Bericht der Volksanwaltschaft an den Nationalrat und an den Bundesrat 2014 Band 2 Präventive Menschenrechtskontrolle Vorwort Die Volksanwaltschaft stellt das Ergebnis ihrer im Jahr 2014 geleisteten Arbeit erstmals in zwei getrennten Berichtsteilen dar. Der zweite Band beleuchtet das Menschenrechtsmonitoring der Volksanwaltschaft und ihrer Kommissionen in Umsetzung ihres seit 1. Juli 2012 bestehenden verfassungsgesetzlichen Auftrags gem. Art 148 a Abs. 3 B-VG. Die Volksanwaltschaft als parlamentarische Ombudsmann-Einrichtung nimmt sowohl ihre Aufgaben im Rahmen der nachprüfenden Kontrolle als auch ihre präventive Tätigkeit zum Schutz und zur Förderung von Menschenrechten ernst und zieht zunehmend Synergien aus ihrer Doppelfunktionalität. Der Prüftätigkeit der Volksanwaltschaft als NPM sind 428 Kontrollen vorausgegangen, die von den Kommissionen der Volksanwaltschaft durchgeführt wurden. Sie besuchten öffentliche und private Einrichtungen, in denen Menschen einer Freiheitsentziehung ausgesetzt sind oder Menschen mit Behinderung betreut werden und beobachteten Polizeieinsätze. Der Menschenrechtsbeirat, der eine beratende Funktion ausübt, leistete wertvolle Unterstützung. Die Volksanwaltschaft als NPM richtet ihre Arbeit im präventiven Bereich weniger auf die Feststellung von Missständen aus, sondern auf das Erzielen von Lösungen. Wenn Empfehlungen nicht sofort umgesetzt werden können, dann werden die jeweiligen Themen nicht abgeschlossen. Ausdauer und Konsequenz sind gefragt, um nachhaltige Verbesserungen zu erzielen. Dieser Berichtsteil wird auch an den UN-Unterausschuss zur Verhütung von Folter (SPT) in Genf übermittelt, demgegenüber die Volksanwaltschaft als NPM eine Berichtspflicht hat. Kapitel 1 gibt einen Überblick über die Tätigkeit des NPM und die Aktivitäten in diesem Berichtsjahr. Kapitel 2 erläutert die wichtigsten Ergebnisse des NPM und zeigt strukturelle Schwachpunkte und wichtige Einzelfälle auf. Die Mitglieder der Volksanwaltschaft danken den Kommissionen für ihr Engagement und dem Menschenrechtsbeirat für seine beratende Unterstützung. Unser Dank gilt auch den Bediensteten: Ohne die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Hauses wäre es nicht möglich, den verfassungsrechtlichen Auftrag zu erfüllen. Auch den Bundesministerien und übrigen Organen des Bundes, der Länder und Gemeinden und der Zivilgesellschaft gilt ein besonderer Dank für die gute Zusammenarbeit im Berichtsjahr. Dr. Günther Kräuter Dr. Gertrude Brinek Wien, im März 2015 Dr. Peter Fichtenbauer Inhalt Inhalt 1 Der Nationale Präventionsmechanismus im Überblick...............................................9 1.1 Mandat der Volksanwaltschaft............................................................................9 1.2 Kontrollen in Zahlen.........................................................................................10 1.3Budget................................................................................................................12 1.4 Personelle Ausstattung......................................................................................12 1.4.1Personal ..............................................................................................12 1.4.2 Kommissionen der Volksanwaltschaft................................................13 1.4.3Menschenrechtsbeirat..........................................................................14 1.5 Ablauf der Kontrollbesuche...............................................................................16 1.6 Bericht der Kommissionen.................................................................................17 1.7 Bericht des Menschenrechtsbeirats ...................................................................20 1.8 Weitere Aktivitäten ...........................................................................................21 2 Feststellungen und Empfehlungen.............................................................................27 2.1 Alten- und Pflegeheime.....................................................................................27 2.1.1Einleitung.............................................................................................27 2.1.2 Systembedingte Problemfelder............................................................32 2.1.2.1 Ärztliche Versorgung..................................................................32 2.1.2.2 Medikamentöse Versorgung.......................................................33 2.1.2.3 Personalmangel im Nachtdienst...............................................35 2.1.3 Untragbare Lebensbedingungen ........................................................36 2.1.4 Positive Feststellungen.........................................................................38 2.2 Krankenhäuser und Psychiatrien......................................................................39 2.2.1Einleitung.............................................................................................39 2.2.2 Systembedingte Problemfelder............................................................43 2.2.2.1 Evaluation der Bedingungen für Freiheitsbewegungseinschränkungen.......................................................................43 2.2.2.2 Beendigung des Einsatzes von Netzbetten steht in Österreich bevor ........................................................................45 2.2.2.3 Private Sicherheitsdienste ..........................................................46 2.2.2.4 Kinder- und Jugendpsychiatrie in Österreich – Mangelsituation in der Facharztausbildung.............................48 2.2.3 Fehlplatzierung eines langjährigen Psychiatriepatienten beendet....50 2.2.4 Unzureichende Kapazitäten im Unterbringungsbereich....................51 5 Inhalt 2.2.5 Mehrtägige Fixierung..........................................................................52 2.3Jugendwohlfahrtseinrichtungen.......................................................................54 2.3.1Einleitung.............................................................................................54 2.3.2 Systembedingte Problemfelder............................................................58 2.3.2.1 Prüfschwerpunkt Gewaltprävention..........................................58 2.3.2.2Barrierefreiheit...........................................................................59 2.3.2.3 Umgang mit Medikamenten.....................................................59 2.3.2.4 Ausbau der Hilfen für junge Erwachsene nötig.........................60 2.3.2.5 Probleme an der Schnittstelle zwischen Kinder- und Jugendhilfe und Behindertenhilfe.............................................62 2.3.2.6 Einrichtungen für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge und Asylwerbende......................................................................63 2.3.2.7 Unterbringung von Kindern in anderen Bundesländern..........65 2.3.3 Heimstrukturen erschweren pädagogische Arbeit .............................66 2.3.4 Sexuelle Selbstbestimmung braucht Schutz........................................68 2.3.5 Positive Feststellungen.........................................................................69 2.4 Einrichtungen für Menschen mit Behinderung................................................71 2.4.1Einleitung.............................................................................................71 2.4.2 Systembedingte Problemfelder............................................................73 2.4.2.1 Altersuntypische Freiheitsbeschränkungen bei Minderjährigen mit geistigen Behinderungen bzw. psychischen Krankheiten...........................................................73 2.4.2.2.Deinstitutionalisierung..............................................................75 2.4.2.3 Keine Heimverträge für Menschen mit Behinderungen............77 2.4.2.4Beschäftigungswerkstätten........................................................78 2.4.2.5 Effiziente Interessensvertretung braucht Ressourcen.................80 2.4.3 Isolierung eines Bewohners.................................................................82 2.4.4 Verwendung von „Time-Out-Räumen“...............................................83 2.5Justizanstalten...................................................................................................86 2.5.1Einleitung.............................................................................................86 2.5.2 Systembedingte Problemfelder............................................................86 2.5.2.1 Personalmangel und dessen Folgen – langer Einschluss und wenig Beschäftigung..........................................................86 2.5.2.2 Bedrückender Anlassfall löst Sonderprüfung und Reform des Maßnahmenvollzuges aus..................................................89 2.5.2.3 Gesundheitswesen und ärztliche Betreuung im Vollzug...........93 2.5.2.4 Jugendstrafvollzug in der Justizanstalt – Mängel trotz Verbesserungen...........................................................................96 6 Inhalt 2.5.2.5 Frauen im Vollzug – krasse Benachteiligungen evident............97 2.5.2.6 Behindertengerechter Ausbau von Justizanstalten...................99 2.5.2.7 Neue Wege bei Suchtmittelkontrollen – Speicheltests sollen Harnproben ersetzen.....................................................100 2.5.2.8 Kriterienkatalog bei Ordnungsstrafen – Forderung bleibt aufrecht....................................................................................102 2.5.2.9 Beschwerdemanagement und Information über Rechtsschutzmöglichkeiten......................................................104 2.5.2.10 Zugang zum Internet als wichtiger Teil der Resozialisierung.......................................................................105 2.5.3 Sonderkrankenanstalt in der Justizanstalt Stein – schwerwiegende Vorwürfe.................................................................106 2.5.4 Bauliche Mängel auf der forensischen Abteilung des LKH Rankweil............................................................................................108 2.5.5 Ausstattung der Krankenzimmer – Forensische Psychiatriestation der Landesnervenklinik Sigmund Freud.............109 2.5.6 Defizite bei Fixierungen – Forensische Abteilung LKH Hall.............110 2.5.7 Korrekte Medikation? – Justizanstalt Garsten...................................112 2.5.8 Fehlende Ergotherapie im Maßnahmenvollzug – Justizanstalt Garsten.........................................................................112 2.5.9 Ausstattung von Dreipersonenhafträumen – Justizanstalt Linz ..................................................................................................113 2.5.10 Besonders gesicherte Hafträume in bedenklichem Zustand – Justizanstalt Feldkirch, Außenstelle Dornbirn.................114 2.5.11 Fehlende sperrbare Spinde und zu große Tische – Justizanstalt Sonnberg.......................................................................115 2.5.12 Selbstmordgefährdeter Insasse im Einzelhaftraum – Justizanstalt Leoben..........................................................................116 2.5.13 Mentale Hilfe nach Einsätzen bei Suiziden und Suizidversuchen – Justizanstalt Göllersdorf......................................117 2.5.14 Barscher Umgangston – Justizanstalt Wien-Josefstadt ....................118 2.5.15 Bilder von unbekleideten Frauen im Dienstzimmer – Justizanstalt Stein..............................................................................119 2.5.16 Positive Feststellungen.......................................................................119 2.6 Polizeiinspektionen, Polizeianhaltezentren und Kasernen.............................121 2.6.1Einleitung...........................................................................................121 2.6.2 Systembedingte Problemfelder – Polizeianhaltezentren...................121 2.6.2.1 Arbeitsgruppe erzielt erste Ergebnisse......................................121 2.6.2.2 Mangelhafte Begründung bei Verbringung von Häftlingen in Sicherungszellen................................................123 7 Inhalt 2.6.2.3 Unzureichende Abtrennung der WC-Bereiche in Mehrpersonenzellen.................................................................125 2.6.2.4 Verständigung bei medizinischen Untersuchungen................128 2.6.3 Erste Eindrücke vom neuen AHZ Vordernberg..................................130 2.6.4 PAZ Klagenfurt – kein Sozialraum für Verwaltungsstrafhäftlinge...132 2.6.5 PAZ Linz – wiederholte Kritik an Hygienestandards und desolaten Bädern...............................................................................133 2.6.6 Positive Feststellungen.......................................................................134 2.6.7 Systembedingte Problemfelder – Polizeiinspektionen.......................135 2.6.7.1 Mangelhafte Dokumentation von Anhaltungen....................135 2.6.7.2 Mangelhafte Ausstattung der Dienststellen............................136 2.6.8 Abschaltbare Rufklingel in Anhalteräumen....................................137 2.6.9 Freiwilliger Aufenthalt in einem versperrten Raum.........................138 2.6.10 Positive Feststellungen.......................................................................138 2.6.11 Systembedingte Problemfelder – Kasernen.......................................139 2.6.11.1 Sanitärbereiche in militärischen Hafträumen......................139 2.6.12 Positive Feststellungen.......................................................................139 2.7Zwangsakte......................................................................................................141 2.7.1Einleitung...........................................................................................141 2.7.2 Systembedingte Problemfelder..........................................................141 2.7.2.1 Abschiebungen und Rückführungen.......................................141 2.7.2.2 Rollenkonflikte des Vereins Menschenrechte Österreich.........144 2.7.2.3 Verständigung der Kommissionen über Polizeieinsätze – neuer Erlass des BMI................................................................146 2.7.2.4 Fremdenrechtliche Kontrollen mit GVS-Relevanz...................146 2.7.3 Demonstrationen mit Ausschreitungen des „Schwarzen Blocks“ gegen den Wiener Akademikerball 2014.............................147 2.7.4 AGM-Kontrollen im Grenzbereich ....................................................148 2.7.5 Positive Feststellungen.......................................................................149 3 Anregungen an den Gesetzgeber..............................................................................151 Abkürzungsverzeichnis..................................................................................................153 8 Nationaler Präventionsmechanismus im Überblick 1 Der Nationale Präventionsmechanismus im Überblick 1.1 Mandat der Volksanwaltschaft Seit 1. Juli 2012 kontrolliert der NPM aufgrund des Mandats des OPCAT (Fakultativprotokoll zum Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigend Behandlung oder Strafe) alle öffentlichen und privaten Einrichtungen, in denen Personen angehalten werden oder angehalten werden können. OPCAT-Mandat Diese präventive Aufgabe des NPM dient dem Schutz und der Förderung der Menschenrechte. Unter „Prävention“ versteht der NPM Maßnahmen zur Risikominderung, die notwendig sind, da Menschen in Anhaltung in besonderem Maße staatlichen Eingriffen ausgesetzt sind. Die Kontrolltätigkeit des NPM ist „flächendeckend und routinemäßig“ durchzuführen, ein Auftrag, den der NPM auch im Berichtsjahr erfüllt hat. Abseits des OPCAT-Mandats ist der NPM aufgrund der Bundesverfassung dazu ermächtigt, Einrichtungen und Programme für Menschen mit Behinderungen zu überprüfen sowie das Verhalten der zur Ausübung unmittelbarer Befehlsund Zwangsgewalt staatlich ermächtigten Organe zu beobachten und begleitend zu überprüfen. Weitere präventive Aufgaben Auch diese Aufgaben stehen unter der Maxime der Prävention. Zur Verhinderung jeder Form von Ausbeutung, Gewalt und Missbrauch hat Österreich sicherzustellen, dass alle Einrichtungen und Programme, die für Menschen mit Behinderungen bestimmt sind, von unabhängigen Behörden wirksam überwacht werden. Die Beobachtung von Akten unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt erfolgte schon seit dem Jahr 1998 durch eine Einrichtung des BMI, eine Kompetenz, die vom NPM übernommen wurde. In der Praxis werden diese Aufgaben natürlich verknüpft, das heißt die Kommissionen planen in ihre Besuchsprogramme alle Aufgaben ein. Der NPM sieht daher die Aufgaben zum Schutz und zur Förderung der Menschenrechte als einen Auftrag an, den er zu erfüllen hat, auch wenn die Rechtsgrundlagen unterschiedlich sind. Die Arbeiten zur Entwicklung einer Protokolldatenbank konnten mit Ende des Berichtsjahrs abgeschlossen werden. Die Datenbank wird eine einheitliche Vorgangsweise der Kommissionen und den Überblick über die jährliche Arbeit unterstützen sowie die Beurteilung der Wahrnehmungen erleichtern. Datenbank erfolgreich gestartet 9 Nationaler Präventionsmechanismus im Überblick 1.2 Kontrollen in Zahlen Die Kommissionen hatten im Berichtsjahr insgesamt 428 Einsätze. Sie besuchten Orte der Anhaltung im Sinne des OPCAT-Mandats, Behinderteneinrichtungen nach der UN-BRK und beobachteten polizeiliche Zwangsakte. In 366 Fällen waren die Besuche und Beobachtungen unangekündigt, in 62 Fällen angekündigt. Die Durchführung unangekündigter Besuche ist daher die Regel. Die durchschnittliche Besuchsdauer betrug etwa dreieinhalb Stunden. 280 OPCAT-Kontrollen Die sechs Kommissionen besuchten österreichweit 280 Orte der Anhaltung im Sinne des OPCAT. Dabei handelte es sich vorwiegend um Alten- und Pflegeheime, Einrichtungen der Jugendwohlfahrt, Polizeianhaltezentren und Polizeiinspektionen sowie Justizanstalten. 79 Behinderteneinrichtungen Außerhalb des OPCAT-Mandats besuchten die Kommissionen 79 Behinderteneinrichtungen aufgrund des Mandats der UN-BRK in ganz Österreich, diese Besuche waren ausschließlich Menschen mit Behinderung gewidmet. 69 Beobachtungen von Polizeieinsätzen Ebenso außerhalb des OPCAT-Mandats beobachteten die Kommissionen österreichweit das Verhalten von staatlichen Organen bei der Ausübung unmittelbarer Befehls- und Zwangsgewalt in 69 Fällen. Kontrolltätigkeit der Kommissionen 2014 2014 Einrichtungen 359 Abschiebungen 22 Polizeieinsätze* 47 gesamt 428 * dazu zählen: Demonstrationen, Veranstaltungen, Versammlungen Wie in den vergangenen Berichtsjahren legten die Kommissionen den Fokus auf Einrichtungen der Alten- und Krankenpflege, Psychiatrie und Jugendwohlfahrt. Zahlenmäßig übersteigen diese Einrichtungen deutlich jene der Polizei und Justiz, weshalb der Auftrag der routinemäßigen und flächendeckenden Erfüllung des Mandats eine besondere Herausforderung darstellt. 10 Nationaler Präventionsmechanismus im Überblick Polizei APH JWF BPE PAK/ KRA AbJA KAS schiebung Polizeieinsatz Andere Wien 20 20 18 20 5 8 0 18 24 0 Bgld 3 8 5 1 0 1 0 0 1 0 NÖ 13 16 7 24 4 9 0 2 1 0 OÖ 6 5 2 1 1 3 2 0 4 1 Sbg 2 7 2 3 0 3 0 0 5 2 Ktn 4 7 4 10 1 4 2 0 3 0 Stmk 8 12 13 8 2 5 0 0 5 0 Vbg 1 5 0 0 0 2 1 0 0 0 Tirol 8 9 9 12 10 0 0 2 4 0 gesamt 65 89 60 79 23 35 5 22 47 3 davon unangekündigt 60 89 58 76 18 31 5 11 16 0 Legende: APH =Alten- und Pflegeheime JWF =Jugendwohlfahrt BPE =Einrichtungen für Menschen mit Behinderung PAK+KRA =Psychiatrische Abteilungen in Krankenhäusern und Krankenanstalten JA =Justizanstalten KAS=Kasernen Andere =Bezirkshauptmannschaften, Landespolizeidirektion Kontrolltätigkeit der Kommissionen 2014 nach Bundesländern 2014 2013 Wien 133 164 NÖ 75 100 Tirol 54 66 Stmk 53 51 Ktn 35 27 OÖ 25 55 Sbg 25 28 Bgld 19 23 Vbg 9 15 428 529 gesamt 11 Nationaler Präventionsmechanismus im Überblick Die Tätigkeit des NPM ist in sehr hohem Ausmaß davon geprägt, dass er nicht (nur) Beanstandungen ausspricht, sondern intensiv lösungsorientiert arbeitet. Mitunter schließt der NPM daher die Verfahren, die sich an die Übermittlung von Kommissionsprotokollen anschließen, erst nach längerer Zeit, eventuell im darauffolgenden Jahr endgültig ab. Die Kommissionen greifen bereits an Ort und Stelle einrichtungsbezogene und strukturelle Mängel auf und schlagen Maßnahmen vor. Die Protokolle werden danach ausgewertet und die Aufsichtsbehörden oder Einrichtungen mit den Kritikpunkten konfrontiert. Lösungen werden danach erarbeitet. Der NPM beanstandete in 272 Fällen die menschenrechtliche Situation. Da die Kommissionen im Zuge ihrer Besuche regelmäßig mehrere Kritikpunkte aufgreifen, sprach der NPM zahlreiche Empfehlungen aus, die wichtigsten dieser Empfehlungen werden in der Folge dargestellt (siehe S. 27 ff.). Erledigungsstatistik 2014 Beanstandung Keine Beanstandung Noch offen Einrichtungen 247 80 32 Abschiebungen 6 7 9 Polizeieinsätze* 19 23 5 gesamt 272 110 46 1.3Budget 2014 standen für die Entschädigungen der Kommissionsleitungen, Kommissionsmitglieder und Mitglieder des Menschenrechtsbeirates 1.450.000 Euro zur Verfügung. Darin enthalten sind auch die Reisekosten sowie die Abgeltung für die Vor- und Nachbereitung der Besuche. Der NPM setzt sich in seinen Gesprächen mit dem Parlament stets dafür ein, dass trotz allgemeiner budgetärer Sparmaßnahmen weiterhin die intensive Kontrolltätigkeit beibehalten werden kann. Die Anzahl der Besuche und begleitenden Überprüfungen der Kommissionen sollen auch in den Folgejahren sowohl qualitativ als auch quantitativ sichergestellt bleiben. 1.4 Personelle Ausstattung 1.4.1Personal 15 zusätzliche Planstellen 12 Die VA hat im Zuge der Umsetzung des OPCAT-Mandats 15 zusätzliche Planstellen zur Erfüllung der Aufgaben erhalten. Eine Planstelle wurde infolge von Budgeteinschränkungen wieder gestrichen. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wurden für folgende Aufgaben eingesetzt: Sechs Juristinnen und Juristen, fünf (ursprünglich sechs) Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Nationaler Präventionsmechanismus im Überblick Administration, zwei Personen im Sekretariat OPCAT und eine Person für die Öffentlichkeitsarbeit. Das Sekretariat OPCAT ist für die Koordinierung der Zusammenarbeit mit den Kommissionen zuständig. Darüber hinaus sichtet es internationale Berichte und Dokumente, um den NPM mit Informationen ähnlicher Einrichtungen zu unterstützen. Die Juristinnen und Juristen haben Erfahrungen in den Bereichen Rechte von Menschen mit Behinderungen, Kinderrechte, soziale Rechte, Polizei, Asyl und Justizanstalten. 1.4.2 Sekretariat OPCAT Kommissionen der Volksanwaltschaft Der NPM hat zur Besorgung seiner Aufgaben entsprechend dem OPCATDurchführungsgesetz die von ihm eingesetzten und multidisziplinär zusammengesetzten Kommissionen zu betrauen. Im Bedarfsfall können die regionalen Kommissionen Expertinnen und Experten aus anderen Fachgebieten beiziehen, soweit ein Kommissionsmitglied einer anderen Kommission dafür nicht zur Verfügung steht. Die Kommissionen sind nach regionalen Gesichtspunkten organisiert. Sie bestehen aus jeweils sieben Mitgliedern und einer Kommissionsleiterin bzw. einem Kommissionsleiter. Kommission 1 Kommission 2 Tirol/Vbg Sbg/OÖ Leitung: Dr. Karin TREICHL Leitung: Priv.-Doz. az. Prof. Dr. Reinhard KLAUSHOFER Kommissionsmitglieder Kommissionsmitglieder Mag. Dr. Susanne BAUMGARTNER Dr. Sepp BRUGGER Mag. Elif GÜNDÜZ Dr. Max KAPFERER Lorenz KERER, MSc MMag. Monika RITTER Mag. Hubert STOCKNER DSA Markus FELLINGER Mag. Dr. Wolfgang FROMHERZ Dipl.jur. Katalin GOMBAR Mag. PhDr. Esther KIRCHBERGER Dr. Robert KRAMMER Dr. Renate STELZIG-SCHÖLER Mag. Hanna ZIESEL Kommission 3 Kommission 4 Stmk/Ktn Wien (Bezirke 3 bis 19, 23) Leitung: Mag. Angelika VAUTI-SCHEUCHER Leitung: Univ.-Prof. Dr. Ernst BERGER Kommissionsmitglieder Kommissionsmitglieder Klaus ELSENSOHN Dr. Odo FEENSTRA Mag. Daniela GRABOVAC Dr. Ilse HARTWIG Mag. Sarah KUMAR Sechs Kommissionen ao Univ.-Prof. Dr. Andrea BERZLANOVICH Mag. Sandra GERÖ Mag. Helfried HAAS Christine PEMMER, MBA 13 Nationaler Präventionsmechanismus im Überblick MMag. Silke-Andrea MALLMANN SenPräs. d. OLG i.R. Dr. Erwin SCHWENTNER DSA Petra PRANGL Mag. Nora RAMIREZ-CASTILLO Mag. Walter SUNTINGER Kommission 5 Kommission 6 Wien / NÖ (Bezirke 1, 2, 20 bis 22)/NÖ (pol. Bezirke Gänserndorf, Gmünd, Hollabrunn, Horn, Korneuburg, Krems, Mistelbach, Tulln, Waidhofen a.d. Thaya, Zwettl) Bgld / NÖ (pol. Bezirke Amstetten, Baden, Bruck a.d. Leitha, Lilienfeld, Melk, Mödling, Neunkirchen, Scheibbs, St. Pölten, Waidhofen a.d. Ybbs, Wiener Neustadt, Wien Umgebung) Leitung: Univ.-Prof. Dr. Manfred NOWAK, LLM Leitung: RA Mag. Franjo SCHRUIFF, LLM Kommissionsmitglieder Kommissionsmitglieder Dr. Susan AL JAWAHIRI (ab Februar 2014:) Univ.-Prof. Dr. Gregor WOLLENEK Mag. Lisa ALLURI, BA Prim. Dr. Harald P. DAVID Mag. Marijana GRANDITS Mag. Sabine RUPPERT Dr. Maria SCHERNTHANER Hans Jörg SCHLECHTER Mag. Karin BUSCH-FRANKL Dr. Süleyman CEVIZ Mag. Corina HEINREICHSBERGER Prim. Univ.-Doz. Dr. Siroos MIRZAEI, MBA Cornelia NEUHAUSER, BA Dr. Elisabeth REICHEL DSA Mag. Karin ROWHANI-WIMMER 1.4.3Menschenrechtsbeirat Menschenrechtsbeirat Der MRB ist als beratendes Organ eingerichtet. Er ist aus Vertreterinnen und Vertretern von Nichtregierungsorganisationen und Bundesministerien zusammengesetzt. Er unterstützt den NPM bei der Klärung von Fragen der Kontrollzuständigkeit und jener Themen, die im Zuge der Besuche der Kommissionen über den Einzelfall hinausgehende Probleme betreffen. Menschenrechtsbeirat Vorsitzende: Ass.-Prof. DDr. Renate Kicker Stellvertretender Vorsitzender: Univ.-Prof. Dr. Andreas Hauer 14 Name Funktion Institution SC Mag. Dr. Mathias VOGL Mitglied BMI GL Matthias KLAUS Ersatz mitglied BMI Dr. Ronald FABER Mitglied BKA MR Dr. Brigitte OHMS Ersatz mitglied BKA Nationaler Präventionsmechanismus im Überblick SC Dr. Gerhard AIGNER Mitglied BMG Mag. Irene HAGER-RUHS Ersatz mitglied BMG SC Mag. Christian PILNACEK Mitglied BMJ Lt.StA Mag. Gerhard NOGRATNIG LL.M.Eur. Ersatz mitglied BMJ Stv. AL Mag. Billur ESCHLBÖCK Mitglied BMLVS GL Dr. Karl SATZINGER Ersatz mitglied BMLVS Botschafter Dr. Helmut TICHY Mitglied BMeiA Gesandte Mag. Ulrike NGUYEN Ersatz mitglied BMeiA Stv. SL GL Dr. Hansjörg HOFER Mitglied BMASK Stv. AL Mag. Alexander BRAUN Ersatz mitglied BMASK Dr. Waltraud BAUER, Amt der Steiermärkischen Landesregierung (seit Okt. 2014: Dipl.-Ing. Shams ASADI, Magistrat der Stadt Wien) Mitglied Ländervertretung Dipl.-Ing. Shams ASADI, Magistrat der Stadt Wien (seit Okt. 2014: Dr. Wolfgang STEINER, Amt der OÖ Landesregierung)) Ersatz mitglied Ländervertretung Mag. Heinz PATZELT Mitglied Amnesty International Österreich iZm SOS Kinderdorf Mag. Barbara WEBER Ersatz mitglied Amnesty International Österreich iZm SOS Kinderdorf GS MMag. Bernd WACHTER (seit 2015: Mag. Angela BRANDSTÄTTER) Mitglied Caritas Österreich iZm VertretungsNetz Dipl.ET Mag. Susanne JAQUEMAR Ersatz mitglied Caritas Österreich iZm VertretungsNetz Mag. Martin SCHENK Mitglied Diakonie Österreich iZm Volkshilfe GS Mag.(FH) Erich FENNINGER (seit Okt. 2014: Christian SCHÖRKHUBER) Ersatz mitglied Diakonie Österreich iZm Volkshilfe Michael FELTEN, MAS Mitglied Pro Mente Austria iZm HPE 15 Nationaler Präventionsmechanismus im Überblick Mag. Angelika KLUG Ersatz mitglied Pro Mente Austria iZm HPE Mag. Tamara GRUNDSTEIN Mitglied Selbstbestimmt Leben Initiative Österreich Martin LADSTÄTTER Ersatz mitglied Selbstbestimmt Leben Initiative Österreich Philipp SONDEREGGER Mitglied SOS Mitmensch iZm Integrationshaus und Asyl in Not Mag. Nadja LORENZ Ersatz mitglied SOS Mitmensch iZm Integrationshaus und Asyl in Not Mitglied Verein für Gewaltprävention, Opferhilfe und Opferschutz (Graz) iZm Gewaltschutzzentrum Salzburg Dr. Renate HOJAS Ersatz mitglied Verein für Gewaltprävention, Opferhilfe und Opferschutz (Graz) iZm Gewaltschutzzentrum Salzburg MMag. Katrin WLADASCH (seit Mai 2014: Mag. Dina MALANDI) Mitglied ZARA iZm Neustart SC i.R. Dr. Roland MIKLAU Ersatz mitglied ZARA iZm Neustart Dr. Barbara JAUK 1.5 Ablauf der Kontrollbesuche In Abstimmung mit dem NPM legen die Kommissionen vierteljährlich ihre Besuchsprogramme fest. Prüfergebnisse von früheren Besuchen können in Hinkunft in der neuen Datenbank sofort abgerufen werden. In regelmäßig stattfindenden Sitzungen der Kommissionen werden die Besuchsteams zusammengestellt. Soweit die Besuchsthematik es erfordert, können die Kommissionen externe Expertinnen und Experten beiziehen. Kommissionen erstellen Protokolle Die Wahrnehmungen und Feststellungen der Kommissionen werden in einem standardisierten Protokoll festgehalten. Es ist in fünf Kapitel gegliedert: Basisinformationen über die besuchte Einrichtung, Feststellungen zum Besuch, themenbezogene Feststellungen, sonstige Anmerkungen und Abschlussgespräch. Relevant für die Prüfung sind insbesondere Fragen nach der Anwendung freiheitsbeschränkender und Sicherungsmaßnahmen, Indizien für Folter oder erniedrigende Behandlung und das Gesundheitswesen. Erhoben werden auch 16 Nationaler Präventionsmechanismus im Überblick Betreuungs- und Vollzugspläne, die Vorgangsweise für eine Rückführung und Entlassung der Angehaltenen, die Personalsituation sowie das Beschwerdemanagement. Überprüft werden weiters die Lage, Baustruktur und bauliche Ausstattung der Einrichtung, die Lebens- und Aufenthaltsbedingungen der angehaltenen Personen, deren Möglichkeit zur Kontaktnahme nach außen, die Wahrung ihres Rechts auf Familie und Privatsphäre, vorhandene Bildungs-, Arbeits- und Beschäftigungsangebote sowie der Zugang zu internen Informationen. Gesondert dokumentiert wird das von dem Besuchsteam mit der Leitung der jeweiligen Einrichtung bzw. des jeweiligen Polizeieinsatzes geführte Abschlussgespräch. Darin werden die ersten Eindrücke und Wahrnehmungen festgehalten und, soweit möglich, die Behebung von Mängeln vereinbart. Dieses Protokoll wird den Einrichtungen routinemäßig übermittelt. Abschlussgespräch Der NPM befasst sowohl bei Systemfragen als auch einrichtungsspezifischen Mängeln die zuständigen Ministerien bzw. Aufsichtsbehörden, gelegentlich auch die Einrichtungen selbst. Daneben arbeitet der NPM auch in ministeriellen Arbeitsgruppen oder Arbeitsgruppen mit Bundesländern mit. In diesem Zusammenhang möchte der NPM die Großteils gute Kooperationsbereitschaft der Behörden und Einrichtungsträger betonen, die keinesfalls den Eindruck entstehen ließen, notwendige Maßnahmen und Verbesserungen nicht veranlassen zu wollen. 