenmaßnahmen. Entweder wurden Verstärkungen verspätet an
Stellen herangeführt, wo die Situation schon außer Kontrolle geraten war
oder von Hitler dahin beordert, wo sie nicht im mindesten gebraucht
wurden. Die 6. SS-Panzerarmee wurde von den Ardennen nach Ungarn
entsandt; nur eine der zweckentfremdeten Umleitungen von Kampfkraft
an eine Front, auf die es weniger ankam. Dadurch fiel es den Russen
noch leichter, Warschau zu nehmen und Polen und Ostpreußen zu
überfluten. Ihre Vorausabteilungen stießen schon auf Deipenhof vor, wo
Gretel bis zur letzten Minute versuchte, das Gut in Gang zu halten.
Guderian war am Rand der Verzweiflung, und Protest und Intrige waren
die letzten Auswege, da es schon lange keine echte Einflußmöglichkeit
mehr gab.
Als er sich mit Jodl traf und ärgerlich - zum hundertsten Mal - auf die
Unzulänglichkeiten von Hitlers Strategie hinwies, konnte dieser nur mit
den Schultern zucken. Auch Jodl war konsterniert und dürfte sicher die
Hoffnungslosigkeit des Ganzen begriffen haben, als am 21. Januar
Himmler das Kommando der Heeresgruppe Weichsel übertragen wurde.
Der Tiefpunkt, auf den die Beratungsgespräche gesunken waren wenn man die erregten Proteste gegen Verbohrtheit so nennen will - war
nicht mehr zu unterschreiten, als Guderian im Februar Hitler erneut zu
überzeugen versuchte, die in Kurland eingeschlossenen Truppen
müßten über See evakuiert werden. Vor dieser Begegnung hatte er beim
japanischen Botschafter ein paar Gläser getrunken. Speer, der zugegen
war, greift die Geschichte auf: »Hitler widersprach... Guderian gab nicht
nach, Hitler beharrte. Die Tonart steigerte sich, und schließlich stellte
sich Guderian Hitler mit einer Deutlichkeit entgegen, wie sie in diesem
Kreis gänzlich ungewohnt war. Wahrscheinlich befeuert von den
Wirkungen des Alkohols, den er bei Oshima zu sich genommen hatte,
streifte er alle Hemmungen ab. Mit blitzenden Augen und wahrhaft
gesträubtem Schnurrbart stand er Hitler, der ebenfalls aufgestanden war,
am großen Marmortisch gegenüber. ,Es ist einfach unsere Pflicht, diese
Leute zu retten! Noch haben wir Zeit, sie abzutransportieren!' schrie
Guderian herausfordernd.
Verärgert und aufs äußerste gereizt, hielt Hitler ihm entgegen: ,Sie
werden dort weiterkämpfen! Diese Gebiete können wir nicht aufgeben!'
Guderian blieb hartnäckig: ,Aber es ist nutzlos', widersprach er
empört, ,dort in dieser sinnlosen Weise Menschen zu opfern! Es ist
höchste Zeit! Wir müssen diese Soldaten sofort einschiffen!'
Was niemand für möglich gehalten hatte, trat ein. Hitler zeigte sich
durch diesen vehementen Angriff sichtlich eingeschüchtert. Streng
genommen konnte er diese Einbuße an Prestige nicht hinnehmen. Zu
meinem Erstaunen jedoch verlegte er sich auf militärische Gründe... Zum
erstenmal aber war es jetzt im größeren Kreis zu einer offenen
Auseinandersetzung gekommen... Welten hatten sich auf getan.«
Aber Hitler änderte seine Entscheidung nicht. Eine Woche später ging
die Auseinandersetzung über den Marmortisch hinweg weiter, diesmal
um einen Gegenangriff, von dem Guderian glaubte, Himmlers
Heeresgruppe Weichsel müsse ihn unbedingt unternehmen. Himmler
wünschte den Angriff zu verschieben und berief sich auf Brennstoff- und
Munitionsmangel. Guderian war überzeugt, daß dies lediglich eine
Ausflucht war, um die Hilflosigkeit Himmlers und seines unerfahrenen
SS-Stabschefs zu kaschieren. In diesem Fall aber tat er weit mehr als
sich für die Erhaltung von Leben oder einen Operationsvorteil
einzusetzen. Er machte entschieden Front dagegen, daß SS-Leute in
Wehrmachtsbelange eingriffen. Der Streit entzündete sich an einer
geringfügigen Erörterung über Himmlers Kompetenz, woraufhin
Guderian die Forderung aufstellte, Wenck solle in den Stab von
Himmlers Heeresgruppe kommandiert werden, »... um die Operation
sachgemäß zu leiten«. Zwei Stunden lang erhob Hitler wütend
Einwände, während Guderian, offensichtlich ebenso stimuliert wie auch
beruhigt, weil es ihm gelungen war, den Führer in Rage zu bringen,
selbst die Fassung bewahrte - und zum Ziel kam.
Es war, wie er in den Erinnerungen schrieb, »... die letzte Schlacht,
die ich gewann«. Der Angriff, den Wenck am 16. Februar startete,
zeitigte Anfangserfolge, aber am 17., nachdem Wenck bei einem
Autounfall ernsthaft verletzt worden war, war die Stoßkraft des Angriffs
vorbei. Wencks Nachfolger, General der Infanterie Hans Krebs, besaß
nicht Wencks Qualität und keine ausreichende Erfahrung im
Oberkommando des Heeres. Er war die Art von Mensch, deren Hitler
sich mit Vorliebe bediente.
Es war daher nur natürlich, daß Burgdorf sich an ihn hielt. Der Verlust
Wencks traf Guderian hart, obwohl er bei der militärischen
Schlußabrechnung nicht stark ins Gewicht fiel. So wenige Lichtblicke es
für ihn gab, wie die Abstellung Wencks zu Himmler, so schnell waren sie
vorüber und von Negativem überholt; er hatte stets damit zu tun, falsche
Maßnahmen zu revidieren, ohne daß es dazu kam, erfolgversprechende
neue Schritte einzuleiten. Aber das Schauspiel, das sich bot, als
schließlich Hitlers Feuer auf ein Feuer von größerer Hitze traf, ließ
unvermeidlich die Frage aufkommen, was hätte geschehen können,
wenn 1938 - oder auch erst 1940 - Beck oder Halder ähnliche Methoden
angewandt hätten. Oder wie das Ergebnis ausgesehen hätte, wenn
Guderian in der Stimmung von 1945 bereits im Jahre 1938 Chef des
Generalstabes geworden wäre, wie es nicht fundierte Gerüchte wissen
wollten. Oder man stelle sich vor, Below und Stauffenberg wären 1941
zum Zug gekommen. Endlich in der elften Stunde war der Beweis
angetreten worden, daß Hitler in seine Schranken gewiesen werden
konnte. Hätte er dann nicht früher von Männern mit Persönlichkeit und
unerbittlicher
Entschlossenheit
überwältigt
werden
können?
Offensichtlich waren die gewissenhaften preußischen Offiziere zu keiner
Zeit der skrupellosen Kaltblütigkeit der Nazis gewachsen: ein
überliefertes System disziplinierter Rücksichtslosigkeit war der Anarchie,
dem modernen Gangstertum, zum Opfer gefallen.
Der Einsicht folgend, daß der Krieg verloren war, eröffnete Guderian
in Zusammenarbeit mit Speer eine allerdings mit Mängeln behaftete
Kampagne, um die Auswirkungen auf Deutschland zu begrenzen und
unternahm größere Anstrengungen, um das Blutvergießen zu beenden,
wobei ihm jedes Einverständnis und jede Hilfe aus den Reihen der
Nazihierarchie gelegen kamen.
Speers Bemühungen, das Programm der industriellen Zerstörung,
das Hitler der deutschen Heimat und ihrer Wirtschaft zugedacht hatte, zu
unterlaufen, hatten nur bescheidenen Erfolg. Was ihm mit Unterstützung
militärischer und ziviler Spitzen an Schaden zu verhindern gelang, war
nichts im Vergleich zu der Zerstörung, die der Feind anrichtete, der
willkürlich und oft ohne Sinn zerbombte, beschoß und niederbrannte.
Desgleichen waren Guderians Bemühungen, die Zerstörung von
Brücken und Verbindungswegen in Grenzen zu halten, zum Scheitern
verurteilt. Dasselbe galt für seine diplomatischen Vorstöße, obwohl diese
einiges Aufschlußreiches aus den Kreisen der Regierung ans Licht
bringen und für seine eigene ernüchterte und bissige Einstellung zur
herrschenden Clique Zeugnis ablegen.
Am 25. Januar hatte er eine private Zusammenkunft mit
Außenminister Joachim von Ribbentrop, dem er den hoffnungslosen
militärischen Zustand in Einzelheiten beschrieb und dem er empfahl,
gemeinsam Hitler aufzusuchen, um ihm Waffenstillstandsverhandlungen
nahezulegen. Ribbentrop wagte es nicht, dem Führer mit einem solchen
Antrag entgegenzutreten. Mehr noch, er sandte, obwohl er selbst
Guderian gebeten hatte, ihre Unterredung Hitler gegenüber nicht zu
erwähnen, dem Führer sogleich ein Memorandum über das Gespräch.
Guderians Kommentar: »Um so besser!« Ein Streitfall mehr, unter so
vielen, das ließ ihn offenbar kalt. Tag für Tag und beinahe rückhaltlos lief
er gegen Hitler und seine Gepflogenheiten Sturm oder trat für Offiziere
ein, die wegen geringfügiger Verstöße degradiert worden waren. Es
handelte sich hier um Angriffe auf Hitlers Vorstellungen vom Reich. Die
eigene Person war Guderian jetzt gleichgültig: in der Loyalität zu seinen
Untergebenen gab es für ihn kein Nachgeben.
Eine Phantasmagorie des Schreckens lag über der Szene. Im
Februar bewegte sich die westliche Frontlinie auf den Rhein zu, und
Anfang März erreichte sie seine Ufer. Im Osten war die Hälfte Preußens
in Feindeshand und Berlin bedroht, während der unfähige Himmler
stümperhafte Befehle erteilte. Deipenhof war den Guderians schon
längst verlorengegangen, und die heimatlose Gretel leistete ihrem Mann
jetzt beim OKH an dessen letzten Standort Zossen Gesellschaft. Hier
teilte sie mit ihm die letzten Tage seiner Macht und die Bombenangriffe,
die den Ort am 15. März verwüsteten und bei denen Krebs verwundet
wurde.
Am oder um den 16. März hatte Himmler, das Gespenst des
Zusammenbruchs
an
der
seiner
Heeresgruppe
Weichsel
gegenüberliegenden Front vor Augen und deprimiert durch die Einsicht,
daß er als militärischer Führer völlig ungeeignet war - im Widerspruch
zur Hitlerschen Auffassung, daß jedermann Armeen führen könne -, mit
einem vorgetäuschten Grippeanfall das Bett aufgesucht. Ein Ersuchen
seines Chefs des Stabes an Guderian: »Können Sie uns nicht von
unserem Oberbefehlshaber befreien?«, wurde mit einer höflichen
Erwiderung aufgenommen: »Dies ist eigentlich Sache der SS!«
Dennoch nahm Guderian die Gelegenheit wahr, Himmler zu
besuchen und ihm vorzuschlagen, sein Kommando aufzugeben.
Himmler war nicht darauf vorbereitet, dies selbst zu tun, ging aber,
ähnlichen Beispielen im Heer folgend, auf das Angebot des stets
hilfsbereiten Guderian ein, das für ihn zu erledigen. Die Überraschung
ausnützend, unterbreitete Guderian Hitler den Vorschlag mit der
gleichzeitigen Empfehlung, daß einer der besten noch überlebenden
deutschen Kommandeure, Generaloberst Gotthard Heinrici, Himmlers
Stelle einnehmen sollte. Hitler war nicht begeistert und hätte lieber einem
seiner Günstlinge den Vorzug gegeben; aber wieder einmal bekam
Guderian seinen Willen und Heinrici wurde am 20. März berufen.
In der Zwischenzeit war Ribbentrop heimlich Guderians früherem
Anstoß gefolgt und streckte Friedensfühler aus. Darin weihte er
Guderian indirekt ein. Er ermunterte ihn, sich an Himmler zu wenden, um
festzustellen, ob er bereit war, ihre Pläne zu unterstützen. Guderian tat
dies am 21. März allerdings ohne ersichtlichen Erfolg; denn Himmler
nahm wie üblich unangenehme Dinge nicht zur Notiz. Aber Guderian
irrte sich, wenn er glaubte, »... mit dem Mann sei nichts zu machen«.
Durch Guderians Initiative aufgerüttelt, war Himmler dabei, eigene Wege
zu gehen, und einige Tage später stand er in geheimen
Friedensverhandlungen über schwedische Mittelsmänner. Da WheelerBennett Guderians Versuche einer Friedenslösung »halbherzig« nennt
und schreibt, daß »Guderian selbst gewiß nicht darauf eingestellt war,
Hitler seinen Vorschlag anzubieten«, muß man sich fragen, warum
Guderian den Sprung ins kalte Wasser nicht unternahm. Den
Amerikanern sagte er nach dem Krieg, Hitler habe ihm dies verboten;
aber das reicht nicht aus. Die Antwort ist wahrscheinlich in der jüngeren
Geschichte zu suchen und hat nichts mit Guderians nachweislichem
moralischem Mut zu tun.
Wenige Wochen vor dem Attentat vom 20. Juli 1944 hatte Rundstedt
in einem Wutausbruch die berühmten Worte an Keitel gerichtet: »Macht
Frieden, Ihr Narren« und war entlassen worden. In der Praxis war es für
einen Offizier im März aussichtslos und erkennbar selbstmörderisch, sich
auf etwas einzulassen, das auch nur im mindesten mit nichtmilitärischen
Dingen zu tun hatte. So diente Guderian, dessen Rücktritt Hitler
verweigerte, und wurde wahrscheinlich deshalb um den letztendlichen
Versuch gebracht, die Feuersbrunst zu löschen, weil Hitler, Keitel, Jodl
und Burgdorf entschlossen waren, ihn loszuwerden. Wenn man
zwischen den Zeilen liest, entdeckt man leicht, was ihnen gedämmert
haben mag: Guderian war im Begriff, in der Tradition der
Generalstabschefs von ehedem die Regierung zu »manipulieren«.
Niemand war erwünscht, der, wie Guderian, den Eindruck aufkommen
ließ, der Krieg sei verloren. Sogar Speer, einst Hitlers Favorit, wurde
kaltgestellt, weil er ihn unumwunden für verloren erklärte. Das wenige,
was an Gesetz und Ordnung noch vorhanden war, wurde beiseite
geschoben. Nichtsdestoweniger fand Guderian Jodl auf seiner Seite, als
sie sich mit Erfolg Hitlers Absicht entgegenstemmten, die Genfer
Konventionen über das Kriegsrecht anzutasten. Aber obwohl Hitlers
Visionen, die er von der Niederlage hatte, sich zu einem Muster
endgültiger Auslöschung abzeichneten, wurden Guderian und die große
Mehrheit des Generalstabes ebenso wie die Masse des deutschen
Volkes im unklaren darüber gehalten, in welche Abgründe ihr Staat
geraten war. Beispielsweise konnte das Propagandaministerium
Guderian überreden, am 6. März eine Rede vor Vertretern der in- und
ausländischen Presse zu halten, in der er die russischen Vorwürfe
deutscher Greueltaten zurückwies. Diese erstreckten sich auch auf die
Vernichtungslager mit ihren Gaskammern, die von den Russen beim
Vormarsch entdeckt worden waren. Guderian sagte: »Ich habe selbst in
der Sowjetunion gekämpft und nie etwas von Teufelsöfen, Gaskammern
und ähnlichen Erzeugnissen einer kranken Phantasie bemerkt.«
Das ging an der Sache vorbei. Die größeren Vernichtungslager waren
zumeist auf deutschem oder polnischem Boden. Aller Wahrscheinlichkeit
nach war er jedoch völlig aufrichtig, als er bestritt, diese Lager gesehen
zu haben, und es ist keineswegs zu vermuten, daß er ihren
kompromißlosen völkermordenden Zweck erriet. Die erbarmungslosen
Leute, die diese Lager verwalteten, hielten sich abseits und versteckten
die Lager in entlegenen Landesteilen. Unkontrolliertes Gerede über
solche Themen wurde konsequent durch abschreckende Strafen
unterdrückt, die gegen Gerüchtemacher verhängt wurden. Zudem war
fast
jeder
Informationsaustausch
durch
eine
wirkungsvolle
Nachrichtenzensur und die sorgfältige Abschirmung von Einzelpersonen
unterbunden. Diese Abschirmung reichte quer durch die Regierung und
den Militärapparat, so daß möglichst wenige wahrnahmen, was sich im
großen und ganzen oder auch nur in ihrer unmittelbaren Umgebung
abspielte.
Trotzdem müßte Guderian in seiner Stellung etwas gewußt haben.
Zum Beispiel kann von Barsewisch, der angibt, daß er 1939 von den
Grausamkeiten unterrichtet gewesen sei und daß ihn dies vom
Nationalsozialismus abgebracht und zur Widerstandsbewegung bekehrt
habe, es kaum versäumt zu haben, dies Thema anzuschneiden, als er
während einer vierstündigen Aussprache am 18. Juli 1944 Guderian zu
bewegen versuchte, sich dem Widerstand anzuschließen. Vielleicht war
es so, daß Guderian diesen Dingen einfach keinen Glauben zu
schenken vermochte - die ganze entsetzliche Geschichte ging wirklich in
kein normales menschliches Gehirn.
Nach einer Konferenz, die unmittelbar auf Guderians Appell an
Himmler erfolgte, sprach Hitler unter vier Augen mit Guderian und
schlug, in Anbetracht der Tatsache, daß Guderians Herzbeschwerden
sich offenbar verschlimmert hatten, vor, er möge einen vierwöchigen
Erholungsurlaub antreten. Guderian wollte davon nichts wissen, weil
nach den Verletzungen von Wenck und Krebs niemand mehr da war, der
als Vertreter hätte einspringen können. Hierbei scheint es keine
Anzeichen für eine drohende Abberufung gegeben zu haben, und
Guderian unterläßt es auch, auf den Charakter einer solchen
Veränderung einzugehen. Dennoch ist es naheliegend zu vermuten, daß
Hitler, wieder einmal auf Guderians Manöver hinter seinem Rücken
aufmerksam geworden und im Gefühl, daß sich zuviel Einfluß um den
Chef des Generalstabes sammelte, entschlossen war, dem ein Ende zu
bereiten. Das Vorschieben gesundheitlicher Gründe war inzwischen die
Standardrechtfertigung, um Leute abzuberufen, die lästig geworden
waren. Hitler selbst befand sich in einer schrecklichen Verfassung. Sein
Urteil litt unter körperlichen und geistigen Verfallserscheinungen.
Am 23. März brachte Burgdorf das Gespräch auf Guderians Zukunft.
Er gab sich eilig und deutete an, er habe einen Kandidaten für die
Nachfolge. Eine Entscheidung wurde wiederum nicht getroffen, da die
Ärzte weder Wenck noch Burgdorfs Erwählten, Krebs, gesundschreiben
wollten.
An diesem Tage überschritten im Westen die Alliierten mit starken
Verbänden den Rhein, und im Osten begann die 9. Armee unter General
Busse einen Versuch, die in Küstrin abgeschnittene Garnison zu
befreien. Küstrin wurde zu einer teuer bezahlten Niederlage. Nach
Heinrici, auf den sich Cornelius Ryan in seinem Buch Der letzte Kampf
bezieht,
bestand
Guderian
auf
einer
Wiederholung
des
Entlastungsangriffs. Auch Hitler war dafür. Als Heinrici die Ansicht
vertrat, es sei besser, wenn die belagerten Truppen ausbrächen,
reagierte Guderian heftig auf diesen Vorschlag: »Der Angriff muß
stattfinden!« rief er. Am 27. März wurde angegriffen, und es gelang auch
nach aufopferndem kämpferischem Einsatz der Soldaten, Küstrin zu
erreichen.
Innerhalb
von
Stunden
wurde
jedoch
die
Entlastungsstreitmacht von den Russen zurückgeschlagen, die an
Artillerie und Panzern weit überlegen waren. Im Westen fiel zur gleichen
Zeit Frankfurt am Main an die Amerikaner, die sich mit den Franzosen
und Briten fast ungehindert auf Mitteldeutschland zu bewegten.
Guderian führt aus, daß er den letzten Angriff bei Küstrin habe
verhindern wollen und daß bei der Konferenz am 27. März Hitler das
Abschneiden der Truppen und Busses Fähigkeiten scharf kritisiert habe.
Guderian brachte unwiderlegliche Beweise bei, daß alles nur Mögliche
getan worden war und beschrieb dies in einem deutlichen Bericht. Er
erkannte zweifellos, wie sehr seine Stellung bedroht war und machte
jede Anstrengung, sie wieder zu festigen. Um weitere Informationen zu
sammeln, bat er um die Erlaubnis, die Front besuchen zu dürfen und
persönlich die Situation zu untersuchen. Hitler lehnte ab und wies statt
dessen Guderian und Busse an, bei der nächsten Besprechung am 28.
März vor ihm zu erscheinen.
Was bei dieser Besprechung vor sich ging, liegt im dunkeln - wenig
überraschend, da die Spannung von Anfang an hoch war und
Gefühlsmomente überwogen. Im wesentlichen warf Hitler Busse
Fahrlässigkeit vor, und Guderian widerlegte ärgerlich jedes Wort Hitlers.
Es ist schwer zu entscheiden, ob diese Szene mehr Sprengstoff enthielt
als vorausgegangene direkte Konfrontationen Guderians mit Hitler. Daß
Hitler sich gerüstet hatte, steht fest. Sobald zu erkennen war, daß
Guderian nicht beabsichtigte zurückzustehen, sorgte Hitler dafür, daß
jeder außer ihm selbst und Keitel den Raum verließ. Die übrigen mögen
einen dramatischen Ausgang befürchtet oder ersehnt haben. Ihnen war
klar, daß Guderian sein Leben aufs Spiel setzte. Warlimont schreibt von
»vorbildlicher Zivilcourage, als er sich am 28. März auch noch ein
weiteres Mal schützend vor seine Untergebenen stellte«. Es ist dabei
unerheblich, daß Warlimont (der im September aus dem OKW
ausgeschieden war und daher die meiste Zeit, in der Guderian als Chef
des Generalstabes des Heeres fungierte, nicht miterlebte) nichts von den
zahlreichen anderen Gelegenheiten wußte, bei denen »vorbildliche
Zivilcourage« zum Ausdruck kam. Wichtig ist, daß der letzte große Chef
des Generalstabes seinem Auftrag treu blieb und bis zum Ende für seine
Überzeugungen kämpfte.
Die Spannung erhielt einen jähen Knick. Hitler teilte Guderian in
mildem Ton mit, er solle einen sechswöchigen Erholungsurlaub nehmen
und dann zurückkehren, da »die Lage dann sehr kritisch sein werde«.
Damit behielt er recht; zu dieser Zeit sollte Hitler tot sein und sein
»Deutschland in Waffen« der Vergangenheit angehören. Sie trennten
sich nach dieser Unterredung. Keiner bedauerte, den Rücken des
anderen zu sehen, und Guderian war glücklich, davongekommen zu sein
und frei entscheiden zu können, wohin er sich wenden wollte, ein
Privileg, das ihm als dem einzigen General zugefallen war, der noch in
den letzten Tagen des Dritten Reiches dem Führer Respekt abgetrotzt
hatte. Er hatte viele Ideale geopfert. Da er sich daran erinnerte, wie das
Fehlen einer intakten Armee 1919 Deutschlands Position bei der
Aushandlung der Friedensbedingungen völlig untergraben hatte, war er
bestrebt gewesen, allerdings vergeblich, das Heer zu retten. Im Verlauf
dieser Bemühungen hatte er zunächst einen außergewöhnlichen Weg
eingeschlagen, sich nämlich auf das Feld der Politik begeben und so die
vornehmeren Grundsätze im Stich gelassen, die ihn üblicherweise
leiteten. Aber die Maßstäbe von Politikern waren, wie er oftmals hatte
erfahren müssen, anders als die von Soldaten - und Deutschland kam
zuallererst.