1.6 Bericht der Kommissionen Die Kommissionen sehen es als ihre Verpflichtung an, ihre Arbeit für den Schutz der Menschenrechte so effizient wie möglich zu gestalten. Sie stellen an sich selbst den Anspruch, Prioritäten unter Beachtung der jährlichen Schwerpunktsetzungen des NPM richtig zu treffen. Um Menschenrechtsverletzungen aufzudecken und präventiv weitere zu verhindern, stützen sie sich auf alle verfügbaren Informationen. Dazu ist ein intensiver Austausch mit Institutionen und Organisationen im NGO-Bereich besonders wichtig. Diesem Austausch dient die Intensivierung der Öffentlichkeitsarbeit des NPM mit der neugestalteten Homepage der VA. Aus den Erfahrungen der Besuchstätigkeit der Kommissionen werden folgende Einzelpunkte hervorgehoben: Die Besuche in Alten- und Pflegeheimen zeigen große Unterschiede im Betreuungsstandard in quantitativer und qualitativer Hinsicht. In den bestehenden Einrichtungen sind die Verhältnisse selbst in jenen ein und desselben Rechtsträgers äußerst unterschiedlich. Teilweise besteht erheblicher Verbesserungsbedarf bei den räumlichen Verhältnissen, die mitunter Beeinträchtigungen der Privatsphäre verursachen. Der Großteil der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist äußerst bemüht und versucht, möglichst professionell zu agieren, ob- Alten- und Pflegeheime 17 Nationaler Präventionsmechanismus im Überblick wohl erheblicher Kostendruck herrscht. Allgemein sind Personalschlüssel und -ausstattung zu wenig auf psychosoziale Betreuungsleistungen ausgerichtet. In vielen Einrichtungen entsteht der Eindruck, dass die Menschen tendenziell den einheitlichen Anforderungen des Systems angepasst werden sollen und nicht das System an die oft unterschiedlichen Bedürfnisse der Menschen. So sind autonome Entscheidungen (Essenszeiten, Schlafenszeiten, Gang in den Garten, eigener Zimmerschlüssel etc.) aufgrund des Tagesablaufes mit zeitigem Abendessen und Zubettgehen oft nicht wahrnehmbar. Bedauerlicherweise wird Supervision selten in Anspruch genommen. Auf Dauer wird dadurch die (psychische) Gesundheit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und als Resultat daraus auch jene der Bewohnerinnen und Bewohner nachhaltig beeinträchtigt. Jugendwohlfahrt In Einrichtungen der Jugendhilfe wurden an vielen Orten nach wie vor Defizite an systematischen Konzepten der Gewaltprävention und der Dokumentation festgestellt. Supervision ist in diesem Bereich weitgehend etabliert. Behinderteneinrichtung Das durch die UN-BRK formulierte Prinzip der Inklusion und Deinstitutionalisierung fordert noch große Veränderungen im Bereich des Behindertenwesens. Es gilt freilich auch für den Schulbesuch von Kindern mit Beeinträchtigungen. Der Fortbestand von behinderungsspezifischen Großeinrichtungen in diesem Bereich erscheint den Kommissionen in hohem Maße kritikwürdig. Justizanstalten In Justizanstalten weist die Gesundheitsversorgung an vielen Orten einen deutlichen Verbesserungsbedarf auf. Dazu gehören auch der von Häftlingen oft beklagte despektierliche Umgang seitens einzelner Anstaltsärztinnen und -ärzte bzw. Pflegekräfte und die mancherorts unprofessionelle Diktion medizinischer Dokumentationen. Das derzeit in einem Probelauf eingesetzte Modell von Videodolmetscherinnen und Videodolmetschern im medizinischen Bereich (JA Josefstadt) hat sich bisher bewährt und sollte ausgeweitet werden. Reduzierte Besuchsmöglichkeiten sowie der Freiheitsentzug durch Unterbringung in besonders gesicherten Zellen gaben mehrmals Anlass zu menschenrechtlichen Empfehlungen. Psychiatrie Die Kommissionen sind bei Überprüfungen der Einweisung in psychiatrische Krankenhausabteilungen nach dem Unterbringungsgesetz auf den Umstand gestoßen, dass diese Einweisungen in einem erstaunlich hohen Prozentsatz ohne amtsärztliche Bestätigung (Parere), also nach § 9 Abs. 2 Unterbringungsgesetz (bei Gefahr im Verzug – ohne Untersuchung), erfolgen. Vermutlich kommt diese Ausnahmebestimmung im ländlichen Bereich noch häufiger zur Anwendung. Man kann daher annehmen dass der gesetzliche Primärweg (nach Abs. 1) sehr häufig nicht eingehalten wird. Dies erscheint menschenrechtlich bedenklich. Amtsärztliche Rufbereitschaft Nachdem schon der Menschenrechtsbeirat (alt) jahrelang die mangelhafte Verfügbarkeit von im öffentlichen Sanitätsdienst stehenden Ärztinnen und Ärzten im ländlichen Gebiet für Hafttauglichkeitsprüfungen und Vorführun- 18 Nationaler Präventionsmechanismus im Überblick gen in psychiatrische Abteilungen kritisiert hatte, wurde nun aufgrund von Ebola eine durchgehende amtsärztliche Rufbereitschaft außerhalb des Dienstbetriebes eingeführt. Die Kommissionen erwarten, dass diese Verfügbarkeit auch nach dem Abklingen der Furcht vor Ebola aufrechterhalten bleibt. Die schon vor einigen Jahren vom Menschenrechtsbeirat (alt) aufgezeigten Defizite bei der Aufklärung von Misshandlungsvorwürfen gegen die Polizei bestehen nach wie vor. Die öffentlich diskutierte mögliche Wiederaufnahme des Verfahrens im Folterfall „Bakary J.“ zeigt, wie wichtig es wäre, internationale Empfehlungen anzuwenden. Das Misshandlungsverfahren in Österreich bedarf, wie schon vom Menschenrechtsbeirat (alt) lange gefordert, einer grundlegenden Reform zu einer unabhängigen, schnellen Ermittlung hin. Misshandlungsvorwürfe Die Kommissionen 4 und 5 waren Anfang des Jahres 2014 mit einer großen Zahl von Familienrückführungen nach dem Dublin III-Verfahren konfrontiert: Im Zeitraum vom 1. Oktober 2013 bis 19. April 2014 waren es 27 Fälle. Der Rücktransport führte in verschiedene europäische Länder, die vielen Familien aufgrund ihrer Fluchterfahrungen bekannt sind. Häufig sind diese Erfahrungen negativ und lösen Angst aus. Die Erfahrungen und Erlebnisse, die Kinder beim Abschiebungsverlauf machen, hinterlassen in ihrer Seele tiefe Verletzungen, insbesondere dann, wenn die Kinder Gewaltanwendung gegenüber ihren Eltern miterleben. Die Kommissionen kritisierten daher wiederholt – mit Verweis auf das Kindeswohl – die Umstände der Abschiebungen von Familien mit kleinen Kindern bzw. schwangeren Müttern (siehe auch S. 143 ff.). Abschiebungen Ein weiteres Problem, das im Rahmen von Abschiebungen manifest wurde, ist die Frage der Verantwortung für die grenzüberschreitende gesundheitliche Versorgung chronisch kranker Menschen. Während auf dem Transportweg seitens der Polizei die medikamentöse Versorgung gewährleistet wird, ist die lückenlose Weiterbehandlung am Ankunftsort keineswegs gesichert. Dass eine substanzabhängige Patientin bzw. ein substanzabhängiger Patient, der in Österreich in ein Substitutionsprogramm integriert war, oder eine Diabetikerin bzw. ein Diabetiker die erforderliche Medikation in einem europäischen Zielland (bei Dublin-III-Rückführungen) unmittelbar nach der Ankunft erhält, sollte gewährleistet sein (siehe auch S. 142 ff. ). Hinsichtlich der beobachteten Lokalkontrollen im Rotlichtmilieu ist festzuhalten, dass die Kommissionen zwar die Bemühungen um einen möglichst korrekten Ablauf anerkennen, die Vorgangsweise allerdings den Aspekt des Menschenhandels häufig außer Acht lässt, zumal keine Dolmetscherinnen und Dolmetscher bei den Überprüfungen beigezogen werden. Die Beamtinnen und Beamten sollten zu Umgang, Gesprächssetting und Kommunikationsstrategien mit potentiellen Opfern geschult werden. Menschenhandel 19 Nationaler Präventionsmechanismus im Überblick 1.7 Bericht des Menschenrechtsbeirats Der Menschenrechtsbeirat konnte im Jahr 2014 seine erfolgreiche Arbeit weiter fortsetzen und ausbauen. Er trat im Jahr 2014 zu insgesamt fünf Sitzungen zusammen und bildete zahlreiche Arbeitsgruppen, die ihrerseits in rund 20 Sitzungen, teilweise unter Beiziehung externer Expertinnen und Experten, tagten. Treffen mit ausländischen Delegationen Im Februar 2014 sprachen mehrere Mitglieder des Menschenrechtsbeirats mit einer tunesischen Parlamentsdelegation über Fragen des NPM. Die Vorsitzende nahm am Besuchsprogramm des NPM von Mazedonien in Wien im April 2014 teil und referierte über die Tätigkeit des Menschenrechtsbeirats und die menschenrechtlichen Standards des „Europäischen Komitees zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe“ (CPT). Im Dezember 2014 traf eine Delegation der Expertengruppe „GRETA“ („Group of Experts on Action against Trafficking in Human Beings“) des Europarats mit Mitgliedern des Menschenrechtsbeirats zusammen. Erfolgreiche Beratungstätigkeit Die VA richtete verschiedene Anfragen (Vorlagen) an den Menschenrechtsbeirat, die überwiegend noch im Jahr 2014 erledigt werden konnten. Folgende Themen wurden dabei behandelt: Gesundheitswesen und ärztliche Betreuung in Justizanstalten, Einsatz von Netzbetten versus Achtung der Menschenwürde, Bundes-Blindeninstitut vereinbar mit der UN-BRK, Schranken der Befugnisse von privaten Sicherheitsdiensten in psychiatrischen Einrichtungen, Menschenrechtliche Anforderungen an Daten und Statistiken zur Lebenssituation von Menschen mit Behinderung, Besonders gesicherte Hafträume in Justizanstalten, Beschäftigungstherapiewerkstätten – Reformbedarf, NPM-Mandat für Abschiebungen und Zurückweisungen auf dem Luftweg, Supervision bei der Polizei, Rechtsschutz bei altersuntypischen freiheitsbeschränkenden Maßnahmen bei Kindern und Jugendlichen mit Behinderung (noch in Bearbeitung), Baulich getrennte WC-Anlagen in Anhalteräumen der Polizeiinspektionen (noch in Bearbeitung), Aus eigener Veranlassung richtete der Menschenrechtsbeirat folgende Arbeitsgruppen ein: 20 Nationaler Präventionsmechanismus im Überblick „Einheitliche menschenrechtliche Standards und Prüfkriterien bei polizeilichen Großlagen“ (noch in Bearbeitung), „Arbeitsweise des Menschenrechtsbeirats“ (noch in Bearbeitung). Die Stellungnahme zu „Beschäftigungswerkstätten – Reformbedarf“ wurde auch auf der Volltextbibliothek des BIDOK (Behinderung Inklusion Dokumentation), einem Projekt des Instituts für Erziehungswissenschaft der Universität Innsbruck, veröffentlicht. Die Stellungnahmen des Menschenrechtsbeirats, deren Veröffentlichung er selbst angeregt und der NPM beschlossen hat, sind überwiegend im Volltext auf der Homepage der VA nachzulesen. 1.8 Weitere Aktivitäten Seminare, Workshops, Publikationen Um die Kooperation mit den OPCAT-Kommissionsleiterinnen und –leitern zu verbessern, wurden Seminare vor Ort, d.h. für die jeweiligen Regionalkommissionen, durchgeführt und damit der spezifische Erfahrungsaustausch verstärkt. In einem zweitägigen Workshop wurden, ausgehend von der Grundsatzfrage Was heißt Prävention? (unter der Leitung des Europaratsexperten Dr. Markus Jaeger), wesentliche Fragen der Schwerpunktsetzung und der Professionalisierung im methodischen Vorgehen (Leitung Dr. Barbara Jauk, Gewaltschutzzentrum Steiermark und Mitglied des Menschenrechtsbeirats) erarbeitet und gefestigt. An diesem jährlichen Erfahrungsaustausch nahmen neben Kommissionsleiterinnen und –leitern sowie Kommissionsmitgliedern auch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der VA teil. In den regelmäßig abgehaltenen Arbeitssitzungen der Kommissionsleiterinnen und –leiter und der Mitglieder der VA mit ihren jeweiligen Teams wurden sowohl aktuelle Arbeitsfragen diskutiert als auch grundsätzliche Festlegungen erörtert und verabschiedet. Wesentliche Abstimmungen für den täglichen Ablauf der Arbeit als NPM konnten damit vorgenommen werden. Zur weiteren Verbesserung der Arbeitsgrundlagen – sowohl für die Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeiter der VA als auch für die Mitglieder der Besuchskommissionen und deren Leiterinnen und Leiter – wurde der Status der Protokoll-Datenbank ausgebaut. Als Zeichen einer guten Kooperation mit Behörden sind vor allem Workshops und Arbeitssitzungen zu nennen; exemplarisch ist das Treffen mit einschlägigen Repräsentantinnen und Repräsentanten der Polizei sowie mit der Sozialverwaltung hervorzuheben. Um die Arbeit des NPM einer qualifizierten Öffentlichkeit zugänglich zu machen und Impulse von einem möglichst weiten Kreis von Vertreterinnen und Vertretern der Zivilgesellschaft erörtern zu können, wurden in einem „NGO- 21 Nationaler Präventionsmechanismus im Überblick Forum“ einerseits Überlegungen zur Erarbeitung der Grundzüge eines Nationalen Aktionsplans Menschenrechte (NAP Menschenrechte) vorgestellt und diskutiert und andererseits menschenrechtsrelevante Erfahrungen und Denkanstöße gesammelt. Dabei konnte der NPM resümieren, dass sowohl der grundsätzliche Auftrag „Schutz und Förderung der Menschenrechte“ als auch die einzelnen daraus abzuleitenden Aufgaben und Tätigkeiten sehr gut im allgemeinen Bewusstsein verankert sind und der NPM als „Menschenrechtshaus der Republik“ erfolgreich etabliert ist. Publikationen in Fachmedien trugen und tragen zur weiteren Verankerung des NPM bei und veranschaulichen die jeweilige Kompetenz der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bzw. der beteiligten Akteure. Mehr dazu im ersten Band des Berichts im Kapitel 2.4. Internationale Vernetzung Austausch im deutschen Sprachraum Im Sinne des Austauschs von Erfahrungen mit anderen Präventionsmechanismen des deutschen Sprachraums entsandte der NPM im April Vertreterinnen und Vertreter zu einem ersten Treffen nach Berlin. Ziel dieses Treffens war der Aufbau einer Kooperation zwischen den NPMs aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, wobei der Austausch über wirkungsvolle Präventionsarbeit, erfolgreiche Arbeitsweisen und bewährte Strategien in den einzelnen Ländern im Mittelpunkt stand. Aufgrund des großen Erfolges dieses ersten Treffens wird der NPM ein Folgetreffen in Österreich ins Auge fassen. Südosteuropäisches NPM-Netzwerk Seit Oktober 2013 ist der NPM auch ein Mitglied des Netzwerks südosteuropäischer NPM-Einrichtungen (SEE NPM-Network). Der Zusammenschluss von Ombudsmann-Einrichtungen aus Albanien, Bulgarien, Kroatien, Mazedonien, Montenegro, Serbien, Slowenien und Österreich, die mit NPM-Aufgaben betraut sind, dient dem Wissens- und Erfahrungsaustausch sowie der gegenseitigen Unterstützung. Der NPM war auch 2014 wieder in drei dieser südosteuropäischen Netzwerktreffen vertreten. Slowenische OmbudsmannEinrichtung Das erste Treffen im Rahmen des SEE NPM-Netzwerks wurde von der slowenischen Ombudsmann-Einrichtung in Ljubljana organisiert. Beim Besuch eines Polizeianhaltezentrums in Ljubljana konnten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer Einblicke in die tägliche Arbeit des slowenischen NPM gewinnen. NPM-Workshop in Mazedonien Ein SEE NPM-Workshop in Mazedonien thematisierte die Kontrolle von psychiatrischen Einrichtungen und den – auch präventiven – Schutz vor Folter und Misshandlung. Anlass gab die derzeitige Situation in Mazedonien und die Tatsache, dass die in Psychiatrien tätigen Ärztinnen und Ärzte keine Form der externen Kontrolle akzeptieren. Die Ärztinnen und Ärzte waren daher ebenfalls zum Workshop eingeladen und konnten sich über international etablierte Kontrollmechanismen und Kontrollpraktiken informieren. Der Vortrag eines Kommissionsmitglieds wurde von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern aufgrund seiner Praxisnähe besonders gut angenommen. 22 Nationaler Präventionsmechanismus im Überblick Ein vom serbischen Ombudsmann organisiertes OPCAT Forum lud Vertreterinnen und Vertreter des SEE NPM-Netzwerks im November nach Belgrad, um einen präventiven Ansatz für die Abschaffung von Folter und den Kampf gegen Straffreiheit in diesem Bereich zu erörtern. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer tauschten dabei ihre Erfahrungen über die Situationen in Erstaufnahmezentren, Gefängnissen und Psychiatrien aus. OPCAT-Forum in Belgrad Der NPM stellt seine Expertise auch im Rahmen von bilateralen Arbeitsgesprächen mit Kolleginnen und Kollegen aus aller Welt zur Verfügung. So freute sich der NPM über eine Initiative Tunesiens, das als erstes Land in der gesamten Region des Mittleren Ostens und Nordafrikas einen Schritt zum Aufbau eines eigenen NPM setzt, und empfing im Februar eine tunesische Delegation zum Erfahrungsaustausch in Wien. Ziel des Besuches war es, Tunesien bei der Etablierung eines NPM zu unterstützen, Fragen zur Finanzierung und Bewältigung von Herausforderungen zu beantworten sowie Kriterien für die Auswahl der Mitglieder einer solchen präventiven Menschenrechtskontrolle zu erstellen. Die tunesische Delegation traf auch mit Vertreterinnen und Vertretern des Menschenrechtsbeirats und der Kommissionen zusammen. Bilaterales Treffen mit tunesischer Delegation Ende April 2014 empfing der NPM eine Delegation der mazedonischen Ombudsmann-Einrichtung zu einem Arbeitsbesuch in Wien. Ziel dieses dreitägigen Besuches war es, die Delegation über den Aufbau und die Arbeitsweise der österreichischen Menschenrechtskontrolle zu informieren. Ein besonderes Augenmerk bildeten dabei nationale und internationale Menschenrechtsstandards, die Kooperation mit Ministerien und den zu überprüfenden Einrichtungen sowie die Rolle der Zivilgesellschaft. Die mazedonische Delegation hatte auch Gelegenheit, Kommissionsmitglieder beim Besuch einer Einrichtung für Menschen mit Behinderung zu begleiten und so einen umfassenden Einblick in die praktische Arbeit zu erhalten. Mazedonischer NPM in Wien Auch in Griechenland wurde die dortige Ombudsmann-Institution mit der Aufgabe des nationalen Präventionsmechanismus betraut und ist nun dabei, dieses neue Mandat zu implementieren. Aus diesem Anlass organisierte der griechische Ombudsmann einen NPM-Workshop in Athen. Ein Experte aus Wien unterstützte die Veranstaltung mit einer Präsentation über Aufbau, Funktion und Tätigkeit des österreichischen NPM. NPM-Workshop in Athen Im Hinblick auf die eigene Tätigkeit empfing der NPM im April Miloš Jankovic von der serbischen Ombudsmann-Einrichtung in Wien. Er ist seit 2013 Mitglied des UN-Unterausschuss zur Verhütung von Folter (SPT) und als Länderberichterstatter u.a. auch für Österreich zuständig. Im direkten Gespräch mit Herrn Jankovic konnte der NPM wichtige Hinweise für die Berichterstattung an das SPT gewinnen. SPT-Berichterstatter besucht VA Im Oktober nahmen Expertinnen und Experten des NPM an einem Workshop zu NPM-Empfehlungen teil, der vom Ludwig Boltzmann Institut für Menschenrechte organisiert wurde. Der Schwerpunkt des Workshops lag dabei BIM-Workshop zu NPM Empfehlungen 23 Nationaler Präventionsmechanismus im Überblick auf der Follow-up-Kontrolle und der Umsetzung von Empfehlungen. Ebenfalls thematisiert wurden Schnittstellen der Nationalen Präventionsmechanismen mit dem SPT, dem CPT (Europäisches Komitee zur Verhütung von Folter und unmenschlichere oder erniedrigender Behandlung oder Strafe) und dem APT (Vereinigung zur Verhinderung von Folter). OSZE Themenschwerpunkt Folterprävention Der NPM beteiligt sich aktiv am OSZE-Dialog über Aufgaben, Herausforderungen und Weiterentwicklungsmöglichkeiten der nationalen Menschenrechtsinstitutionen. Die traditionell gute Kooperation war dieses Jahr von besonderem Interesse, da die Schweiz in ihrer Funktion als OSZE Vorsitzland den Themenbereich „Folterprävention“ als Schwerpunkt für das Jahr 2014 definierte. Der NPM zeigte sich daher gerne bereit, im Rahmen eines Treffens des OSZEMenschenrechtskomitees in Wien einen Bericht über die bisherige Tätigkeit zu präsentieren. Expertinnen und Experten des NPM nahmen auch an einem Zusatztreffen zur menschlichen Dimension teil, das sich ebenfalls dem Thema der Folterprävention widmete, und besuchten ein APT-Treffen, das im Vorfeld des OSZE-Zusatztreffens NPM-Einrichtungen aus ganz Europa zu einem Erfahrungsaustausch in den Bereichen Polizei und Folterprävention nach Wien holte. Europarat CPT trifft NPM Im September absolvierte das CPT seinen mittlerweile sechsten Besuch in Österreich und traf dabei zum ersten Mal mit dem NPM zusammen. Mitglieder der VA und zwei Kommissionsleiter informierten das vom Europarat eingesetzte Monitoring-Organ über aktuelle Probleme an Orten des Freiheitsentzugs in Österreich und tauschten sich über nationale und internationale Standards des Menschenrechtsschutzes aus. Im Zentrum der Gespräche standen neben dem Verbot von Netzbetten auch der Umgang mit Misshandlungsvorwürfen gegen die Polizei, der Jugendstrafvollzug und der Personalmangel in Justizvollzugsanstalten. Im Rahmen des zehntägigen Aufenthaltes absolvierte das CPT angekündigte und unangekündigte Besuche im Anhaltezentrum Vordernberg, den Justizanstalten Stein und Wien-Josefstadt, dem Otto-Wagner-Spital sowie in Polizeistationen und anderen Orten, wo die Freiheit entzogen werden kann. Veranstaltungen Einen regen Gedanken- und Erfahrungsaustausch gab es mit internationalen Organisationen bei Vorträgen und Podiumsdiskussionen, etwa bei der 27. Sitzung des Menschenrechtsrats der Vereinten Nationen in Genf (UN Human Rights Council) am 10. September 2014, bei der Präsentation von „Young People and their Rights“ (der englischsprachigen Fassung von „Junge Menschen und ihre Rechte“) bei einem Side Event am 9. September 2014, bei Arbeitsge- 24 Nationaler Präventionsmechanismus im Überblick sprächen im Büro der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC) in Wien über Kinderrechte und Österreichs NPM-Erfahrungen sowie bei Arbeitsbesuchen von CPT-Vertretern. Auch Gespräche mit Repräsentantinnen und Repräsentanten der diplomatischen Vertretungen europäischer und außereuropäischer Staaten und Partner-Ombudseinrichtungen erweiterten das Arbeitsspektrum und eröffneten neue Möglichkeiten für Kooperationen, Partnerschaften und künftige Aktivitäten. Die modellhaft gut konzipierte Organisation des NPM wurde von den Dialogpartnern und Gästen vielfach besonders hervorgehoben und in seiner Ausformung und Ausstattung gewürdigt. Als Beispiel für die nachhaltige Kooperation und Menschenrechtsbildung sei auf den Workshop mit Vertreterinnen und Vertretern der Zivilgesellschaft zum Thema „Polizei.Macht.Menschenrechte“ verwiesen, der an eine bestehende gute Tradition anschließt und neue Wege der Kooperation eröffnet – vor allem jene, die über die laufenden Arbeitsgruppen und -sitzungen in der VA hinausgehen. Nachhaltige Kooperationen und Menschenrechtsbildung Auf eine gute Kooperationsbasis geht auch die Zusammenarbeit mit den Wiener Volkshochschulen zurück, welche die Gelegenheit bot, v.a. im Zusammenhang mit der Initiative „Wien wird Menschenrechtsstadt“ sowie in zahlreichen Podiumsdiskussionen die Prüf- und Präventionstätigkeit des NPM anschaulich darzustellen. Mit der Eröffnung des neuen Besuchs- und Informationsbereichs VA.TRIUM im Eingangsbereich der VA wurde ein eindrückliches Zeichen für Menschenrechtsbildung und Förderung des Menschenrechtsbewusstseins gesetzt (mehr dazu in Band 1 Kapitel 2.4.). 25 Alten- und Pflegeheime 2 Feststellungen und Empfehlungen 2.1 Alten- und Pflegeheime 2.1.1Einleitung Die Kommissionen besuchten im Berichtsjahr 89 Alten- und Pflegeeinrichtungen. Dabei kontrollierten sie bewusst sowohl größere Heime als auch sehr kleine Einrichtungen. Die Kooperationsbereitschaft der Einrichtungen mit Kommissionen und VA war im Wesentlichen hoch. In einem Fall entschied die zuständige Kommission, einen Besuch unverzüglich abzubrechen. Ein Mitarbeiter der Einrichtung hatte am Vortag Suizid begangen. Die Betroffenheit darüber war deutlich wahrnehmbar. Aus Gründen der Pietät wurde der Besuch verschoben. In Österreich gibt es rund 850 größere Alten- und Pflegeheime mit mehr als 75.000 Plätzen. Davon sind etwas mehr als 400 öffentliche Einrichtungen. Knapp 450 Alten- und Pflegeheime haben private Träger, davon 79 konfessionelle. Rund 25 % dieser der Alten- und Pflegeheime haben ein Qualitätsmanagement-System eingeführt. Ende 2014 waren 32 Heime mit dem nationalen Qualitätszertifikat für Alten- und Pflegeheime in Österreich (NQZ) ausgezeichnet. Die gesetzliche Basis für das nationale Qualitätszertifikat für Alten- und Pflegeheime in Österreich (NQZ) wurde in einer Novelle des Bundes-Seniorengesetzes, die mit 1. Jänner 2013 in Kraft trat, geschaffen. Das NQZ beinhaltet ein österreichweit einheitliches Fremdbewertungssystem mit dem Ziel, die Lebensqualität in Alten- und Pflegeheimen transparent zu machen und systematisch weiter zu entwickeln. Qualitätsmanagement und NQZ Die Regelungskompetenz für den Betrieb von Alten- und Pflegeheimen samt den Strukturen, unter denen Pflege- und Dienstleistungen erbracht werden (Pflegestandards, Ausstattung, Personalschlüssel, Fachkräftequoten, ärztliche Betreuung, Betriebspflichten, Rechte der Bewohnerinnen und Bewohner), liegt bei den einzelnen Bundesländern. Den umfangreichsten Katalog an Rechten für Bewohnerinnen und Bewohner enthält das Wiener Pflegeheimgesetz. Am untersten Ende der Skala diesbezüglich ist OÖ, wo solche Rechte nur spärlich normiert sind. Es gibt Heimgesetze, die sich zum Recht auf Pflege und dessen Umsetzung überhaupt ausschweigen, andere gestehen diese nur im Umfang der Leistungsangebote vor oder stellen darauf ab, dass Bewohnerinnen und Bewohner entsprechend ihren Bedürfnissen unter Beachtung ihrer vertraglichen Rechte betreut werden müssen. Einzig in Wien wird das Recht auf respektvolle Pflege, fachgerechte und insbesondere an aktuellen Pflegestandards ausgerichtete Pflege statuiert. Länderweise unterschiedliche Regelungen Die Umsetzung pflegewissenschaftlicher Ergebnisse und die Anwendung verschiedener – auch aus Sicht präventiver menschenrechtlicher Kontrolle – wesentlicher Assessment-Instrumente (z.B. für die Risikoeinschätzung im Zusam- Deutlich gestiegene Anforderungen 27 Alten- und Pflegeheime menhang mit Sturzprophylaxe, Schmerz, Hygiene, Mangelernährung, Hautschäden) macht in allen Bundesländern eine Neuausrichtung und Professionalisierung der Pflege erforderlich. Dazu kommt, dass die meisten Bewohnerinnen und Bewohner schon bei Eintritt in Einrichtungen hochbetagt (über 85-jährig) sind und wegen chronischer Leiden und Mehrfacherkrankungen einen dementsprechend hohen Pflege- und Betreuungsbedarf aufweisen. Herausforderung Demenz Dementielle Erkrankungen im fortgeschrittenen Stadium sind dabei der häufigste Grund für den Umzug vor allem von allein lebenden Menschen. Als begrenzende Faktoren für häusliches Wohnen gelten insbesondere auch Stuhlinkontinenz, häusliche Gefahren und demenzassoziierte Verhaltensstörungen. Expertinnen und Experten betonen, dass antidementiv gut eingestellte Demenzkranke und deren Umfeld im Hinblick auf Betreubarkeit und Wohnfähigkeit profitieren. Bleibt ein Durchbruch in Prävention und Therapie aus, wird sich die Anzahl der Demenzkranken in Österreich von 90.500 im Jahr 2000 auf rund 233.000 im Jahr 2050 erhöhen. Dabei handelt es sich um mittelschwere und schwere Demenzen mit einem hohen Hilfs- und Versorgungsbedarf. Aufgrund dieser Situation gewinnen gerontopsychiatrisches, palliativpflegerisches und palliativmedizinisches Wissen und eine bestmögliche stetige ärztliche Versorgung in Alten- und Pflegeheimen immer mehr an Bedeutung. Auch die Erwartungshaltung von Angehörigen, was diese Einrichtungen als letzter Wohnort von Menschen in der Langzeitbetreuung leisten sollten, steigt dementsprechend. Es geht daher nicht mehr nur um Grundpflege („warm, satt, sauber“), sondern auch um die psychosoziale und rehabilitative Versorgung von Geriatriepatientinnen und -patienten. Durch spezielle räumliche, personelle und alltagsbezogene Gestaltung ist eine Unterstützung der Betreuung und Pflege dementiell erkrankter Menschen in Bezug auf deren spezielle Bedürfnisse wie z.B. bei gesteigertem Bewegungsdrang, bei Tag-Nacht-Umkehr, aber auch bei Verhaltensauffälligkeiten möglich. Dazu braucht es Ressourcen. Harmonisierung der Rahmenbedingungen notwendig Wie viel Personal nötig ist, nach welchem Schlüssel dies berechnet wird oder über welche Qualifikationen das Personal verfügen muss, ist von Bundesland zu Bundesland verschieden geregelt. Damit Pflegepersonen bundesweit in einem gesicherten Rahmen zeitgemäße, professionelle Pflege nach aktuellen Standards, die Wissenschaft und Forschung in einzelnen Bereichen entwickelt haben, leisten können, bedarf es bundeseinheitlicher Grundlagen für die Erstellung von Personalbedarfsberechnungen sowie vereinheitlichte Strukturparameter (Personal- und Qualifikationsschlüssel, Heimgröße, Ausstattung sowie gemeinsame Qualitätssicherung). All das ist derzeit nicht gegeben. Entsprechend vielfältig sind auch die Eindrücke der Kommissionen bei ihren Besuchen in diesem Einrichtungstyp. Oftmals wurden die Kommissionen von Seiten des Personals mit Klagen über mangelnde Ressourcen insbesondere bei Unterstützung alter Menschen mit Demenz konfrontiert. Positive Reaktionen auf Kommissionsbesuche Positiv hervorzuheben ist, dass Einrichtungen die Anregungen der Kommissionen auch als Feedback auffassen und annehmen konnten und Zusagen für 28 Alten- und Pflegeheime Verbesserungen abgaben. Die Einhaltung derselben wird vom NPM im Zuge von Follow-up-Besuchen oder in Prüfungsverfahren kontrolliert. Dabei zeigte sich, dass leichter realisierbare Vorschläge vielfach aufgegriffen werden. Beispielsweise wurden Paravents zur Wahrung der Intimsphäre sowie Niederflurbetten zur Vermeidung von freiheitsbeschränkenden Maßnahmen angekauft, Sitzmöbel angeschafft, in die Personen im Rollstuhl zur Dekubitusprophylaxe umgelagert werden und dennoch am Geschehen im Küchen-Ess- Aufenthaltsbereich teilnehmen können. Es wurde in einigen Einrichtungen der Zugang zu Informationen in Piktogrammen für Demenzerkrankte hergestellt, Maßnahmen zur Erzielung von Barrierefreiheit gesetzt, Animations- und Freizeitangebote erweitert, spezifische Fortbildungen verstärkt etc. Außerdem wurden in mehreren Heimen in Reaktion auf Abschlussgespräche mit Kommissionen Maßnahmen zur Verbesserung der Dokumentation gesetzt und das Beschwerdemanagement verbessert. Zuweilen wurden verstärkte Maßnahmen zur Sturzprophylaxe oder Schmerzassesments empfohlen und umgesetzt. Im Zuge von Kommissionsbesuchen stellte sich des Öfteren auch heraus, dass freiheitsbeschränkende Maßnahmen nicht, wie im HeimAufG vorgesehen, auch unverzüglich der Bewohnerinnen- bzw. der Bewohnervertretung gemeldet wurden. Das macht diese Beschränkungen per se unzulässig. Entsprechende „Nachmeldungen“ gab es deshalb in mehreren Fällen. Auch Anregungen zu sehr spezifischen pflegerischen Situationen, in denen es zu Freiheitsbeschränkungen kam, wurden aufgegriffen. So traf eine Delegation auf eine demente Bewohnerin, der Waschlappen um beide Hände gebunden worden waren, um ein Kratzen am Körper zu verhindern. Beim Followup-Besuch wurde festgestellt, dass diese Frau seit der Kritik juckreizlindernde Medikation erhält und ihre Hände nun frei bewegen kann, ohne sich weiter selbst zu verletzen. Generell spielte in der Pflege eine die Bedürfnisse von Bewohnerinnen und Bewohnern aufmerksam wahrnehmende Unternehmenskultur und eine wertschätzende Haltung eine entscheidende Rolle. Selbstbestimmung und Würde von Menschen, die zunehmend auf Hilfe angewiesen sind und dabei Eingriffe in ihre Intimsphäre zulassen müssen, sind sehr leicht bedroht. Die Kommissionen beanstandeten in einigen Fällen „Fließband-Pflege“ sowie Verhaltensweisen, welche deutlich von normalen Maßstäben abweichen. Wenn z.B. das Frühstück serviert wird, obwohl eine Frau noch auf dem Toilettenruhlstuhl sitzt, oder sämtliche Bewohnerinnen und Bewohner beim Essen Lätzchen tragen müssen, wie sie normalerweise bei Kleinkindern verwendet werden, stellt dies eine entwürdigende Versorgung dar. Wenig bleibt vertraulich, wenn persönliche Angaben in Gemeinschaftsbereichen vor anderen gemacht werden müssen oder Gespräche mit Arztinnen und Ärzten sowie Angehörigen mitgehört werden können. An gehörigem Respekt scheint es auch zu mangeln, wenn Aufforderungen im Befehlston ergehen („Legen Sie sich hin!