Nachdem er sich vom Stab in Zossen verabschiedet hatte, machten
sich die Guderians nach München auf, wo er sich für einige Wochen
einer Herzbehandlung unterzog; sein Herz war eher ermüdet als
geschwächt. Dann, am 1. Mai, begab er sich wieder zum Stab des
Generalinspekteurs, der in Tirol Zuflucht gesucht hatte, und am 10. Mai
ging er, noch immer Generalinspekteur, in amerikanische
Gefangenschaft.
11
DIE SCHLUSSETAPPE
Einer der erschütterndsten Widersprüche für Guderian war der
plötzliche und katastrophale Umbruch, der in den wenigen Wochen nach
seiner Entlassung als Chef des Generalstabes in seinen persönlichen
Lebensumständen eintrat. Vom Inhaber eines der in Deutschland mit
höchstem Ansehen verbundenen Ämter wurde er fast über Nacht zum
Flüchtling und schließlich der Gefangene eines Feindes, der sich
vorgenommen hatte, ihn als Kriegsverbrecher anzuklagen. Eben noch
stand er vor Aufgaben, die vom Recht abgesichert, aggressivstes
Vorgehen erforderten, gleich danach war er völlig in die Defensive
zurückgeworfen, aus der heraus er die Rechtmäßigkeit seiner früheren
Stellung zu beweisen hatte. Es war gewiß nicht seine unbedeutendste
Leistung, daß er dieser raschen Schicksalswende mit einem gewissen
Humor und gelassener Würde begegnete. Vorausgegangene Erfahrung
mag ihm dabei geholfen haben.
Die Absicht der siegreichen Alliierten, ihre geschlagenen Feinde sowohl als Personen wie auch deren Organisationen - vor Gericht zu
stellen, bedrohte die Mitglieder des Generalstabes damit, sich wegen
verbrecherischer Tätigkeiten verantworten zu müssen, die ihnen
entweder als Individuen zur Last gelegt wurden oder aber als Mitgliedern
von Organisationen - Generalstab und OKW -, die en bloc unter Anklage
stehen sollten. So sah sich Guderian im eigenen Namen und als Mitglied
des Generalstabes von den Amerikanern inhaftiert, ebenso wie viele
seiner ehemaligen Gefährten in Triumph und Niedergang - darunter
Halder, Thomale, Milch, Praun, List, Weichs, Blomberg und Leeb.
Anfangs entsprach ihre Behandlung ganz dem, was ein Besiegter vom
anmaßenden Sieger zu erwarten hat, und die Generäle waren
zahlreichen Demütigungen ausgesetzt. Strik-Strikfeld berichtet: »Sein
fester Charakter und seine Haltung bei Übergriffen der amerikanischen
Wachmannschaften waren beeindruckend. So warf er sich einmal einem
aufsässigen Sergeanten mit entblößter Brust entgegen, als dieser ihn mit
seinem Karabiner bedrohte. Ich stand neben Guderian, und es gelang
mir, die Waffe den Händen des rabiaten Amerikaners zu entwinden.«
Strik-Strikfeld erlebte dann später noch einen Tag, an dem eine Anzahl
russischer Offiziere, die auf deutscher Seite gekämpft hatten, auf den
Rücktransport in ihre Heimat vorbereitet wurden, das heißt auf einen
sicheren Tod als Verräter. List, Weichs und Guderian gingen zu einem
jungen amerikanischen Captain hinüber, der sich stets korrekt, sogar
freundlich verhalten hatte, und erklärten: »Wir protestieren! Die
russischen Kameraden dürfen nicht an die Sowjets ausgeliefert werden.«
Der Captain erwiderte, er führe nur seine Befehle aus. »Noch heute sehe
ich sie dort dastehen, zwei Marschälle und einen General, einst
mächtige Männer, jetzt hilflos Bittende.«
Allmählich verbesserten sich die Bedingungen für die Generäle. Die
immer wiederkehrenden Verhöre halfen, die Zeit zu vertreiben, und den
Verhörenden ihre Erfahrungen mitzuteilen, bot ihnen (obwohl die
Befürchtung, sie würden ihren russischen Kameraden nachgeschickt, sie
selten verließ) eine ausgiebige Gelegenheit, vergangenen Ruhm neu zu
beleben und ihre Rolle bei der Schaffung der bemerkenswertesten
Kriegsmaschinerie zu umreißen, die die Welt erlebt hatte. Guderian als
Schöpfer der Panzertruppe als einer Schlüsselwaffe und einstiger Chef
des Generalstabes des Heeres erhielt sogar den Rang einer
entscheidenden Figur und gab anfangs von sich aus freimütig Auskünfte.
Ein aufschlußreiches Bild Guderians vermitteln die vernehmenden
amerikanischen Offiziere. Am 26. August 1945 befragte ihn Major
Kenneth Hechler von der Infanterie über den Einsatz der Panzerkräfte in
der Normandie. Der Gedankenaustausch in englischer Sprache war
freundschaftlich und überraschte Hechler angenehm, weil er wußte, daß
Guderian vorher gegenüber Offizieren der historischen Abteilung nicht
allzu gesprächsbereit gewesen war. Guderian begrüßte Hechler
kollegial: »Aha, auch ein Panzeroffizier!«, was Hechler skeptisch
entgegennahm; »... das unvermeidliche Süßholz, aber sonst hatte ich
nicht den Eindruck, daß er seine wirklichen Absichten verheimlichte, um
etwas für amerikanische Ohren Schmeichelhaftes zu sagen. Er reagierte
schnell auf alle Fragen, und ich glaube nicht, daß er auf besondere
Wirkung oder eigenen Vorteil bedacht war.«
Guderians Verhalten wechselte und schwankte je nach der
Behandlung, die ihm zuteil wurde, und der Eigenart seiner
Gesprächspartner. Längere Zeit verweigerte er jedes Entgegenkommen,
weil er erfahren hatte, daß die Polen verlangten, er solle ihrer
Gerichtsbarkeit übergeben werden. Aber der Zeitpunkt seiner
Zurückhaltung war in mancher Hinsicht unglücklich gewählt, da er mit
einer von den Amerikanern vorgesehenen Initiative zusammenfiel. Dr.
George Shuster, der Leiter der Befragungskommission des
US-Kriegsministeriums, schildert es so: »Nach einer Unterredung mit
Guderian konnte ich mir zur Schaffung einer guten Geschichte der
Strategie des deutschen Generalstabes nichts Erfolgversprechenderes
denken, als Guderian in die Vereinigten Staaten zu bringen, um in
irgendeinem Landhaus in Connecticut einen Sommer lang einen
zwanglosen Dialog zu führen.« Shusters Idee wurde im Frühjahr 1946
aufgegriffen, als die Amerikaner begannen, über 200 frühere deutsche
Generäle und Stabsoffiziere in einem Lager in Allendorf bei Marburg
zusammenzufassen, um möglichst viele Informationen von ihren
einstigen Gegnern zu erhalten.
Nach amerikanischer Einschätzung waren die beiden Männer mit der
überragenden Qualifikation, die den deutschen Geschichtsschreibern als
Koordinatoren beigegeben werden sollten, Halder und Guderian. Aber
dies erwies sich sogleich als undurchführbar, da Guderian eine Periode
durchmachte, in der er nicht zur Mitarbeit zu bewegen war und er und
Halder überhaupt nicht miteinander redeten. Infolgedessen übernahm
Halder die Rolle des Koordinators bei einem der denkwürdigsten
historischen Forschungsprojekte, während Guderian, als er endlich
einsah, daß er dabei nichts zu verlieren, sondern nur zu gewinnen hatte
(am 18. Juni 1947, am Tag nach seinem Geburtstag, erklärte man ihm,
alle Anschuldigungen seien fallengelassen worden), noch Randbeiträge
lieferte und die wichtigsten Ergebnisse kommentierte, sowie jene, bei
denen er seine spezielle Kenntnis in die Waagschale werfen konnte.
Sowohl wegen des Einblicks in seine Denkweise als auch wegen der Art
seines Beitrags zu den behandelten Themen sind seine Kommentare
lesenswert. Vorurteile und Stolz vermischten sich mit sarkastischen
Ausfällen, die ihm bei den Amerikanern besondere Anerkennung
einbrachten.
Aber mit der Bekundung von Ressentiments stand Guderian
keineswegs allein: Gruppierungen bildeten sich um Halder mit den
Traditionalisten auf der einen Seite und den Progressiven, darunter
Guderian, auf der anderen. So wurde über die Generalfeldmarschälle
von Blomberg und Erhard Milch (den Baumeister der Luftwaffe unter
Göring) wie auch Guderian eine Art Scherbengericht abgehalten. Halder
beispielsweise lehnte es ab, die von Milch dargebotene Hand zu
nehmen. Ebenso war er nicht gewillt, über den Streit mit Guderian auch
nur zu diskutieren. In dieser erlauchten Gesellschaft von Militärs
bewarfen sich die Anhänger rivalisierender akademischer Richtungen mit
verbalen Giftpfeilen, gewissermaßen um sich die Eintönigkeit der
Gefangenschaft zu erleichtern, während sie - auf dem Papier - die
Schlachten der Vergangenheit nach vollzogen. Eine Auseinandersetzung
mit dem General der Infanterie Edgar Röhricht liefert ein gutes Beispiel
dafür, wie bissig Guderian sein konnte, wenn man ihn herausforderte.
Röhricht hatte es für richtig gehalten, als er in einem Papier - ein wenig
unscharf aus dem Gedächtnis - die Ausbildungsorganisation des OKH
beschrieb, die von der Panzertruppe angewandten Methoden zu
kritisieren und die tiefsitzenden Antipathien der Infanterie gegenüber den
Panzerleuten erneut aufzurühren.
In seiner ersten Erwiderung schrieb Guderian: »Die Ausarbeitung läßt
erkennen, daß dem Bearbeiter Ausbildungserfahrungen aus der
Friedenszeit ebenso fehlten wie Kriegserfahrung« - eine böse
Herabsetzung, da Röhricht auf vielen Gebieten große Erfahrungen
besaß, was Guderian wissen mußte. Guderian hielt sich mit der
Beanstandung von Bemerkungen auf wie »... die von Anfang an
bestehende Selbstherrlichkeit der Panzertruppe...« und faßte (zur
Zufriedenheit der amerikanischen Herausgeber, die Röhrichts negative
Passagen strichen) seine Ansichten so zusammen: »Auch über den
Generalinspekteur der Panzertruppen weiß der Bearbeiter nicht
Bescheid. Wer wurde durch den Generalinspekteur ‚gestört'? Durch den
Generalinspekteur entstand weder ein ‚Nebeneinanderarbeiten' noch
Uneinheitlichkeit der taktischen Auffassung, und erst recht ‚keine
verhängnisvollen Folgen'.«
Die wichtigsten Artikel, die Guderian für das amerikanische Projekt
schrieb, bestanden in einer ausführlichen Darlegung der Ausbildung der
Generalstabsoffiziere und einer Studie, die sein persönliches Konzept
von der Struktur eines künftigen gemeinsamen Kommandos enthielt. In
der letzteren entwickelte er einen ausgreifenden und umstrittenen
Gedankengang, in dem er das Problem aus dem gemeinsamen
Blickwinkel der Wehrmacht anging, anstatt sich auf die Sicht des
Oberkommandos des Heeres zu beschränken, und in dem er seine
Überzeugung von der entscheidenden Notwendigkeit eines solchen
Konzepts darstellte und seine langgehegte Vorliebe für eine
Zusammenlegung begründete. Halder behandelte Guderians Beitrag mit
typisch scharfen, wenngleich nicht unsachlichen oder destruktiven
Kommentaren. Leider war der Schlagabtausch zwischen den beiden
ihrem Ansehen abträglich und sorgte zudem für Spaltungen. Unter
Halders Anhängerschaft wurde die Unterstellung Mode, Guderian sei
oberflächlich, wie Halder ihn in unwürdiger Unaufrichtigkeit
charakterisiert hatte, und Guderian pflegte Halder der Außenwelt als von
geringerem Kaliber hinzustellen, als dieser bemerkenswerte Mann
tatsächlich war. Halder, der kühle Intellektuelle mit dem
schulmeisterlichen Gehabe, und Guderian, der Mann dynamischer Ideen
und Aktionen, wurden einer dem anderen wenig gerecht.
Während dieser akademischen Periode hinter Gittern in der
ungewohnten Rolle relativer Tatenlosigkeit - einem Lebensstil
abgeschirmter intellektueller Aktivität, der ihm seit den Jahren nach 1920
verlorengegangen war - fand Guderian schließlich zu einer Gelöstheit,
die man sich bis dahin nicht hätte vorstellen können. Seinem älteren
Sohn, der als Generalstabsoffizier sein Mitgefangener war, erschien es
fast wie ein Wunder, daß er zum erstenmal begann, Bridge zu spielen und das völlig unbekümmert. Darüber hinaus widmete er sich mit
riesigem Vergnügen den Gemüsebeeten im Lager. Heinz Günther
erinnert sich gern an jene Tage. 1948 beschrieben auch die Amerikaner
seinen Vater als einen »sehr liebenswürdigen, fröhlichen Mann... mit
ausgeprägtem Sinn für Humor«, aber zu dieser Zeit wußte Guderian
natürlich auch schon, daß er nicht an die Polen ausgeliefert oder sonst
einem Gerichtshof überstellt werden würde.
»Der gerade Weg«, wie er Gretel schrieb, »erweist sich auf die Dauer
als der richtige.«
Und als schließlich an seinem 60. Geburtstag im Juni 1948 seine
Gefangenschaft beendet war (er wurde als letzter aus dem Lager bei
Neustadt im Kreis Marburg entlassen. Allerdings hatte während der
letzten sechs Monate Gretel bei ihm sein dürfen), zog er in ein Zimmer in
einem Altersheim in Dietramszell in Oberbayern, wo Hindenburg viele
Jahre lang seinen Urlaub in den zwanziger und dreißiger Jahren
verbracht hatte. Hier begann er, an seinen Memoiren zu arbeiten, wozu
er schon in der Gefangenschaft den Grundstein gelegt hatte. Sie wurden
in Schwangau abgeschlossen, wohin er 1950 gezogen war und wo er mit
dem ihn kennzeichnenden Enthusiasmus sowie ganz erstaunlichem
Wissen zu gärtnern begann. Und wie es ältere Menschen zu tun pflegen,
pflanzte er Bäume. Der Garten des Hauses, das er vor dem Krieg in
Würzburg bewohnt hatte, ist heute ein kleiner Wald!
Noch blieben Schlachten auszutragen, denen es jedoch an
besonderer Würze fehlte. 1948 hörte er davon, daß Schlabrendorffs
Buch Offiziere gegen Hitler, das schon in der Schweiz veröffentlicht
worden war, in einer Münchner Zeitung als Serie erscheinen sollte. Den
ernstlichen Angriffen auf Guderians Haltung mußte entgegengetreten
werden, insbesondere der Behauptung, daß er die Verschwörer des 20.
Juli verraten habe, um Chef des Generalstabes des Heeres zu werden.
Außer Gericht fand ein langwieriges Gefecht statt mit einem Resultat,
das in manchem einem Pyrrhussieg gleichkam. Immerhin stellten und
stellen die Dokumente und die von Guderian und Thomale
beschworenen Protokolle einen wichtigen Beitrag zur Geschichte des
Widerstandes gegen Hitler dar. Als Schlabrendorff in der Münchner
Abendzeitung einen Widerruf veröffentlichte, in dem es hieß: »Viel neues
Material ist gefunden worden. Anhand dieses Materials ist eine
Umarbeitung des Buches in Angriff genommen... Aus diesem Grund
habe ich die Redaktion der Abendzeitung gebeten, davon Abstand zu
nehmen, den Abdruck der alten Fassung des Buches Offiziere gegen
Hitler fortzusetzen«, erschien sein Brief unter der Überschrift »Das Ende
einer Legende«. Die Zeitung schloß daran einen eigenen Kommentar an,
der den Hinweis enthielt, der gegenwärtig verhandelte Fall Halder zeige,
daß von einem ernstzunehmenden politischen Widerstand gegen Hitler
im Generalstab nicht die Rede sein konnte.
Guderian wurde nie vor Gericht zitiert, weil Substantielles nicht gegen
ihn vorlag. Den Rest seines Lebens verbrachte er zumeist in der
Abgeschiedenheit, obwohl er laufend Briefwechsel mit Journalisten in
der ganzen Welt pflegte und für die Interessen seiner alten Kameraden
aller Dienstgrade eintrat. Dennoch tauchte gelegentlich sein Name als
Schuß im kalten Krieg zwischen Ost und West auf. Im Oktober 1950
verfaßte er eine Broschüre unter dem Titel Kann Westeuropa verteidigt
werden? Ihr Erscheinen zielte zeitlich darauf ab, angesichts einer Phase
erschreckender Schwäche in der westlichen Verteidigung Alarm zu
schlagen, in der die NATO gerade versuchte, ihre Aufgabe wieder
glaubhaft zu machen. Die Veröffentlichung wirbelte Staub auf. Die
Londoner Times sprach vom Befremden der Leute gegenüber einer allzu
vernehmlichen Stimme aus der eben noch verpönten deutschen
Vergangenheit und gegenüber Guderians Schätzung, daß die Russen
175 Divisionen in Bereitschaft hielten, die sie auf 500 erhöhen könnten.
1951 erschien auf Wunsch von Guderians Verleger eine weitere
Aufsehen erregende Schrift So geht es nicht, in der er unbeirrt und
beschwörend die Ansicht so vieler vertrat, daß Deutschland nicht geteilt
bleiben dürfe und daß die Gefahr bestand, daß die NATO, indem sie die
Deutschen wiederbewaffnete, nur beabsichtigte, sie als die eigentlichen
Verteidiger eines vereinigten Europas gegen die Drohung aus dem
Osten zu benützen. In einem weiteren Ausblick äußerte er die
Befürchtung, daß sich die Westmächte in Kämpfen im Fernen Osten
verausgaben würden zum Schaden der vordringlichen Verteidigung
Europas. Zweifellos um politischer Vorteile willen beuteten in diesem
Jahr auch die Polen den Namen Guderian mit seiner alten Symbolkraft
nackter deutscher Aggression für sich aus: sie beschwerten sich
gegenüber den USA, Guderian leite eine Spionageorganisation, die »mit
der sogenannten Guderian-Gruppe die amerikanischen Agenten nach
Polen einschmuggle« - eine haltlose Anschuldigung.
Diese kleinen Attacken und Störmanöver machten ihm kaum etwas
aus, während das lebhafte Interesse von deutscher und ausländischer
Seite an seinen Erinnerungen eines Soldaten (die die Kritiker anständig,
wenn nicht überschwenglich aufnahmen) ihm guttat: Sie rangierten 1952
unter den Bestsellern in den USA (wo Guderian im März 1954 zum
Ehrenmitglied der Mark-Twain-Gesellschaft ernannt wurde) und wurden
ihn zehn Sprachen übersetzt, einschließlich Russisch, Polnisch und
Chinesisch. Wenige Monate nach ihrem Erscheinen ging es mit
Guderians Gesundheit bergab, und am 14. Mai 1954 starb er.
Über seinem Grab feuerte der Bundesgrenzschutz einen letzten Salut
ab, denn militärische Ehren blieben ihm verwehrt, da die deutsche
Armee noch nicht wiedererstanden war. Noch in den letzten
Lebenstagen stand für ihn fest, daß die Organisation, in der seine
Karriere aufgegangen war, in Kürze neu geschaffen werden mußte.
Verhandlungen zur Wiederbewaffnung Deutschlands waren im Gange.
Im Oktober 1954 beschloß die NATO die Zulassung der Bundesrepublik,
die dem Bündnis dann am 9. Mai 1955 beitrat - und die Aufstellung der
Bundeswehr, einer einheitlichen Verteidigungsstreitmacht, die er wohl
gutgeheißen hätte, wurde beschlossene Sache.
Den Abschluß der Tragödie dieses Mannes bildet, daß das neue
Deutschland und seine Bundeswehr es noch immer unmöglich finden,
ihm die verdiente offizielle Anerkennung zukommen zu lassen. Ein Plan
aus den sechziger Jahren, Kasernen nach ihm zu benennen, bleibt
unerfüllt.
12
SEHER, TECHNIKER, GENIUS ODER
DEUTSCHLANDS BESTER GENERAL?
Es ist eine Frage der Phantasie, zu entscheiden, ob Guderian alle
Anforderungen erfüllte, die an einen hohen Befehlshaber zu stellen sind,
denn er hatte niemals ein völlig unabhängiges Oberkommando inne.
Daher ist es unmöglich, seine Qualitäten auf dieser Ebene einwandfrei
zu beurteilen, indem man die Kriterien des Feldmarschalls Lord Wavell
anwendet, der erklärt, er betrachte als Oberkommandierenden im
historischen Sinn nur den, »... der bedeutende Streitkräfte bei
unabhängigem Oberbefehl in mehr als einem Feldzug geführt und seine
Fähigkeiten in ungünstiger Lage wie auch im Erfolg bewiesen habe«.
Wavells Stellung als Experte ist unbestritten: unter den neuzeitlichen
Heerführern hält er einen beinahe einzigartigen Rekord im Bestehen der
Widrigkeiten, die mit einem unabhängigen Kommando in diversen
Feldzügen verbunden sind - in Sieg und Niederlage. Ebenso ist er als
Autor mit einer profunden Einsicht in die Probleme der Feldherrnkunst
anerkannt. Es sei daran erinnert, daß Erwin Rommel ein Exemplar von
Wavells Unterweisungen an der Front mit sich trug, während
andererseits Guderian kaum das Bedürfnis nach einem fremden Mentor
verspürt zu haben scheint - vielleicht abgesehen von Füller.
Nichtsdestoweniger bieten sich Wavells Maßstäbe an, Guderian als
Feldherrn zu bewerten, sogar wenn die Anforderungen des
Feldmarschalls zugrunde gelegt werden sollen, da Guderian
notgedrungen die selbständige Befehligung großer Streitkräfte
gegenüber den einschränkenden Richtlinien seiner Vorgesetzten
heimlich durchzusetzen hatte.
In der Tat muß Guderian entsprechend seiner Neigung zum
Alleingang losgelöst von traditioneller Strenggläubigkeit, beurteilt
werden, denn er ist nicht an den Vorstellungen seiner gehorsameren
Zeitgenossen zu messen, von denen er so häufig in bewußtem
Gegensatz Abstand hielt. Guderian stellte jene seltene Kombination
eines Mannes dar, der Ideen besaß und zugleich die Fähigkeit und den
Schwung, seine Eingebungen zu verwirklichen. Kein anderer General
des Zweiten Weltkriegs - und kaum einer in der Geschichte - brachte es
fertig, in so kurzer Zeit einen so weitgehenden und einschneidenden
Wandel der Kriegskunst zu vollziehen, und keiner hinterließ so viele
miteinander im Widerstreit liegende Ansichten. Die Fragen um diesen
einzelgängerischen General richten sich deshalb auf die Wirksamkeit
seiner Unorthodoxie (wenn solche wirklich im Spiel war) ebenso wie auf
das Maß seiner Einsicht und die Beständigkeit seines Charakters. War
er Seher oder Empiriker, bloßer Techniker oder radikaler Genius? Vor
allem: mußte er in einem Berufsstand, der aus strenger Disziplin und
genormtem Verhalten lebt, als Element schädlicher Unterwühlung
verdammt oder konnte er als Herold einer neuen Form militärischer
Integration gefeiert werden? War er, indem er innerhalb der deutschen
Armee eine einheitliche Panzertruppe schuf, der Grund für eine
Aufspaltung dieser Armee? Oder war es von vornherein nutzbringend,
daß er durch Errichtung eines Systems, das dem ersten Versuch, eine
vereinheitlichte Verteidigungsstreitmacht herzustellen, nacheiferte,
Bedingungen einbrachte, die vor der Last eines langen
Abnutzungskrieges bewahrten, wie er 1918 zu Ende ging, und wieder
Operationen von schneller und ökonomischer Natur erlaubten?