“) oder erwartet wird, dass alte Menschen im Sinne der Pflegeroutine „funktionieren“. Respekt in der Pflege unabdingbar 29 Alten- und Pflegeheime Vielfach nahmen die Kommissionen das Bemühen der Leitung und des Pflegepersonals um eine freundliche, entspannte und angenehme Atmosphäre und einen sorgsamen Umgangston wahr. Aber auch in der nichtsprachlichen Kommunikation mit alten Menschen, der Durchführung pflegerischer Handlungen selbst, in Pflegeplanungen, bei vorgenommenen Tages- und Zeitstrukturierungen, der Begleitung desorientierter oder sterbender Menschen und in der Dokumentation können sich unbeabsichtigt negative oder unreflektierte Haltungen gegenüber den zu Pflegenden abbilden. Fallweise machten Kommissionen bei Besuchen darauf aufmerksam, dass abgewendete Pflegebalken in Betten für alte Menschen nicht erreichbar sind, Rufsysteme nicht funktionieren, das Entblößen von Körperteilen oder die Inkontinenzversorgung vor den Augen Dritter stattfindet, beim Duschen die Badezimmertüre offen bleibt, Orientierungshilfen fehlen, mit neu eingezogenen Personen keine Führung durch die Einrichtung vorgenommen wurden, ihnen nicht gezeigt wurde, wo sich Terrassen befinden etc. Forschung zu menschenrechtsrelevanter Prävention initiiert Die VA hat ein Projekt angeregt, das Forschungsliteratur zum Thema „Prävention“ aufarbeiten soll. Univ.-Prof. Dr. Titscher hat ein entsprechendes anwendungsorientiertes Projekt als Projektleiter beim Jubiläumsfonds der Österreichischen Nationalbank eingereicht und bewilligt bekommen. Im Zentrum der Studie steht die Prävention zur Verhütung von Menschenrechtsverletzungen. Die Studie konzentriert sich vor allem auf zwei Typen von Wiener Einrichtungen: Alten- und Pflegeheime sowie Krankenanstalten, die psychiatrische Abteilungen führen. Die Leitfragen lauten: Wie können Einrichtungen, in denen Menschen versorgt werden, präventive Mechanismen in ihre Arbeit integrieren? Und wenn das in verstärktem Maße möglich ist: Wie können sie dabei unterstützt werden, das effektiver und effizienter zu tun? Um diese Fragen zu beantworten, wird versucht, die Indikatoren zu identifizieren, die (vor allem) die Versorgungsqualität beeinflussen. Anwendungsorientiert ist das Projekt, weil die Ergebnisse dem NPM eine wissenschaftlich fundierte Hilfestellung für die Prüfthemen und die Prüfmodalitäten geben sollen. Der NPM sieht derartige Vorhaben als Teil ihrer gesetzlichen Verpflichtung an, mit der Wissenschaft zu kooperieren (§ 7 Abs. 3 VolksanwG). Freiheitsbeschränkungen – Zentrales Register Der Schutz der persönlichen Freiheit während des Aufenthalts in Heimen und anderen Pflege- und Betreuungseinrichtungen ist seit 2005 bundesgesetzlich geregelt (HeimAufG). Eine wichtige Voraussetzung für die Zulässigkeit einer freiheitsbeschränkenden Maßnahme ist, dass keine gelinderen Mittel zur Verfügung stehen. Alle Bemühungen, Häufigkeit, Ausmaß und Intensität freiheitsbeschränkender Maßnahmen – also technische, arzneimittelbasierte, kommunikative und interaktive Eingriffe in die (Fortbewegungs-)Freiheit – zu minimieren, sind deshalb ein Qualitätsmaßstab. Eine an der Menschenwürde und den Menschenrechten ausgerichtete Pflege ist ohne aktiven Schutz der persönlichen Freiheit undenkbar. Daher drängt dieser Achtungsanspruch darauf, dass Einrichtungen ihren eigenen Umgang mit freiheitsbeschränkenden Maßnahmen überdenken und ständig selbstkritisch evaluieren. Das geschieht 30 Alten- und Pflegeheime teils nicht mit der gehörigen Aufmerksamkeit. Es gibt aber auch traditionelle Pflegeheime, die sich das als konkrete Zielvorgabe setzen und in der Pflegeplanung detailliert darauf abstellen, individuelle Lösungen für auftretende Probleme zu suchen und zu finden, ohne in die Autonomie der zu Pflegenden einzugreifen. Zum Teil schon in Verwendung befindliche EDV-gestützte Pflegedokumentationssysteme (z.B. Vivendi) erleichtern die Identifikationen von Risiken und lassen auch gezielte Auswertungen gesetzter freiheitsbeschränkender Maßnahmen als Basis einer stetigen Selbstevaluierung zu. Das CPT empfiehlt, in psychiatrischen Krankenanstalten ein Zentralregister zur Erfassung freiheitsbeschränkender Maßnahmen einzuführen. Das Gleiche fordert der NPM auch für Alten- und Pflegeheime. Das BMG hat sich dieser Ansicht angeschlossen und ein dementsprechendes Informationsschreiben an die Länder versandt. Die Kommissionen stießen, wie auch schon im Jahr davor (PB 2013, S. 49), bei ihren Besuchen immer wieder auf Menschen unter 60 Jahren in Pflegeheimen. Das grundsätzliche Problem besteht österreichweit darin, dass Behinderteneinrichtungen üblicherweise nicht auf die Versorgung von Bewohnerinnen und Bewohnern mit intensivem Pflegebedarf ausgerichtet sind und kaum über durchgehend beschäftigtes Pflegefachpersonal verfügen. Jüngere Menschen mit erhöhtem pflegerischem oder medizinischem Pflegebedarf werden deshalb in Pflegeheimen oder Geriatriezentren aufgenommen. Deren Konzepte sind jedoch auf hochaltrige und demenzkranke Personen ausgerichtet und bieten kein geeignetes Lebensumfeld für wesentlich jüngere Menschen. Fehlplatzierungen: junge Menschen im Altersheim Es ist daher erforderlich, entsprechende Konzepte zu entwickeln und ausreichend Plätze für diese Personengruppe zur Verfügung zu stellen. Wichtig dabei ist, für junge behinderungsbedingt eingeschränkte Menschen mit Pflegebedarf Wahlmöglichkeiten zu schaffen und aktiv anzubieten. Dazu gehören auch Konzepte und Modelle, die Pflege und Betreuung in der eigenen Wohnung leistbar machen. In Wien wurde beim Dachverband der Wiener Sozialeinrichtungen eine Arbeitsgruppe zu dieser Thematik eingerichtet. Neben Vertreterinnen und Vertretern der verschiedenen Trägerorganisationen sowie Selbstvertreterinnen und Selbstvertretern nahm auch der NPM daran teil. Im Rahmen dieser Arbeitsgruppe führte der Fonds Soziales Wien (FSW) ein Assessment in den Einrichtungen des KAV durch. Zum Zeitpunkt dieser Erhebung im Frühjahr 2014 befanden sich insgesamt 308 Menschen unter 60 Jahren in den Pflegehäusern des KAV, 50 davon äußerten ausdrücklich den Wunsch zu wechseln. Auch in Niederösterreich wurden inzwischen die Zahlen erhoben: In 107 Häusern mit über 9.000 Plätzen werden derzeit 245 Personen unter 60 Jahren in Langzeitpflege betreut. Erhebungen, ob Fehlplatzierungen und der Wunsch zu wechseln bestehen, werden zurzeit noch durchgeführt. Der NPM begrüßt diese Initiativen und wird weiter beobachten, ob konkrete Verbesserungen für diese Personengruppe erarbeitet werden. 31 Alten- und Pflegeheime 2.1.2 Systembedingte Problemfelder 2.1.2.1 Ärztliche Versorgung Unzureichende ärztliche Versorgung Die Kommissionen stießen im Gesundheitsbereich auf vielfältige Problemfelder. Heimträger müssen aufgrund der meisten Landesgesetzgebungen die freie Arztwahl sicherstellen. Hausärztinnen und -ärzte sind nach Beobachtung der Kommissionen oft mangels entsprechender Weiterbildung mit den vielfältigen Krankheitsbildern im Alter zum Teil überfordert. Probleme gibt es etwa dann, wenn in Einrichtungen kaum Fachärztinnen und Fachärzte, etwa aus dem Gebiet der Geriatrie, Psychiatrie oder Neurologie, sowie Therapeutinnen und Therapeuten zur Optimierung der Betreuung beigezogen werden. Die Folge davon sind u.a. Polypharmazie und/oder die Abgabe von nicht geeigneten Medikamenten sowie das Unterschätzen der Wirksamkeit nichtmedikamentöser Therapien. Wechselwirkungen von somatisch/hirnorganischen, psychischen, biographischen und sozialen Faktoren in der Altenpflege stärker zu berücksichtigen, wäre allein schon durch die steigende Anzahl älterer und pflegebedürftiger Menschen notwendig. Ziel der geriatrischen Wirkungsanalyse muss sein, viel von dem zu erreichen, was noch möglich ist, und nichts an Ressourcen zu verlieren und damit die Lebensqualität weiter zu beschneiden. Einrichtungspersonal, dem Mängel auffallen, hat keine Möglichkeit einer effektiven Intervention, wenn die behandelnde Ärztin bzw. der behandelnde Arzt keine Einsicht zeigt oder Sachwalterinnen bzw. Sachwalter nicht engagiert auftreten. Verschwiegenheitspflicht soll bestmögliche Versorgung nicht behindern Die Kommissionen stellten fallweise fest, dass behandelnde Ärztinnen oder Ärzte mit Hinweis auf die Verschwiegenheitspflicht die Weitergabe wesentlicher Gesundheitsdaten an das Pflegepersonal verweigerten. Es gibt keine gesetzliche Grundlage dafür, dass Ärztinnen und Ärzte ihre Dokumentation in Pflegeheimen zu führen haben. Das Heimaufenthaltsgesetz (HeimAufG) und das Gesundheits- und Krankenpflegegesetz (GuKG) setzen allerdings eine Kooperation aller in Gesundheitsberufen Tätigen mit den Pflegeheimen voraus. Diesbezüglich wandte sich der NPM an das BMG. Dieses teilte mit, dass für 2015 eine weitere Novelle zum Ärztegesetz in Aussicht genommen sei und man sich darin der Frage, wie man das besser unterstützen könne, zuwenden werde. Der NPM erachtet eine derartige Novellierung für dringend erforderlich. Ebenso müssen Lösungen dafür gefunden werden, dass hilfsbedürftige Menschen in Pflegeheimen ausreichend fachärztlich versorgt sind. XX Freie Arztwahl. XX Facharztversorgung und Kooperation mit Einrichtungen soll verbessert werden. Einzelfall: VA-T-SOZ/0014-A/1/2014 u.a. 32 Alten- und Pflegeheime 2.1.2.2 Medikamentöse Versorgung Die Kommissionen stellten in den Pflegeheimen wiederholt Mängel bezüglich Medikamentenverordnung, informed Consent (Einwilligung in die Behandlung nach sorgfältiger Aufklärung) und freiheitsbeschränkenden Maßnahmen nach dem HeimAufG mittels Medikamenten fest. Bei Menschen mit Demenz nehmen am späten Nachmittag und am Abend oft Unruhe, Verwirrtheit oder der Aktivitätsdrang zu. Mit dem Fortschreiten der Krankheit kommt es vor, dass Betroffene in der Nacht mehrmals aufwachen und aufstehen möchten. Der Schlaf wird längere Zeit durch Aktivitäten unterbrochen, die sich aus der nächtlichen Desorientierung ergeben. Betroffene finden sich örtlich oder zeitlich nicht mehr zurecht, meinen, es sei Zeit zum Aufstehen, und wollen Arbeiten nachgehen, die sie von früher her gewohnt waren. Sie haben vergessen, dass sie im Bett waren, wissen nicht mehr, wo sie sind, und wollen wieder nach Hause. Kompensiert wird der fehlende Schlaf in der Nacht durch vermehrte Schlafphasen am Tag. Derzeit liegen Bewohnerinnen und Bewohner von Pflegeheimen nach Verabreichung entsprechender sedierender Medikamente häufig bereits am späteren Nachmittag wieder in den Betten. Schlafstörungen bei Demenzkranken lassen sich aber nicht allein mit Medikamenten behandeln. Medikamentöse schlafverbessernde Maßnahmen müssen vielmehr verbunden werden mit einer Therapie der Demenz (z.B. mit Antidementiva), mit einer Behandlung körperlicher oder psychischer Begleitkrankheiten und nichtmedikamentösen Verfahren. Nichtmedikamentöse Interventionen wichtig Der zu unkritische Umgang mit Schlaf- und Beruhigungsmitteln hat gravierende negative gesundheitliche Folgen und schränkt die Mobilität und Lebensqualität älterer Menschen deutlich ein. Die Kommissionen haben dies vielfach beanstandet und eine vierteljährliche regelmäßige Kontrolle der Medikamentenpläne zur Herstellung einer größeren Arzneimittelsicherheit angeregt. Den Hauptgrund nicht nachvollziehbarer Psychopharmakaverordnungen und -dosierungen sah die Kommission in fehlenden psychiatrischen Fachexpertisen, teilweise auch aufgrund abgelehnter Beiziehung von Konsiliarpsychiaterinnen und -psychiatern durch die in den Heimen tätigen Allgemeinmedizinerinnen bzw. -mediziner. Arztinnen und Ärzte, die Verhaltensveränderungen und psychische Folgen einer Demenzerkrankung behandeln, müssen nicht nur die Auswirkungen bestimmter Psychopharmaka und ihre spezielle Wirkung sowie gesundheitsschädliche Nebenwirkungen bei alten Menschen gut kennen. Sie müssen auch wissen, wie Verhaltensstörungen und Beeinträchtigungen der Stimmung durch soziale und psychische Bedingungen zustande kommen und wieder verändert werden können. Dazu bedarf es Konzepte, die eine Tagesstrukturierung durch Gestaltung von lebendigen Lebensräumen, bedürfnisorientierter Mobilisation, Kommunikation, Teilhabe an der Gemeinschaft etc. fördern. Das 33 Alten- und Pflegeheime schließt auch die planmäßige Eröffnung von Möglichkeiten des Zugangs ins Freie tagsüber ein. Werden nicht geeignete oder zu viele Medikamente gleichzeitig und vielleicht auch überdosiert abgegeben, können schwere Verhaltensprobleme und Beschwerden aus diesem Umstand resultieren. Die Wechselwirkungen von Psychopharmaka sind schwer einzuschätzen und manche Medikamente können sich bei zu hoher Dosierung im Körper zunehmend anreichern, da sie bei älteren Personen nicht so schnell abgebaut werden. Medikamentöse Behandlungsmöglichkeiten sind vielschichtig und umfassen nicht nur den rechtzeitigen Einsatz einer geeigneten Medikation, sondern häufig auch das Absetzen bzw. „Ausschleichen“ ungeeigneter bzw. nicht mehr notwendiger Medikamente. Eine regelmäßige Kontrolle der Medikamentenliste auf Notwendigkeit, Interaktionen, Nebenwirkungen u.ä. sollte selbstverständlich sein. Die individuellen Bedürfnisse sowie die jeweilige Situation sogenannter „schwieriger Patienten“ verlangen große Aufmerksamkeit und Sensibilität. Die Kommissionen deckten Fälle auf, in denen Medikamente ohne entsprechend nachvollziehbare Diagnose „bei Unruhe“ verordnet wurden. In beinahe allen detailliert überprüften Fällen gab es in der im Heim aufliegenden Dokumentation keinerlei Hinweise auf ein ärztliches Aufklärungsgespräch oder die Zustimmung der Patientin oder des Patienten. Vielfach wurde auch nicht erkannt, dass es sich bei der Abgabe von sedierenden Medikamenten mit dem Zweck, die betroffenen Personen ruhig zu stellen, um freiheitsbeschränkende Maßnahmen handeln könnte, es nebenwirkungsärmere Medikamente gäbe etc. Dementsprechend ergingen auch keine Meldungen an die Vertretung der Bewohnerinnen und Bewohner. BMG und Ärztekammer sagten Maßnahmen zu Daher hat sich der NPM 2014 sowohl an das BMG als auch an die Österreichische Ärztekammer gewandt. Das BMG beabsichtigt, die Ärztekammer zu ersuchen, diese Themen als Schwerpunkte ins ärztliche Fortbildungsprogramm aufzunehmen. Zudem soll es auch einen Fokus in der amtsärztlichen Fortbildung geben. Auch die Österreichische Ärztekammer nahm ausführlich Stellung zu der genannten Problematik und sagte eine Überprüfung des derzeitigen Fortbildungsangebots zu. Der NPM begrüßt diese Maßnahmen, sieht aber darüber hinaus noch dringenden weiteren Handlungs- und Forschungsbedarf, um in Pflegeheimen, aber auch bei der Betreuung Hochaltriger zu Hause, eine Lege-Artis-Medikamentenversorgung sicherzustellen. 34 Alten- und Pflegeheime XX Mängel bei Herstellung von informed Consent und Medikamentenverschreibung. XX Medikamentöse Freiheitsbeschränkungen werden nicht erkannt. XX Spezifischere Ausbildung der Ärztinnen und Ärzte in Bezug auf die Pharmakotherapie älterer Patientinnen und Patienten erforderlich. XX Forschungsbedarf in Bezug auf Arzneimittelsicherheit für hochbetagte Menschen in und außerhalb stationärer Langzeitpflege. Einzelfall: VA-T-SOZ/0016-A/1/2014 u.a. 2.1.2.3 Personalmangel im Nachtdienst Wie bereits im Berichtsjahr 2013 (PB 2013, S. 49) stellten die Kommissionen immer wieder ungenügende personelle Ressourcen fest. Im Berichtsjahr konzentrierten sich die Beobachtungen vermehrt auf den Nachtdienst. Die Kommission 5 erhob z.B., dass in einem NÖ Heim mit fünf Wohnbereichen nur vier Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter den Nachtdienst versehen. Damit ist ein Wohnbereich zwangsläufig phasenweise länger nicht besetzt. Dies ist für die Versorgung und Sicherheit der Betroffenen höchst problematisch. Auch die befragten Bewohnerinnen und Bewohner äußerten sich über die für sie spürbaren negativen Folgen in Form von längerem Warten, Tragen von Inkontinenzeinlagen nur bei Nacht sowie ungeduldigem Personal. Der Einrichtungsbetreiber meinte dazu, dass beim derzeitigen Finanzierungsmodus eine höhere Nachtdienstbesetzung nur auf Kosten einer geringeren Tagespräsenz realisierbar sei. Dies würde die Betreuung und Aktivitäten tagsüber einschränken und einen Nachteil für die Bewohnerinnen und Bewohner darstellen. Ungenügende personelle Ressourcen vor allem im Nachtdienst In einem anderen Fall waren zwei Pflegekräfte in der Nacht für 78 Bewohnerinnen und Bewohner zuständig, diese verteilen sich auf drei Stockwerke. Damit bleiben zwangsläufig Stationen in der Nacht unbesetzt und Rufe von Menschen, die die Klingelanlage nicht bedienen können, ungehört. Im Zeitpunkt des Besuchs der Kommission waren insgesamt 23 Personen in der Pflegegeldstufe 5 und elf Personen in der Pflegegeldstufe 6 (zeitlich unkoordinierbare Betreuungsmaßnahmen und dauernde Anwesenheit einer Pflegeperson auch nachts) zu versorgen. Zwei Pflegekräfte für drei Stockwerke Aufsichtsbehörden der Länder prüfen zwar, ob Einrichtungsbetreiber die von ihnen vorgegebenen Mindestpersonalzahlen einhalten. Sie prüfen jedoch nicht, ob die Besetzung in der Nacht unter Bezugnahme auf die Betreuungsnotwendigkeiten und Erschwernisse, die sich aus baulichen und räumlichen Komponenten ergeben könnten, ausreichend ist. Der NPM vertritt die Ansicht, dass auch in der Nacht ausreichend Personal vorhanden sein muss, um die Sicherheit der Bewohnerinnen und Bewohner zu gewährleisten. Die Betreuungspersonen müssen zeitnah in der Lage sein, unvorhersehbare Betreuung vorzunehmen, Notfälle frühzeitig zu erkennen 35 Alten- und Pflegeheime oder Hilferufe wahrzunehmen. Zudem sollte es – wie es die Kommissionen in einigen Einrichtungen durchaus positiv registrierten – auch abends Programme für nicht schlafende und ruhelose demente Bewohnerinnen und Bewohner geben. XX Ungenügende personelle Ressourcen im Nachtdienst. XX Sicherheit der Bewohnerinnen und Bewohner nicht immer gewährleistet. XX Abendprogramme erforderlich. Einzelfälle: VA-W-SOZ/0243-A/1/2014, VA-K-SOZ/0032-A/1/2014, VA-NÖSOZ/0122-A/1/2014 u. a 2.1.3 Untragbare Lebensbedingungen Die Kommission 5 nahm bei ihrem Besuch in einer kleinen, privat betriebenen Senioreneinrichtung in NÖ so massive Probleme wahr, dass sie einen Dringlichkeitsbericht vorlegte. Betreiberin rund um die Uhr alleine in der Einrichtung Die Betreiberin war rund um die Uhr in der Einrichtung anwesend, nur sie allein versorgte fünf pflegebedürftige Frauen im Alter zwischen 69 und 90 Jahren. Sie erledigte sämtliche Pflege- und Betreuungsaufgaben und kochte selbst für die Bewohnerinnen. Nur gelegentlich wurde auf das Angebot von Essen auf Rädern zurückgegriffen. Jeden Mittwoch wurde sie am Nachmittag von einer Pflegehelferin der Caritas unterstützt, damit sie Einkäufe erledigen und Medikamente besorgen konnte. Zweimal pro Woche half für fünf Stunden eine Reinigungskraft aus. Keine Tagesaktivitäten Für die Bewohnerinnen gab es keinen gemeinsam nutzbaren Aufenthaltsraum. Jede nahm das Essen in ihrem Zimmer ein und verbrachte dort viel Zeit allein. Begegnungen der Pflegebedürftigen oder Austausch untereinander fanden kaum statt. Es gab keine Ausflüge, keine gemeinsamen Aktivitäten, keine regelmäßige Animation oder Beschäftigungsangebote. Die Betreiberin erklärte, dass sie dafür keine Ressourcen habe. Potentiale der Pflegebedürftigen zur Verbesserung der Lebensqualität durch Abwechslung, Orientierung, Bewegung, Spiele und Gedächtnistrainings blieben unausgeschöpft. Es gab keinerlei Maßnahmen zur Wahrung der Autonomie und Selbständigkeit. Nicht zuletzt wurde auch die Dokumentation völlig unzureichend geführt. Die Kommission vertrat bereits an Ort und Stelle die Ansicht, dass die Versorgung von fünf pflegebedürftigen Bewohnerinnen durch eine einzige Person für alle Beteiligten aus pflegefachlicher Sicht untragbar und im Hinblick auf jederzeit mögliche Komplikationen gefährlich sei. Betriebsschließung in NÖ erfolgt 36 Mit diesen Beobachtungen konfrontiert, führte die zuständige Aufsichtsbehörde umgehend einen Lokalaugenschein durch, der sämtliche Wahrnehmungen bestätigte. Die Behörde veranlasste die Verlegung der pflegebedürftigen Be- Alten- und Pflegeheime wohnerinnen in andere Einrichtungen. Die Betreiberin entschied kurz darauf, die Einrichtung zu schließen. Auf eine ähnlich problematische Situation stieß die Kommission 6 in einer burgenländischen Einrichtung, in der neun hochbetagte Frauen mit der Familie des Betreibers in einem Haus leben. Der Kommissionsbesuch fand ab 16.00 Uhr statt. Zu dieser Zeit lagen bereits acht der neun Bewohnerinnen in ihren Zimmern im ersten Stock im Bett. Fehlende Mobilisierung und Barrierefreiheit, Hygiene –und Dokumentationsmängel Angesichts fehlender Planungen von Aktivitäten entstand der Eindruck, dass auch ansonsten den Großteil des Tages nichts unternommen wird, um die Bewohnerinnen zu mobilisieren oder zu Aktivitäten anzuregen. Auf Befragen gaben die Frauen selbst an, viel fernzusehen, aber faktisch nie außer Haus zu kommen. Um wenigstens gemeinsam Zeit in dem im Erdgeschoß befindlichen Esszimmer verbringen zu können, werden die bewegungseingeschränkten Damen mangels Barrierefreiheit vom Betreiber mit einem Rollstuhl die Treppen hinunter und hinauf getragen. Die Kommission vergewisserte sich vom veralteten Zustand der Notrufanlage und erachtete überdies auch die Pflegeanamnesen und Pflegeplanungen als unzureichend sowie die Hygienebedingungen als sehr bedenklich. Alle Nachtdienste werden seit Jahren allein vom Betreiber, der nicht dem ArbeitszeitG unterliegt, durchgeführt; am Tag ist eine Pflegehelferin tätig. Fortgesetzte Erhebungen des NPM brachten zu Tage, dass der Aufsichtsbehörde viele Probleme seit Jahren bekannt waren. Zahlreiche Auflagen wurden, beginnend ab 2004, bescheidmäßig erteilt, ohne dass aus der teilweisen Nichtbefolgung derselben Konsequenzen gezogen wurden. Dass der Betreiber persönliche Gewohnheiten, Ressourcen und Defizite der Bewohnerinnen ungenügend erfasst und in der Pflegeplanung ebenso ungenügend berücksichtigt bzw. Pflegeprozesse mangelhaft dokumentiert, wurde von der Kommissionen ebenso beanstandet wie die gänzlich fehlende Barrierefreiheit. Neben hygienischen Mängeln und der veralteten Notrufanlage wurde unter anderem hervorgehoben, dass eine Gesundheitsgefährdung unter diesen Rahmenbedingungen nicht ausgeschlossen werden dürfe. Bei Anhaltspunkten dafür, dass pflegebedürftige Personen durch unprofessionelle stationäre Pflege Schaden nehmen könnten, müssen Aufsichtsbehörden von ihren Befugnissen unverzüglich Gebrauch machen. Der NPM wird den Fortgang des behördlichen Verfahrens sowie die im Rahmen des Parteiengehörs konkret zugesagten Änderungen für die Bewohnerinnen aufmerksam beobachten. XX Nicht mehr gewährleistete sichere Pflege muss zur Verlegung von Bewohnerinnen und Bewohnern führen. XX Aufsichtsbehörden sind zum raschen Handeln aufgerufen. Einzelfälle: VA-NÖ-SOZ/010, VA-B-SOZ/0023-A/1/2014 37 Alten- und Pflegeheime 2.1.4 Positive Feststellungen Die Kommissionen achten bei ihren Besuchen in allen Einrichtungen zunehmend auch auf positive Praktiken. Diese finden Eingang in die Protokolle. Wertschätzung durch Erhebung von Wünschen 38 Mit dem Prädikat „Good Practice“ wurde eine Einrichtung positiv hervorgehoben, die kreative Lösungen für ihr Beschwerdemanagement gesucht und dafür das Konzept von Wunschbotinnen bzw. –boten eingeführt hat. Begründet wurde dies damit, dass es für die pflegeabhängigen Bewohnerinnen und Bewohner viel einfacher sei, Wünsche zu äußern statt Beschwerden auszudrücken. Teils ausgebildete Psychologinnen und Psychologen arbeiteten sich als Wunschbotinnen bzw. -boten durch das ganze Haus und erfassten in neun Monaten alle Anliegen, um diese dann mit Leitung und Personal soweit wie möglich umzusetzen. Krankenhäuser und Psychiatrien 2.2 Krankenhäuser und Psychiatrien 2.2.1Einleitung Die Kommissionen besuchten im Berichtsjahr 23 psychiatrische Krankenhäuser und sonstige Krankenanstalten, wobei die Kommissionen vorwiegend psychiatrische Abteilungen (19) kontrollierten. Nach einem Besuch der Kommission 1 in einer Sonderkrankenanstalt für innere Medizin und Neurologie wurde das Mandat für Kommissionsbesuche ausdrücklich bestritten. Der NPM ist der damit intendierten Einschränkung der Prüfbefugnis entgegen getreten. Ein im Oktober 2014 an alle Landeshauptleute ergangenes Informationsschreiben des BMG stellt im Sinne des Art. 4 Abs. 1 OPCAT klar, dass sich die Überprüfungen des NPM tatsächlich auf sämtliche Krankenanstalten und deren Abteilungen erstrecken, da von vornherein nicht ausgeschlossen werden kann, dass Patientinnen und Patienten nicht auch dort Freiheitsbeschränkungen (Fixierungen, Zwangsmaßnahmen) unterliegen könnten. Umfassendes Mandat geklärt Die Kommissionen haben festgestellt, dass sowohl Ärztinnen und Ärzte als auch das übrige Spitalspersonal engagiert und bemüht sind, eine am Wohl der Patientinnen und Patienten ausgerichtete Behandlung und Versorgung sicherzustellen. Die Beachtung menschenrechtlicher Garantien sowie der durch Gesetzgebung und Rechtsprechung definierten Bedingungen für Zwangsbehandlungen als ultima Ratio sollen darüber hinaus Vertrauen zwischen Patientinnen und Patienten und ihren professionellen Helferinnen und Helfern in der Psychiatrie herstellen und die Basis für gedeihliche therapeutische Beziehungen schaffen. Diese herausfordernde Arbeit in psychiatrischen Einrichtungen oder Abteilungen wird oft durch unzureichende Ressourcen, Zeitdruck, teils veraltete und kaum änderbare bauliche Gegebenheiten sowie Defizite in der Stationsatmosphäre erheblich erschwert. Dadurch bedingte Überforderungen der Patientinnen und Patienten, aber auch die durch Anhaltung erzwungene Inaktivität lassen eine positive therapeutische Umgebung nicht entstehen oder gefährden diese. Werden Patientinnen und Patienten zudem in ihrer Scham und Würde verletzt, mit gut gemeinten Pflegemaßnahmen überrollt, ohne ihre Bedürfnisse artikulieren zu können, entsteht ein Klima, das für verbale und physische Angriffe anfällig ist und sich mitunter auch in Gewalt gegen die professionellen Helferinnen und Helfer niederschlägt. Strukturelle Defizite behindern Arbeit Die Häufigkeit der gegen den Willen der Patientinnen und Patienten erfolgten Einweisungen, Fixierungen, Isolierungen oder unfreiwilligen Verabreichungen von Medikation ist aus menschenrechtlicher Perspektive ein Qualitätsindikator für die stationäre psychiatrische Behandlung. Psychiatrie-Erfahrene berichten seit Jahren, dass mit ihren Rechten in unterschiedlichen Einrichtungen und Stationen unterschiedlich verfahren wurde. Gleiches war auch vom ärztlichen und dem pflegerischem Personal zu hören, das in verschiedenen Einrichtungen tätig und mit unterschiedlichen Behandlungskulturen und Haltungen konfrontiert war. An welchem Punkt das Versagen therapeutischen Deeskaltionsmanagement unverzichtbar 39 Krankenhäuser und Psychiatrien Handelns angenommen und zu Zwangsmaßnahmen übergegangen wird, scheint trotz des einheitlichen rechtlichen Rahmens offenkundig von der jeweiligen Situation und den Entscheidungen darin involvierter Personen abzuhängen. Beschränkungen der Bewegungsfreiheit dürfen allerdings immer nur „subsidiär“, also nur als letztes Mittel, in Betracht kommen. Im Spannungsfeld zwischen ihrem Behandlungs- und Schutzauftrag auf der einen sowie gegebener Behandlungsmöglichkeiten und der vorhandenen Ressourcen auf der anderen Seite bedürfte es gerade deshalb verstärkter Reflexionen und eines offenen Diskurses über Perspektiven und Voraussetzungen psychiatrischer Behandlungen, die der Autonomie und Freiheit psychisch kranker Menschen größtmögliche Räume lassen bzw. diese erweitern. Einzig und allein ausreichend vorhandenes, gut geschultes und handlungssicheres Personal kann die Entstehung von Aggression im eigenen System, wenn schon nicht verhindern, so doch zumindest vermindern und mit erregten und aggressiven Patientinnen und Patienten professionell und kompetent, d.h. deeskalierend umgehen und dabei auch sich selbst schützen. Mehrdimensionale Gewaltprävention wird vernachlässigt Viel zu wenig wird in Österreich in die Entwicklung, Erforschung und den Einsatz von präventiven Maßnahmen und Alternativen zu einer Zwangsbehandlung investiert. Krankenhausträger bzw. Psychiatrie müssen personell, konzeptuell und organisatorisch sicherstellen, dass es möglichst viele, hinsichtlich der Eingriffsintensität abgestufte Reaktionsmöglichkeiten gibt, bevor man Zwangsmaßnahmen setzt. Handlungsleitend für das professionelle Tun müssen dabei die Prinzipien der Freiwilligkeit, der (assistierten) Selbstbestimmung, der partizipativen Entscheidungsfindung und intensive Betreuung und Beschäftigung – wenn in akuten Krisen notwendig auch im Verhältnis 1:1 – sein. Dies erfordert Ressourcen, Geduld und persönliche Zuwendung, Begegnung auf „Augenhöhe“, respektvolle Haltungen gegenüber individuellen Lebensentwürfen sowie eine kontinuierliche Qualifizierung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Umgang mit krisenhaften Situationen, Gewalt und Aggression. Deeskalation kann auf verschiedenen Ebenen stattfinden. Sie