Nach den Kriterien, denen Wavell einen Oberkommandierenden
unterwarf, gibt es überreichliche Beweise für Guderians strategisches
Vermögen. Der selbstbewußte Vorstoß im Rücken der gesamten
polnischen Armee bei Brest-Litowsk als Höhepunkt der »Großen
Manöver« im September 1939, dessen Durchführung und Bravour die
Erwartungen des ihm übergeordneten Befehlshabers weit übertrafen,
sprach deutlich für die Anwendbarkeit der von Guderian in 15 Jahren
beinahe isoliert entwickelten Praxis.
Der Durchstoß zur Kanalküste nach Überschreiten der Maas im Mai
1940
und
Guderians
ans
Selbstmörderische
grenzende
Rücktrittsdrohung, als man seine Absichten blockierte, kann als
Bestätigung dafür dienen, daß sein kühn verfochtenes Konzept des
Bewegungskrieges von einer strategischen Tragweite war, die weit über
das unmittelbar militärisch geboten Erscheinende hinausging; ganze
Nationen erlagen einem in der Hand einer Elite, die durch die Geschichte
hindurch höchst orthodox gewesen war. Das erstaunliche Tempo und die
entschlossene Richtung des Vormarsches auf Smolensk und in die
Ukraine im Sommer 1941, dazu das geschickte Jonglieren mit
unzulänglichen
Kräften,
um
eine
beispiellose
Serie
von
Umfassungsmanövern zu verwirklichen, standen wiederum für seine
Begabung, Möglichkeiten ökonomisch auszunützen - auch wenn der
weitere Verlauf des Rußlandfeldzuges mit der Niederlage der
Wehrmacht sich zu einer Erfahrung persönlichen Rückschlags verkehrte.
Bleibt noch als Beispiel meisterlicher Rückzugsstrategie das Hinhalten
der russischen Armee vor den Toren Warschaus im August 1944 - ein
bewundernswertes Haushalten mit geringfügigen Kräften, um eine
planlose Flucht zum Stehen zu bringen.
Unter eben diesen Voraussetzungen erhebt der sorgsame taktische
Einsatz von Menschen und Material, die sich zu Beginn eines jeden
Feldzuges in zahlenmäßiger Unterlegenheit befanden, und die häufige
Erlangung einer durchschlagenden Kräftekonzentration an den
entscheidenden Punkten allein durch Überraschungsmomente Guderian
in den Rang eines großen Feldherrn. Obwohl der Schlachtplan, der
vorsah, 1940 über die Ardennen in Nordfrankreich einzudringen,
ursprünglich von Manstein stammt, war es Guderian, der das
Oberkommando bestärkte, indem er nachdrücklich in vollem Vertrauen
an der Möglichkeit festhielt, die Masse mechanisierter Truppen durch
schwieriges Gelände hindurchzuschleusen (ein damals völlig neuartiges
Konzept). Auch war er es, der in Vorkriegserprobungen die Techniken
gefunden hatte, die einen solchen Vorstoß nicht nur seinen eigenen
Verbänden, sondern allen Teilen des deutschen Heeres erlaubten. Er
nämlich hatte die einzigartigen Systeme der Logistik und
Nachrichtenverbindung entwickelt, die motorisierte Truppen instand
setzen, bis zu fünf Tage lang unabhängig zu operieren und schnell und
flexibel auf Befehle der Führung zu reagieren. Hätte dieses System nicht
vollendet funktioniert, wäre alles ein Fehlschlag geworden.
Natürlich hatten die Taktiken, die die Deutschen mit solcher
Selbstverständlichkeit während des gesamten Zweiten Weltkrieges
anwandten (außer wenn nicht vorherzusehende Einflüsse hinzukamen),
eine hervorragende Ausbildung zur Voraussetzung. Guderian stellt auch
in diesem Zusammenhang Wavell zufrieden. Auf welche Ebene - Zug,
Kompanie, Bataillon oder irgendeine höhere Formation - Guderian seine
schöpferischen Gedanken ausrichtete, um Neues und Wirksameres zu
finden, es wurden dort neue Höhen der Vollendung erreicht. Er begnügte
sich nicht mit Träumen, Studien und Entwürfen, sondern baute
praktische Organisationsformen auf und erläuterte seine Ideen mit einer
lebendigen
Ausdrucksfähigkeit,
die
seinen
unwiderstehlichen
Enthusiasmus und seinen Sinn fürs Praktische bezeugte. Er war absolut
vielseitig, Ausbilder, Chef der gesamten Ausbildung und zugleich
derjenige, der neue Methoden erarbeitete, die ihm reichlich Zeit ließen,
in aller Schärfe die Verantwortlichen zu attackieren, die - wirklich oder
vermeintlich - der Zukunft im Wege standen. Er hatte ein unerhörtes
Talent, das Beste aus seinen Truppen herauszuholen oder seinen
Vorgesetzten das Äußerste abzuringen; das trat nirgendwo mehr zutage
als bei seinem Vorstoß in die Ukraine im August und September 1941.
Hier wurden die widerlegt, die behaupteten, er »wisse die Leute zu
nehmen«.
Doch obwohl sich die Offiziere seines persönlichen Stabes und die
Verbindungsoffiziere mit tiefster Bewunderung und Zuneigung an ihren
General erinnern, waren wenige blind gegenüber seinen Mängeln.
Probleme entstanden für Guderian ebenso häufig durch ihn selbst wie
aus dem System oder durch den Feind. Seine Chefs des Stabes hatten
gelegentlich Mühe, mit ihm und den Befehlen Schritt zu halten, die er
ihnen aus der Entfernung übermittelte. Wie Walther Nehring, einer ihrer
fähigsten, mir sagte, »pflegten seine Gedanken vorauszueilen und
mußte er manchmal zurückgeholt werden. Trotz seines gedanklichen
Tiefgangs passierte es ihm auch, daß er ohne Gedankenpausen
handelte«. Dasselbe wäre von Rommels taktischem Flair zu sagen wenn auch nicht von dessen Intellekt.
Und was war mit den Soldaten, deren Gesichter sich in seiner
Gegenwart aufhellten? Nun ja, sie wußten, was sie an ihrem General
hatten. Obwohl er sie hart herannahm, gingen sie mit, da sie ihn als
einen der Ihren ansahen und er wirklich an ihrer Seite kämpfte, wie es
nur wenige Offiziere in seinem Rang je taten. Besonders im Krieg
(vielleicht mehr noch als zu Friedenszeiten) waren die Soldaten angetan
von seiner warmen Menschlichkeit, dem Kern jeder Führerschaft. Was
ihn zu den aufopferndsten Angriffen auf die oberste deutsche Führung
trieb, war die Überzeugung, daß sowohl sein geliebtes Land wie auch
die Männer seiner Panzertruppe der Unfähigkeit zum Opfer fielen.
Nehring ist auch behilflich, auf ein weiteres der Wavellschen Kriterien
einzugehen: die Entscheidung über Guderians Energie und
Durchsetzungsvermögen bei der Planung von Schlachten. In einem
deutschen Heer, das so gut mit erfahrenen Offizieren von vorzüglichem
Intellekt und enormer Antriebskraft ausgestattet war, erlangte Guderian
einen überragenden Ruf wegen seines offenbar unerschöpflichen
Einfallsreichtums und seiner äußersten Entschlossenheit, seine
Vorstellungen durchzusetzen - wenn nicht sofort, so doch in absehbarer
Zukunft. Diese Zähigkeit wurde von einer viel widerstandsfähigeren
Robustheit getragen als im allgemeinen angenommen, denn während
Guderian es zuließ, daß jedermann wußte, daß er ein schwaches Herz
hatte (was er in hypochondrischer Manier kundtat, wie sie bei hohen
militärischen Führern sonst nicht an der Tagesordnung ist, die ihre
körperlichen Unzulänglichkeiten eher verstecken), hat es keinen Fall
gegeben, in dem ihn mangelnde Gesundheit an der Erfüllung einer
Aufgabe gehindert hätte. Jeder körperliche Zusammenbruch geschah
kurz nach einer Folge aufreibender Ereignisse oder einem ganz und gar
niederdrückenden Erlebnis.
Schließlich, um dies herauszustellen, war es kein Herzversagen, an
dem er starb. Nehring sagt über die Physis seines Chefs und seine
Fähigkeit, Ideen in die Tat umzusetzen: »Er zeigte keinerlei Anzeichen
von Anstrengung, weil er ein starker Mann war - der sich allerdings in
nichts schonte. In Kampfzeiten fiel es ihm nicht schwer, Schlaf zu finden,
um sich zu erholen, und er war ein Kommandeur, für den man sich
bereitwillig einsetzte - bewundernswert durch seine Gabe zu ermutigen,
witzig und mitreißend in seinen Bemühungen, das Beste aus einem
herauszuholen.« Dann, mit großem Nachdruck: »Er besaß ein hohes
Charisma!«
Indessen sind strategische und taktische Befähigung, Eignung als
Ausbilder sowie ausreichende Kraft und Willensstärke Eigenschaften, die
auch bei unbedeutenderen Führerpersönlichkeiten vorkommen mögen,
ohne jedoch die Anforderungen an den Oberbefehl zu erfüllen. Eine
weitere wesentliche Fähigkeit ist vonnöten - angesichts der
Zentralisierung, die aus den komplizierten, von Nachrichtenoffizieren wie
Fellgiebel und Praun geschaffenen Fernmeldesystemen erwuchs,
vielleicht die unentbehrlichste: die Fähigkeit, produktiv mit Regierung und
Verbündeten zusammenzuarbeiten.
In Gemeinschaft mit Verbündeten hatte Guderian relativ wenige Tests
zu bestehen und keinen von zermürbender Dauer. In der
Eröffnungsphase seines Kommandos an der Front errang er seine Siege
ausschließlich mit deutschen Truppen. Rommels Enttäuschungen beim
Versuch, die eigenwilligen Italiener zu Zugeständnissen zu bewegen,
blieben ihm erspart; auch die Mansteins, mit nachlassenden Rumänen
und Ungarn zurechtzukommen, und die Dietls, die widerstrebenden
Finnen in Schwung zu bringen. Als er im Abschlußstadium des Krieges
Chef des Generalstabes war, besaß Deutschland in der Tat nur noch
wenige Verbündete, und auch die zogen sich schon bald nach seinem
Antritt zurück. Dennoch spricht nichts für die Annahme, daß er aus
Mangel an Höflichkeit oder Einfühlungsvermögen nicht in der Lage
gewesen wäre, zweckdienlicher mit anderen Nationalitäten zu
verhandeln, denn er war als Deutscher ohne rassische Vorurteile. Man
darf sich gern daran erinnern, daß vom japanischen Botschafter
kredenzte Getränke ihn vor einem denkwürdig heftigen Disput mit Hitler
im Februar 1945 in die richtige Stimmung versetzten.
Im Verhältnis zur Regierung - und in den meisten Angelegenheiten
bedeutete das zu Adolf Hitler - fällt es wegen der Schwierigkeit und
Unberechenbarkeit des Diktators weniger leicht, zu einem positiven
Schluß zu kommen. Zwischen ihnen scheint eine Art gegenseitigen
Verstehens bestanden zu haben, möglicherweise ein echtes
Einvernehmen, das auf Guderians Seite durch den Glauben gestärkt
wurde, der Führer könne in Tagen der Verzweiflung zum Retter
Deutschlands werden, neben seiner Rolle als Förderer der kämpfenden
Panzertruppe. Als die Drohung des Krieges noch fern war, stützte
Guderian in ihm einen Mann, von dessen Entschlossenheit zu
Konfrontationen und Konflikten er nichts ahnte, der ihm aber »das
scharfe Schwert« in die Hand gab, das einen kurzen Krieg ermöglichte die einzige Art von Krieg, die Deutschland siegreich bestehen konnte.