beginnt bereits bei der Verhinderung der Entstehung von Aggression, in einem beruhigenden Gespräch mit einem angespannten Patienten, in der niederlagenlosen Konfliktlösung bis hin zu Fixierungen, welche würdewahrend und patientenschonend durchgeführt werden müssen. Nichts anderes verlangt das verfassungsmäßige Gebot der Verhältnismäßigkeit, wonach staatliche Hoheitsakte für das Erreichen eines im übergeordneten öffentlichen Interesse liegenden Zieles geeignet, notwendig und Betroffenen zumutbar sein müssen. Jede Zwangsmaßnahme ist unverhältnismäßig, wenn eine ebenso geeignete mildere Anordnung für den angestrebten Erfolg ausreicht. Eingriffe in das Recht auf persönliche Freiheit und andere Persönlichkeitsrechte dürfen in sachlicher, räumlicher, zeitlicher und personeller Hinsicht nicht einschneidender als notwendig sein. Der Umstand, dass menschenrechtsbezogene Kritik bisher von Krankenanstaltenträgern nicht systematisch zum Anlass genommen wurde, eine Reihe ein- 40 Krankenhäuser und Psychiatrien schlägiger Empfehlungen des CPT umzusetzen, auf die der NPM immer wieder hinweist, gibt Anlass zur Besorgnis und muss im Blickfeld der Arbeit bleiben. Im psychiatrischen Alltag der meisten österreichischen Kliniken ist es z.B. leider nicht üblich, dass Patientinnen und Patienten nach erfolgten Fixierungen mittels 1:1-Betreuung „ständig, unmittelbar und persönlich“ überwacht werden, wie es das CPT seit Jahren fordert. Diese Intensivbetreuung darf nicht als reine Überwachungsmaßnahme verstanden werden, weil sie auch ein hohes therapeutisches Potential bietet und deswegen durch Video-Monitoringsysteme und oftmalige Rundgänge nicht gleichwertig ersetzt werden kann. Mehr menschliche Zuwendung und Präsenz ist gefordert. Die entscheidende Frage, warum weiterhin Verhältnisse geduldet werden, in denen trotz möglicher gelinderer Alternativen in die persönliche Integrität von Menschen eingegriffen wird, ist nicht nur an die unmittelbar in der stationären psychiatrischen Versorgung Tätigen, sondern auch an die Träger solcher Einrichtungen sowie die politisch Verantwortlichen zu richten. CPT-Empfehlungen, die mehr Ressourcen erfordern, sind nicht umgesetzt Aufgrund der Wahrnehmungen der Kommissionen ist davon auszugehen, dass die Personalsituation vor allem auch im Hinblick auf ausreichende Nachtdienste laufend evaluiert werden sollte. Dabei ist es notwendig, den individuellen Erfordernissen auf den jeweiligen Stationen Rechnung zu tragen und auf die zum Teil gestiegenen Anforderungen flexibel reagieren zu können. Im Zuge der Prüfung der Pflegedokumentationen haben sich die Kommissionen intensiv mit Fragen der Medikation auseinandergesetzt. Das Verabreichen von Arzneimitteln ist grundsätzlich eine ärztliche Tätigkeit, die aber im Rahmen des mitverantwortlichen Tätigkeitsbereichs an diplomiertes Pflegepersonal delegiert werden kann. Hierfür ist es allerdings erforderlich, dass sowohl Menge, Dosis, Verabreichungsart als auch Zeitpunkt der Verabreichung von den anordnungsberechtigten Ärztinnen und Ärzten schriftlich in der Patientendokumentation festgehalten werden. Bedarfsmedikation unzureichend determiniert „Bedarfsmedikationen“ sind ausnahmsweise in Einzelfällen zulässig, wenn die Kriterien für die Beurteilung des Zeitpunkts und der Dosis des zu verabreichenden Arzneimittels nach ärztlichen Vorgaben in diesem Sinn eindeutig, zweifelsfrei und nachvollziehbar sind, ohne dass das Krankenpflegepersonal kompetenzüberscheitende und damit unzulässige diagnostische oder therapeutische Ermessensentscheidungen selbst trifft. Die Kommission 2 musste allerdings beispielsweise im Zuge der Einsichtnahme in Pflegedokumentationen der psychiatrischen Abteilung des Klinikums Wels-Grieskirchen feststellen, dass diese Vorgaben nicht lückenlos erfüllt werden. So war bei einem Patienten als Zusatzverordnung lediglich „bei Bedarf“ angegeben. Ärztinnen und Ärzte des Spitals wurden nach dem Kommissionsbesuch nachdrücklich darauf hingewiesen, wie zur Handlungssicherheit des Pflegepersonals ordnungsgemäß vorzugehen ist. Weiters wurden regelmäßige Kontrollen der ärztlich angeordneten Bedarfsmedikation durch die zuständigen Oberärztinnen und Oberärzte der Stationen im Rahmen von Visiten ange- 41 Krankenhäuser und Psychiatrien ordnet. Gerade eine solche regelmäßige Evaluation ist unbedingt erforderlich, um therapeutisch nicht mehr indizierte Medikationen rasch modifizieren zu können. Sturzprävention Überblickt man die bloße Anzahl von freiheitsbeschränkenden Maßnahmen durch Bettgitter, fällt auf, dass besonders folgende Patientinnen und Patienten diesen unterliegen: Personen in höherem Lebensalter oder mit der Diagnose Demenz und Menschen, die in gerontopsychiatrischen Stationen behandelt werden. Ein erhebliches Gefahrenpotential auch in Spitälern stellen Stürze dar. Neurologische Erkrankungen haben ein besonders hohes Sturzrisiko, da häufig mehrere altersphysiologische oder krankheitsbedingte Risikofaktoren gegeben sind. Freiheitsbeschränkende Maßnahmen zu setzten statt Menschen angemessener zu versorgen und eine evidenzbasierte Sturzprophylaxe zu betreiben, ist menschenrechtlich und volkswirtschaftlich verwerflich. Alle Patientinnen und Patienten sollten bei der Aufnahme in ein Krankenhaus hinsichtlich Sturzrisikofaktoren beobachtet und befragt werden. Danach ist zu entscheiden, ob sie sturzgefährdet sind. Daneben müssten Erhebungen häufiger Sturzursachen auf allen Stationen regelmäßig erfolgen, um umgebungsbedingte Risiken minimieren zu können (feuchte oder rutschige Böden, schlechtes Licht, fehlende Haltegriffe, hohe Stufen etc.). Auch situationsbedingte Umstände wie die Personalstruktur auf einer Abteilung können Einfluss auf die Sturzgefahr haben. Im Einzelfall – und am besten durch ein multiprofessionelles Team – müssen deshalb Maßnahmenplanungen erstellt, Informationen erteilt und gegebenenfalls therapeutische Interventionen gesetzt werden. Orientierungstrainings, Körperübungen, Investitionen in Niederflurbetten, Betten-, Sessel- und Mattenalarme, individuell angepasste Hüftprotektoren, Seh- und Ganghilfen tragen erwiesener Maßen zur Sturzvermeidung bei. Mögliche Folgen derselben wie hüftgelenksnahe Frakturen, Schädel-HirnTraumata und Immobilität verursachen Leid. Aus Sicht des NPM lässt eine systematisch erfolgende Sturzprophylaxe in allen Krankenanstalten eine Reduktion freiheitsbeschränkender Maßnahmen erwarten. Österreich ist – wie die meisten Länder der westlichen Welt – in einem demographischen Wandel begriffen. Bereits jetzt nimmt die Bevölkerungsgruppe der über 80-jährigen Menschen am stärksten zu. 2040 soll es lt. Prognosen bereits eine Million über 80-jährige Menschen geben. Darauf müssen sich Krankenanstalten schon jetzt einstellen. Zentrales Register zur Erfassung freiheitsbeschränkender Maßnahmen Bereits im PB 2013 (S. 57 f) wurde ausgeführt, dass der NPM darauf dringt, in Umsetzung einer Empfehlung des CPT in allen psychiatrischen Krankenanstalten und Stationen ein Zentralregister zur Erfassung freiheitsbeschränkender Maßnahmen einzurichten, um deren Anwendung und Häufigkeit auch außerhalb von Patientendokumentationen evaluieren zu können. Die Kommissionen mussten feststellen, dass trotz Expertengesprächen auf Betreiben der Gesundheit Österreich GmbH (GÖG) und des BMG in den psychiatrischen Krankenanstalten entsprechende Aufzeichnungen weitgehend noch 42 Krankenhäuser und Psychiatrien nicht zur Verfügung stehen. Lediglich in der Univ.-Klinik für Psychiatrie des LKH Graz konnte im Zuge der Besuche der Kommission 3 die Funktionsfähigkeit eines entsprechenden EDV-gestützten zentralen Registers zur Erfassung aller freiheitsbeschränkenden Maßnahmen bestätigt werden, was positiv hervorzuheben ist. Die Tiroler Landeskrankenanstalten GmbH (TILAK) hat der Kommission 1 im Juli 2014 ein Konzept, mit welchem ein derartiges Register erstmals eingerichtet werden soll, übermittelt. Überlegungen in diese Richtung wurden gegenüber der Kommission 4 durch das Sozialmedizinische Zentrum Baumgartner Höhe, Otto Wagner-Spital und Pflegezentrum, in Aussicht gestellt. Auf die flächendeckende Einrichtung dieser Register wird der NPM weiter dringen. XX Strukturelle Defizite (mangelnde Ressourcen, Zeitdruck für das Personal und veraltetes bauliches Umfeld) behindern die Betreuung erheblich. XX Deeskalationsmanagement und mehrdimensionale Gewalt- und Sturzprävention dienen der Vermeidung freiheitsbeschränkender Maßnahmen. XX Zentrales Register zur Erfassung freiheitsbeschränkender Maßnahmen ist flächendeckend umzusetzen. 2.2.2 Systembedingte Problemfelder 2.2.2.1 Evaluation der Bedingungen für Freiheitsbewegungseinschränkungen Fixierungen und Isolierungen sind keine therapeutischen Interventionen, sondern reine Sicherungsmaßnahmen, die dann angewendet werden, wenn eine therapeutische Herangehensweise anders oder vorübergehend nicht möglich ist. Falls deren Anwendung unumgänglich erscheint, muss man die Menschenwürde wahren und Rechtssicherheit gewährleisten. Interventionen sind so kurz und so wenig eingreifend wie möglich zu halten, psychische oder physische Traumata sind zu vermeiden. Das Vorgehen bei der Durchführung von Zwangsmaßnahmen im Hinblick auf Sicherheitsaspekte sowie der Überwachung während dieser Maßnahmen sollte in institutionsinternen Richtlinien verbindlich geregelt und Gegenstand regelmäßiger Schulung sein. Fixierungen und Isolierungen Die Häufigkeit und das Umfeld, in dem Fixierungen durchgeführt werden, sind wichtige Indikatoren für den sensiblen Umgang mit den Patientinnen und Patienten und die Wahrung ihrer essenziellen Persönlichkeitsrechte. Wie bereits im PB 2013 (S. 54 f) dargelegt, stellen die Kommissionen laufend gravierende Defizite im Rahmen dieses Prüfschwerpunkts fest. So variiert die Häufigkeit von Freiheitsbeschränkungen nicht nur regional, sondern auch an verschiedenen Stationen eines Spitals. Dies lässt den Schluss zu, dass bei entsprechend sensibilisierter Grundhaltung und gezieltem Einsatz 43 Krankenhäuser und Psychiatrien Alternativen zu freiheitsbeschränkenden Maßnahmen der vorhandenen Ressourcen das Ausmaß freiheitsbeschränkender Maßnahmen auf ein unbedingt notwendiges Maß reduziert werden kann. Hierzu wäre es allerdings auch erforderlich, das Augenmerk in und außerhalb psychiatrischer Stationen auf den Einsatz und die Anschaffung alternativer Maßnahmen (z.B. Niederflurbetten, Sensormatten etc.) zu richten. Hier gibt es aus der Sicht des NPM teils erheblichen Verbesserungsbedarf. Solche Hilfsmittel, die sich in Alten- und Pflegeheimen bewährt haben, sind in Spitälern weniger oft im Einsatz. Die Gestaltung der räumlichen Bedingungen und der organisatorischen Abläufe in psychiatrischen Institutionen kann maßgeblich zur Vermeidung von Gewalt und Aggression beitragen. Gerade gegenüber Kranken sind Aspekte wie Kommunikation, Information und Transparenz des Handelns bei Wahrung der Intimsphäre und der Selbstbestimmung von hoher Bedeutung. Geschlechtsspezifische Belange und Verletzlichkeiten bedürfen stets besonderer Beachtung. Fixierungen unter unwürdigen Bedingungen Die Kommissionen mussten häufig feststellen, dass Patientinnen und Patienten in Gangbetten betreut und zum Teil dort auch fixiert werden – dies stellt eine absolut inakzeptable Verletzung ihrer Menschenwürde und elementarer Persönlichkeitsrechte dar. Die Gründe dafür liegen allerdings darin, dass einzelne kleinere Spitäler im Rahmen der psychiatrischen Versorgung einen verhältnismäßig großen Einzugsbereich zu betreuen haben und die vorhandenen Kapazitäten zu gering sind. Dies führt im Falle gehäufter akuter Notfallaufnahmen notgedrungen zu Engpässen – reguläre Betten allein können hier nicht abhelfen. Weiters mussten die Kommissionen häufig feststellen, dass Fixiergurte an Betten für die Patientinnen und Patienten ständig sichtbar sind und keine Vorkehrungen getroffen werden, damit Fixierungen nicht von unbeteiligten Dritten beobachtet werden. Das begünstigt das Gefühl, der Institution hilflos ausgeliefert zu sein, schafft ein stetiges Bedrohungsszenario und wird von Betroffenen als demütigend und beschämend empfunden. Es ist nachdrücklich zu fordern, dass diese Praktiken abgestellt werden. Der Einsatz alternativer Maßnahmen und die sorgfältige Planung eines stetigen Ausbaus an Ressourcen im Rahmen bestehender finanzieller Möglichkeiten können einen wesentlichen Beitrag dazu leisten. Die Rechtsträger der Spitäler haben auf entsprechenden Vorhalt der Kommissionen insofern reagiert, als Fixierungsmittel inzwischen verdeckt werden und der Einsatz von Gangbetten auf ein Mindestmaß reduziert wird. Wie das Beispiel des Klinikums Wels-Grieskirchen zeigt, kann auch die Übersiedlung in einen modernen Neubau zur Erfüllung zeitgemäßer Standards der psychiatrischen Versorgung erforderlich sein. 44 Krankenhäuser und Psychiatrien XX Personelle und räumliche Rahmenbedingungen einer therapeutischen Behandlung sind nach zeitgemäßen Standards zu schaffen. XX Fixierung von Patientinnen und Patienten haben außer Sichtweite Dritter zu geschehen, Fixierungen haben stets unter kontinuierlicher und direkter Überwachung in Form einer Sitzwache zu erfolgen. Einzelfälle: VA-BD-GU/0060-A/1/2013; 0074-A/1/2013; 0026-A/1/2014; 0086A/1/2014 u.a. 2.2.2.2 Beendigung des Einsatzes von Netzbetten steht in Österreich bevor Das CPT hat seit 1999 unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass „Netzbetten als Mittel zur Freiheitsbeschränkung von erregten Patientinnen und Patienten in allen psychiatrischen Anstalten und sozialen Pflegeeinrichtungen in Österreich aus dem Verkehr zu ziehen sind“. Konsequenzen daraus wurden in Wien und der Stmk nicht gezogen. Kommissionen und VA sowie der bei ihr eingerichtete Menschenrechtsbeirat haben diesen Problembereich mit dem Ziel, die Umsetzung internationaler Menschenrechtsstandards durchzusetzen, in den vergangenen zwei Jahren immer wieder aufgegriffen und öffentlich thematisiert. Dies zeigte Wirkung. Eindeutige Verletzung menschenrechtlicher Standards Das BMG hat im Juli 2014 unter Berücksichtigung der Wahrung der Menschenwürde und Bedachtnahme auf völkerrechtliche Verpflichtungen im Einvernehmen mit dem BMJ per Erlass an alle Landeshauptmänner festgehalten, dass die Verwendung von psychiatrischen Intensivbetten (Netzbetten) sowie anderen „käfigähnlichen Betten“ europäischen Standards nicht mehr entspricht und daher unzulässig ist. Im Hinblick auf nötige Begleitmaßnahmen wurde Krankenanstalten- und Heimträgern im Geltungsbereich des Unterbringungsgesetzes (UbG) und Heimaufenthaltsgesetztes (HeimAufG) eine einjährige Übergangsfrist bis 1. Juli 2015 eingeräumt. Verwendung von Netzbetten mit 1.1.2015 verboten Diesbezüglich möchte der NPM hervorheben, dass es in der Übergangsfrist tatsächlich einer Reihe von Begleitmaßnahmen bedarf, um zu verhindern, dass Netzbetten bloß durch einen vermehrten Einsatz mechanischer Fixierungen ersetzt werden. Menschenrechtskonform ist nur eine Vorgangsweise, die sicherstellt, dass so weit wie möglich alternative Lösungen gefunden werden. Zu diesem Zweck ist es unvermeidlich, Deeskalatationsmaßnahmen zu verstärken und den gegenwärtigen Personalstand einer Überprüfung zu unterziehen. Der Wiener Krankenanstaltenverbund (KAV) hat eine multidisziplinäre Arbeitsgruppe aus medizinischen und nicht-medizinischen Expertinnen und Experten eingerichtet, die Strategien zur Ablöse der Netzbetten erarbeiten und deren Umsetzung vorantreiben soll. Begleitmaßnahmen erforderlich In Reaktion auf diesen Erlass wurde an der Univ.-Klinik für Psychiatrie in Graz die Verwendung von Netzbetten bereits eingestellt. Der NPM wird nun sorgfäl- 45 Krankenhäuser und Psychiatrien tig beobachten, ob dem gegenständlichen Erlass des BMG auch in den anderen Einrichtungen termingerecht entsprochen wird. XX Bei Ablöse von Netzbetten müssen Alternativen zu freiheitsbeschränkenden Maßnahmen reflektiert und realisiert werden. Einzelfall: VA-BD-GU/0171-A/1/2014 u.a. 2.2.2.3 Private Sicherheitsdienste Ausgehend von den Wahrnehmungen der Kommissionen wurde bereits im PB 2013 (S. 58 f.) kritisch beleuchtet, dass im Alltag einiger psychiatrischer Krankenanstalten gewerbliche Sicherheitsdienste vertraglich tätig und dabei auch zur Unterstützung der Behandlung von Patientinnen und Patienten eingesetzt werden. Solche Feststellungen wurden von Kommissionen auch 2014 getroffen, wobei als Rechtfertigung dafür häufig auf Ressourcenmängel sowie den notwendigen Schutz von Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vor Gewalt in psychiatrischen Settings verwiesen wurde. Die menschenwürdige Betreuung und Behandlung von Menschen mit psychiatrischen Erkrankungen ist wegen der Eingriffsintensität in elementare Grund- und Menschenrechte ein hoch sensibler Bereich. Dessen ungeachtet wurden Möglichkeiten und Grenzen der Heranziehung gewerblicher Sicherheitsdienste nicht nur zum Gebäudeschutz, sondern auch in Tätigkeitsfeldern, die von Gesundheitsberufen besetzt sind, nicht beachtet. Es gibt allerdings auch Krankenanstalten, die auf Personenschutz dieser Art bewusst gänzlich verzichteten. Wahrnehmung der Kommissionen Faktisch ist auf Basis von Erhebungen mehrerer Kommissionen (insbesondere aber der Kommission 4) sowie geschlossener Verträge mit Krankenanstalten, die dem NPM vorliegen, davon auszugehen, dass Sicherheitsdienste in einigen psychiatrischen Krankenanstalten nicht nur vereinzelt oder ausnahmsweise in besonderen Akutsituationen eingesetzt werden, sondern in den Stationsalltag und Pflegeprozess bei folgenden Tätigkeiten eingebunden sind: Abhalten von Patientinnen und Patienten am Verlassen der Station, Zurückbringen von Patientinnen und Patienten auf die Station, Durchsuchung von Patientinnen und Patienten bzw. deren persönliche Wertgegenstände, Assistenz bei weitergehenden körpernahen Beschränkungsmaßnahmen, Fixierung von Patientinnen und Patienten und deren Überwachung, Überwachung bei der Einnahme von Medikamenten und Hilfestellungen bei sonstigen pflegerischen Maßnahmen (Begleitung bei Toilettenbesuchen, beim Duschen etc.). 46 Krankenhäuser und Psychiatrien Der Bundesgesetzgeber hat Vorsorge dafür getroffen, dass psychiatrische Patientinnen und Patienten nur von Personen gepflegt werden dürfen, die für diese sehr anspruchsvolle Aufgabe entsprechend den gesetzlichen Vorgaben ausgebildet sind. Dafür wurden das Berufsbild der psychiatrischen Pflege etabliert und strenge Ausbildungsvorschriften erlassen. Die Sonderausbildung in der psychiatrischen Gesundheits- und Krankenpflege dauert ein Jahr und umfasst 1.600 Stunden theoretische und praktische Ausbildung. Abgesehen davon, dass das GuKG ausdrücklich festlegt, dass die Gesundheitsberufe nicht der Gewerbeordnung unterliegen, gibt es für das Sicherheitsgewerbe nach § 129 Abs. 1 GewO keine auch nur annähernd gleichwertige und gesetzlich geregelte Qualifikation, die auf Bedürfnisse untergebrachter Kranker Bezug nimmt. Gespräche der Kommission 2 in einem Spital in OÖ brachten zu Tage, dass die von einem Spital selbst angebotenen Schulungen des Sicherheitspersonals über Fixierungsmethoden äußerst mangelhaft waren. Dies zeigte sich exemplarisch am Beispiel eines Security-Mitarbeiters, der gegenüber der Kommission selbst angab, nur eine einmalige zweitägige Unterweisung erhalten zu haben und sich nur aufgrund einer Jahrzehnte zurückliegenden Ausbildung als Wachesoldat beim Bundesheer für ein Einschreiten in Akutsituationen als kompetent zu erachten. Pflege nur durch in Gesundheitsberufen ausgebildetes Personal Der Menschenrechtsbeirat hat nach eingehender Befassung mit dieser Thematik im April 2014 festgestellt, dass vor dem Hintergrund des Berufsrechts der Gesundheitsberufe und insbesondere des Rechts der Patientinnen und Patienten auf respektvolle und rücksichtsvolle Behandlung und Pflege nur medizinisch und pflegerisch geschultes Personal zu Pflegemaßnahmen hinzugezogen werden darf. In Österreich entbehre deshalb der Einsatz gewerblicher Sicherheitsdienste im Rahmen der Behandlung von Patientinnen und Patienten, insbesondere Patientinnen und Patienten auf psychiatrischen Abteilungen, jeglicher gesetzlicher Grundlage. Empfehlung des Menschrechtsbeirates Der OGH hat in einer Grundsatzentscheidung vom September 2014 diese Auffassung bestätigt und ausgeführt, dass bereits das Anlegen einer Vier-PunktFixierung der Ermöglichung medizinischer oder pflegerischer Maßnahmen dient und das vorangehende Festhalten deshalb zur psychiatrischen Gesundheits- und Krankenpflege gehört. Damit sind gewerbliche Sicherheitsdienste auch auf Anordnung des anwesenden Pflegepersonals weder befugt noch berechtigt, an Fixierungen mitzuwirken. Geschieht dies dennoch, sind die Zwangsmaßnahmen unzulässig und ziehen haftungsrechtliche Konsequenzen für die Träger von Krankenanstalten nach sich, weil sich diese auch das Verhalten des gewerblichen Sicherheitspersonals zurechnen lassen müssen. Im Oktober 2014 hat der OGH in einem Urteil festgehalten, dass auch körpernahe Tätigkeiten, wie das Festhalten, um jemanden am Verlassen einer Station zu hindern, nicht durch Security-Personal erfolgen dürfen. Diese Entscheidungen bestätigen Bedenken, die der NPM schon 2013 geäußert hat. Bestätigung durch OGH Die VA tritt daher nachdrücklich dafür ein, dass gewerbliche Sicherheitsdienste in psychiatrischen Krankenanstalten nicht mehr für pflegerische Maßnah- Rechtsträger der Spitäler uneinsichtig 47 Krankenhäuser und Psychiatrien men herangezogen werden. Auch die Patientenanwaltschaften nach dem UbG und Vertretungen von Bewohnerinnen bzw. Bewohnern nach dem HeimAufG werden verstärkt darauf zu achten haben. Da die betroffenen Spitalsträger vor diesen Gerichtsentscheidungen wenig Bereitschaft zu Strukturveränderungen zeigten, wird der NPM nochmals an die betroffenen Länder herantreten. Immer gilt es zu beachten, dass das Unterbleiben der Mitwirkung von gewerblichen Sicherheitsdiensten an Pflegemaßnahmen nicht in einen vermehrten Einsatz freiheitsbeschränkender Maßnahmen münden darf. Daher braucht es auch hier organisatorische Vorkehrungen und Personaleinsatzplanungen, die Ressourcen optimieren und verstärken. In der Psychiatrie Tätige müssen Bedingungen vorfinden, die es erlauben, ihren Aufgaben menschenrechtskonform nachkommen zu können, ohne dabei die eigene Sicherheit aufs Spiel zu setzen. XX Die Einbeziehung und Mitwirkung von gewerblichem Sicherheitspersonal an Pflegehandlungen ist unzulässig und hat zu unterbleiben. XX Vorkehrungen in Bezug auf persönlichkeitsrechtswahrende und das Personal sichernde Maßnahmen sind begleitend notwendig. Einzelfälle: VA-BD-GU/0003-A/1/2014; 0045-A/1/2014; 0129-A/1/2014 2.2.2.4 Kinder- und Jugendpsychiatrie in Österreich – Mangelsituation in der Facharztausbildung Hohe Anzahl von behandlungsbedürftigen Kindern und Jugendlichen Im Bericht zur „Außerstationären psychosozialen Versorgung von Kindern und Jugendlichen“ der GÖG wird unter Hinweis auf das Ergebnis epidemiologischer Studien zur Kinder- und Jugendpsychiatrie ausgeführt, dass von einer durchschnittlichen Prävalenzrate von 17,5 % ausgegangen werden kann. Daraus ergibt sich, dass bei einer Anzahl von 1.713.979 Kindern und Jugendlichen in Österreich im Jahr 2012 im Alter bis 19 Jahren eine behandlungsbedürftige Population von 299.946 Personen besteht. Davon sind 9,7 % aller Kinder- und Jugendlichen, also 166.256 Kinder und Jugendliche, von einer psychiatrischen Störung im engeren Sinn betroffen und damit eindeutig behandlungsbedürftig. Unzureichendes Behandlungsangebot Für diese verhältnismäßig große Gruppe psychiatrisch behandlungsbedürftiger Kinder und Jugendlicher besteht allerdings ein bei weitem nicht ausreichendes Behandlungsangebot an Fachärztinnen und Fachärzten für Kinderund Jugendpsychiatrie. Die hierfür angegebenen Zahlen der Ärztekammer und des BMG differieren zwar geringfügig, doch ist im Ergebnis davon auszugehen, dass der Bedarf an rund 350 Fachärztinnen und Fachärzten zur Sicherstellung einer ausreichenden Versorgung aktuell etwas mehr als zur Hälfte abgedeckt ist. Die Ursache für diese eklatante Versorgungslücke liegt primär darin, dass die gesetzlichen Grundlagen für eine eigenständige fachärztliche Ausbildung im 48 Krankenhäuser und Psychiatrien Sonderfach Kinder- und Jugendpsychiatrie in Österreich erst im Jahr 2007 geschaffen wurden. Die verspätete Verankerung eines entsprechenden Berufsbildes hat zur Folge, dass viele der aktuell registrieren Fachärztinnen und Fachärzte ihren Titel erst im Zuge des Übergangs vom Additivfach zum Sonderfach Kinder- und Jugendpsychiatrie erworben haben, wovon nur ein geringer Teil im Kerngebiet der Kinder- und Jugendpsychiatrie tatsächlich tätig ist. Die Anzahl und Altersstruktur der Fachärztinnen und Fachärzte lässt eine baldige versorgungswirksame Zahl der Kinder- und Jugendpsychiaterinnen und -psychiater in Österreich derzeit rein mathematisch kaum zu. Dazu kommt, dass die Ausbildungskapazitäten für Facharztausbildung zuweilen auch nicht entsprechend genutzt wurden, weil Krankenanstaltenträger zum Teil andere Prioritäten gesetzt und vorhandene Planstellen für andere Fachbereiche umgewidmet haben. Im Zuge der Bemühungen der Länder zum Ausbau stationärer Bettenkapazitäten im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie kommt es aufgrund dieser Faktoren zu Problemen bei der Besetzung der notwendigen Facharztstellen, die auch künftig zwangsläufig auftreten werden (vgl. PB 2013 S. 61f). Aus Kommissionsbesuchen ergibt sich, dass es in Spitälern mit psychiatrischen Abteilungen für Kinder- und Jugendliche vielfach nicht möglich ist, Nachtund Wochenenddienste mit Fachärztinnen und Fachärzten für Kinder- und Jugendpsychiatrie zu besetzen. Aufgrund des Fachärztemangels stellen die Kommissionen auch fest, dass Kinder und Jugendliche in der Erwachsenenpsychiatrie behandelt und untergebracht werden, was nach Ansicht des CPT eine Verletzung präventiver menschenrechtlicher und fachlicher Standards darstellt. 2014 hat auch der OGH in einer aktuellen Grundsatzentscheidung das „Trennungsgebot“ für Jugendliche in psychiatrischen Krankenanstalten betont. Dadurch konkretisiert der OGH erstmals den Persönlichkeitsschutz Minderjähriger in der psychiatrischen Unterbringung, woraus sich zwingend eine räumliche Trennung jugendlicher und erwachsener Erkrankter ergibt. Trennungsgebot zwischen Erwachsenen und Jugendlichen wird verletzt Auch wenn sich dieses Urteil konkret auf eine forensische Abteilung einer psychiatrischen Krankenanstalt bezieht, lassen sich daraus Wertungen ableiten, die eine generelle Trennung von Jugendlichen und Erwachsenen in allen psychiatrischen Krankenanstalten zwingend erforderlich machen. Eine 2014 erfolgte Novelle des ÄrzteG bietet die gesetzliche Grundlage, von bisherigen Ausbildungserfordernissen im Mangelfach Kinder- und Jugendpsychiatrie auf Ebene der Ärzte-AusbildungsVO unter bestimmten Begleitmaßnahmen weiter abzugehen als dies bisher möglich war. Aus Sicht des NPM ist es unabdingbar, dass die Ausbildungsvorschriften für das Sonderfach Kinder- und Jugendpsychiatrie gelockert werden, da anderenfalls voraussichtlich erst in Jahrzehnten ein ausreichendes Versorgungsangebot für dringend behandlungsbedürftige Kinder und Jugendliche sichergestellt werden kann. Ausgehend davon, dass das Sonderfach Kinder- und Jugendpsychiatrie bereits als Mangelfach anerkannt ist, sollte der bestehende Ausbildungsschlüssel von Änderung der Ausbildungsvorschriften 49 Krankenhäuser und Psychiatrien „1:1“ ehestmöglich erhöht werden. Das ist übrigens im gesamten deutschen Sprachraum erfolgt. Das würde bedeuten, dass im Sinn einer echten Mangelfachregelung an bewilligten Ausbildungsstätten eine Fachärztin oder ein Facharzt künftig zumindest für jeweils zwei Assistenzärztinnen oder -ärzte ausbildungsverantwortlich sein darf. Zur Illustration der Sinnhaftigkeit dieser Forderung soll exemplarisch auf die neu errichtete Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Innsbruck hingewiesen werden. Diese kann ihren Aufgaben (u. a. Verbesserung der Versorgung des Bundeslandes Tirol) nur nachkommen, wenn sie über zusätzliche Fachärztinnen bzw. -ärzte verfügt. Auch in Wien müssen notwendige weitere Verbesserungen (sechs extramurale Kassenplanstellen, eine zu erwartende neue Fachabteilung im SMZ Nord) erfolgen. An einem vom NPM initiierten Runden Tisch mit Vertretern der Ärztekammer, des BMG und der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie konnte bezüglich der weiteren Vorgangsweise Einigkeit erzielt werden. Dabei stellten die Gesprächspartner außer Streit, dass als flankierende Maßnahme nicht nur im stationären, sondern auch im ambulanten Bereich Ausbildungsstellen neu zu schaffen sind. Es wird aber zweifellos weiterer Gespräche bedürfen, insbesondere auch mit den Ländern, die den finanziellen Mehrbedarf der Aufstockung von Ausbildungsstellen weitgehend zu tragen hätten. Auf andere Weise ist eine reale Verbesserung in der Versorgung psychisch kranker Kinder und Jugendlicher in Österreich in absehbarer Zeit keinesfalls zu erzielen. XX Mehr Ausbildungsmöglichkeiten für Fachärztinnen und Fachärzte im Fach Kinder- und Jugendpsychiatrie sind dringend erforderlich. Einzelfälle: VA-BD-GU/0042-A/1/2013; 0001-A/1/2014 2.2.3 Fehlplatzierung eines langjährigen Psychiatriepatienten beendet Betreuungsplätze fehlen Im Zuge eines Besuchs musste die Kommission 1 feststellen, dass im LKH Hall mehrere Personen primär deshalb stationär betreut werden, weil trotz Bemühungen des Krankenhauses keine geeigneten Einrichtungen zur externen Nachbetreuung gefunden werden konnten. So wird ein Patient seit rund 20 Jahren, mit wenigen Unterbrechungen, stationär psychiatrisch versorgt. Sein Krankheitsbild wird sowohl durch ruhige Phasen als auch raptusartige, dysphorische Impulsdurchbrüche und aggressive Handlungen gegenüber Gegenständen aber auch Menschen geprägt. Im extramuralen Bereich wäre eine Einrichtung zu seiner Nachbetreuung nur dann geeignet, wenn sichergestellt werden kann, dass ausreichend Personal mit entsprechender Qualifikation in der psychiatrischen Krankenpflege vorhanden ist. 50 Krankenhäuser und Psychiatrien Die Suche nach einer solchen geeigneten Einrichtung für diesen Patienten gestaltete sich jedoch äußerst schwierig. So war er einige Zeit in einem Wohnheim untergebracht, wobei jedoch unklar war, ob das Land Tirol für eine neuerliche Betreuung in diesem Wohnheim die notwendigen finanziellen Mittel zur Verfügung stellt, um eine adäquate Betreuung zu gewährleisten. Im Zuge des Prüfungsverfahrens konnte allerdings erreicht werden, dass dem Herrn eine geeignete extramurale Unterbringung und Betreuung angeboten wurde. Betreuungsangebot für den Betroffenen Dieser Fall zeigt exemplarisch, dass das bestehende System der extramuralen Versorgung und auch der Verteilung der Patientinnen und Patienten gerade in schwierigen Fällen überfordert ist. Strukturelle Probleme Im Zuge der Psychiatriereform hat eine breitangelegte Deinstitutionalisierung, Differenzierung und Qualifizierung der Versorgung chronisch psychisch beeinträchtigter Menschen stattgefunden und zur deutlichen Verbesserung der Lebens- und Unterstützungsbedingungen beeinträchtigter Menschen geführt. Allerdings gilt es, Versorgungsdefizite in Bezug auf jene zu beheben, bei denen aktive Krankheitsphasen mit solchen mehr oder weniger intakter Gesundheit abwechseln und psychiatrische Pflege und Rehabilitation weiter erfordern. Mehr Hilfestellungen im Wohnbereich für chronisch psychisch kranke Menschen, insbesondere solche mit der Diagnose einer Schizophrenie mit ausgeprägter Symptomatik, comorbider Störung oder forensischem Hintergrund, oder aber für Menschen mit psychomentalen Entwicklungsrückständen, die häufig psychiatrisch relevante Krankheitsepisoden zeigen, wären österreichweit dringend erforderlich. Insgesamt geht es darum, flexible Rahmenbedingungen zu schaffen, die den Betroffenen ein möglichst eigenständiges Leben ermöglichen. Dazu gehören auch Arbeits- und Beschäftigungsmöglichkeiten, die sich auf Krankheitsverlauf, soziale Integration und Lebensqualität positiv auswirken. XX Wohnungs- und Rehabilitationsangebote für chronisch psychisch Kranke müssen ausgebaut werden und würden Hospitalisierungseffekten vorbeugen. Einzelfall: VA-BD-GU/0113-A/1/2014 2.2.4 Unzureichende Kapazitäten im Unterbringungsbereich Das BKH Kufstein ist für die psychiatrische Akutversorgung in einer Versorgungsregion mit rund 150.000 Einwohnern zuständig. Hierfür sind lediglich vier Betten im geschlossenen Bereich des Spitals vorhanden. Dieses geringe Bettenangebot führt dazu, dass Patientinnen und Patienten mangels ausreichender Kapazitäten ohne psychiatrische Untersuchung von der Polizei direkt ins LKH Hall gebracht werden müssen, wobei nicht ausgeschlossen ist, dass dort die Voraussetzungen für eine zwangsweise Unterbrin- Patientinnen und Patienten müssen abgewiesen werden 51 Krankenhäuser und Psychiatrien gung letztlich als nicht gegeben angesehen werden. Überdies bestehen insbesondere an Wochenenden und in der Nacht aufgrund der Personalknappheit bei Polizei und Rettung oft sehr lange Wartezeiten für eine Überstellung ins LKH Hall. Weitertransporte können sich so um drei bis vier Stunden verzögern, was gerade bei schwer psychotischen und schwer agitierten Betroffenen zu einer deutlichen Verlängerung des Leidenszustands führt. Vorausschauende und flexible Planung erforderlich XX Im BKH Kufstein ist zwar mittelfristig eine Vergrößerung der Abteilung für Psychiatrie mit ihrem Unterbringungsbereich beabsichtigt. Dieses Beispiel zeigt aber deutlich, dass eine Abstimmung vorhandener Kapazitäten und der notwendigen Versorgung von Patientinnen und Patienten in psychiatrischen Krankenhäusern von vornherein sorgfältig unter Bedachtnahme auf die örtlichen Verhältnisse durchzuführen ist. Das psychiatrische Versorgungsangebot ist unter Bedachtnahme auf die regionalen Verhältnisse vorausschauend zu planen und flexibel anzupassen. Einzelfall: VA-BD-GU/0057-A/1/2012 2.2.5 Mehrtägige Fixierungen grundsätzlich menschenrechtswidrig Mehrtägige Fixierung Im Zuge eines Besuches der psychiatrischen Abteilung des Landesklinikums Neunkirchen hat sich die Kommission 6 mit der mehrtägigen Fixierung eines Patienten näher auseinandergesetzt. Der Patient wurde nach mehreren Suizidversuchen und einem Voraufenthalt im Landesklinikum Baden stationär aufgenommen. Er wurde unmittelbar nach seiner Aufnahme am Freitagnachmittag bis zu seiner Entlassung am folgenden Montagvormittag durchgehend mittels Mehrpunktfixierung in seiner Bewegungsfreiheit beschränkt. Eine derart lange Fixierung ist eine extreme Maßnahme und ein besonders massiver Eingriff in die Menschenwürde und die elementaren Persönlichkeitsrechte. So hat auch das CPT tagelang andauernde mechanische Fixierungen als eine aus menschenrechtlicher Perspektive nicht zu rechtfertigende Form einer Misshandlung angesehen. Begründung für besonders gelagerten Sonderfall Im durchgeführten Prüfungsverfahren hat sich jedoch gezeigt, dass im Landesklinikum Neunkirchen solche länger andauernden Fixierungen äußerst selten vorkommen. Weiters hat der Vorstand der Abteilung nachvollziehbar dargelegt, dass es sich bei der gegenständlichen Fixierung eines Patienten um einen Sonderfall handelte und die Notwendigkeit der Fixierung laufend dokumentiert und kontrolliert wurde. Aufgrund des aggressiven Verhaltens des Patienten habe es keine Alternative gegeben, um das Risiko einer Gewalteskalation zu vermeiden. Klinik erhöht Qualitätsstandards Die Notwendigkeit und die Voraussetzungen für länger andauernde Fixierungen wurden in der Abteilung auch nochmals eingehend reflektiert, um eine Mehrpunktfixierung über 24 Stunden zum Schutz der Betroffenen, des Pflegepersonals, anderer Patientinnen und Patienten sowie der Ärztinnen und Ärzte 52 Krankenhäuser und Psychiatrien in Zukunft noch bewusster zu monitoren und exakter zu dokumentieren. Als Mittel dazu wurde ein spezielles zusätzliches Formular eingeführt, das in solchen Sonderfällen eine lückenlose Dokumentation der sensiblen Behandlung sicherstellen soll. Dadurch soll der ständige Abwägungsprozess der Notwendigkeit und der Verhältnismäßigkeit sowie der möglichen Alternativen genau abgebildet werden. Aus Sicht des NPM ist dies positiv hervorzuheben. XX Mehrtägige Fixierungen sind aus menschenrechtlicher Sicht äußerst bedenklich und grundsätzlich zu vermeiden. XX In speziellen Sonderfällen ist eine lückenlose Dokumentation und Kontrolle sicherzustellen. Einzelfall: VA-BD-GU/0154-A/1/2014 53 Jugendwohlfahrtseinrichtungen 2.3Jugendwohlfahrtseinrichtungen 2.3.1Einleitung Rasche Veränderungen nach Anregung der Kommissionen Die Kommissionen haben im Berichtsjahr 60 WGs und Wohnheime besucht, in denen Kinder und Jugendliche zur Pflege und Erziehung von ihren Herkunftsfamilien getrennt leben. Eine Reihe kleinerer Einrichtungen gab keinen Anlass zu Beanstandungen, bei einigen wurde die Arbeit mit Kindern und Eltern sogar für außerordentlich gut befunden. Kleinere, bei den Besuchen festgestellte Mängel sprachen die Kommissionen beim Abschlussgespräch an; sie wurden von den Einrichtungen binnen kürzester Zeit behoben. So wurde mehrere Male eine Verbesserung der Privatsphäre der Kinder und Jugendlichen erreicht, indem Schlösser an den Zimmertüren eingebaut und versperrbare Kästen zur Verfügung gestellt wurden. In einer Einrichtung wurden Trennwände zwischen Mädchen- und Burschentoiletten angebracht. Personalengpässe durch Langzeitkrankenstände führten zu Nachbesetzungen. In einem anderen Fall wurden zwei bestehende WG-Plätze nachbesetzt – dadurch erzielte man eine Entlastung der angespannten Situation. Die Übersiedlung von Einrichtungen in für die Bedürfnisse der betreuten Minderjährigen besser geeignete Objekte wurde auf Empfehlung der Kommissionen in einigen Fällen vorgenommen. Wenn Mängel bei der Partizipation der Kinder und Jugendlichen festgestellt wurden, regten die Kommissionen die Einführung von Kinderteams und Hausparlamenten an. Dies wurde vielfach auch umgesetzt. Bauliche Mängel wie sanierungsbedürftige Balkone oder Fenster, die sich nicht öffnen ließen, wurden behoben. Volle Erziehung Die Kommissionen betonten die Kooperationsbereitschaft und das große Engagement des pädagogischen Personals. Die dadurch erzielte Qualität kann aber nicht über bestehende strukturelle Probleme und schwierige Rahmenbedingungen hinwegtäuschen. Ziel der vollen Erziehung ist es, alle Kinder und Jugendlichen in ihrer Entwicklung bestmöglich zu fördern, traumatische Erlebnisse und die vielfältigen Ausdrucksformen von sozialen Störungen zu bearbeiten, Sicherheit zu gewähren und, sofern eine Rückführung in die Familie nicht möglich ist, sie auf ihrem Weg in die Verselbständigung zu begleiten und zu unterstützen. Große Herausforderung für Einrichtungen Durch den teils bereits erfolgten und im Bundes-Kinder- und Jugendhilfegesetz (B-KJHG 2013) ausdrücklich verankerten Ausbau ambulanter Erziehungshilfen ist in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe eine Veränderung der Problemlagen zu bemerken. Es leben in diesen Einrichtungen zunehmend mehr Kinder- und Jugendliche mit einer hohen Betreuungsintensität, der mit teilstationären Betreuungsformen nicht begegnet werden kann. Dass frühe extramurale Hilfen präventiv wirken und ein gedeihliches Aufwachsen in den Familien erleichtern, ist im Sinne der UN-Kinderrechtekonvention (UN-KRK) vorbehaltlos zu begrüßen. Eine Konsequenz davon ist aber auch, dass sich die qualitativen und quantitativen Angebote stationärer Erziehungshilfen in 54 Jugendwohlfahrtseinrichtungen öffentlicher oder freier Trägerschaft immer höheren Anforderungen stellen müssen. Psychische Schäden in den ersten Lebensjahren sind schwerwiegend und erfordern bedürfnisgerechte differenzierte Möglichkeiten und Ressourcen. Wie schon 2013 zeigte sich auch 2014 bei Kommissionsbesuchen der Mangel an speziellen Plätzen für Minderjährige mit psychiatrischer Diagnose bzw. Psychiatrie-Erfahrung. Psychisch kranke Kinder und Jugendliche in WGs, in denen weder genug Personal vorhanden ist, noch ein multiprofessionelles Team mit Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten sowie Psychologinnen und Psychologen ergänzend zur Verfügung steht, haben und machen Probleme. Diese können zuweilen krisenhafte Zuspitzungen erfahren und mit erheblicher Selbst- oder Fremdgefährdung einhergehen. Risikofaktoren Ähnlich stellt sich die Situation in der Krisenabklärung dar, während welcher entschieden werden muss, ob und welche Form der Betreuung nachfolgend in Betracht kommt. Wenn z.B. straffällig gewordene oder tatverdächtige Jugendliche unmittelbar nach der U-Haft gemeinsam mit Kindern ab dem dritten Lebensjahr in Krisenzentren aufgenommen werden müssen, lässt man sehenden Auges Bedingungen zu, die sozialpädagogisches Arbeiten mitunter verunmöglichen. Vor allem kleinere Kinder berichteten den Kommissionen, fallweise große Angst vor massiv aggressiven Jugendlichen zu haben. Dies ist verständlich nach Impulsdurchbrüchen, die von der Zerstörung des Mobiliars bis hin zu körperlichen Übergriffen auf Minderjährige oder das Personal reichen können. Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen gaben an, in der Arbeit mit gewaltbereiten und hoch aggressiven Jugendlichen in Akutphasen ausreichenden Schutz zuweilen selbst nicht mehr gewährleisten zu können. Krisensituationen dieser Gravidität seien nur in den Griff zu bekommen, indem polizeiliche Assistenz angefordert wird. Derart schwierige Grenzsituationen sind nicht der Alltag, aber ein nicht zu vernachlässigender Teil der sozialpädagogischen Realität, die als sehr belastend erlebt wird. Krisensituationen Die Aggressions- und Gewaltforschung und die Erkenntnis kumulierter Risikofaktoren legen nahe, dass Gewaltprävention nicht nur am unerwünschten Verhalten Minderjähriger, sondern auch an den Verhältnissen anzusetzen hat, die zuweilen auch professionelle Helfer hilflos erscheinen lassen. In diesem Sinne werden die Kommissionen tätig und sind auch deren Anregungen zu verstehen. Individualisierte Hilfen notwendig Die Erfahrungen der Kommissionen zeigen, dass einige Minderjährige mit psychischen Erkrankungen und daraus resultierenden psychosozialen Einschränkungen das Potential haben, zahlreiche Einrichtungen an Grenzen zu bringen und für sie bereit gehaltene Standardangebote nur schwer annehmen zu können. Wiederholte Wechsel der betreuenden Institutionen behindern eine Problemaufarbeitung, weil „mehr desselben“ die Bedingungen der Betreuung nicht zwingend besser macht. Diese Minderjährigen brauchten zur Stabilisie- Gewaltfreie Erziehung als Menschenrecht 55 Jugendwohlfahrtseinrichtungen rung spezifische – für sie maßgeschneiderte – Hilfsangebote, die sie annehmen können. Aber auch sogenannte „Systemsprenger“, die sich institutioneller Hilfe immer wieder entziehen, müssten keine hoffnungslosen Fälle bleiben, wenn man ihre Bedürfnisse, Interessen und Anlagen kennt und Hilfen nicht an zu starre Regeln knüpft. Einfache Lösungen gibt es nicht Die vielfach auch medial erzeugte Erwartungshaltung, äußerst negative Verlaufskarrieren in der Kinder- und Jugendhilfe durch rigidere bis zu freiheitsentziehende Maßnahmen reichende „Lösungen“ durchbrechen zu können, stellt sich als utopisch dar. Der kritische Blick des NPM bleibt dort zu wahren, wo ein härteres Durchgreifen und Zwang gegenüber „schwierigsten“ Kindern und Jugendlichen gefordert wird, statt Risiken gesellschaftlicher Desintegrationsprozesse und die Lücken im Netz der individualisierten Hilfen für Minderjährige zu thematisieren. Die Schicksale ehemaliger Zöglinge und deren von Opferschutzkommissionen in allen Bundesländern dokumentierten Erfahrungen mit der Heimerziehung nach 1945 belegen, welche lebenslangen seelischen Wunden und Folgen institutioneller Zwang gepaart mit Machtmissbrauch hinterlassen kann. Um zu verstehen, welches Hilfesetting Jugendliche (noch) erreichen könnte, müssen die professionell Tätigen verstehen, welchem inneren Sinn das Verhalten folgt und danach ihr Angebot ausrichten. Einfache Lösungen für schwierigste Problemlagen in der Kinder- und Jugendhilfe gibt es nicht. Träger, die sich mit dieser Thematik befassen, brauchen Planungs- und Koordinationsunterstützung. Solche Projekte erfordern wissenschaftlich fundierte Grundlagenarbeit und Ressourcen, um Hilfeprozesse aus verschiedenen Perspektiven zu erfassen. Als problematisch erweist sich ferner, dass schwierig(st)e Jugendliche oft zwischen Kinder- und Jugendpsychiatrie und offenen Angeboten der stationären Kinder- und Jugendhilfe „pendeln“ müssen, nur weil sich die Übergänge an den Schnittstellen schwierig gestalten. Vor allem wäre wichtig, die Rechte und Bedürfnisse der Betroffenen in den Mittelpunkt zu stellen und daran die Hilfen zur vollen Erziehung auszurichten. Zu beobachten war für Kommissionen auch, dass Aufenthalte in Krisenzentren oder auf den kinder- und jugendpsychiatrischen Stationen nach Abschluss der eigentlichen Krisenabklärung wesentlich länger als zwingend notwendig dauern, da passende Plätze für diese Gruppe in der Nachversorgung nicht verfügbar sind. Untermauert werden die Feststellungen der Kommissionen über Versorgungsdefizite bei sozialtherapeutischen Wohnplätzen auch durch die vom BMG herausgegebene Studie über die außerstationäre psychosoziale Versorgung von Kindern und Jugendlichen. Demnach waren 2013 in Österreich 585 sozialtherapeutische und 5.701 sozialpädagogische Wohnplätze vorhanden. Quantitative Richtwerte zur tatsächlich erforderlichen Anzahl an sozialtherapeutischen Plätzen wurden bisher nur für den Erwachsenenbereich festgelegt. Das ist ein Manko. Wenn man den dafür vorgesehenen Richtwert von drei bis fünf 56 Jugendwohlfahrtseinrichtungen Plätzen pro 10.000 Einwohner auf Kinder und Jugendliche überträgt, zeigt sich, dass die Versorgungslage in den meisten Bundesländern bedenklich ist. Die Länder sind gefordert, wissenschaftlich begleitete und den künftigen Bedarf regional berücksichtigende Kinder- und Jugendhilfeplanungen zu erstellen, womit auch dem Auftrag der §§ 13 und 14 des B-KJHG entsprochen würde. In der Folge müssten dann mehr sozialtherapeutische Plätze geschaffen oder dafür Sorge getragen werden, dass private Träger ihr Angebot auf diesem Sektor entsprechend erweitern. Fundierte Kinder- und Jugendhilfeplanungen Die systematische Auswertung der von den Kommissionen gemachten Wahrnehmungen ist für den NPM fallweise schwierig, da in der Sozialpädagogik einheitliche Fachbegriffe fehlen und österreichweite Vergleiche dadurch kaum möglich sind. Das zeigt sich schon bei der Bezeichnung für die Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe. Es gibt Kinderwohngruppen, sozialpädagogische, intensivpädagogische, sozialtherapeutische und sozialpsychiatrische Wohngemeinschaften, heilpädagogische Kindergruppen und daneben noch Wohngruppen in Kinder- und Jugendheimen. Da das B-KJHG nur allgemein von sozialpädagogischen Einrichtungen spricht, ist nicht festgelegt, welche Struktur- und Qualitätskriterien unter den einzelnen Begriffen subsumiert werden. Multiprofessionell zusammengesetzte sozialpsychiatrische Einrichtungen gibt es beispielsweise derzeit nur in Wien. Ähnlich ist es beim Beruf der Sozialpädagogin bzw. des Sozialpädagogen, für den es kein eigenes Berufsgesetz, keinen Berufsschutz und daher auch keine einheitliche Ausbildung gibt. Aus diesem Grund ist das Ausbildungsniveau der in den sozialpädagogischen WGs beschäftigten Fachkräfte sehr unterschiedlich. Die einzelnen Ausbildungsstätten bieten sowohl hinsichtlich der Lehrinhalte als auch der Anzahl von Unterrichts- und Praxisstunden verschiedene Module an. Fort- und Weiterbildungen erfolgen ebenso nicht bundeseinheitlich. Das B-KJG 2013 bleibt hier vage und normiert lediglich, dass für die Erbringung von Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe „Fachkräfte heranzuziehen sind, die für den jeweiligen Tätigkeitsbereich ausgebildet und persönlich geeignet sind“. Die nähere Ausgestaltung dieser Anforderungen ist den Ländern vorbehalten, die ihrerseits völlig unterschiedliche Ausbildungen anerkennen und entwickeln. Nur in OÖ enthält das Sozialberufegesetz seit kurzem zusätzlich das Berufsbild „Sozialpädagogische Fachbetreuung in der Jugendwohlfahrt“. Die berufliche Verwertbarkeit dieser Ausbildung ist lokal begrenzt und wird in anderen Bundesländern nicht anerkannt. Keine bundesweit einheitliche Ausbildung für Fachkräfte Die bereits seit 2012 bestehende Kooperation mit den Kinder- und Jugendanwaltschaften Österreichs funktioniert hervorragend und brachte bereits einige gemeinsame Erfolge. In zahlreichen Fällen nahmen die Kommissionen Berichte über vermutete Probleme in Einrichtungen zum Anlass, einen unangekündigten Besuch vorzunehmen. Der NPM dankt den Kinder- und Jugendanwältinnen und -anwälten für die gute Zusammenarbeit. 57 Jugendwohlfahrtseinrichtungen XX Gewaltfreie Erziehung für alle Minderjährigen muss sichergestellt werden. XX Hilfeangebote sind auch im Rahmen der vollen Erziehung zu individualisieren. XX Wissenschaftlich begleitete Kinder- und Jugendhilfeplanungen der Länder müssen Versorgungsdefizite und Maßnahmen zu deren Behebung erfassen. XX Berufsrecht und Ausbildung von Sozialpädagoginnen und -pädagogen müssten bundeseinheitlich normiert werden (Art. 15 a B-VG- Vereinbarung) 2.3.2 Systembedingte Problemfelder 2.3.2.1 Prüfschwerpunkt Gewaltprävention Empfehlungen werden umgesetzt Wie sich im Zuge des Prüfschwerpunkts 2013/2014 zum Thema „Maßnahmen zur Gewaltprävention“ zeigte, haben ungünstige Rahmenbedingungen in Einrichtungen Auswirkungen auf das Entstehen und die Verfestigung von Gewaltdynamiken, was die in diesem Bericht näher dargestellten Einzelfälle auf den Seiten S. 60 ff. exemplarisch belegen. Der NPM hat die Verantwortlichen der Länder als Träger der Kinder- und Jugendhilfe mit diesen Beobachtungen konfrontiert und verstärkte Aus- und Weiterbildungsangebote zur Gewaltprävention für alle Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen angeregt. Die Kinder- und Jugendhilfeträger sind diesen Empfehlungen Großteils bereits nachgekommen bzw. haben deren Umsetzung in Aussicht gestellt. Sexuelle Übergriffe unter Kindern Eine spezielle Form der Gewalt ist die sexuelle Gewalt. Ein sexueller Übergriff unter Kindern liegt dann vor, wenn sexuelle Handlungen durch ein übergriffiges Kind erzwungen werden bzw. das betroffene Kind sie unfreiwillig duldet oder sich unfreiwillig daran beteiligt. Häufig wird dabei ein Machtgefälle ausgenutzt, indem z.B. durch Versprechungen, Drohungen oder körperliche Gewalt Druck ausgeübt wird. Mit den Mitteln der Prävention, Sexualerziehung und fachlicher Begleitung kann man Wege aus diesem „Ohnmachtszwischenraum“ finden und Minderjährige besser unterstützen. Bleiben solche Vorfälle im Dunkeln, besteht die Gefahr, dass sich grenzverletzende Handlungsmuster verfestigen und damit immer schwerer auflösbar werden. Erst ein Wissen über die sexuelle Entwicklung von Kindern und eine Vorstellung von der kindlichen Sexualität machen es möglich zu beurteilen, wo die Grenze zwischen sexuellen Aktivitäten und sexuellen Übergriffen unter Kindern verläuft. Daher ist dieser Aspekt als gesonderter Prüfschwerpunkt für 2015 mit den Kommissionen gemeinsam festgelegt worden. Wenn Sexualität ein offenes und besprechbares Thema wird, kann das Räume im Denken, Fühlen, Reden und Handeln öffnen und Grenzen aufzeigen. Wirksame Prävention muss über die verschiedenen Arten von Grenzverletzungen aufklären, Kindern und Jugendlichen Mut machen, sich Hilfe zu holen, sie auf ihre Rechte auf körperliche und sexuelle Selbstbestimmung hinweisen und Geschlechterrollenzuschreibungen hinterfragen. Die Verantwortung, Mädchen und Buben vor sexuellen Über- 58 Jugendwohlfahrtseinrichtungen griffen zu schützen und im Fall, dass dies nicht möglich ist, solche Vorfälle bestmöglich aufzuarbeiten, liegt aber ausschließlich am Fachpersonal. XX Gewaltprävention, Sexualerziehung und Prävention von sexuellen Übergriffen unverzichtbar. Einzelfälle: VA-W-SOZ/0210-A/1/2013, VA-NÖ-SOZ/0067-A/1/2014 u.a. 2.3.2.2Barrierefreiheit Die meisten Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe sind nicht barrierefrei. Oft sind sie in Gebäuden untergebracht, in denen die Barrierefreiheit aufgrund von baulichen Gegebenheiten nicht oder nur mit unverhältnismäßigem Aufwand hergestellt werden kann. In einigen Fällen wurden aufgrund der Kritik des NPM Umbauarbeiten vorgenommen. In anderen stellte man in Aussicht, ein anderes Objekt für die Wohngruppe zu suchen. Auch wenn nachvollziehbar ist, dass kostspielige Umbauarbeiten für die Kinder- und Jugendhilfeträger kurzfristig nicht finanzierbar sind, so ist es zumindest erforderlich, bei Umund Neubauten sowie dem Abschluss weiterer Mietverträge darauf Bedacht zu nehmen, dass Institutionen diesbezüglich den Bestimmungen der UN-BRK entsprechen müssen. XX Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe müssen umfassend barrierefrei sein. Einzelfälle: VA-OÖ-SOZ/0028-A/1/2014, 0035/A/1/2013, 0027-A/1/2014 2.3.2.3 Umgang mit Medikamenten Die Kommissionen stellten bei vielen Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe einen nachlässigen Umgang mit Medikamenten fest. So wurden herumliegende Medikamente und für Kinder- und Jugendliche offen zugängliche Medikamentenschränke vorgefunden. Auch bereits abgelaufene Medikamente befanden sich darin. Für andere gab es Verordnungen, die schon bis zu drei Jahre alt waren. Verabreichung von Medikamenten durch pädagogisches Personal Die Kommissionen erachten es als problematisch, dass das in den Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen beschäftigte sozialpädagogische Personal nicht den Gesundheitsberufen angehört, aber dennoch ärztliche Tätigkeiten, wie die Verabreichung von Arzneimitteln einschließlich deren Vorbereitung sowie das Einordnen in Dispenser, vornehmen muss. Das Recht auf Einwilligung oder Verweigerung einer medizinischen Heilbehandlung zählt zu den höchstpersönlichen Rechten eines Menschen auf Selbstbestimmung. Mit Inkrafttreten des Kindschaftsrechts-Änderungsgesetzes (KindRÄG) 2001 wurde die Einwilligung mündiger Minderjähriger in eine medizinische Behandlung durch § 173 ABGB gesetzlich geregelt, wobei der Gesetzgeber im Zweifel davon ausgeht, dass 14-jährige die dafür notwendige Einsichts- und Urteilsfähigkeit aufwei- 59 Jugendwohlfahrtseinrichtungen sen. Laientätigkeit bei der Verabreichung von Medikamenten durch das Betreuungspersonal ist mit Zustimmung Minderjähriger zulässig, wenn für die fachgerechte Durchführung selbst kein medizinisches bzw. pflegerisches Fachwissen vorauszusetzen ist. Die Entscheidung, ob die Anwendung bestimmter Arzneimittel unter Bedacht auf deren Zusammensetzung und Wirkung überhaupt durch Laien erfolgen darf, haben die verordnenden Ärztinnen und Ärzte zu treffen. Es ist dann aber im Interesse der Minderjährigen umso bedeutsamer, dass die ärztliche Anordnung hinsichtlich des Zeitpunktes, der Anzahl, der Form und Dosierung der Medikation eindeutig und zweifelsfrei bestimmt ist. Off-Label-Use Besonders sensibel ist der Einsatz von Psychopharmaka, Neuroleptika und Antipsychotika, welche an sich nicht für Kinder zugelassen sind. Sie werden außerhalb der Zulassung (Off-Label-Use) verschrieben, was Ärztinnen und Ärzten erlaubt ist, wenn der damit intendierte therapeutische Erfolg nach dem Stand der Wissenschaft auf andere Weise voraussichtlich nicht erreicht werden kann. Bei diesen Medikamenten sind engmaschige psychiatrische Kontrollen und die Beobachtung allenfalls auftretender Nebenwirkungen immens wichtig. Keinesfalls darf es aufgrund von Personalmangel und engen Personalressourcen zu einem erhöhten Einsatz solcher Medikamente kommen, da langfristige Schäden und daraus resultierende Folgen nicht abschätzbar sind. Verordnungen für den Bedarfsfall Unzulässig ist auch laut BMG die von Kommissionen beanstandete Verabreichung von „Bedarfsmedikation“ durch Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen. Diese erwerben in ihrer Ausbildunge keinerlei pflegerisches Basiswissen. Es ist ihnen daher – anders als den Sozialberufen, deren Ausbildung auf der gesetzlichen Grundlage der Gesundheits- und Krankenpflege gemäß § 3a GuKG erfolgt – auch der Zugang zu Schulungsmodulen zur Basisversorgung und Unterstützung bei der Medikamenteneinnahme unter Aufsicht von diplomiertem Gesundheits- und Krankenpflegepersonal (DGKP) untersagt. Wer eine Tätigkeit des gehobenen Dienstes für Gesundheits- und Krankenpflege oder der Pflegehilfe ausübt, ohne dazu durch das Gesundheits- und Krankenpflegegesetz (GuKG) oder eine andere gesetzliche Vorschrift berechtigt zu sein, macht sich strafbar (§ 105 GuKG). XX Nachlässiger Umgang mit Medikamenten. XX Besondere Vorsicht bei Medikamenten im Off-Label-Use. XX Bedarfsmedikation darf nicht von pädagogischem Personal verabreicht werden. Einzelfälle: VA-OÖ-SOZ/0084-A/1/2014, VA-B-SOZ/0041-A/1/2014, 0043A/1/2014 2.3.2.4 Ausbau der Hilfen für junge Erwachsene nötig Mit 18 Jahren endet der Anspruch auf Hilfen 60 Die Kommissionen werden bei ihren Besuchen in den Einrichtungen regelmäßig über Probleme beim Erreichen der Volljährigkeit von betreuten jungen Jugendwohlfahrtseinrichtungen Erwachsenen informiert. Im Bundes-Kinder- und Jugendhilfegesetz (B-KJHG) 2013 sowie den Ausführungsgesetzen der Länder gibt es ab Erreichen der Volljährigkeit keinen Rechtsanspruch für Hilfsmaßnahmen der Kinder- und Jugendhilfe. Klare Rahmenbedingungen für die Verlängerung von Hilfen für über 18-jährige im Bundesgrundsatzgesetz fielen im Konsultationsprozess mit den Ländern dem Sparstift zum Opfer. Übrig blieb eine Ermächtigung zu Ermessensentscheidungen, die Hilfen bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres möglich macht. Klare Rahmenbedingungen Opfer des Sparstifts In den einzelnen Landesgesetzen wurden die Voraussetzungen für die Gewährung der Hilfen für junge Erwachsene unterschiedlich ausgestaltet. Erfahrungen und statistische Auswertungen darüber, in wie vielen Fällen solche Hilfen beantragt und zuerkannt oder verweigert wurden, fehlen derzeit noch, zumal die Ausführungsgesetze noch nicht allzu lange in Kraft sind. Bei Kommissionsbesuchen beklagten Einrichtungsverantwortliche wiederholt, dass es große Probleme mit den zuständigen Behörden gibt, die Finanzierung der Weiterbetreuung zu erwirken. Beispiele dafür gibt es viele. Besonders hervorzuheben ist der Fall einer 17-jährigen Frau aus OÖ, die motiviert werden konnte, eine dreijährige Fremdenverkehrsschule zu besuchen. Mit Hilfe der Bezugsbetreuerin gelang es, dass sie die ersten beiden Klassen erfolgreich abschloss. Danach wollte die BH die Unterbringung und Betreuung in einer WG nicht mehr bezahlen und argumentierte damit, dass aufgrund der guten schulischen Leistungen keine dauernde Unterstützung mehr benötigt würde. Dass diese Entwicklung nur durch den Rückhalt der Einrichtung möglich war, wurde lange nicht anerkannt. Es bedurfte zäher Verhandlungen und einem beharrlichen Eintreten der Bezugsbetreuerin, um die Kostenübernahme bis zum Schulabschluss zu erreichen und die Wohnversorgung in der Einrichtung abzusichern. Anlässlich der Überprüfung einer Einrichtung sprach die Kommission 1 mit einer jungen Mutter, die mehrere Jahre dort wohnte und im Februar 2014 das 21. Lebensjahr vollendete hat. Eine Sozialwohnung wurde ihr einige Wochen später in Aussicht gestellt. Die Einrichtung hat die weitere Unterbringung zur Überbrückung der Wartezeit selbst finanziert, da sonstige Hilfen nicht rechtzeitig eingesetzt hätten. Man sah sich dazu gezwungen, um nicht die geleistete Hilfe zu gefährden, indem man die junge Frau mit ihrem kleinen Kind auf die Straße setzt. In Österreich leben rund 70 Prozent aller 21-jährigen noch zu Hause. Verantwortungsvolle Eltern setzen Kinder nicht am 18. Geburtstag vor die Tür. Jungen Menschen in Fremdunterbringung wird aber – wenn sie nicht so viel Unterstützung durch das pädagogische Fachpersonal haben – die Chance genommen, in Ruhe erwachsen zu werden, eine Ausbildung abzuschließen und auf eigenen Beinen zu stehen. Sie kommen dadurch in die paradoxe Situation, für ihre weitere Entwicklung aufgrund multipler Problemlagen eigentlich mehr Zeit zu brauchen, aber weniger als andere Gleichaltrige dafür zu bekom- 61 Jugendwohlfahrtseinrichtungen men. Damit gefährdet die Kinder- und Jugendhilfe aber die Erfolge, für die sie mit den Minderjährigen oft jahrelang zäh und ausdauernd gearbeitet hat. XX Rechtsanspruch auf Hilfen für junge Erwachsene soll verankert und Case-Management verbessert werden. Einzelfälle : VA-OÖ-SOZ/0084-A/1/2014, VA-T-SOZ/0009-A/1/2014 2.3.2.5 Probleme an der Schnittstelle zwischen Kinder- und Jugendhilfe und Behindertenhilfe Probleme an Schnittstelle Konfrontiert werden die Kommissionen