Und während dies Guderians Ehrgeiz anstachelte, stärkte es auch
Hitlers Stellung gegenüber den deutschen Generälen, die hinsichtlich
des Tempos und der Form eines militärischen Wiederaufbaus uneinig
waren. Die Spaltung in den Reihen des Generalstabes rührte nicht nur
zu einem Teil von Guderian her, sondern kam auch Hitler bei seiner
Abneigung gegen den Generalstab gelegen.
Die Anstrengungen seiner Spitzen vor dem September 1939,
Guderians Position einzuschränken, und die seither fortdauernden
Bemühungen, ihn in ein ungünstiges Licht zu setzen, standen im
Mittelpunkt der Auseinandersetzung zwischen Staat und Armee. Diese
Intrige war von tiefgründiger Komplexität, da sie die gegensätzlichen
Emotionen widerspiegelte, die durch schnellen Wandel einer Institution
hervorgerufen wurden. Die älteren, zurückhaltenderen Mitglieder des
deutschen Generalstabes wandten sich instinktiv gegen die Dynamik
einer stark überzeugenden Persönlichkeit, die radikalen Wechsel
anstrebte - was sollte daran überraschen?
Inmitten des alle Kräfte bindenden Kampfes, der Guderian am
Vorabend des Krieges umtobte, erscheint es weniger gravierend, daß er
zu den letzten gehörte, die erkannten, welches Übel und Risiko Hitler
darstellte. Nicht nur, daß die Wahrheit von Hitler verschleiert wurde,
auch die Gegnerschaft seiner militärischen Vorgesetzten, ihre
Feindseligkeit zwischen 1939 und 1941 nährten zwangsläufig Guderians
unheilvolle Überzeugung, Hitler müsse vor der Unfähigkeit seines
eigenen Oberkommandos bewahrt werden. Es ist leicht zu kritisieren,
daß Guderian seine Versuche nicht aufgab, den Größenwahnsinnigen zu
belehren, bis er endlich 1942 dazu kam, das Versagen des Führers zu
entdecken. Hier gilt es zu erkennen, wie unangreifbar Hitlers Stellung
war und hervorzuheben, daß jegliche Hoffnung auf einen Wandel, die
1943 noch verblieben war, allein durch indirekte Einflußnahme innerhalb
des Systems und nicht durch direkte Aktion von außen realisiert werden
konnte. Das letztliche Scheitern der aktiv Widerstand Leistenden im
Jahre 1944 unterstreicht diesen Standpunkt. Hitler nutzte Guderians
Loyalität nur hemmungslos aus, und zwar ohne Gegenleistung.
Im Umgang mit dem Staatsoberhaupt und dessen Vasallen - unter
ihnen brillante Männer - trat Guderians eigentliche Charakterstruktur
zutage, die bei schärfster Beurteilung nicht ganz den anspruchsvollsten
Forderungen Wavells entspricht. Guderian gelang es wie Wavell nicht,
ein ersprießliches Arrangement mit seinem politischen Gebieter
herzustellen. Die damit verbundenen Gefahren waren allerdings für
Wavell weniger schwerwiegend: als er sich schroff und dennoch
wirkungsvoll Churchill entgegenstellte, setzte er lediglich seine Karriere
aufs Spiel. Guderian dagegen riskierte (wenn er Hitlers Wünschen
zuwiderhandelte) einen Angriff auf Leib und Leben nicht nur für sich,
sondern auch für seine Familie. Seine politische Grundhaltung in den
späteren Jahren muß im Licht der Erkenntnis gesehen werden, daß
Opposition gegen Hitler besonders zum Schluß des Krieges tödliche
Konsequenzen haben mußte, ohne im mindesten zu nützen.
Obwohl Guderian infolge fast ausschließlich militärischer Erziehung
sicherlich in Heeresbelangen über Weitblick verfügte und sich auch in
kritischen Augenblicken seiner Laufbahn als politisch einsichtig erwies,
kann doch nicht mit Überzeugung behauptet werden, daß er jenen
angeborenen Sinn und jenes Urteil für Politik besaß wie in ihrer
Begabung politisch ausgerichtete Soldaten wie von Schleicher und von
Reichenau. Guderian verkannte oftmals die Warnzeichen kommender
Veränderung und konnte nicht, wie es über von Reichenau hieß, »das
Gras wachsen hören«. Nicht daß Schleicher oder Reichenau, die dazu
beigetragen hatten, die Nazis zu fördern, es fertigbrachten, mit
unfehlbarer Genauigkeit in der Zukunft zu lesen, aber sie bemerkten
zumindest die Gefahren, die dem Nazitum innewohnten und
unternahmen Schritte, wenngleich stümperhaft und verspätet, um ihn
aufzuhalten. Guderian dagegen neigte dazu, der offiziellen Linie Glauben
zu schenken und zu lange vertrauensselig zu bleiben - ohne die Folgen
einzuschätzen.
Ironischerweise war er, der radikal wirksame militärische Pläne schuf,
anfällig für überaus verderbliche politische Vorstellungen. Seine
Bereitwilligkeit, sich 1919 in den baltischen Staaten auf die Seite der
Extremisten zu stellen, seine Unterstützung des Naziprogramms Mitte
der dreißiger Jahre, sein Nachvollziehen von Hitlers Dogma und
politischen Ränken tragen die Merkmale eines oberflächlichen
Verständnisses von politischen Motivationen und deren Bedeutung. Es
sei aber hinzugefügt, daß er nur einer von vielen war, die sich in und
außerhalb Deutschlands täuschen ließen. Während es für ihn jedoch zur
Gewohnheit geworden war, militärische Anschauungen zu bekämpfen,
die seinem geschulten Urteilsvermögen zuwiderliefen, gibt es nur
spärliche zeitgenössische Hinweise, nach denen er politisch
verabscheuungswürdige Ideen aufgespürt und zurückgewiesen hätte.
Es ist irrig, anzunehmen, daß die deutschen Offiziere sich von der
Welt jenseits der Kasernentore absonderten; der Generalstab hörte
regelmäßige Vorträge von qualifizierten Leuten über wichtige Themen.
Aber dieses Ventil versagte, weil so viele intellektuelle Persönlichkeiten
das Land verlassen oder ihre Integrität der Naziideologie geopfert hatten,
um selbst zu überleben.
Eine objektive, unvoreingenommene Darstellung war nicht mehr
möglich, sobald führende Intellektuelle aus allen Berufen mundtot
gemacht wurden oder bei ihrem Urteil unter Druck standen. Ihr
mangelnder Protest gegen die Nazis, als diese sich erst etablierten, trug
erheblich dazu bei, daß Deutschland in unterwürfige Gewissenlosigkeit
versank. Guderian, gleich den unteren Chargen des Generalstabs und
dem übrigen Volk, war einem unwidersprochenen Übel ausgeliefert. Er
wie sie alle wurde durch schädliche Einflüsterungen und weil sie kein
ausreichendes Interesse an der doktrinären Politik und den
Tagesereignissen aufbrachten, politisch um so unmündiger. Sie hatten
sich in einer typisch deutschen Neigung verstrickt, der Suche nach
einem Ideal und dem Übereifer, es auf den Sockel zu heben, ohne sich
näher mit seinem Inhalt zu befassen.
Als Guderian 1944 an die Spitze des Generalstabs des Heeres
rückte, war die Lage bereits so verfahren, daß er nur noch eine
verschwindende Chance hatte, dem politischen Strom eine andere
Richtung zu geben oder ihn gar umzulenken, der seit 1938 so sehr die
Kontrolle Hitlers unterstanden hatte, als dieser nacheinander die
Autorität des Kriegsministers, des Oberbefehlshabers des Heeres und
seines Chefs des Generalstabes untergrub. Als er sich nach dem Krieg
auf seine Ereignisse bezog, schrieb Guderian richtigerweise: »Die
jüngeren Offiziere legten das Schweigen der verantwortlichen Spitzen zu
all den Eingriffen, die sie jetzt so scharf verurteilen, so aus, als ob diese
damit einverstanden gewesen wären. Die jüngeren Offiziere konnten
sich nicht vorstellen, daß ihre Vorgesetzten eine angeblich klar erkannte,
ungünstige, ja verderbliche Entwicklung kampflos und ohne die
Folgerung für ihre Person zu ziehen, hinnehmen würden. Gerade dieses
aber geschah, und zwar zu einer Zeit, als es noch möglich gewesen
wäre, Widerstand zu leisten - im Frieden!«
Und doch scheint Guderian in den Nachkriegsdokumenten, in denen
er die rasche Schaffung des Überbaus eines Oberkommandos der
Wehrmacht (OKW) in der Zeit der Wiederbewaffnung und des Krieges
über das bestehende und unzweckmäßige System eines unabhängigen
Kommandos aller drei Wehrmachtteile kommentiert, nicht voll die
Auswirkungen der Beseitigung eines wesentlichen politischen
Gegengewichts gewürdigt zu haben. Er spielt die dadurch eintretende
politische Zersetzung herunter, während er die militärischen Vorteile
eifrig verteidigt. So spürte er dann als Chef einer politisch entwerteten
Organisation (OKH) die Zugluft, da er des direkten Einflusses auf das
Staatsoberhaupt beraubt war, den er so dringend gebraucht hätte.
Man kann es als Ironie des Schicksals bezeichnen, daß er deshalb im
Winter 1944/45 gezwungen war, sich gerade auf die Art von Intrige mit
Politikern einzulassen, die Seeckt mißbilligte und die Guderian selbst in
der Vergangenheit demonstrativ verurteilt hatte. Aber in der
verzweifelten Bemühung, auf die Regierung einzuwirken und den Krieg
zu beenden, bevor Deutschland geschlagen war, verzichtete man auf
Seeckts Regeln und Prinzipien. Guderian scheiterte bei seinem Versuch
ebenso, wie wohl jeder andere Reformer an der festgefügten
Nazihierarchie jener Zeit gescheitert wäre. Es gab einfach niemanden
mehr mit genügend Mut und Einfluß, um Hitlers Entschlüsse zu ändern
oder diesen geistesgestörten Demagogen und seine Speichellecker zu
verjagen. Natürlich ist es erlaubt zu fragen, ob Guderian 1938 erfolgreich
hätte Widerstand leisten können, doch ist eine solche Spekulation
nutzlos. Um erfolgreich zu sein, wo Beck, Brauchitsch und Halder
scheiterten und so Wavells höchsten Ansprüchen zu genügen, dazu
fehlte es Guderian am nötigen Alter und Prestige - erst die Zeit und der
Krieg halfen dem nach. Inzwischen aber behandelte Hitler ihn wie die
übrigen mit »verächtlicher Geringschätzung«.
Es ist eine historische Travestie, obwohl vielleicht nur eine
Übergangsphase, daß sich das deutsche Volk nur in bescheidenem Maß
der Verdienste seiner Generäle bewußt ist, die zudem von
übelwollenden Kritikern herabgesetzt worden sind. Die Furcht vor einer
Kaste besteht und wird wachgehalten. 1965 kritisierte Die Zeit den
Vorschlag der Bundeswehr, eine Heereskaserne nach Guderian zu
benennen, weil sein Charakter nicht richtungweisend sei und er ein
unpassendes Vorbild abgebe, da sein Verhalten nicht immer vorbildlich
gewesen sei. Die böswilligen Unterstellungen in bezug auf seine Haltung
im Sommer 1944 wurden mit journalistischem Eifer erneut hochgespielt,
und obwohl eingeräumt wurde, man könne ihm keinen Vorwurf daraus
machen, nicht direkt bei der Verschwörung mitgewirkt zu haben, da es
sich um eine sehr schwierige Gewissensentscheidung gehandelt habe,
wurde die Anspielung auf Guderians Unwürdigkeit nur schwach verhüllt.