auch mit der Schnittstellenproblematik zwischen Kinder- und Jugendhilfe einerseits und Behindertenhilfe andererseits. Diese zeigt sich, wenn Minderjährige, die zuerst in Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen betreut werden, einen ihren Bedürfnissen besser entsprechenden Platz in Einrichtungen nach dem Chancengleichheitsgesetz bzw. Behindertengesetz benötigten. Neben der Schwierigkeit, so einen Platz zu finden, ist in vielen Fällen die Bewilligung der Finanzierung problematisch und langwierig. Dadurch bleiben diese Minderjährigen oft länger in Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen, wo die Betreuungssituation allerdings nicht mehr ihren Bedürfnisse gerecht wird. Die Minderjährigen und ihre Mitbewohner sind dadurch extrem belastet, was zu unzumutbaren Zuständen in der Einrichtung führen kann. Andererseits zeigen sich die Schwierigkeiten bei der Schnittstelle, wenn junge Erwachsene das 21. Lebensjahr erreicht, ihre Ausbildung aber noch nicht ganz abgeschlossen haben. Wenn eine Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung nicht gleichzeitig auch eine Bewilligung nach dem Chancengleichheitsgesetz bzw. Behindertengesetz hat, ist es nicht möglich, den jungen Erwachsenen dort zu belassen. Dem NPM sind auch Einzelfälle bekannt, in denen eine unbürokratische Lösung gefunden werden konnte. Das ist aber keine zufriedenstellende Situation. Es müsste eine Möglichkeit zur Weiterbetreuung über das 21. Lebensjahr in Ausnahmefällen gesetzlich verankert werden. Dadurch könnte verhindert werden, dass junge Erwachsene eine Ausbildung vorzeitig abbrechen, weil sie es ohne intensive Betreuung nicht schaffen. XX Minderjährige warten zu lange auf Platz in Einrichtung für Menschen mit Behinderung. XX Weiterbetreuung über das 21. Lebensjahr in Ausnahmefällen. Einzelfälle: VA-ST-SOZ/0079-A/1/2013, VA-OÖ-SOZ/0084-A/1/2014, VA-WSOZ/0124-A/1/2014, VA-S-SOZ/0041-A/1/2013 62 Jugendwohlfahrtseinrichtungen 2.3.2.6 Einrichtungen für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge und Asylwerbende Wenn Minderjährige alleine auf der Flucht sind, befinden sie sich in einer besonders schwierigen Situation. Aus diesem Grund sieht die maßgebliche EU-Aufnahmerichtlinie spezielle Regelungen für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge und Asylwerbende (UMF) vor. Gemäß diesen Bestimmungen sind Mitgliedstaaten verpflichtet, für alle UMF eine besondere Betreuung zu gewährleisten. Minderjährige benötigen besondere Betreuung Bei der Anwendung der Bestimmungen ist vorrangig das Wohl der Kinder und Jugendlichen zu berücksichtigen. Wenn möglich sollten Minderjährige bei Verwandten oder Pflegefamilien untergebracht werden. Ist dies nicht möglich, sind sie primär in speziellen Einrichtungen für Minderjährige zu betreuen. Unterbringung bei Pflegefamilien vorrangig Die Kommissionen haben einige solcher Einrichtungen besucht und Problemfelder identifizieren können. So dürfte sich die Suche nach Pflegefamilien in vielen Fällen als sehr schwierig erweisen, weshalb viele UMF in Einrichtungen betreut werden. Ob in den Bundesländern ausreichende Schritte gesetzt werden, um Pflegefamilien zu finden, konnte der NPM nicht feststellen. Eine Verbesserung der Situation wäre aber wünschenswert und notwendig. Eine weitere Herausforderung betrifft Geschwister. Diese werden immer wieder getrennt und in unterschiedlichen Einrichtungen betreut vor allem dann, wenn ältere die Volljährigkeit erreicht haben. Ältere Geschwister werden in Einrichtungen für Erwachsene untergebracht, während die jüngeren, zumindest solange die älteren nicht die Obsorge bekommen, in Einrichtungen für Minderjährige verbleiben müssen. Das ist vor dem Hintergrund der gemeinsamen Fluchterfahrung für alle Beteiligen sehr belastend. Geschwister sollten nicht getrennt werden Die Kommission 2 dokumentierte, dass Minderjährige, auch um ihre Selbstständigkeit zu fördern, in zwei Salzburger Einrichtungen Essen selbst kaufen und zubereiten sollten. Dafür wurde ihnen ein Budget von 45,50 Euro pro Woche aus Mitteln der Grundversorgung zur freien Verfügung überlassen. Die Kochgeräte wurden von der Kommission in einem schlechten Zustand vorgefunden, ausreichend Kochutensilien wie Besteck, Gläser und Tassen fehlten. Als Konsequenz konsumierten viele Minderjährige fast ausschließlich billige und ohne Kocherfahrung leicht zuzubereitende Lebensmittel. Die Kritik der Kommission bezog sich nicht darauf, Minderjährige an den Umgang mit eigenem Geld zu gewöhnen. Die Kommission mahnte aber ein, dafür Sorge zu tragen, dass sie sich gesund und ausgewogen ernähren und dass sie pädagogisch angeleitet werden, gemeinsam einzukaufen, zu kochen und die Vielfalt an Nahrungsmitteln kennenzulernen und zu probieren. Eine Variante dazu wäre, Konzepte der Teilverpflegung einzuführen, bei denen die Betroffenen zumindest das Mittag- oder Abendessen nach den Grundsätzen einer gesunden Ernährung zubereiten. Der NPM bezweifelt zudem, dass eine Mittel der Grundversorgung nicht ausreichend 63 Jugendwohlfahrtseinrichtungen ausgewogene Ernährung für im Wachstum befindliche Jugendliche mit einem Budget von 6,50 Euro pro Tag möglich ist. Diesbezügliche Tagessätze sollten deshalb evaluiert und angehoben werden. Die Salzburger LReg betonte gegenüber dem NPM, die Kritik zum Anlass zu nehmen, Standards für die einzelnen Bereiche (Wohnen, Verpflegung, Reinigung, Tagesstruktur, psychologische Betreuung und fachlicher Personaleinsatz, Ausweitung der Psychotherapie) zu entwickeln, die dann auch Bestandteil von Leistungsvereinbarungen sein sollen. 64 Zu wenige Beschäftigungsmöglichkeiten und psychologische Betreuung Auch die Beschäftigungsmöglichkeiten erwiesen sich als nicht ausreichend. Kommissionen beobachteten, dass zwar beispielsweise Deutschkurse in Einrichtungen angeboten wurden, dies aber in zu geringem Ausmaß von vier Stunden pro Woche. Manche Jugendliche spielten in Fußballvereinen. Andere Beschäftigungs- oder Freizeitmöglichkeiten gab es nicht. Verstärkt wird dieses Problem dadurch, dass diesen oftmals traumatisierten Minderjährigen keine ausreichenden Möglichkeiten der psychologischen Betreuung zur Verfügung gestellt werden. Einer Erweiterung diesbezüglicher Angebote und Lernhilfen sollte hohe Priorität eingeräumt werden. Unzumutbare Bedingungen In einer Einrichtung für 40 unbegleitete männliche Jugendliche in der Stmk stieß die Kommission 3 auf unzumutbare hygienische Bedingungen (verrußte Herde, verschmutzte Kühlschränke, kaputte Küchenteile, verdreckte, teils beschädigte WCs sowie Bäder). Dies lässt darauf schließen, dass Grundreinigung und Reparaturen seitens des Betreibers unterbleiben und Kontrollen dieser Einrichtungen mangelhaft durchgeführt werden. Tagsätze der Grundversorgung diskriminierend Die VA möchte in diesem Zusammenhang aber auch betonen, dass die Möglichkeiten von Betreibereinrichtungen durch die zur Verfügung gestellten Budgetmittel des Bundes aus der Grundversorgung begrenzt sind. Aufgrund der deutlich schlechteren finanziellen Ausstattung entsprechen Personalstand, Ausbildung des Personals, Fortbildungen, Supervision und pädagogische Konzepte nicht dem Standard sonstiger Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen. Dies führt zu einer faktischen Diskriminierung von Kindern und Jugendlichen ausschließlich aufgrund der Herkunft, obwohl den Ländern als Kinder- und Jugendhilfeträger auch für unbegleitete Minderjährige die Obsorge zukommt. Kostenersätze aus der Grundversorgung des Bundes liegen wesentlich unter dem Niveau der Tagsätze der Kinder- und Jugendhilfe, weshalb ein ungleiches Betreuungsniveau die logische Konsequenz ist. Deutlich erkennbar wird dies daran, dass vielfach pädagogische Konzepte fehlen. Bundeseinheitliche Mindeststandards für diesen Einrichtungstyp – obwohl vom NPM wiederholt empfohlen – gibt es nicht, weil Bund und Länder diesbezüglich kein Einvernehmen herstellen konnten. Wenn die Unterscheidung zwischen Kindern und Jugendlichen in voller Erziehung in Grundversorgung und außerhalb der Grundversorgung zu schlechterer Betreuung bzw. Behandlung führt, widerspricht dies nach Ansicht des NPM der UN-KRK und ist deshalb abzulehnen. Der NPM wird ihre Bemühungen, eine Veränderung herbeizuführen, 2015 verstärken und hat deshalb ein amtswegiges Prüfverfahren eingeleitet. Jugendwohlfahrtseinrichtungen XX Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge und Asylwerbende benötigen besondere Betreuung. XX Beschäftigungs- und Freizeitmöglichkeiten sind auszubauen. XX Mehr Budgetmittel aus Grundversorgung sind erforderlich . XX Bundesweit einheitliche Standards sind erforderlich. Einzelfälle: VA-S-SOZ/0001-A/1/2014, VA-ST-SOZ/0086-A/1/2014, u.a. 2.3.2.7 Unterbringung von Kindern in anderen Bundesländern In einem amtswegigen Prüfungsverfahren hat sich der NPM auf Anregung der Kommissionen mit der Unterbringung von Kindern und Jugendlichen in Einrichtungen, die von ihrem bisherigen Wohnort und dem Wohnort der Eltern weit entfernt sind, auseinandergesetzt. Die Auswertung der Erhebungen zeigt, dass eine große Zahl von Transferierungen nur deshalb erforderlich ist, weil es im Herkunftsbundesland keine passenden Angebote gibt. Unterbringung in anderem Bundesland aus Mangel an Plätzen Problematisch ist, dass es so binnen kurzer Zeit zu einer Entfremdung von nahen Bezugspersonen kommen kann und auch Freundschaften in Brüche gehen. Die durch größere Distanzen verursachten Verluste an Bindungen und Begegnungsmöglichkeiten begünstigen einen Beziehungsabbruch, der eine Rückführung der Minderjährigen in die Familie unmöglich machen kann. Viele Eltern schaffen es aus finanziellen oder logistischen Gründen nicht, von ihrem Recht auf persönlichen Kontakt Gebrauch zu machen, wenn Einrichtungen zu weit entfernt sind. Außerdem ist so auch die für eine Rückführung erforderliche Arbeit mit der Familie viel schwerer zu leisten. Die von den Ländern mit Ausnahme Vbg gelieferten Zahlen zeigen deutlich, dass einige Kinder- und Jugendhilfeträger diese Aspekte schon länger im Auge haben, was bei anderen aber noch nicht der Fall zu sein scheint. NÖ hat nur ca. 4 % der Minderjährigen in voller Erziehung in einer Einrichtung außerhalb der Landesgrenzen, aber dennoch in Nähe zum Wohnort der Eltern untergebracht. Ktn und Tirol liegen unter 10 %, OÖ und Wien zwischen 10 und 15 %. Im Vergleich dazu lebt aber die Hälfte der Kinder und Jugendlichen aus der Stmk in einem anderen Bundesland. Auch im Bgld ist dieser Anteil mit 30 % bzw. Sbg mit über 20 % ziemlich hoch. Die betroffenen Bundesländer sollten so rasch wie möglich die schon in der Einleitung angesprochene wissenschaftlich begleitete Kinder- und Jugendhilfeplanung erstellen und dem Bedarf entsprechend Plätze schaffen. Auffällig ist jedenfalls, dass manche Einrichtungen vom eigenen Bundesland, das auch die Fachaufsicht ausübt, nicht beschickt werden. Im Bgld nehmen – vermutlich aus Kostengründen – nur zwei Einrichtungen überhaupt burgenländische Kinder auf, da sie für Kinder aus anderen Bundesländern einen Tarifzuschlag von 10 % verlangen können. Umsetzung einer wissenschaftlich begleiteten Planung 65 Jugendwohlfahrtseinrichtungen Lobend zu erwähnen ist, dass OÖ reagiert und die Anzahl der Kinder und Jugendlichen aus anderen Bundesländern oder aus dem Ausland in sozialpädagogischen Einrichtungen mit 15 % der Gesamtzahl aller betreuten Kinder und Jugendlichen beschränkt hat. Diesem Beispiel sollten andere Länder folgen. XX Länder müssen ihrer Versorgungsverantwortung selbst nachkommen. XX Unterbringung Minderjähriger sollte nahe dem Wohnort der Eltern erfolgen, wenn nicht pädagogische Gründe dagegen sprechen. XX Beschränkung der Gesamtzahl für ganz Österreich. Einzelfall: VA-BD-JF/0120-A/1/2014 2.3.3 Gravierende Mängel Heimstrukturen erschweren pädagogische Arbeit In einem NÖ Landesjugendheim mit fünf vollstationären und einer teilstationären Wohngruppe fanden zwei unangekündigte Überprüfungen der Kommission 5 im Jahr 2013 statt. Die angetroffenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wurden als engagiert und bemüht, allerdings auch als völlig überfordert wahrgenommen. Die Einsichtnahme in die sowohl im Landesjugendheim als auch in der örtlichen Polizeiinspektion aufliegenden Dokumentationen ergab, dass überdurchschnittlich viele Gewalttaten gegen Minderjährige und das Personal zu verzeichnen waren. Häufig waren Polizeieinsätze notwendig. Das pädagogische Konzept der „Neuen Autorität“ von Haim Omer zur Gewaltprävention war zwar installiert; die darin enthaltene Deeskalationsstrategie konnte aber nicht umgesetzt worden. Es waren infolge aktueller Krisen weder Zeit noch Ressourcen vorhanden, um gezielte pädagogische Interventionen zu setzen und auf die Kinder und Jugendlichen haltgebend einzugehen. Die Kommission 5 führte dies einerseits auf die Größe der Einrichtung, andererseits aber auch auf mangelnde Personalpräsenz und Ausbildungsdefizite zurück. Weiters kritisierte die Kommission, dass kein Hausparlament etabliert wurde. Im Prüfungsverfahren bestätigte die NÖ LReg, dass sich das Landesjugendheim zum Zeitpunkt der Kommissionsbesuche in einer Krise befand und dies auch bekannt war. Vorangegangene Fachaufsichtsberichte und die Kritik des NPM wurden zum Anlass genommen, Erhebungen unter Einbeziehung aller Verantwortlichen und Beteiligten durchzuführen. Der Aufsichtsbericht vom August 2014 zeigt inzwischen erreichte Verbesserungen, aber auch strukturelle Schwierigkeiten auf und wird zu Strukturmaßnahmen führten, die über 2015 hinaus reichen werden. Risikofaktoren für strukturelle Gewaltdynamiken 66 Anerkannt wurde von der NÖ LReg, dass Heimstrukturen eine den Erkenntnissen der Sozialpädagogik entsprechende Arbeit per se erschweren. Wenn Kinder und Jugendliche, denen Störungen des Sozialverhaltens attestiert wurden, Sozial- und Konfliktkompetenz im Umfeld vieler anderer Minderjähriger mit dissozialen Störungen erwerben sollen, wird starker Gruppendruck erzeugt, sich an Regelverstößen, Selbstinszenierungen und Machtdemonstrationen zu Jugendwohlfahrtseinrichtungen beteiligen. Kinder- und Jugendliche, die sich je nach Alter und Intensität Übergriffen und mehr oder minder ausgelebter Willkür oder Distanzlosigkeit ausgesetzt sehen, reagieren ihrerseits mit Aggression oder werden zu Opfern von Ausgrenzung. Die Wirkung negativer Gruppendynamiken kann wesentlich stärker sein als jene der pädagogisch und therapeutischen Sozial- und Konflikttrainings sowie zusätzlicher Settings, welche Persönlichkeitsentwicklung, Verhaltensänderungen sowie schulische und berufliche Integration fördern sollen. Nehmen physische Angst und Überforderung bzw. Krankenstände der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu, während gleichzeitig „Kapos“ unter den Jugendlichen ganze Gruppen bzw. die Einrichtung verdeckt mitregieren und steuern, sind Eskalationen an der Tagesordnung. Als erste Maßnahme wurde ein Aufnahmestopp verhängt, wodurch sich die Anzahl betreuter Minderjährigen verringerte. Durch die Neugestaltung aller Dienstpläne und Gruppenzusammensetzungen wurden Ressourcen optimiert und Arbeitsbedingungen verbessert. Die Präsenz des Personals erhöhte sich durch die Verringerung der krankheitsbedingten Abwesenheiten (Vergleich 2013: 1.056 Krankenstandstage, 1-7/2014: 214). Von allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern genutzte Fortbildungsangebote (Gewaltprävention nach PART, „Autorität neu“, verschiedenste Formen des Coachings) haben sich bewährt. Das wirkt insgesamt stabilisierend, weil drohenden Eskalationen früher und geschlossener begegnet werden kann, sodass in der Regel auch keine Polizeieinsätze wegen körperlicher Übergriffe nötig sind. Im Laufe des Jahres 2014 wurden Kinderteams und ein Jugendcafé installiert; seit September 2014 gibt es ein Hausparlament. Die Ferien- und Freizeitaktivitäten wurden in Absprache mit den Kindern und Jugendlichen ausgeweitet. Auch Hausregeln werden mit den Kindern- und Jugendlichen gemeinsam erstellt und reflektiert. Maßnahmen wurden ergriffen Unmissverständlich wurde gegenüber der Fachaufsicht vom Großteil der interviewten Sozialpädagoginnen und -pädagogen der Wunsch nach Aufteilung der Einrichtung in kleinere sozialpädagogische bzw. sozialtherapeutische WGs deponiert. Dies mit der Begründung, dass in kleinen Einheiten individueller auf die Bedürfnisse Einzelner eingegangen werden könne, was in Folge verbesserte Lebenschancen für Minderjährige und Rückführungsmöglichkeiten in Herkunftsfamilien erwarten lasse (Zitat eines/r Betroffenen: „Wir wollen nicht mehr in einer Einrichtung arbeiten, die aussieht wie ein Finanzamt aus dem 19. Jahrhundert“). Gleichzeitig wurde die Notwendigkeit des Ausbaus von derzeit spärlichen Möglichkeiten zu Fortbildungen im Bereich der Traumapädagogik betont, weil es Kinder- und Jugendliche mit hohem Anteil an traumatischen Störungsbildern zu begleiten und fördern gilt. Bestmögliche Unterstützung bleibt im Fokus Die LReg berichtete, dass mit der Dezentralisierung des Jugendheims begonnen und erste Außenwohngruppen in umliegenden Städten geschaffen wurden. Der NPM begrüßt diese Veränderungen. Ausgliederung hat begonnen Derzeit stehen in NÖ neun Landesjugendheime und 47 private Vertragseinrichtungen für Kinder und Jugendliche zur Verfügung. Zusätzlich gibt es in 67 Jugendwohlfahrtseinrichtungen sechs Zentren für Krisenintervention 50 befristete Plätze zur weiteren Abklärung. Es werden um die 1.200 Kinder und Jugendliche in voller Erziehung in Einrichtungen betreut. „Hilfen zur Erziehung“ NÖ hat im März 2014 als erstes Bundesland das unter wissenschaftlicher Begleitung erstellte Konzept einer umfassenden und revolvierenden Planung aller Maßnahmen der Kinder- und Jugendhilfe erstellt. Datenbasiert wurden Sozialstrukturen und spezielle Belastungen für junge Menschen, die zur Inanspruchnahme der „Hilfen zur Erziehung“ führen, abgebildet und mit bestehenden Angeboten verglichen. Daraus ergeben sich kurz-, mittel- und langfristige Anforderungen einer regional bedarfsgerechten und differenzierten Angebotsgestaltung. Dass Großheime Schritt für Schritt von kleineren regionalen Betreuungseinrichtungen mit familiärem Charakter abgelöst werden müssen, ist in NÖ inzwischen unbestritten. Dem Beispiel sollten auch andere Bundesländer folgen. XX Kleinere regionale Betreuungseinrichtungen mit familiärem Charakter sollen Großheime ablösen. Einzelfälle: VA-NÖ-SOZ/0121-A/1/2013, VA-NÖ-SOZ/0004-A/1/2014 2.3.4 Sexuelle Selbstbestimmung braucht Schutz Nach einem Besuch in einer WG kritisierte die Kommission 6, dass ein wegen sexuellen Missbrauchs verurteilter Jugendlicher fallweise mit anderen dort lebenden Minderjährigen in einem Zimmer nächtigen dürfe. Schutzvorkehrungen irgendwelcher Art wurden nach Ansicht der Kommission nicht getroffen. Im Zuge des daraufhin eingeleiteten Prüfungsverfahrens berichtete die NÖ LReg, dass in der WG Sexualworkshops für Kinder und Jugendliche installiert wurden und Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter diese als Weiterbildung in Anspruch genommen haben. Auf Ersuchen des NPM wurde der Leiter der Einrichtung von der Fachaufsicht nochmals darauf hingewiesen, dass Übernachtungen von anderen Kindern und Jugendlichen im Zimmer des betroffenen Jugendlichen zu unterbinden seien. Daraufhin wurde seitens der Einrichtung zugesichert, dass die Betreuerinnen und Betreuer zukünftig achtsamer mit dem Thema, das auch Gegenstand einer eigenen Klausur gewesen sei, umgehen werden und die Nachtruhe jeweils in den eigenen Zimmern verbracht wird. Sexualität ohne Grenzverletzungen erleben 68 Es ist Aufgabe der Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen im Sinne der UNKRK alle Jugendlichen – selbstverständlich auch delinquente Jugendliche – zu unterstützen, ihre Sexualität ohne Grenzverletzungen erleben zu können. Das Strafrecht schützt die sexuelle Selbstbestimmung von Kindern und Jugendlichen durch Schonräume in einem altersabgestuften System und verbietet deshalb selbst erwünschte oder provozierte sexuelle Handlungen an unter 14-jährigen. Auch wer Sex mit unter 16-jährigen Jugendlichen mit mangeln- Jugendwohlfahrtseinrichtungen der Reife unter Ausnützung seiner „altersbedingten Überlegenheit sowie dieser mangelnden Reife” hat, macht sich strafbar. Es gibt schon deshalb in Einrichtungen nicht nur die berufliche Verpflichtung, jungen Menschen in ihrer Sexualentwicklung zu helfen, sondern auch, potentielle Opfer zu schützen. XX Empfohlene präventive Maßnahmen zur Verhinderung von sexuellen Übergriffen umgesetzt. Einzelfall: VA-NÖ-SOZ/0002-A/1/2014 2.3.5 Positive Feststellungen Einjähriges Projekt zur Aufarbeitung und Umsetzung von Empfehlungen abgeschlossen Bei zwei Besuchen eines Jugendwohnheims Ende 2012 kritisierte die Kommission 2 menschenrechtsverletzende Bedingungen in der pädagogischen Arbeit infolge struktureller Defizite (erhöhte Personalfluktuation bei gleichzeitigen Schwierigkeiten der Personalrekrutierung, permanente Unterbesetzung, Langzeitkrankenstände) und damit zusammenhängende Überforderungen. Im September 2013 startete auf Anregung des NPM ein von der OÖ LReg finanziertes interdisziplinäres Projekt, um die Situation für die Jugendlichen sowie für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu verbessern und präventive Standards zu entwickeln, die auch für alle drei OÖ Landesheime gelten sollen. Im Projektteam wirkten neben Bediensteten der OÖ LReg und dem Heimleiter eine Mitarbeiterin der VA, ein Mitglied der Kommission 2 sowie die Kinderund Jugendanwältin von OÖ mit. Der Projektendbericht mit Kurzbeschreibungen von 47 vereinbarten und in Eckpunkten gemeinsam festgelegten Umsetzungsmaßnahmen liegt seit Oktober 2014 vor. Strukturelle Defizite Entwicklung präventiver Standards Folgende Sofortmaßnahmen wurden als Dauermaßnahmen in Kraft gesetzt: Reduktion der maximalen Gruppengröße der WGs von elf auf neun, Verpflichtende laufende volle Ausschöpfung des Dienstpostenplans, Keine Neuaufnahme von Jugendlichen, solange der Dienstpostenplan nicht voll ausgeschöpft ist oder die maximale Gruppengröße überschritten würde, Maximale Aufnahmequote von 15 % an Minderjährigen aus anderen Bundesländern, Einführung bzw. tatsächliches Zulassen von Teilzeit für Pädagoginnen und Pädagogen, Supervision nach fachlichen Standards NEU, Beteiligung der Erzieherinnen und Erzieher am Aufnahmeprozess, Vollversammlung der Jugendlichen, 69 Jugendwohlfahrtseinrichtungen Überarbeitung aller Haus- und Gruppenregeln in einem partizipatorischen Prozess mit den Minderjährigen. In organisatorischer Sicht erfolgten Weichenstellungen auf Ebene der OÖ LReg, indem eine pädagogische Gesamtverantwortung für alle drei Landeseinrichtungen sowie lückenlose Führungs- und Verantwortungsketten festgelegt wurden. Erstmals sollen pädagogische Leitlinien als Hilfestellung für diese drei Einrichtungen erarbeitet und anschließend implementiert werden. In der Einrichtung selbst muss u.a. eine andere Führungs– und Dienststellenkultur entwickelt werden. Es ist essenziell, dass mit dem Projektende die umzusetzenden Maßnahmen nicht vorzeitig versanden. Vorgesehen sind deshalb ein laufendes Umsetzungsmonitoring und eine Evaluierung der gesamten Umsetzung nach ca. drei Jahren. Chance für umfassende Verbesserungen XX Die Projektergebnisse bieten die Chance, umfassende Verbesserungen in Angriff zu nehmen. Ob und wie die Umsetzung gelingt, wird durch weitere Kommissionsbesuche begleitend erhoben werden. Projekt bietet Chance für grundlegende Veränderungen in OÖ. Einzelfälle: VA-OÖ-SOZ/0072-A/1/2013, VA-OÖ-SOZ/0007-A/1/2013, 70 Einrichtungen für Menschen mit Behinderung 2.4 Einrichtungen für Menschen mit Behinderung 2.4.1Einleitung Im Jahr 2014 führten die Kommissionen 78 Kontrollen in speziell für Menschen mit Behinderung geschaffenen Einrichtungen durch. Wie im Vorjahr wurden öffentliche und private Träger geprüft, wobei die Bandbreite der Institutionen u.a. Heime, Wohngruppen, Tagesbetreuungszentren, Tageswerkstätten und Pflegestationen umschloss. Diese Einrichtungstypen sind sowohl vom OPCAT-Mandat als auch vom Mandat nach Art. 16 Abs. 3 UN-BRK erfasst. Die Prüftätigkeit erwies sich dabei aufgrund unterschiedlicher Bedürfnislagen, der Breite an Angeboten und der Vielfältigkeit der Institutstypen und Organisationsformen als sehr komplex. Gleichzeitig wurden von den Kommissionen auch qualitative und quantitative Versorgungsdefizite, insbesondere für Menschen mit Doppel-und Mehrfachdiagnosen (Lernbeeinträchtigung und psychische Störung oder psychiatrische Beeinträchtigung), wahrgenommen. Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung, die zusätzlich eine psychosoziale Krise oder eine psychische Erkrankung durchleben, fallen durch teils extreme selbst- oder fremdaggressive Verhaltensweisen auf, die sie selbst, das Betreuungspersonal und auch Angehörige stark belasten. Menschen mit geistiger Behinderung zeigen in ihrem Leben drei- bis viermal häufiger psychische Auffälligkeiten und klassische psychiatrische Störungsbilder als die Durchschnittsbevölkerung. Diese Aussage der Welt-Gesundheitsorganisation WHO ist durch das höhere Maß an Verletzbarkeit dieser Personengruppe zu erklären. Zugleich stellt die psychische Erkrankung eine besondere Anforderung an die Betreuenden dar, da die Betroffenen häufig in ihrer Fähigkeit zur Einsicht und Verbalisierung der Störung beeinträchtigt sind. Mitarbeitende sozialer Einrichtungen müssen sich deshalb mit psychiatrischen Krankheitsbildern auseinandersetzen, diese verstehen lernen und individuelle Antworten auf Verhaltensweisen finden, zu denen sie bisher keinen Zugang hatten. Im Arbeitsalltag entstehen dadurch häufig Situationen der Überforderung. Breites Angebot – dennoch Versorgungsdefizite Mit Betonung auf das Mandat zur Gewaltprävention haben Kommissionen festgestellt, dass Versorgungsdefizite zu Krisen führen, die in teils sehr massiven körperlichen Übergriffen auf Mitbewohnerinnen- und -bewohner und das Personal münden. Nicht selten werden diese betreuungsintensiven Personen von Einrichtung zu Einrichtung weiter gereicht und verlieren dabei immer wieder Stützungssysteme, was Hospitalisierungseffekte bewirkt und verschlimmert. Diese sind Folge des Fehlens einer Wohn- und Lebenswelt mit personenzentrierter Betreuung und therapeutischer Begleitung durch Fachpersonal. Wenn es Einrichtungen nicht gelingt, ausreichende Ressourcen dafür aufzubringen und Eskalationen zu vermeiden, kann das fatale Folgen haben. Diese haben Menschen mit Behinderung zu tragen, die so um Entwicklungschancen und Lebensglück gebracht werden. Die Kommission 1 traf in Tirol auf der forensischen Station des LKH Hall z.B. auf einen 15-jährigen, der sich nach Gewalt als Folge unpassender Bedingungen 71 Einrichtungen für Menschen mit Behinderung einem tätlichen Angriff auf einen Betreuer im Maßnahmenvollzug befindet. Sein halbes Leben verbrachte er in Institutionen, in denen Impulsdurchbrüche an der Tagesordnung waren. Seiner strafrechtlichen Verurteilung gingen gerichtliche Verfahren nach dem HeimAufG voraus, in denen die Vertretung der Bewohnerinnen und Bewohner wiederholt personenzentrierte 1:1-Begleitung und Aufhebung anstelle freiheitsbeschränkender Maßnahmen eingemahnt hatte. Die individualisierte Intensivbegleitung unterblieb trotz der absehbaren Risiken. Unterschiedliche Qualitätsvorgaben der Bundesländer Die VA musste im Zuge der NPM-Tätigkeit feststellen, dass landesrechtliche Vorgaben und davon abgeleitete Finanzierungsschlüssel in Bezug auf Infrastrukturqualitäten erheblich divergieren und unterschiedliche Zugänge dazu in grundlegenden Punkten bestehen. So unterscheiden sich beispielsweise die vorgeschriebenen Fachkräftequoten für Einrichtungen für Menschen mit Behinderung bundesweit erheblich. Während diese Quote in der Stmk bei bis zu 100 % liegt, ist in anderen Bundesländern – wie z.B. in Sbg – eine 50 %Beschäftigung von Fachpersonal bereits ausreichend, um Mindeststandards zu erfüllen. Wenn grundlegende Rahmenbedingungen österreichweit so erheblich divergieren, kommt es zwangsläufig auch zu einer unterschiedlichen Behandlung und Betreuung von Menschen mit Behinderung je nach Wohnort oder Zuweisung. Das ist – weil es auch um die Erfüllung menschenrechtlicher Garantien aus Völkerrechtsverträgen geht – nicht akzeptabel. Forschungsstudie zu Gewaltprävention und Empowerment Der Behindertenrechtsausschuss der UN hat nach der österreichischen Staatenprüfung im Rahmen der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen zuletzt empfohlen, dass Österreich weitere Maßnahmen ergreifen soll, „um Frauen, Männer, Mädchen und Buben mit Behinderungen vor Ausbeutung, Gewalt und Missbrauch zu schützen“. Zu begrüßen ist deshalb, dass der Nationalrat im November 2014 den parlamentarischen Entschließungsantrag 94/A(E) angenommen und dem BMASK den Auftrag zur Erstellung einer Forschungsstudie betreffend „Maßnahmen gegen Gewalt und sexuellen Missbrauch an Menschen mit Behinderungen in Einrichtungen“ erteilt hat (342 BlgNR 25. GP). Der NPM werden daran gerne mitwirken und sich mit ihren Erfahrungen aus der NPM-Tätigkeit einbringen. Wissenschaftliche Forschungsarbeiten, die sich mit den spezifischen Risikofaktoren institutioneller Settings in Einrichtungen für Menschen mit Behinderung auseinandersetzen, gibt es in Österreich bisher nicht. Die Studie soll bis 2016 fertig gestellt sein. Dass der Abbau bestehender Großeinrichtungen sowie die konsequente Neuausrichtung von Hilfestellungen im Sinne persönlicher Assistenz und sozialräumlicher Angebote als Herzstück menschenrechtskonformer Behindertenpolitik per se auch gewaltpräventive Wirkung hat, wurde allerdings in internationalen Forschungsarbeiten bereits wiederholt betont. Um diesen Prozess auch in Österreich zu betreiben, braucht es nicht nur Absichtserklärungen in Regierungsprogrammen. Notwendig sind kompromisslose Entschlossenheit 72 Einrichtungen für Menschen mit Behinderung der politisch Verantwortlichen sowie mit konkreten Zeithorizonten versehene transparente Planungen und darauf ausgerichtete Konzepte. Der zuständige UN-Fachausschuss hat die „unangemessene Zersplitterung“ der Behindertenpolitik in Österreich 2013 kritisiert und die den Zielen der UNBRK verpflichtete gemeinsame politische Steuerung aller Maßnahmen zur Umsetzung der Konventionsverpflichtungen eingefordert. Bundesweit nehmen schätzungsweise rund 21.000 Menschen mit Behinderung an speziellen Arbeitsformen in Werkstätten teil. Hier tut sich ein auch schon vom RH kritisierter wahrer Förderdschungel zwischen Bund und Ländern auf, der weder der Durchlässigkeit zwischen erstem und drittem Arbeitsmarkt dienlich ist, noch eine bedarfsgerechte Koordinierung, Planung und Steuerung von Angeboten und Hilfen ermöglicht. Zersplitterung der Kompetenzbereiche beenden Es besteht also noch erheblicher Verbesserungs- und Nachholbedarf. Die VA möchte an dieser Stelle aber auch ausdrücklich betonen, dass die gute Zusammenarbeit und die Kommunikation mit Bewohnerinnen- und Bewohner-Vertretern, Selbstvertretern und die teilweise sehr konstruktiven Dialoge mit Trägerorganisationen und Behörden wichtig für ihre Arbeit sind. Dafür dankt der NPM auch im Namen der Kommissionen. 2.4.2 Zusammenarbeit mit Stakeholdern für VA wesentlich Systembedingte Problemfelder 2.4.2.1 Altersuntypische Freiheitsbeschränkungen bei Minderjährigen mit geistigen Behinderungen bzw. psychischen Krankheiten Von außen versperrbare, mannshohe Pflegegitterbetten, in denen auch tagsüber Ruhezeit verbracht wird, mit Gattern versehene Zimmertüren, das Sitzen in Sesseln, die nicht selbständig verlassen werden können, Gurtfixierungen an nicht dem Alter und Körpergewicht entsprechenden Rollstühlen: Das sind einige Beispiele für Freiheitsbeschränkungen, die von der Kommission 6 in der Betreuung geistig und körperlich beeinträchtigter Kinder und Jugendlicher als menschenrechtsverletzend gerügt wurden. Massive freiheitsbeschränkende Maßnahmen bei Minderjährigen Pflegebedürftige Kinder- und Jugendliche mit Behinderungen sind besonders verletzlich und einem erhöhten Risiko ausgesetzt, Opfer von Gewalt zu werden. Wenn Freiheitsbeschränkungen keine der Situation und dem Alter angemessenen pädagogischen Ziele verfolgen, sondern vermeintlich dem Schutz vor Selbst- oder Fremdgefährdung dienen, ist immer besondere Achtsamkeit und eine Prüfung von Alternativen dazu notwendig. Komplexere Krankheitsbilder und Mehrfachbehinderungen erfordern oftmals eine speziell optimierte Versorgung. Das darf keine Ressourcenfrage sein. Die Persönlichkeitsentwicklung psychisch oder körperlich schwer beeinträchtigter Kinder und Jugendlicher hängt maßgeblich davon ab, ob und wie sie dabei unterstützt werden, ihre Umgebung wahrzunehmen, sie im wahrsten Sinne des Wortes zu begreifen und selbst zu erkunden. Wenn bauliche Unzulänglichkeiten und fehlende 73 Einrichtungen für Menschen mit Behinderung umfassende Barrierefreiheit, unzureichende Besetzungen im Tag- oder Nachtdienst, schlecht angepasste Hilfsmittel oder unterbleibende Förderung geistiger oder lebenspraktischer Fähigkeiten Minderjährige mit Behinderung einschränken, werden diese immer auch in ihrer sozialen Entwicklung unzulässig behindert. Rechtsschutz für Minderjährige und Erwachsene Die Anwendung freiheitsbeschränkender Maßnahmen an Erwachsenen, die geistig behindert oder psychisch krank sind, wäre ohne vorangegangene Prüfung von Alternativen und unverzüglicher Meldung an die Bewohnerinnenbzw. die Heimbewohner-Vertretung an sich unzulässig. Dies ist im HeimAufG, das dann auch eine gerichtliche Überprüfung ermöglicht, entsprechend geregelt. Für Kinder und Jugendliche gilt dies nicht ausnahmslos. Für sie wurde ein Ausnahmetatbestand im HeimAufG geschaffen. Das HeimAufG ist, wie jüngst der OGH festgestellt hat, wohl auf Einrichtungen unter Aufsicht des Kinder- und Jugendhilfeträgers nicht anzuwenden. Im Ergebnis bedeutet dies aber, dass diese derzeit nicht den gleichen Rechtsschutz wie Erwachsene in vergleichbaren Situationen genießen. Rechtsschutz kann von Zufällen abhängen Aber auch Minderjährige untereinander werden unterschiedlich behandelt. Weil der Anwendungsbereich des HeimAufG einrichtungsbezogen definiert wird, hängt es unter Umständen von Zufällen bzw. rein innerorganisatorischen Zuordnungen ab, welchen Rechtsschutz ein Kind bei altersatypischen freiheitsbeschränkenden Maßnahmen genießt. In Einrichtungen unter Aufsicht des Kinder- und Jugendhilfeträgers sind die Rechtsschutzverfahren des HeimAufG nicht anwendbar. Kinder in anderen Einrichtungen, die der Aufsicht des Trägers der Behindertenhilfe unterliegen, können diesen Rechtsschutz sehr wohl in Anspruch nehmen. Altersatypische Freiheitsbeschränkungen stellen Eingriffe in das Recht auf die persönliche Freiheit der Betroffenen dar. Dieses Recht genießt in Österreich einen besonderen Schutz und ist auf verfassungsgesetzlicher Ebene normiert. Im Bereich von Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen bestand lange Zeit eine rechtliche Grauzone bei der Ausführung von freiheitsbeschränkenden Maßnahmen und dem Schutz der persönlichen Freiheit. Ziel des HeimAufG war es deshalb, diese Grauzone zu beseitigen. Unterschiede beim Rechtsschutz sind nicht menschenrechtskonform Diese Rechtslage ist für den NPM insbesondere aus menschenrechtlicher Sicht nicht nachvollziehbar und auch nicht sachlich gerechtfertigt. Aus menschenrechtlicher Perspektive darf es für den Schutz von Menschen mit Behinderung keinen Unterschied machen, in welcher Einrichtung sie betreut werden. Eine solche Differenzierung steht nach Ansicht des NPM im Widerspruch zu den Normen der UN-Kinderrechtskonvention und der UN-Behindertenrechtskonvention, weshalb sie auch den Menschenrechtsbeirat mit der Problematik befasst hat. Novellierung des Heim-AufG notwendig Aus Sicht des NPM ist deshalb eine Novellierung des HeimAufG dringend geboten. Legistischer Handlungsbedarf besteht, da es nur durch die Kooperation mit der Vertretung der Bewohnerinnen Bewohner z.B. gelungen ist, in einem 74 Einrichtungen für Menschen mit Behinderung an eine Schule in NÖ angeschlossenen Internat alle 1,80 Meter hohen, von außen versperrbaren Pflegegitterbetten zu entfernen. Das HeimAufG müsste auf alle Einrichtungen anwendbar sein, in denen Kinder- und Jugendliche betreut werden. Im Zuge einer Änderung sollte ebenfalls diskutiert werden, ob der Rechtsschutz des Heim-AufG nicht auch auf Kinder und Jugendliche mit schwersten körperlichen Beeinträchtigungen ausgedehnt werden müsste. XX Minderjährige mit geistigen Behinderungen bzw. psychischen Krankheiten dürfen in Einrichtungen keinen ungerechtfertigten freiheitsbeschränkenden Maßnahmen ausgesetzt werden. XX Rechtsschutz muss für alle gleichermaßen zur Verfügung stehen. XX Minderjährige sollen den gleichen Schutz wie Erwachsene genießen. XX Novellierung des HeimAufG ist notwendig. Einzelfälle: VA-NÖ-SOZ/0063-A/1/2013, VA-NÖ-SOZ/0050-A/1/2014, 2.4.2.2.Deinstitutionalisierung Spätestens mit der Ratifizierung der UN-BRK hat Österreich ein Bekenntnis zur Deinstitutionalisierung von Menschen mit Behinderungen abgegeben. Verpflichtung zur Deinstitutionalisierung Art. 19 der UN-BRK garantiert das Recht auf unabhängige Lebensführung und Einbeziehung in die Gemeinschaft. Alle Menschen mit Behinderungen – darunter fallen alle Arten psychischer, psychosozialer und somatischer Beeinträchtigungen – haben das Recht auf gleiche Wahlmöglichkeiten wie andere Menschen, in der Gemeinschaft zu leben. Staaten sind deshalb zu Vorkehrungen verpflichtet, um Menschen den vollen Genuss dieses Rechtes zu ermöglichen und volle Einbeziehung in die Gemeinschaft und Teilhabe an der Gemeinschaft zu gewährleisten. Menschen mit Behinderungen müssen eine Wahlfreiheit haben, wo, mit wem und in welchen Wohnformen sie leben möchten. Das Recht, in frei gewählten Beziehungen zu leben, ist ein ebenso wichtiges Grundbedürfnis wie das Recht, trotz Unterstützungsbedarf möglichst autonom bleiben zu können. Eine Voraussetzung dafür ist die Schaffung gemeindenaher Unterstützungsdienstleistungen einschließlich persönlicher Assistenz sowie gemeindenaher Einrichtungen. Die Kommissionen haben vielfach Institutionen besucht, bei denen schon ihrer Größe wegen Anlass zu Zweifeln besteht, dass das Recht auf Wahlmöglichkeiten und gemeindenahe Unterstützung gewährleistet und Konzepte der Deinstitutionalisierung in Umsetzung begriffen sind. Verstärkt wurde dieser Eindruck aufgrund der Tatsache, dass Bewohnerinnen und Bewohner oft weit weg von ihren Heimatgemeinden untergebracht sind. Auch wenn eine Zentralisierung von Heimen gewisse punktuelle Vorteile in der umfassenden Steuerung der Versorgung und Betreuung bringen mag, so Deinstitutionalisierung nicht realisiert 75 Einrichtungen für Menschen mit Behinderung geht jedenfalls „Normalität“ für Klientinnen und Klienten dadurch verloren. Unterbringung in Mehrbettzimmern, fehlende Intimsphäre, verwaltetes Taschengeld, Pflegedienste und Ausgang nach Plan sind nur einige der Einschränkungen, die in Großeinrichtungen in Kauf genommen werden müssen. Aber auch persönliche Kontakte und stützende Beziehungen, die es im Nahraum möglicherweise gegeben hat, werden bei Übersiedlung in entferntere Heime zumindest erschwert. Die Größe von Einrichtungen bedingt, dass auf individuelle Bedürfnisse und Wünsche schlechter eingegangen werden kann. Die Orientierung an vorrangig beschützenden Haltungen zu Lasten einer eher ressourcen- und stärkenorientierten Haltung gegenüber Menschen mit Behinderung ist Großeinrichtungen immanent. In zahlreichen Gesprächen mit Kommissionen berichtete das Betreuungspersonal davon, dass einige Klienten und Klientinnen bei freien Plätzen eigentlich längst in Trainingswohnungen etc. wechseln hätten können. Nicht auf individuelle Bedürfnisse eingegangen Nicht selten wird auch das Bedürfnis nach Sexualität in Heimen als störend betrachtet. Insbesondere dann, wenn es keine Rückzugsräume und sexualpädagogischen Konzepte dafür gibt. So beobachtete beispielsweise eine Kommission, dass zumindest einem Bewohner in einer Großeinrichtung Psychopharmaka verabreicht wurden, um seinen sexuellen Drang zur Selbstbefriedigung zu verringern. Die Kommission erachtete dies als Verletzung seiner Privatsphäre. Der Bewohner konnte seine Sexualität nicht ausreichend selbstbestimmt gestalten. Einer anderen Kommission berichtete eine Bewohnerin von ihrem Kinderwunsch – auf Nachfrage der Delegation wurde dieser Wunsch vom Personal als in der Einrichtung nicht realisierbar erachtet. UN-Fachausschuss fordert verstärkte Anstrengungen Der UN-Ausschuss zum Schutz der Rechte für Menschen mit Behinderungen zeigte sich in seinem Abschlussdokument zur Staatenprüfung Österreichs besorgt über Berichte, dass die Zahl von Menschen mit Behinderungen in Einrichtungen in den vergangenen 20 Jahren gestiegen ist, und forderte verstärkte Anstrengungen, um Deinstitutionalisierungen voranzutreiben. Deshalb empfiehlt der Ausschuss explizit auch den Landesregierungen die Deinstitutionalisierung. Gesamtkonzepte fehlen Obwohl es immer noch zahlreiche Einrichtungen mit erheblicher Größe gibt, wurden im Berichtsjahr einige dieser Einrichtungen geschlossen bzw. konkrete Pläne erarbeitet, um kleinere dezentrale Wohneinheiten zu schaffen. Trotzdem musste der NPM feststellen, dass vor allem umfassende Gesamtkonzepte für eine Deinstitutionalisierung immer noch fehlen und auch die persönliche Assistenz für Menschen mit Behinderung als Alternative zu institutioneller Betreuung nicht ausgebaut wurde. Diese muss in Verfolgung der Ziele des Nationalen Aktionsplans für Menschen mit Behinderung in Abstimmung zwischen Bund und Bundesländern geschehen. Mit einer verstärkten Deinstitutionalisierung wäre endlich ein Paradigmenwechsel verbunden, der für die Bewusstseinsbildung zur Gleichberechtigung und zur Wahrnehmung von Menschen mit Behinderung besonders wichtig ist. Gleichzeitig wären damit konkrete Schritte hin zu einer verstärkten Inklusion verbunden. 76 Einrichtungen für Menschen mit Behinderung Voraussetzung für das Erstellen solcher Gesamtkonzepte ist aber ein umfassendes Verständnis des Begriffs Deinstitutionalisierung und der damit verbundenen Anforderungen. Der Grundsatz lautet, dass Menschen mit Behinderung die für sie individuell passende Wohnform wählen können und dafür die notwendigen Unterstützungsleistungen erhalten. Dabei wird nicht zwischen „schweren“ oder „leichten“ Beeinträchtigungen unterschieden. Auch Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf haben ein Recht auf ein selbstbestimmtes Leben in einer eigenen Wohnung. Dezentralisierung ist nicht gleich Deinstitutionalisierung Die Umsetzung dieses Grundsatzes verlangt es, sich am Willen der Betroffenen zu orientieren und anzuerkennen, dass diese Expertinnen und Experten in eigener Sache sind. Um eine Wahl zu ermöglichen, ist es notwendig, eine Vielfalt an Wohnformen zur Verfügung zu stellen und Menschen auch persönliche Budgets zu ermöglichen. Dezentralisierung von Einrichtungen, die schon jetzt teilweise verwirklicht wird, ist dafür ein wichtiger Schritt, aber nicht ausreichend. Wille der Betroffenen entscheidend Menschen müssen vielmehr in die Lage versetzt werden, ihren Alltag nach persönlichen Vorlieben und Bedürfnissen zu gestalten und an der Gesellschaft auf jeder Ebene teilzuhaben. Das Konzept der Sozialraumorientierung sollte dabei zur Anwendung kommen. Die Orientierung am Willen der Betroffenen erfordert es aber auch, diese in die Lage zu versetzen, nach teilweise jahrelangen Aufenthalten in Großeinrichtungen ihre individuellen Bedürfnisse herausfinden zu können, Unsicherheiten durch Information auszuräumen und die Möglichkeiten anderer Wohnformen wahrnehmen zu können. XX Pflicht zur Deinstitutionalisierung gemäß UN-BRK muss beachtet werden. XX Umfassende Gesamtkonzepte fehlen und müssen ausgearbeitet werden. Einzellfälle: VA-T-SOZ/0027-A/1/2013, VA-T-SOZ/0014-A/1/2014, VA-STSOZ/0071-A/1/2014, VA-T-SOZ/0010-A/1/2014, VA-K-SOZ/0013-A/1/2014, 2.4.2.3 Keine Heimverträge für Menschen mit Behinderungen Kommissionen berichteten in mehreren Fällen, dass Bewohnerinnen und Bewohner in Einrichtungen für Menschen mit Behinderung wohnten, ohne dass die Heimträger mit ihnen schriftliche Heimverträge abgeschlossen hätten. Bewohnerinnen und Bewohner ohne Heimverträge betreut Dies widerspricht den Bestimmungen des Konsumentenschutzgesetzes (KSchG). Die §§ 27ff KSchG sehen bei unbefristeten Verträgen vor, dass diese spätestens innerhalb von drei Monaten nach Antritt eines Heimaufenthalts zwischen dem Heimträger und den Bewohnerinnen bzw. Bewohnern abgeschlossen bzw. schriftlich ausgefertigt werden müssen. Bei befristeten Verträgen muss dies bereits vor Antritt des Heimaufenthalts erfolgen. Schriftlicher Heimvertrag verpflichtend vorgesehen 77 Einrichtungen für Menschen mit Behinderung Der Zweck der Schriftform besteht insbesondere in der Beweissicherung und der Transparenz der Leistungspflichten des Heimträgers. Diese Verträge müssen die Vereinbarung hinsichtlich Unterkunft, Betreuung und Pflege enthalten und „einfach und verständlich“ formuliert werden. Den Maßstab für die Beurteilung bilden die Fähigkeiten, Bedürfnisse und Erwartungshaltungen eines verständigen Heimbewohners. Einzelne Trägerorganisationen vertraten jedoch den Standpunkt, dass in jenen Fällen, in denen Klientinnen und Klienten eine Leistung, wie z.B. die Finanzierung eines Wohnplatzes, mittels Bescheid zugesagt werde, ein öffentlichrechtlicher Hintergrund vorliege. Das KschG sei deshalb nicht anwendbar, ein Heimvertrag müsse nicht abgeschlossen werden. VKI klagt eine Trägerorganisation Nach Interventionen des NPM bestätigte das BMASK, dass die Kostenübernahme durch eine öffentlich-rechtliche Körperschaft allein die Anwendung des KSchG nicht ausschließe. Der Bundesminister beauftragte deshalb den Verein für Konsumenteninformation („VKI“), von Behinderteneinrichtungen gemäß § 28 Abs.3 KSchG die Ausfolgung von Heimverträgen zu verlangen. Da sich eine Trägerorganisation weigerte, dieser Aufforderung nachzukommen, erhob der VKI eine Klage gegen die betreffende Organisation. Der NPM vertrat gegenüber dem BMASK außerdem die Ansicht, dass Heimverträge in „Leichter-Lesen-Versionen“ zu formulieren seien. Da der Schutz der Heimbewohnerinnen und Heimbewohner bei den Bestimmungen der §§ 27 ff KSchG klar im Vordergrund stehe, sei eine solche Vorgangsweise geboten. Das BMASK nahm die Anregung des NPM zum Anlass, einen Mustervertrag, der im Internet zur Verfügung gestellt wurde, in technischer Hinsicht barrierefrei zu gestalten. Gleichzeitig teilte das BMASK mit, dass aufgrund der Komplexität der Materie eine Leichter-Lesen-Version nicht formuliert werden könne. Der NPM teilt die diesbezüglichen Bedenken des BMASK nicht und vertritt weiterhin die Ansicht, dass Verträge so formuliert sein müssen, dass die Betroffenen den Inhalt verstehen und nachvollziehen können. XX Schriftliche Heimverträge für Menschen mit Behinderung sind Pflicht. XX Verträge müssen einfach und verständlich formuliert werden. XX Betroffene müssen Inhalt verstehen und nachvollziehen können. Einzelfall: VA-NÖ-SOZ/0041-A/1/2014, VA-T-SOZ/0020-A/1/2013 2.4.2.4Beschäftigungswerkstätten Tätigkeit in Werkstätten keine sozialversicherungsrechtliche Arbeit 78 Die Kommissionen absolvierten zahlreiche Besuche in Tagesstrukturen und Werkstätten für Menschen mit Behinderungen. In diesen Einrichtungen sind Menschen tätig, deren Leistungsfähigkeit gemäß österreichischem Sozialversicherungsrecht zwischen sehr gering bis knapp unter 50 % derjenigen eines Einrichtungen für Menschen mit Behinderung nicht behinderten Menschen reicht. Unabhängig vom Umfang der Arbeitsleistungen der einzelnen Betroffenen gelten solche Beschäftigungen nicht als Arbeitsverhältnisse. Nach derzeitiger Rechtsprechung liege die Tätigkeit in erster Linie im Interesse der Beschäftigten zu arbeiten und diene der „Erziehung“ und „Behandlung“. Die Betroffenen sind deshalb nicht aufgrund ihrer Tätigkeit sozialversichert. Sie erwerben keine selbständigen Pensionsansprüche. Andere Versicherungsleistungen erhalten sie aus Ansprüchen der Mindestsicherung, aus einer Waisenpension etc. Für ihre Arbeit erhalten sie keine sozialversicherungsrechtliche Entlohnung, sondern lediglich Taschengelder in einer Höhe von durchschnittlich ungefähr 65 Euro pro Monat. Die Kriterien für die Berechnung der Höhe des Taschengeldes sind oftmals intransparent und jedenfalls nicht einheitlich. „Lohn“ ist kleines Taschengeld Der NPM geht davon aus, dass die Beschäftigung in der derzeitigen Form nicht den Bestimmungen der UN-BRK entspricht. Gemäß Art. 27 UN-BRK haben Menschen mit Behinderung das gleiche Recht auf Arbeit und Beschäftigung wie alle anderen. Auch der UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen hat die Beschäftigung von rund 19.000 Menschen in Österreich außerhalb des geregelten Arbeitsmarktes kritisiert. Eine Stellungnahme des Menschenrechtsbeirates zur Problematik wurde auf der Homepage der VA veröffentlicht. Eine Reform der derzeitigen Rechtslage und Praxis ist aus Sicht des NPM dringend geboten. Ziel muss die Sicherung des Lebensunterhalts außerhalb der jetzigen Sozialhilfe bzw. Mindestsicherungslogik (d.h. ohne Berücksichtigung von Vermögen und ohne Regressregelungen) sein. Menschen mit Behinderungen sollten in Werkstätten einen Anspruch auf eine reguläre Entlohnung haben und Ansprüche aus der gesetzlichen Sozialversicherung erwerben. Übergangslösungen werden in dieser Hinsicht vielleicht nicht zu vermeiden sein, als Ergebnis darf es aber keine finanzielle Schlechterstellung der Betroffenen durch das Wegfallen von Transferleistungen geben. Reform der Rechtslage notwendig Die Probleme der derzeitigen Rechtslage werden in Kommissionsberichten deutlich. Zumindest in einem Bundesland werden danach Menschen mit Behinderungen immer wieder angehalten, ihre Eltern auf Unterhalt zu verklagen. Ebenso wurde dem NPM berichtet, dass zumindest einzelne Werkstätten, die externe Arbeitsaufträge annehmen, Überschüsse erwirtschaften ohne dass die Beschäftigten direkt davon profitieren. In solchen Fällen ist im Zusammenhang mit der „Entlohnung“ in Form eines Taschengeldes die Gefahr der Ausbeutung der Betroffenen gegeben. Gleichzeitig muss ebenso die Integration in Normalarbeitsplätze gefördert werden. Voraussetzung dafür wäre beispielsweise der Ausbau von persönlichen Assistenzleistungen insbesondere für Menschen mit Lernschwierigkeiten. Der Versuch einer Integration ist aber derzeit auch mit erheblichen Risiken verbunden. Bisher erhaltene Transferleistungen werden nicht ruhendgestellt, Zu wenig Förderung für Integration in Normalarbeitsplätze 79 Einrichtungen für Menschen mit Behinderung dafür erlöschen zugrunde liegende Ansprüche. Wesentliche Voraussetzung neben der zielgerichteten Förderung ist deshalb auch die Möglichkeit, dass Ansprüche auf Transferleistungen wieder aufleben können. Kommissionen kritisierten wiederholt, dass in manchen Einrichtungen das Angebot kaum über eine „Beschäftigungstherapie“ hinausgeht. Integration in „Normalarbeitsplätze“ findet nicht statt, weil ein solche oft für das Betreuungspersonal kaum erreichbar scheint. Aus Sicht der UN-BRK ist eine möglichst weitgehende Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung ein zentraler Schwerpunkt, weshalb zumindest Inklusionsziele formuliert und bestmöglich verfolgt werden sollten. Im Gegensatz dazu wird aber in den Vorgaben an die Trägerorganisationen zumindest in einem Bundesland die Förderung der Integration in „Normalarbeitsplätze“ nicht verpflichtend vorgeschrieben. Diese wird zwar als Möglichkeit definiert, es fehlen aber klare, eindeutige Zielvorgaben. XX Bezahlung eines regulären Lohns in Beschäftigungstherapiewerkstätten ist anzustreben. XX Erwerb sozialversicherungsrechtlicher Ansprüche ist anzustreben. XX Integration in Normalarbeitsplätze gehört ausreichend gefördert. XX Recht auf Arbeit gemäß UN-BRK muss gewährleistet sein. Einzelfälle: VA-NÖ-SOZ/0052-A/1/2013, VA-S-SOZ/0047-A/1/2013, VA-TSOZ/0021-A/1/2013, VA-T-SOZ/0023-A/1/2013, VA-T-SOZ/0002-A/1/2014, VAT-SOZ/0022-A/1/2014 2.4.2.5 Effiziente Interessensvertretung braucht Ressourcen Selbstvertretung und gemeinschaftliche Mitbestimmung im institutionellen Alltag stärken Menschen mit Behinderungen. Dadurch können Regeln des Zusammenlebens durch eigene oder gemeinschaftliche Initiativen als erfass- und veränderbar erlebt werden. Dies betrifft sowohl den Bereich des Wohnens als auch der Beschäftigungen und Tagesstrukturen. Allerdings braucht es strukturelle Voraussetzungen und Rahmenbedingungen, um Selbstvertretung und Mitwirkung wirksam zu verankern. Die Kommissionen orteten wiederholt einen Mangel an umfassend partizipativen Entscheidungsstrukturen und Abstimmungsprozessen, die Handlungsspielräume gegenüber Entscheidungen der Leitung eröffnen hätten können. Selbstvertretung braucht unterstützende Bedingungen 80 Selbstvertretung ist eine logische Konsequenz aus der praktischen Umsetzung des Prinzips der Selbstbestimmung im Sinne der UN-BRK. Voraussetzung dafür sind allerdings unterstützende Maßnahmen. Sich zu organisieren, Informationen in verständlicher Form einzufordern, Vorstellungen über Konzepte und Alternativen auszutauschen, sich extern zu vernetzen, Forderungen abzustim- Einrichtungen für Menschen mit Behinderung men und Anliegen der Gemeinschaft – allenfalls auch über Vertreterinnen bzw. Vertreter – wirksam zu kommunizieren und durchzusetzen, setzt Prozesse voraus, die gelernt und erlebt werden müssen. Während nichtbehinderten Menschen der Zugang zu Informationsveranstaltungen, Seminaren und Fortbildungen zur Steigerung der Effizienz der Tätigkeit in und für Interessensvertretungen offen stehen, ist dies für Menschen mit Behinderung in Einrichtungen keine Selbstverständlichkeit. Durch Abhängigkeitsverhältnisse besteht im Alltag immer die Gefahr, dass Interessen und Bedürfnisse der Bewohnerinnen und Bewohner hinter denen der Träger der Behindertenhilfe, der betreuenden Organisation und des Personals zurücktreten. Bei der Etablierung und Absicherung von Selbstvertretungsmöglichkeiten geht es daher vor allem auch um einen Abbau eines strukturellen Gewaltverhältnisses von Menschen mit Behinderung in allen Lebensbereichen. Da Angelegenheiten des Behindertenwesens in die Gesetzgebungskompetenz der Länder fallen, gibt es dafür bundesweit unterschiedliche – mehrheitlich aber grob defizitäre – Vorgaben für Rahmenbedingungen. Das OÖ Chancengleichheitsgesetz schreibt die Einbindung von Menschen mit Behinderung in Entscheidungsprozesse sowie die Schaffung „geeigneter Vertretungsformen“ für den Bereich des Wohnens, den Bereich der Maßnahmen der geschützten Arbeit etc. vor. Auch eine Unterstützungspflicht von Einrichtungsträgern zur Bildung solcher Interessensvertretungen wurde normiert (§§ 35, 37 OÖ Chancengleichheitsgesetz). Defizitäre landesgesetzliche Ausgestaltungen Im Gegensatz dazu überlassen einschlägige Regelungen anderer Bundesländer – so es diese gibt – solche Prozesse der Selbstorganisation und freiwilligen Ausgestaltungen der Trägereinrichtungen. So „können“ beispielsweise nach § 15 NÖ Wohn- und Tagesbetreuungsverordnung Interessensvertretungen gebildet werden. Eine genauere gesetzliche Festlegung zu den Voraussetzungen, Modalitäten und vor allem der Unterstützung solcher Aktivitäten fehlt jedoch. § 6 Abs. 3 Kärntner Heimgesetz hält lediglich fest, dass Heimträger nicht von einem rechtswirksamen Verzicht des Rechts darauf, „gemeinsam mit Mitbewohnerinnen und Mitbewohnern einen Interessenvertreter oder eine Bewohnerdelegation zur Vertretung der Interessen der Bewohner zu wählen“, ausgehen dürfen. Augenfällig ist auch, dass mit Ausnahme von OÖ die Mehrzahl der Landesgesetze keine gesetzliche Verankerung von Wahlen von Werkstättenrätinnen und -räten sowie der dazu nötigen Voraussetzungen und Bedingungen regelt. Damit in Zusammenhang könnte stehen, dass Kommissionen bei Besuchen in Werkstätten zuweilen vermittelt wurde, dass Werkstättensprecherinnen und -sprecher „wenig zu sagen hätten“. 81 Einrichtungen für Menschen mit Behinderung Normierung demokratischer Beteiligungsstrukturen Die VA geht davon aus, dass mit der Normierung demokratischer Beteiligungsstrukturen auch die Ausrichtung aller Informations-, Entscheidungs- und Innovationsprozesse besser gelingen könnte. Dass es hier Nachholbedarf an Partizipation gibt und OÖ eine Vorreiterrolle zukommt, zeigt auch eine 2010 publizierte Studie des Instituts für Bildungswissenschaften an der Universität Wien zum Thema „Werkstätten und Ersatzarbeitsmarkt in Österreich“ deutlich auf. Durch fehlende oder unzureichende gesetzliche Mindestvorgaben bzw. an der UN-BRK orientierte bundesländerübergreifende Qualitätsstandards bleibt es den Institutionen bzw. deren Trägern überlassen, Selbstvertretungs- und Mitbestimmungsstrukturen für Bewohnerinnen und Bewohner sowie Nutzerinnen und Nutzer zu etablieren. Verschiedenste Konzepte dazu liegen vor und wurden den Kommissionen bei Besuchen auch ausgehändigt. Das reicht für sich allein nicht aus, die Ausgestaltung der Praxis danach zu orientieren und nicht in gewohnten Bahnen an Betreuungsaufträgen und innerorganisatorischen Festlegungen festzuhalten. Der Zugang zu einem Austausch von Selbstvertreterinnen bzw. Selbstvertretern auch über Institutionsgrenzen hinweg mit Menschen mit Behinderung, die selbstständig leben („Peer-to-Peer“), könnte neue Perspektiven eröffnen. Zu begrüßen ist die Ende 2014 erfolgte Eröffnung des Wiener SelbstvertretungZentrums, mit welchem inhaltlicher Austausch, Unabhängigkeit gegenüber Trägerorganisationen, Vernetzung und gemeinsame politische Arbeit von Menschen mit Lernschwierigkeiten gefördert werden soll. XX Selbstvertretung ist unabhängig von der Form der Behinderung zu gewährleisten. XX Geeignete Unterstützungsmaßnahmen sind dafür notwendig. XX Landesgesetze schaffen, von wenigen Ausnahmen abgesehen, keine geeigneten Rahmenbedingungen und sollten novelliert werden. XX Peer-to-Peer-Informationsaustausch soll gefördert werden. Einzelfälle: VA-W-SOZ/0236/2014, VA-W-SOZ/0353/2014, u.a. 2.4.3 Isolierung eines Bewohners Bewohner wurde von anderen isoliert In einem Wohnhaus für Menschen mit Behinderung stellte die Kommission 1 fest, dass es vor allem mit einem bestimmten Bewohner Schwierigkeiten im Umgang gab. Wegen intensiver Aggressionsausbrüche bestand ein erhöhtes Gefährdungspotential für Mitbewohnerinnen und Mitbewohner, welches auch vom behandelnden Arzt festgestellt wurde. Als Konsequenz wurde vor dem Zimmer des Bewohners ein spezielles Gatter angebracht, das ihn am selbstständigen Verlassen des Zimmers hinderte. Auch in der Werkstätte, in der die Bewohnerinnen und Bewohner des Wohnheims untertags tätig waren, wurde der Bewohner durch ein solches Gatter von den anderen isoliert. Gefährdungspotential war erhöht Nach Auskünften der Klientinnen und Klienten sowie des Personals stellten auch die Transporte zwischen dem Wohnheim und der Werkstätte ein Prob- 82 Einrichtungen für Menschen mit Behinderung lem dar. Der Bewohner fühlte sich beengt und durch die Anwesenheit anderer höchst gestresst. Es kam deshalb zu Eskalationen. Gleichzeitig fühlten sich Mitfahrende während dieser Fahrten nicht sicher und berichteten der Kommission von ihren Ängsten. Die täglichen Fahrten von und zur Werkstätten waren unter diesen Umständen für alle Beteiligen sehr beschwerlich. Unmittelbar nach dem Besuch der Kommission wurden für den Betroffenen Einzeltransporte vom Wohnheim zur Werkstätte organisiert, wodurch dieser sich deutlich wohler fühlte. Zusätzlich erhielt er in der WG ein anderes Zimmer, welches einen direkten Zugang zu einem Garten hat, wo sich Herr N.N., wann immer er es möchte, aufhalten kann. Mehr begleitete Spaziergänge und häufigere Ausflüge in die Natur zum Ausleben des Bewegungsdranges trugen dazu bei, auf das Gatter im Wohnheim gänzlich verzichten zu können. Verbesserungen nach Kommissionsbesuch In der Werkstätte wurde das Gatter auf Wunsch des Betroffenen beibehalten, aber so adaptiert, dass er dieses selbständig öffnen und schließen konnte. Das freiwillige und selbstbestimmte Aufsuchen des Rückzugsraums ist jetzt für die anderen auch ein Signal, dass Herr N.N. alleine bleiben will und Ruhe benötigt. Die Kommission kontrollierte die Werkstätte im Rahmen eines Follow-up-Besuchs nochmals und konnte sich von den Verbesserungen überzeugen. XX Pflegemaßnahmen ist gegenüber Isolierungen und Freiheitsbeschränkungen der Vorzug zu geben. Einzelfälle: VA-T-SOZ/0023-A/1/2013, VA-T-SOZ/0023-A/1/2014 2.4.4 Verwendung von „Time-Out-Räumen“ Das CPT hat Standards für die unfreiwillige Anhaltung in „Time-Out-Räumen“ entwickelt, die für psychiatrische Anstalten Geltung haben. Das CPT zeigt sich u.a. sehr besorgt über die steigende