Es gehört zu den rätselhaften Vorgängen um Guderian, daß er sich
entschied, sein Wissen um den Versuch, Hitler zu töten, und sein
stillschweigendes Einverständnis (auch seinem Sohn gegenüber) zu
verschweigen und daß er, indem er seine Verurteilung von Mord als
politischer Lösung aufrechthielt, es absichtlich zuließ, daß sein Volk ihn
eher tadelte, denn daß es ihm Beifall spendete.
Im Ausland ist Guderian großzügiger behandelt worden, wenn auch
zugegebenermaßen in erster Linie als Autor der Erinnerungen eines
Soldaten und als Prophet und Architekt jenes Typs der Kriegführung, die
heute als die beste gilt. Wann immer Panzerstreitkräfte einen neuen Sieg
erringen, pflegt man den Namen Guderian zu erwähnen. Wie kann man
ihn also einordnen? Als Seher? Streng vom militärischen Standpunkt aus
kann die Frage mit einem qualifizierten »Ja« beantwortet werden, da er
die Kriegführung der Zukunft voraussah. Als Techniker? Mit Sicherheit,
da er seine visionäre Erkenntnis mit der seinem Berufsstand eigenen
Hingabe zum Tragen brachte, um eine Maschinerie zu schaffen, die so
perfekt funktionierte, wie dies in einem Krieg nur möglich war. Als
Genie? Seine begnadete Fähigkeit, Ideen in Wirklichkeit und Aktion
umzusetzen, indem er einen machtvollen Einfluß auf Meinungen und
Gefühle, Geist und Methode ausübte, konnte ebensowenig übersehen
werden wie er selbst als Person. Es war sein letzter Chef des Stabes,
Thomale, der ihn »Deutschlands besten und verantwortungsvollsten
General« nannte. Als unbefangenes Urteil möge das seiner Befrager
herangezogen werden, das der skeptischen amerikanischen Offiziere,
die nach dem Krieg diesem erstaunlichen General an den Tischen der
Gefängniszellen gegenübersaßen und deren anfänglich kritische
Einstellung zu seinem Feind gegen Ende in Respekt, wenn nicht
Bewunderung umschlug.
Dort hieß es: »Die militärische Laufbahn Heinz Guderians reicht für
sich genommen aus, um seine Fähigkeit als Organisator, Theoretiker
und entschlußfreudiger Kommandeur im Feld zu beweisen.« Für sie
behielt er »seine außerordentliche intellektuelle Integrität, seine feste
und kompromißlose Haltung, seine Unempfindlichkeit gegen äußeren
Druck und seine Mischung aus Höflichkeit und Galgenhumor. Er ist ein
Mann, der schreibt, was er denkt und der seine Meinungen nicht ändert,
um seiner Umgebung zu gefallen.« Dieses Urteil der Amerikaner, wenn
man es neben das Wissen um die Loyalität dieses Mannes hält, wird
Wavells Forderungen in reichem Maße gerecht, daß ein General
»Charakter besitzen muß« - was, wie er fortfährt, »einfach bedeutet, daß
er weiß, was er will und den Mut und die Entschlossenheit aufbringt, es
zu erreichen. Er sollte eine aufrichtige Auffassung von Humanität haben,
über das Rüstzeug seines Berufes verfügen und zu allererst über das,
was man Kampfgeist nennt, den Willen zum Sieg«.
Was aber sagt die abschließende Analyse über diesen Mann als
leidenschaftlichen Menschen, der so zärtliche Briefe an seine Frau
schreiben konnte und imstande war, tiefe Sorge um Hitler zu empfinden:
»... alles war und blieb ihm fremd: Freundschaft zu edlen Männern, die
reine Liebe zu einer Frau, die Liebe zu den eigenen Kindern...« Es sind
die von ihm ausgehende Wärme und seine Freude an den herzlichen
Gefühlen anderer Menschen, die ihn unter den großen Generälen so
hervorheben. Ganz in seinem Beruf aufgehend, erfüllte er unter äußerst
wechselvollen und schwierigen Umständen treu seine Pflicht.
NACHWORT
Kenneth Macksey, ehemaliger britischer Panzeroffizier und in der
Englisch sprechenden Welt bekannter Autor über militärgeschichtliche
Themen, hat als erster den Versuch unternommen, eine Biographie
meines Vaters zu schreiben, die das vorhandene Quellenmaterial
einbezieht. Er hat viel Verständnis und Einfühlungsvermögen
aufgebracht und sich aufrichtig bemüht, sowohl meinem Vater als auch
uns Deutschen gerecht zu werden. Er hat versucht, manchen schwer
erklärbaren Fragen auf den Grund zu gehen und dabei nicht
unbeträchtlichen Spürsinn entwickelt.
Ich habe Kenneth Macksey gern geholfen, ihm alle Unterlagen
zugänglich gemacht, die ich besitze, habe aus Archiven und Literatur
weitere beschafft, ganz gleich, ob sie für meinen Vater sprachen oder ihn
angriffen. Ich habe mit Kenneth Macksey viele Probleme diskutiert, in
aller Offenheit und immer mit dem Ziel, der Wahrheit zum Sieg zu
verhelfen.
Dieses Ziel ist leicht zu erreichen bei beiderseitigem Willen dazu und
beim Vorliegen beweiskräftiger Unterlagen. Oft helfen noch lebende
Zeugen, die ein gutes Gedächtnis besitzen und natürlich auch den Willen
zur Wahrheit. Aber sehr schnell entstehen trotz besten Willens der
Befragten Legenden. Ich selbst bin ein Zeuge für viele Fragen dieser Art
und glaube, in der Lage zu sein, auch Dinge um meinen Vater zu klären,
an denen ich nicht unmittelbar beteiligt war. Manches entzieht sich
allerdings auch meinem Beurteilungsvermögen.
In diesem Geist fand die Diskussion zwischen Kenneth Macksey und
mir statt. Sie war für mich nicht immer ganz einfach, da ich sie in
englischer Sprache führen mußte und da nicht alle Quellen für mich
offenlagen, auf die Kenneth Macksey sich stützte. Zudem stand diese
Suche nach der Wahrheit unter Zeitdruck und konnte daher nicht immer
zu einem allseits befriedigenden Abschluß geführt werden. So konnte ich
einiges mir nicht ganz richtig Erscheinende nicht zurecht-, manch
eigenwillige Urteile nicht geraderücken und manch kühne
Schlußfolgerungen des Autors nicht auf das eindeutig Beweisbare
zurückführen. Solche Stellen beeinflussen nicht nur das Bild meines
Vaters, sondern zu meinem Bedauern auch das einiger anderer
Persönlichkeiten. Manche Urteile über die preußisch-deutsche
Geschichte entstammen fremden Vorurteilen, zum Beispiel das über die
Verantwortung Kaiser Wilhelms II. am Ausbruch des Ersten Weltkrieges
oder das über die Freikorps.
Doch das Aufführen dieser geringen Schwächen soll die
Gesamtleistung des Autors und den Gesamtwert des Buches nicht
mindern. Das wäre ungerecht und undankbar. Kenneth Macksey hat
Charakter und Leistung meines Vaters im ganzen richtig erkannt und
gewürdigt. Und es ist gut, daß sein Buch nun auch in deutscher Sprache
erscheint, da sich bislang kein deutscher Historiker diese Aufgabe
gestellt hat.
Heinz G. Guderian
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PERSONEN- UND SACHREGISTER
Aa-Kanal 170 f.
Abbeville 12, 167 f.
Abhörnetze 79
Abnutzungskrieg 34
Achtung -Panzer! 65, 103, 157, 172, 185
Afrika, Landung in 181
Aisne 38
Allendorf 292
Alliierte: Landung in Nordwestafrika 233
- in Italien 253
Invasion in der Normandie 261
Altrock, G. von 68
Amiens 40, 143
Ardennen 142, 299
- Projekt 279
Arlon 142
Arras 168
Attigny 174
Aufrüstungsprogramme 85
Bach-Zelewski, E. von dem 273
Balck, H. 116
Barsewisch, K. von 201, 203
Bartenstein 51, 53 f.
Bayerlein, F. 213
Bayreuth-Dragoner 71
Beaulieu, C. de 77, 78
Beck, L. 92, 110
Below, G. von 207
Beresina 197
Bermondt O. 51
Bethenville 176
Bialystok 130
Bischoff, J. 44, 50, 52
Bismarck, O. von 16
Blitzkrieg 103
Blomberg, W. von 73, 81, 83, 105, 290
Blumentritt, E. 200
Bobruisk 193
Bock, F. von 120, 183
Bofors 68
Bois Martin 30
Bois Mont Dieu 157
Boulogne 167 ff.
Bouvellement 159
Brahe 120, 122, 125
Brauchitsch, W. von 69, 105, 138, 147,
181 f., 207
Brest-Litowsk 128, 132, 188, 193, 298
British Tank Corps 32 Bug 130, 188
Bundeswehr, Aufstellung der 296
Burgdorf, W. 277
Busch, E. 139, 147
Busse, Th. 287
Calais 167 ff.
Cambrai 35, 54
Canal du Nord 167
Cannae 34, 70
Caporetto 37
Caulaincourt, A. 186
Caumont 177
Chalons 77
Charkow 139
Chateau Porcien 174
Chemery 156
Cherbourg 174
Churchill, W. 240
Clausewitz, K. von 15
Crochte 172
Cyrenaica 230
Dänemark 145
Daimler-Benz 68
Deipenhof 231, 263
Dercy 161
Deutsches Heer (1. u. 2. Weltkrieg):
Bataillone
Jägerbataillon Nr. 9 15
Hannoversches Jägerbataillon Nr. 10
17 f., 55
3. Telegraphenbataillon 21
3. (Preußische) Kraftfahrabteilung 77
7. (Bayrische) Kraftfahrabteilung 61
Regimenter
Flak-R. 93
Infanterie-R. »Großdeutschland«
156 ff., 188
Schützen-R. 1 154, 159
Schützen-R. 3 122
145,
Brigaden
Eiserne Brigade 44
35. Infanterie-B. 19
3. Schützen-B. 122
Divisionen
5. Kavallerie-D. 21
Eiserne Division 44, 54
1. Panzer-D. 145, 150, 158, 170, 176
2. Panzer-D. 96, 139, 150, 158 f.
3. Panzer-D. 120, 122 f., 131, 144,
209
4. Panzer-D. 129, 144
5. Panzer-D. 144
6. Panzer-D. 150, 158
7. Panzer-D. 144, 168, 174, 216
8. Panzer-D. 159
9. Panzer-D. 144
10. Panzer-D. 128 f., 132, 144, 150
11. Panzer-D. 215
18. Panzer-D. 198
2. (mot.) Infanterie-D. 128
14. (mot.) Infanterie-D. 215
20. (mot.) Infanterie-D. 120 f., 132
SS-Panzer-D. »Das Reich« 216
SS-Panzer-D.
»Leibstandarte
Adolf
Hitler« 171,
Volksgrenadier-D. 276
Armeekorps
I. Kavalleriekorps 21, 26
II. Kavalleriekorps 27
VIII. Armeekorps 19
XII. Armeekorps 189
XIV. Armeekorps 145, 158
XV. Armeekorps 144, 149
XVI. Armeekorps 116, 120, 144
XIX. Armeekorps 119, 122, 129, 158,
172, 192
XXI. Armeekorps 129, 131
XXXXI. Armeekorps 145, 149, 173 f.
XXXXIX. Armeekorps 144, 173
XXIV. Panzerkorps 188, 202
XXXXXVI. Panzerkorps 188, 214, 219
XXXXVIII. Panzerkorps 220, 221
Panzergruppen
- 1 220
- 2 187
- 3 188, 220
- 4 220
Armeen
1. Armee 26
2. Armee 214
4. Armee 171, 189, 200
6. Armee 214
7. Armee 179
9. Armee 200, 287
12. Armee 145, 163, 173
16. Armee 139
18. Armee 172
1. Panzerarmee 224
2. Panzerarmee 224
4. Panzerarmee 197
6. SS-Panzerarmee 281
Heeresgruppen
A 164, 174
B 172 f.
Mitte 187 f., 193
Nord 120, 187, 204, 277
Süd 120, 187, 204, 224
Weichsel 281 f., 284
Dieppe 167
Dierichs, P. 159
Dietrich, S. 106, 171
Die Zeit 305
Dinant 26, 156
Dnjepr 197, 200
Dünkirchen 14, 167, 169
Dwina 200 Dzura 129
Eimannsberger, L. von 103
El Alamein 233, 255
Engel, G. 239
Entscheidungskrieg 105
Epp, F. Ritter von 180
Erinnerungen eines Soldaten 55, 64 74,
125, 130, 136, 143, 146, 166, 180,
190, 211, 222, 234, 244, 275
Fellgiebel, E. 263
Frank, H.-W. 79
Französische Armee:
Divisions Legeres Mecaniques
(DLM) 155
Divisions Cuirassees Rapides
(DCR) 155
Freikorps 43 f.
Friedensarmee 48
Fritsch, W. Frhr. von 45, 92, 105
Formm, F. 135
Führungsverfahren 100
Füller, J. F. C. 18, 32
Funknetze für Tanks 78 f., 101
Funkwaffe 23
Gärtringen, E. H. von 14
Gaulle, Ch. de 165 f.
Gibraltar 181
Givet 142
Gluchow 221
Goebbels, J. 104, 252
Goerdeler, K. 245 f.
Göring, H. 88, 104
Goltz, R. Graf von der 20, 45, 266
Gomel 209
Gorlice - Tarnow 35
Grabenkrieg 31
Grand Morin 29
Gravelines 170
Grenzschutz Ost 43
Grodno 130
Groß-Born 119
Groß-Klonia 121, 126
Guderian, Friedrich 14 f., 19
Guderian, Fritz 17
Guderian, Gretel (geborene Goerne)
20, 84, 126, 177, 203, 231, 273, 281
Guderian, Heinz Günther 132 f.
Guderian, Heinz Wilhelm 12 ff.
Guise 159, 161
Haelen 27
Halder, F. 95, 110, 147, 181 f., 206, 210,
290
Harn 166
Hammerstein-Equord, K. Frhr. von 81,
92
Hannut 150
Hechler, K. 291
Heeresführung, Massenentlassung der
230
Heereswaffenamt 185
Heinrici, G. 285
Hesdin 167
Heye, W. 47, 75
Himmler, H. 87, 257, 282
Hindenburg, P. von 37, 63
Hirson 159, 166
Hitler, A. 13 ff.
Hitler-Putsch 57
Hobart, P. 18, 118
Hoepner, E. 120, 245
Hofacker, C. von 262
Hohenfriedberg 71
Hörne, A. 151
Horthy, N. von 277
Hoth, H. 156, 170, 201
Howard, M. 120
Hühnlein, A. 84, 92
Hutier, O. von 36
Ilsemann, G. von 22
Invasion
- im Westen 136
- von Belgien 148
- von Holland 148
- von Griechenland 186
- von Jugoslawien 186
- von Sizilien 253
Jelnja 220
Jodl, A. 13, 95
Judenverfolgung 113
Juniville 176
Kadettenschulen 16
Kama 67
Kampfwagen 33, 65
Kapp-Putsch 56 f.
Kavallerie, polnische 123
Keitel, B. 18
Keitel, W. 95, 183, 252
Keller, G. 51
Kesselring, A. 216, 255
Kiew 187, 204, 209 f.
-, Schlacht um 219
Kleist, E. von 148, 161, 165, 174
Kluck, A. von 26
Kluge, H. G. von 171, 183
Kommunismus 44
Kraftradschützenzug 88
Krebs, H. 283
Krementschug 217
Kriegsakademie (Berlin) 19 f.
Kriegsverbrecher 290
- Prozesse 273
Krupp 68
Kulm 127
Kurland 277
Kursk 249
- Offensive 249
-, Niederlage von 250
La Fere 163
Langres 177
Legion Condor 108
Le Havre 167, 174
Lemsal 47
Lenin, W. I. 66
Leningrad 187, 204
L'Etang H. 242
Leuthen 70
Lewin, R. 256
Liart 159
Libyen 186
Liddell Hart, B. 65 f.
Liebenstein, K. Frhr. von 208
List, W. 147, 168, 183, 290
Locarnoabkommen 72
Lötzen 263
Longwy 142, 149
Lublin 133
Ludendorff, E. 38
- Offensive 38
Luftaufklärung 31
Lutz, O. 62, 77
Maas 142
Mackensen, A. von 35
Maginot-Linie 142, 179
Malta 180
Manstein, E. von 20, 142, 239, 299
Marneschlacht 29
Matrosen- und Soldatenräte 43
Matz-Offensive 38
Max-Hölz-Aufstand 57
Milch, E. 290, 292
Militärwissenschaftliche Rundschau 107
Militär-Wochenblatt 68, 90, 100
Minsk 188
Mobilmachung (1. Weltkrieg) 21
-, wirtschaftliche 103
Moltke, H. Graf von (d. Ältere) 15, 25,
142
Moltke, H. von (d. Jüngere) 25f., 142
Montcornet 165
Montgomery, B. 179
Montherme 157
Mortain 275
Moskau 187, 204, 224
-, Vormarsch auf 214
Motorisierung, Kritik an der 100
Moyon 28
Münchner Abendzeitung 295
Münchner Abkommen 110
Nagel, Major 216
Napoleon I. 14
Narewgruppe 129 f.
Nationalsozialistische
Deutsche
Arbeiterpartei (NSDAP) 81, 82
Nationalsozialistisches Kraftfahrerkorps
(NSKK) 92 f.
NATO 296 f.
Needra, A. 48
Nehring, W. 78
Nemesis der Macht 205, 245
Nichtangriffspakt 119, 121
Norwegen 145
NSKK-Reichsmotorschulen 92
Oberkommando des Heeres (OKH) 95,
138, 161, 169, 229, 269, 274
Oberkommando der Wehrmacht (OKW)
105, 138, 164, 169, 227 f., 252,
269, 274, 305
Österreich, Einmarsch in 107
Offiziere gegen Hitler 205, 295
Oise 161
Oka 225
Olbricht, F. 245
Orel 220 f.
Ostrik 203
Panzer
Britische: 32
Vickers Medium 67 f., 88
Whippet 68
Seydlitzsche Reiter 71
Shuster, G. 292
Siegfriedlinie 35, 41
Signy-L'Abbaye 159
Slonim 132
Smolensk 188, 193, 201, 299
Soissons 27 f., 39
Somme 32
Sowjetunion, Angriff auf die 183
Spartakisten, Niederwerfung der 44
Speer, A. 237, 240
Speidel, H. 277
Stalin, J. 194
Stalingrad 233
Stauffenberg, C. von 207, 259, 263
Stieff, H. 259
Stonne 157 ff.
Stresemann, G. 63
Strik-Strikfeld, W. 187, 290
Stülpnagel, J. von 61
Stukas 225
Sturmabteilung (SA) 81, 84, 87
Susha 225
Suwalki 188
Swinton, E. 77
Tankduell, 1. 39
Tankforschungsbüro 68
Tassigny, L. de 159
Thoma, W. Ritter von 108
Thomale, W. 241
Times 295
Todt, F. 184, 237
Tolotschino 198
Totenkopfeinheiten 122
Tresckow, H. von 205
Trient 42
Truppenamt 60 f.
Tschechoslowakei, Einmarsch in die 111
Tschern 228
Tula 224
Tunis 253
U-Boot-Bau 184
-Offensive 183
Ukraine 187, 298
Ulmannis, K. 46
Umwerfvermögen 98
Unterstützungsfahrzeuge, gepanzerte 98
Vauxaillon 27
Verdun 32, 36, 178
Verdunoffensive 34
Versailles, Vertrag von 48, 66
Versuchspanzerverband 72
Vesle 40
Vierjahresplan 104
Villers - Bretonneux 39
Vitry-le-FranCois 177
Vittorio Veneto 41
Völkerbund 72
Volkheim, E. 64
Vorläufige Instruktion für die Tank- und
Panzerwagenausbildung
(Provisional Instructions for Tank
and Armoured Car Training) 1927
75
Waffen-SS 87
Waffenstillstandskommission,
österreichisch-ungarische 42
»Walküre« (Unternehmen »W«) 259, 263
Warlimont, W. 95, 275, 288
Warschau 134, 272
Warthegau 231
Warell, Ar. 297
Weichsel 120, 129
Weimarer Republik 58
Weltkrieg I 25 ff.
Weltkrieg II 121 ff.
Wenck, W. 271
Westwall 276
Widerstandsbewegung 113, 245
Wiederbewaffnung 89 f., 92
Wilhelm II. 16, 21, 43
Winniza 238
Winterkrieg 210
Wirtschaftskrise 82, 86
Witzleben, E. von 246
Ypern31, 36
Zabinka, 131
Zeitzier, K. 234
Zorndorf 71
Zossen 284, 288
Zweifrontenkrieg 182
Deutsche:
Großtraktor 67
Landwirtschaftlicher Schlepper 88
Leichter Traktor 67
A 7 V (U) 67
Pz I 88, 119, 125, 134
Pz II 98, 119, 125
Pz III 99, 119, 126, 236
Pz IV 99, 119, 126, 236
VK 3000 236
Panther 236, 243
Tiger I 236, 243, 250
Ferdinand 250
Französische:
Char B 146, 176
2 C-Panzer 98
Somua S 35 146, 155
Russische:
MS I und MS II 67
KW 1 198, 222
T 34 198, 222, 236
Schwedische:
M 21 68
Panzerabwehrkanonen 99
-kompanie 102
-zug 88
Panzerarmee, mechanisierte 65
Panzerdivision, Konzept der 75
Panzerindustrie 97
Panzerspähwagen 88
Panzertruppe, Aufstellung der 95
-, Gegner der 96
-, unabhängige 80
Panzerzerstörer 99
Paris, Einnahme von 95
Partisanenkrieg 207
Patton, G. 180
Paulus, F. 102
Pawolow, General 194
Penny-Packungen 39
Philosophien, militärische 100
Pitgam 171
Ploesti, Ölfelder von 277
Podlaska, Kavalleriebrigade 130
Poix-Terron 159
Pomorska, polnische Kavalleriebrigade
123
Pontarlier 178
Porsche, F. 237
Praun, A. 37, 101, 290
Preußentum 17
Pripjetsümpfe 188
Rabenau, F. von 245
Rapollo, Vertrag von 67
Rastenburg 212, 263
Reichenau, W. von 83, 105, 183, 303
Reichswehr, Reorganisation der 57
Reims 30
Rethel 163, 176
Rethondes, Waffenstillstand in 179
Rhein 284, 287
Rheinmetall 67
Ribbentrop, J. von 284, 285
Richthofen, M. von 26
Richthofen, W. von 125
Riga 36
Riga-Unternehmen 46
Röhricht, E. 293
Rogatschew 197
Rommel, E. 74, 127, 230, 260
Roon, A. Graf von 15
Rosenberg, A. 187
Roslawl 206
Roßbach 71
Rouen 176
Ruhrgebiet, Besetzung des 63
Rundstedt, G. von 120, 166, 183, 285
Ryan, C. 287
Salisbury Plain 66
St. Dizier 177
St. Mihiel 178
St. Quentien 159
Sarajewo 21
Schacht, H. 111
Scharnhorst, G. von 15
Schell, A. von 219
Schlabrendorff, F. von 205, 245
Schleicher, K. von 43, 83, 303
Schlieffen, A. Graf von 25 f., 69
Schmundt, R. 201
Schutzstaffel (SS) 87
Schweppenburg, G. von 123, 202
Sedan 34, 142
Seeckt, H. von 36, 56 f., 75
Selbstfahrlafette 95
Semois 149
Serre 161