Inanspruchnahme dieser Maßnahme und führt aus, dass die Verbringung von Menschen in Auszeiträume bei fehlenden Begleitmaßnahmen nicht notwendigerweise ein gelinderes Mittel zu medikamentösen und mechanischen Freiheitsbeschränkungen oder Beschränkungen anderer Art sind und nie als Bestrafung eingesetzt werden dürfen. Time-Out-Räume dürfen nie zur Bestrafung verwendet werden Die Kommission 2 ist in einer Einrichtung auf eine Vielzahl gerichtlich festgestellter unzulässiger Freiheitsbeschränkungen gestoßen. Diese betrafen die Verwendung zweier Time-Out-Räume bei zwei massiv fremdaggressiven Bewohnern sowie unabhängig davon den Einsatz mechanischer und medikamentöser Freiheitsbeschränkungen. Vielzahl unzulässiger Freiheitsbeschränkungen Der NPM hat durch Einsichtnahme in alle Urteile festgestellt, dass sich das Erstgericht gegen die routinemäßige Verwendung der Time-Out-Räume aussprach, weil der Einsatz vorangehender gelinderer Mittel nicht dokumentiert worden war. In der Fachliteratur ist die Verwendung von Time-Out-Räumen als 83 Einrichtungen für Menschen mit Behinderung therapeutische Maßnahme in (heil)pädagogischen Settings zudem sehr umstritten. Diese werden nur unter engen Rahmenbedingungen als zielführend angesehen und dürfen – wenn überhaupt – nur sehr kurz eingesetzt werden. Wie das nachfolgende Prüfungsverfahren ergab, hat die Einrichtung eine Reihe von wirksamen Maßnahmen gesetzt, um die auch nach dem HeimAufG ergangenen Urteile umzusetzen. Einer der beiden Time-Out-Räume wurde gänzlich aufgelassen. Im anderen ist es gelungen, die zwangsweisen Verbringungen innerhalb eines Jahres um 75 % zu minimieren. Die Fähigkeit zur bewussten Steuerung von Gefühlen und inneren Spannungen ist besonders in sozial fordernden Situationen wichtig: bei zwischenmenschlicher Nähe, bei Konflikten, bei Enttäuschungen und Zurückweisungen und bei der Äußerung und Umsetzung von Wünschen und Erwartungen. Solche Alltagssituationen und Frustrationen überfordern manche Menschen so sehr, dass sie mit unkontrollierbarer Wut, Verstimmungen, Vorwürfen, Impulsdurchbrüchen, Aggression, aber auch Gefühllosigkeit, Selbstentwertungen oder Rückzug reagieren. Time-Out-Räume können von intellektuell beeinträchtigten Menschen mit Persönlichkeitsstörungen aber auch leicht als Ablehnung ihrer Person missverstanden werden, was erneute Eskalationen provoziert. Menschenrechtliche Standards für Verwendung von Time-Out-Räumen Menschenrechtliche Standards für die Verwendung von Time-Out-Räumen können auf Basis der vom NPM gewonnenen Erkenntnisse wie folgt zusammengefasst werden: Die Verwendung von Time-Out-Räumen in Einrichtungen für Menschen mit Behinderung: darf nicht Folge mangelnder individualisierter Betreuung, medizinischer oder psychiatrischer Unterversorgung bzw. unpassender Settings sein; setzt Kriseninterventionsplan und Deeskaltationstrainings des Personals voraus; dient ausschließlich dem vorübergehenden Schutz Betroffener oder anderer Personen bei akut fremdaggressivem Verhalten und ist kein zulässiges Mittel der Disziplinierung oder Sanktionierung von sonstigem Fehlverhalten; soll unter ständiger Beobachtung und der Möglichkeit beruhigender Gespräche so kurz wie möglich sein; muss in angstfreier, reizarmer und verletzungssicherer Umgebung erfolgen; muss dokumentiert und der Vertretung der Bewohnerinnen- und Bewohner als freiheitsbeschränkende Maßnahme gemeldet werden; muss von Interaktionsbeobachtungen und -analysen begleitet sein, welche die Wechselwirkungen zwischen dem Verhalten Betroffener und Aktionen/Reak- 84 Einrichtungen für Menschen mit Behinderung tionen des Betreuungspersonals oder Mitbewohnerinnen und -bewohner aufzeigen können. XX Verbringung in Time-Out-Räume nicht notwendiger Weise gelinderes Mittel. XX Sorgsamer Einsatz ist geboten. Einzelfall: VA-OÖ-SOZ/0052-A/1/2014 85 Justizanstalten 2.5Justizanstalten 2.5.1Einleitung Die Kommissionen führten im Berichtszeitraum 30 Besuche in Einrichtungen des Straf- und Maßnahmenvollzugs durch. Wie im Jahr davor zeigten sich dabei systemische Schwachstellen. Zu diesen Problemfeldern wurden Untersuchungen mit dem Ziel angestellt, einrichtungsübergreifende, systembedingte Fehler zu erfassen und Verbesserungsvorschläge zu unterbreiten. Eine Reihe von Einzelfällen betrifft Defizite beim Maßnahmenvollzug, zu dem auch in diesem Jahr schwerpunktmäßig Erhebungen der Kommissionen erfolgten. Trotz der vielfach aufgezeigten Mängel soll nicht verschwiegen werden, dass sich in den Besuchsprotokollen auch immer wieder positive Feststellungen finden. Jede einzelne dieser Wahrnehmungen wird an das BMJ weitergeben, mit der Bitte diese Rückmeldung an die einzelne Einrichtung weiterzugeben. Exemplarisch wird auf den letzten Fall dieses Berichtsteiles verwiesen. 2.5.2 Systembedingte Problemfelder 2.5.2.1 Personalmangel und dessen Folgen – langer Einschluss und wenig Beschäftigung Nachteinschluss vor Mittag Ausgehend von den Wahrnehmungen des vergangenen Jahres, wonach Personalengpässe oft ins Treffen geführt werden, um lange Sperrzeiten zu erklären, hat der NPM systematisch erhoben, wann jeweils Einschluss in Österreichs Justizanstalten ist. Dabei zeigt sich, dass von den 28 Justizanstalten (nicht mitgezählt die Außenstellen, die diesbezüglich begünstigt sind) in drei Anstalten (Eisenstadt, Hirtenberg, Wien-Mittersteig) zum Wochenende und an Feiertagen der Einschluss bereits um 11.15 Uhr erfolgt. In den Anstalten Krems, Ried, Stein und Wr. Neustadt, ist an diesen Tagen um 11.45 Uhr Einschluss. In Klagenfurt, Suben, St. Pölten und Wien-Simmering um 12.00 Uhr. Der NPM wertet derart lange Zeitspannen als dramatisch, gehen doch mit langen Einschlusszeiten unstrukturierte Tagesabläufe einher und führt insbesondere der häufig festzustellende Überbelag von Hafträumen dazu, dass während dieser Zeit die Gefahr von Übergriffen besonders groß ist. Öder Tagesablauf schürt Aggressionen Verschärfend wirken sich geringe Beschäftigungsmöglichkeiten aus. Mangels Arbeit und sinnvoller Tagesgestaltung wird noch mehr Zeit in jenem Trakt und jenen Räumen verbracht, in denen der Einschluss erfolgt. So fielen der Kommission 2 beim Besuch der Justizanstalt Linz sowohl die langen Verschlusszeiten bei nicht beschäftigten Insassen (22,5 Stunden täglich) wie die geringen Beschäftigungsmöglichkeiten auf. Von 225 Häftlingen hatten am Besuchstag lediglich knapp mehr als ein Viertel, nämlich 65 Insassen, Arbeit. Kaum Bewegungsmöglichkeit Zwar versuchte der Anstaltsleiter, die Einschlusszeiten zu verkürzen, indem der Aufenthalt im Freien von einer Stunde auf eineinhalb Stunden verlängert 86 Justizanstalten wurde. Auch wurde auf die Freizeiträume in den Abteilungen und auf Sportmöglichkeiten hingewiesen. Aufgrund der baulichen Situation und des hohen Belags ist es aber in der Justizanstalt Linz nicht möglich, Abteilungen zu führen, in denen die Hafträume während des Tages durchgehend geöffnet sind. Dass Personalengpässe zu Lasten der Insassen gehen und Rechte nicht vollumfänglich gewahrt werden können, zeigen Wahrnehmungen der Kommissionen in der Justizanstalten Sonnberg, Wien-Josefstadt und St. Pölten. Diensteinteilung zu Lasten der Insassen In Sonnberg kritisierte die Kommission die Gestaltung des Dienstplanes, der eine Vorverlegung der Einschlusszeit am Mittwoch statt um 19.00 Uhr auf 17.00 Uhr vorsah. Der Grund ist, dass die Einsatzgruppe hinreichend Zeit zum Training haben soll. Das BMJ verwies darauf, dass der Personalstand in der Justizanstalt Sonnberg im Verhältnis zur Anzahl der Insassen gering sei. Dennoch sei man bemüht, die Einschlusszeiten vergleichsweise kurz zu halten. Das Training der Einsatzgruppe sei in der vorgeschriebenen Frequenz durchzuführen und könne aktuell nur an diesem Wochentag stattfinden. Der NPM hält dem Folgendes entgegen: Wenn der Trainingsplan zu einer Verlängerung der Einschlusszeiten an diesem Tag führt, soll dies an einem anderen Tag ausgeglichen werden. Anordnen kann dies der Anstaltsleiter. Nachteil ist auszugleichen In der Justizanstalt Wien-Josefstadt wiederum musste die Kommission zum wiederholten Mal feststellen, dass der Aufenthalt im Freien nicht ermöglicht wurde, obwohl dies die Witterung an diesem Tag keineswegs ausschloss. Über den Umstand, dass der Hofgang viel zu häufig entfalle, beschwerten sich mehrere Häftlinge. Hofgang nicht ermöglicht Ein Personalmangel, der von der Anstaltsleitung im Abschlussgespräch ins Treffen geführt wurde, ist nicht akzeptabel und steht der Einlösung des Anspruches, wie er sich aus dem Strafvollzugsgesetz ergibt, entgegen. Der NPM fordert mit Nachdruck, dass das Recht auf Aufenthalt im Freien uneingeschränkt zu gewähren ist. Rechte müssen eingelöst werden können In St. Pölten schränken Personalmangel und das bestehende Schichtsystem (ab 15.00 Uhr stehen nur mehr vier Wachpersonen zur Verfügung) Freizeitaktivitäten stark ein. So kann etwa der Fitnessraum nachmittags nicht mehr genutzt werden. Als Folge der verlängerten Nachtschicht drängen sich alle Aktivitäten auf den verkürzten Tagesablauf, was dazu führt, dass sich Insassen entscheiden müssen, ob sie arbeiten oder an der frischen Luft sein wollen. Sparvorgaben auf Insassen überwälzt Auf die Bewegung im Freien besteht ein Anspruch. Auf dieses Recht muss verzichtet werden, will die inhaftierte Person nicht finanzielle Einbußen – die Unbeschäftigtenvergütung ist weit geringer als der Arbeitslohn – mangels Beschäftigung hinnehmen. Aus Sicht des NPM ist es inakzeptabel, dass die Inanspruchnahme von Rechten zu einer finanziellen Schlechterstellung führt. falsche Signalwirkung 87 Justizanstalten XX Trainings der Einsatzgruppe dürfen nicht zu einer Verlängerung der Einschlusszeiten führen. XX Der Aufenthalt im Freien dient der Gesundheit des Insassen. Er ist täglich mindestens eine Stunde zu ermöglichen, so es die Witterung zulässt. XX Inhaftierte sollen sich nicht zwischen Arbeit und zustehenden Rechten wie der Bewegung im Freien entscheiden müssen. XX Aus der Inanspruchnahme eines Rechts darf keinem Insassen ein finanzieller Nachteil erwachsen. Einzelfälle: VA-BD-J/0840-B/1/2013; 0337-B/1/2014; 0003-B/1/2014; 089B/1/2014 Akuter Mangel an Fachpersonal In der Justizanstalt Graz-Karlau kann zwar das Arbeitsangebot bei einer Beschäftigungsquote von 90 % der Untergebrachten bzw. Häftlinge als sehr gut bezeichnet werden. So werden z.B. 40 Lehrlinge in neun verschiedenen Berufssparten ausgebildet. Beeinträchtigt wird dieser Zustand allerdings durch den akuten Mangel an Fachpersonal, was zu tageweisen und stundenweisen Schließungen von Werkstätten führt. Personalvertretung lehnt externe Fachkräfte ab Diese Situation kann nur durch Aufnahme von entsprechenden Fachkräften (Handwerkern) verbessert werden; die Leitung der Justizanstalt hat darum bereits angesucht. Paradoxer Weise spricht sich jedoch die Personalvertretung vehement dagegen aus und verhindert damit eine Verbesserung dieser Situation. So besteht die Personalvertretung darauf, dass nur Bedienstete aus dem Bereich der Justizwache aufgenommen werden. Strukturierter Tagesablauf Demgegenüber verwies die Kommission darauf, dass jede (auch nur stundenweise) Schließung von Werkstätten eine Verschlechterung der beschäftigungstherapeutischen Versorgung darstelle und einer sinnvollen Tagesstruktur nicht förderlich sei. Hinzu kommt, dass sich gerade die Werkstättenfachkräfte für die Untergebrachten bzw. die Häftlinge als besonders wichtige Vertrauenspersonen erweisen. Unter jeder Verringerung einer bereits bestehenden Beschäftigungsmöglichkeit leidet auch der wichtige Beziehungseffekt. Weniger Leidensdruck bei Einschluss Wie wichtig ein Festhalten und ein Ausbau des Arbeits- und Beschäftigungsangebotes sind, zeigt sich auch daran, dass der Einschluss jener Insassen, die nicht im Wohngruppenvollzug untergebracht sind, um 15.00 Uhr erfolgt. Zwar besteht noch die Möglichkeit, bis 17.00 Uhr Freizeiteinrichtungen wie Sportstätten, Basteln, Musik- und Kunstgruppen etc. zu besuchen bzw. in Anspruch zu nehmen. An der Einschlusszeit ändert dies aber nichts. Das BMJ pflichtete dem NPM bei, dass der Ausbau des Arbeits- und Beschäftigungsangebots in den Anstalten eine ganz bedeutende Rolle spielt. Pilotprojekt angeordnet 88 Mit den Vertretern des Zentralausschusses für die Bediensteten des Exekutivdienstes wurden Beratungen geführt, die zu keinem einvernehmlichen Ergebnis geführt haben, weshalb der Bundesminister für Justiz gemäß § 10 Abs. 7 Justizanstalten PVG letztlich eine Entscheidung für einen mit 1. Oktober 2014 beginnenden Pilotbetrieb mit insgesamt 19 Handwerkern in den Justizanstalten Gerasdorf, Graz-Karlau, Stein und Wien-Simmering zur Beschäftigung von Handwerkern traf. Der Pilotbetrieb wird im Dezember 2014 evaluiert werden. Bis zur Besetzung der zusätzlichen (insgesamt 100) Exekutivdienstplanstellen soll daher die einjährig befristete Aufnahme von handwerklichem Personal (über die Justizbetreuungsagentur) der Hebung der Beschäftigungsquote, der Verringerung der Schließtage der Betriebe und der Entlastung der Justizanstalt dienen. In Graz-Karlau sind aktuell (Stand 4. November 2014) vier zivile Zusatzkräfte tätig, und zwar ein Maler, ein Installateur, ein Koch und ein Schlosser. Drei weitere Fachkräfte (ein Koch, ein Bäcker und ein Maurer) sollen zeitnah ihren Dienst aufnehmen. Die bisherigen Erfahrungen in Graz-Karlau sind äußert positiv; auch die Mitglieder der Personalvertretung zeigen Kooperationsbereitschaft. Positive Rückmeldungen Der NPM bedauert, dass eine einvernehmliche Lösung mit der Personalvertretung nicht gefunden werden konnte. Er begrüßt jedoch die vom BMJ gesetzten Schritte, dienen doch diese nicht nur der Umsetzung von Empfehlungen des CPT, wie sie vielfach zum Ausdruck kommen (z.B. CPT/Inf[94]15 u.a.), sondern auch der Einlösung der Pkt. 26.2 ff der Empfehlung REC (2006) 2 („Europäische Strafvollzugsgrundsätze“), zu denen sich Österreich im Mai 2007 bekannt hat. Internationale Vorgaben eingelöst XX Bemühungen um eine einvernehmliche Lösung in Personalangelegenheiten dürfen sich nicht so lange hinziehen, dass sie zu Lasten der Interessen der Insassen gehen. XX Gegebenenfalls hat das BMJ erneut von seinen gesetzlich eingeräumten Entscheidungsbefugnissen Gebrauch zu machen. Einzelfall: VA-BD-J/0738-B/1/2014; BMJ BMJ-Pr10000/0071-Pr3/2014 2.5.2.2 Bedrückender Anlassfall löst Sonderprüfung und Reform des Maßnahmenvollzuges aus Im Mai 2014 berichteten die Medien über einen erschreckenden Fall der Duldung der Verwahrlosung eines seit vielen Jahren im Maßnahmenvollzug untergebrachten Insassen in der Justizanstalt Stein. Die Berichterstattung dazu nahm der NPM zum Anlass, eine Untersuchung einzuleiten. Geklärt werden sollen dabei nicht Fragen, die zu beurteilen den Strafverfolgungsbehörden zukommen. Von Interesse ist vielmehr, wie es zu einem derartigen Zustand eines Menschen kommen kann, der unter der Obhut des Staates steht. NPM reagiert prompt Bei dem Insassen handelt es sich um einen 74-jährigen Häftling, der nach Verbüßen einer Haftstrafe in der Schweiz seit 2008 im Maßnahmenvollzug in der Justizanstalt Stein untergebracht ist. Seine Beine waren entzündet, die Haut durch Geschwüre verkrustet, die Zehennägel zentimeterlang und aufgebogen. Schockierende Bilder 89 Justizanstalten Trotz des Verwesungsgeruchs, der sich breit machte, will monatelang niemand bemerkt haben, wie der Häftling bei lebendigem Leib verfaulte. Körperlicher Verfall als Zeichen seelischer Verwahrlosung Dem Mann dürften vor einiger Zeit Bandagen in der Sonderkrankenanstalt Stein angelegt worden sein, die aber nicht gewechselt wurden. Die völlig verschmutzten Bandagen waren teilweise mit der Haut verwachsen. Darüber trug der Mann eine lange Hose, die er beim Waschen nicht ablegte. Es scheint so, als hätte er nach einiger Zeit die Füße als nicht mehr zum Körper gehörig empfunden und dem Verfall preisgegeben. Betreuungsangebote hat der Betreffende schon seit Langem konsequent ausgeschlagen und sich immer mehr zurückgezogen. Erst als der Fäulnisgeruch aus dem Einzelhaftraum unerträglich wurde, reagierte die Vollzugsverwaltung. Der Bundesminister für Justiz zeigte sich nach Bekanntwerden des Falles tief betroffen und kündigte eine Reform des Maßnahmenvollzuges an. Intensivierung der Betreuung von Langzeitinsassen Gerade bei älteren Häftlingen im Langzeitvollzug stellt die Körperpflege mitunter ein Problem dar. Für den NPM gilt es zu klären, wie bei Personen, die nicht imstande sind, auf sich selbst zu achten, ein hygienischer Mindeststandard (der neben der Körperpflege auch die Mundhygiene umfasst) gesichert werden kann. Verfallserscheinungen von Insassen, die Krankheitswert erreichen, müssen verhindert werden. Hospitalisierung und Deprivation drohen Der NPM sieht die Notwendigkeit, sowohl die pflegerische Betreuung als auch die ärztlichen Kontrollen besonders gefährdeter Personengruppen dringend auszubauen. Insassen sind verstärkt zur Erfüllung eines Mindestmaßes an Körperpflege anzuhalten und dabei nötigenfalls ausreichend zu unterstützen. Zudem sollen Insassen, die einer gefährdeten Personengruppe angehören, in regelmäßigen Zeitabständen einer Allgemeinmedizinerin bzw. einem Allgemeinmediziner und einer Psychiaterin bzw. einem Psychiater vorgeführt werden, da mit dem körperlichen Verfall auch ein geistiger Abbauprozess und/ oder eine seelische Verwahrlosung einhergehen kann. ScreeningUntersuchungen Das BMJ griff die Anregungen des NPM zur Etablierung von hygienischen Mindeststandards und zur Intensivierung der ärztlichen Kontrollen auf. Es werden derzeit in allen Justizanstalten von der Chefärztin der Vollzugsdirektion Screening-Untersuchungen der Insassen über 65 Jahre und der im Maßnahmenvollzug Untergebrachten durchgeführt, um festzustellen zu können, welche Schritte zur Etablierung eines hygienischen Mindeststandards ergriffen und welche Standards für regelmäßig durchzuführende (fach)ärztliche Kontrollen implementiert werden sollen. Mindeststandards im Hygienebereich Bis zum Frühjahr 2015 soll die Erstellung von Mindeststandards im Hygienebereich erfolgen. Diese sollen qualitativ der Hygieneverordnung 2014 sowie der Organisation und Strategie der Krankenhaushygiene des BMG entsprechen. Vorberatungen zu erforderlichen Schulungsmaßnahmen der Bediensteten im Hygienebereich wurden eingeleitet. In jeder Justizanstalt wird es einen Hygieneverantwortlichen geben. 90 Justizanstalten Der NPM konnte auch die Forderung nach einem Kontroll- bzw. Warnsystem für jene Insassen, die eine medizinische Behandlung wiederholt ablehnen, durchsetzen. Eine solche wiederholte Ablehnung einer ärztlichen Untersuchung soll künftig im Modul MED (Medizinische Daten) in der Integrierten Vollzugsverwaltung (IVV) eingetragen werden und automatisch eine entsprechende Meldung an die Chefärztin ergehen. Bis zur Implementierung der beschriebenen Erweiterung des IVV-MED-Moduls soll der Chefärztliche Dienst monatlich die Eintragungen in der IVV-MED kontrollieren. Ablehnung ärztlicher Untersuchungen wird meldepflichtig Im konkreten Fall stellt sich für den NPM die Frage, wie es möglich war, dass die Justizwachebeamten die massiven hygienischen Vernachlässigungen an den Beinen des Insassen erst zu einem derart späten Zeitpunkt wahrgenommen haben wollen. Trotz der vorgesehenen periodischen Visiten blieb über Monate hinweg unbemerkt, dass sich der Untergebrachte weigerte, seine Beine pflegen zu lassen. Durch dieses Versäumnis konnte sich der Untergebrachte an der Gesundheit gefährden und schaden. Verantwortlichkeiten im konkreten Fall Das BMJ betont, dass der Insasse seinen Zustand gezielt herbeigeführt, bewusst verborgen und das Betreuungsangebot verweigert hat, sodass eine physiologische und psychotherapeutische Behandlung mangels Kooperation des Insassen nicht möglich war. Derzeit führt die Staatsanwaltschaft Wien gegen Bedienstete der Justizanstalt Stein Ermittlungen wegen des Vergehens des Quälens oder Vernachlässigens eines Gefangenen nach § 312 Abs. 2 StGB. Zudem laufen Disziplinarverfahren. Laufendes Ermittlungsverfahren Der NPM verweist darauf, dass es die Aufgabe der Justizanstalten ist, die Einhaltung eines Mindestmaßes an Körperpflege zu gewährleisten. Auch der Europarat empfiehlt in Punkt 47.2 der Neufassung der Mindestgrundsätze für die Behandlung der Gefangenen (REC [2006]2), dass „der anstaltsärztliche Dienst für die psychiatrische Behandlung aller Gefangenen, die einer solchen Behandlung bedürfen, zu sorgen“ hat. Forderungskatalog des NPM Der NPM verlangt, dass die Pflege und Betreuung von Insassen, die aufgrund ihres Alters oder aufgrund ihres geistigen Zustandes vermehrten Betreuungsbedarf aufweisen, in den österreichischen Justizanstalten im selben Umfang gewährleistet wird wie für Patienten in Kranken- und Pflegeeinrichtungen. Neben dem Betreuungsschlüssel, der sich in dem erhöhten Bedarf nach persönlicher Zuwendung durch Justizbeamte und Pfleger niederschlägt, soll dabei in jedem einzelnen Fall hinterfragt werden, ob es angezeigt ist, diese Personen in einem Einpersonenhaftraum unterzubringen, was zur Konsequenz hat, dass der Sozialisierungseffekt durch Mitinsassen oft entfällt. Der NPM verweist letztlich darauf, welche große Bedeutung dem regelmäßigen Aufenthalt im Freien für die Aufrechterhaltung und Förderung der physischen und psychischen Gesundheit der Insassen zukommt. Insassen, die auf- 91 Justizanstalten grund fortgeschrittenen Alters sowie physischer oder psychischer Erkrankungen einen besonderen Betreuungsbedarf aufweisen, ist es zu ermöglichen, sich im Freien aufzuhalten. Gegebenenfalls sind sie zur Bewegung an der frischen Luft sogar ausdrücklich anzuhalten. Hierbei kann es vonnöten sein, Rahmenbedingungen zu verändern, sodass sich auch gebrechliche oder erkrankte Insassen im Freien aufhalten können (z.B. Bedarf an nahegelegenen Toilettenanlagen bei Inkontinenz, barrierefreier Zugang zum Hof etc.). XX Die psychiatrische wie psychologische Versorgung ist Teil der Gesundheitspflege und als solche in den Anstalten sicherzustellen. XX Regelmäßige Visiten sollen insbesondere helfen, körperliche und seelische Verwahrlosungen von Langzeitinsassen hintanzuhalten. XX Insassen haben denselben Anspruch auf Betreuung und Pflege wie Personen in Freiheit. XX Gerade älteren, gebrechlichen oder kranken Menschen ist zum Erhalt ihrer Gesundheit oder zur Förderung der Genesung der regelmäßige Aufenthalt an der frischen Luft zu ermöglichen. Einzelfall: VA-BD-J/0439-B/1/2014; BMJ-Pr10000/0075-Pr3/2014 Arbeitsgruppe einberufen Bereits wenige Wochen nach Bekanntwerden des Falles wandte sich der Bundesminister für Justiz der Frage zu, welcher Veranlassungen es bedarf, um den Maßnahmenvollzug menschenwürdiger und behandlungsorientierter zu gestalten. Er setzte hierzu eine Arbeitsgruppe ein. Dem Gremium wurde vorgegeben, den derzeitigen Zustand des Maßnahmenvollzugs zu erheben, konkrete Problemfelder zu definieren und Verbesserungsvorschläge in organisatorischer und legistischer Hinsicht zu unterbreiten. Alle Disziplinen vertreten In der Reformarbeitsgruppe sind neben hochrangigen Vertretern des BMJ, des BMG und der Vollzugsverwaltung auch Experten und Wissenschaftler unterschiedlicher Fachrichtungen vertreten. Die Frau Vorsitzende des Monitoringausschusses zur Konvention der Rechte von Menschen mit Behinderungen sowie ein Vertreter des NPM wurden ebenfalls zur Teilnahme eingeladen. Nach Grundsatzdiskussionen im Plenum hat sich die Arbeitsgruppe in vier Unterarbeitsgruppen gegliedert. Diese Unterarbeitsgruppen haben zu den Themen „Grundsatz- und Abgrenzungsfragen“, „Begutachtung“ und „Vollzugspraxis“ jeweils Reformvorschläge ausgearbeitet, die dann im Plenum erörtert wurden. Umfassende Evaluierung 92 Der Vertreter des NPM hat vor allem in der Unterarbeitsgruppe Vollzugspraxis mitgewirkt, die sich wiederum in sieben Untergruppen mit folgenden Themen beschäftgte: Auf- und Ausbau des Rechtschutzes der Patientenrechte, Qualitätssicherung und Monitoring sowie systembegleitende wissenschaftliche Begleitforschung, Vermeidung unbedingter Einweisungen, Steuerung des Systems des Maßnahmenvollzugs, Praxis der Unterbringung, Behandlung und Justizanstalten Betreuung in Justizanstalten und psychiatrischen Krankenhäusern, Verbesserungen im Bereich der bedingten Entlassung sowie Übergangsmanagement und Nachsorge. Die ständige Mitarbeit an der Arbeitsgruppe „Vollzugspraxis“ sowie die Mitwirkung in der Arbeitsgruppe „Grundsatz- und Abgrenzungsfragen“ gaben dem NPM Gelegenheit, eine Reihe von legistischen Vorschlägen, die von den Kommissionen unterbreitet wurden, einzubringen und zur Diskussion zu stellen. Hierzu zählt u.a. die Frage, ob die Patientenvertretung im Fall einer Fixierung von Personen nach § 21 Abs. 1 StGB analog zum Unterbringungsgesetz zu informieren ist. Angeregt wurde, dass Untergebrachten im Entlassungsverfahren eine effektive Verteidigung zukommen soll. Vorgebracht wurde weiters – neben einer Reihe von Überlegungen zur Hebung der Qualität von psychiatrischen Sachverständigengutachten –, dass eine Anhörung des Untergebrachten in wesentlich kürzeren Zeitspannen als derzeit vorgesehen vorzunehmen ist. Anregungen des NPM einbezogen Der Leiter der Unterarbeitsgruppe „Vollzugspraxis“ organisierte auch zwei Workshops, bei denen Bedienstete sämtlicher mit dem Maßnahmenvollzug befassten Anstalten eingebunden waren. Breiten Raum zur Erörterung von Verbesserungsvorschlägen bot auch ein mehrtägiges Symposium („Stodertaler Forensiktage“), bei dem der Vertreter des NPM über die einschlägigen Wahrnehmungen der Kommissionen referierte. Einbindung aller betroffenen Anstalten Die Unterarbeitsgruppe „Vollzugspraxis“ übermittelte dem Plenum einen 19-seitigen Forderungskatalog, der zu nahezu allen Punkten des Maßnahmenvollzugs, beginnend mit der Frage der Anlasstat bis hin zu Qualitätskriterien von Nachsorgeeinrichtungen, Verbesserungsmöglichkeiten, aufzeigt. Zahlreiche Verbesserungsvorschläge Dieser Forderungskatalog wird nun gemeinsam mit den Ergebnissen der übrigen Unterarbeitsgruppen zu einem Gesamtbericht zusammengefasst, der nach abschließender Behandlung im Plenum Anfang Februar dem Bundesminister für Justiz überreicht wird. XX Der NPM begrüßt die umfassenden Bestrebungen zur Reform des Maßnahmenvollzugs. Er erwartet, dass der Projektbericht nunmehr rasch legistisch umgesetzt wird. XX Wünschenswert erscheint die Zusammenführung der derzeit in mehreren Gesetzen verstreuten Bestimmungen in einem eigenen Gesetz. XX Begriffe wie „geistig abnorme Rechtsbrecher“ und „seelische Abartigkeit“ sollen entfallen und durch zeitgemäße, diskriminierungsfreie Bezeichnungen ersetzt werden. 2.5.2.3 Gesundheitswesen und ärztliche Betreuung im Vollzug Eine inadäquate Gesundheitsfürsorge kann zu Situationen mit unmenschlicher und erniedrigender Behandlung führen. Der NPM hat sich daher auch im Jahr 2014 mit der Frage befasst, wie gewährleistet werden kann, dass die medizinische Versorgung von Insassen auf demselben Niveau erfolgt wie für Bedeutung einer Qualitätssicherung 93 Justizanstalten Personen in Freiheit. Qualitätssichernd ist dabei eine Fachaufsicht über die im Straf- und Maßnahmenvollzug tätigen Anstaltsärztinnen und -ärzte. Der NPM forderte nachhaltig, einen chefärztlichen Dienst einzurichten und diesen mit weitreichenden Kompetenzen auszustatten. Chefärztlicher Dienst derzeit nur als Provisorium Das BMJ trug dieser Forderung nur teilweise Rechnung. Der Arbeitsplatz „chefärztlicher Dienst in der Vollzugsdirektion“ wurde zwar im Jänner 2014 ausgeschrieben, das Verfahren war Anfang November 2014 jedoch noch immer nicht abgeschlossen. Aus diesem Grund wurde der chefärztliche Dienst vorerst nur provisorisch eingerichtet, seine Kompetenzen erlassmäßig geregelt. Eine „Chefärztin“ steht wöchentlich 20 Stunden in den Justizanstalten zur Verfügung. Als Mitarbeiterin in der Fachabteilung Betreuung (VD 2) verfügt die Chefärztin über einen Zugang zum ELAK, die Zuweisung von Arbeitsaufträgen erfolgt durch den Leiter der Fachabteilung. 94 Zentrale Steuerung Die Chefärztin übernimmt vorrangig die von der Vollzugsoberbehörde im Rahmen der Gesundheitsfürsorge (§§ 66 ff StVG) wahrzunehmenden Aufgaben. Dazu zählt die Ausarbeitung von Richtlinien zur medizinischen Behandlung von Insassen, von Vorgaben für die Ausstattung von Ordinationen und der Medikation und für die Verschreibungspraxis genehmigungspflichtiger Medikamente. Beratung Ein weiteres Aufgabenfeld stellt die Beratung des BMJ und der Vollzugsdirektion in Fragen der medizinischen Versorgung (operativ und strategisch) dar. Die Chefärztin ist Ansprechpartnerin für die in den Justizanstalten tätigen Ärzte und zuständig für die Genehmigung der Verordnung spezifischer Medikamente, Rehabilitationsmaßnahmen und Prothetik. Zur Effizienzsicherung werden laufend Kontrollen des Medikamentenverbrauchs und der Abrechnungen von medizinischen Leistungen durchgeführt. Management Durch die Einführung eines bundesweiten Spitalsbettenmanagements erfolgt die Genehmigung und Entscheidung darüber, ob eine Insassin oder ein Insasse in eine öffentliche Krankenanstalt, in die gesperrten Abteilungen der Krankenanstalten Krems, der Barmherzigen Brüder Wien oder in die Sonderkrankenanstalten der Justizanstalten Stein und Wien-Josefstadt überstellt wird, zentral durch die Chefärztin. Sie überwacht und kontrolliert auch die Genesungsfortschritte stationär untergebrachter Häftlinge (Aufenthaltsdauer/ externe Kosten). fachliche Stellungnahmen Teile des Aufgabengebiets der Chefärztin sind sowohl das Verfassen als auch die Genehmigung von Stellungnahmen der ärztlichen Dienste in den Justizanstalten an Gerichte, Behörden, der NPM und diplomatische Vertretungen bezüglich der medizinischen Versorgung von Insassen. Der Aufbau eines Controllingsystems und die Mitarbeit an der Weiterentwicklung des Moduls der elektronischen Krankenakte (IVV-MED) sind weitere Aufgabenbereiche. Justizanstalten Die Chefärztin gibt weiters bei der Aufnahme von Ärztinnen bzw. Ärzten über die Justizbetreuungsagentur sowie bei Abschluss von Verträgen mit Konsiliarärztinnen und -ärzten eine Stellungnahme und Einschätzung über die fachliche Qualifikation ab. Neben der primär anlassbezogenen Fachaufsicht nimmt die Chefärztin die Revision und Aufsicht über den ärztlichen Dienst in Justizanstalten durch Kontrolle wahr. Sie hat begonnen, die Justizanstalten einmal im Jahr zu besuchen. Gleichzeitig findet in regelmäßigen Abständen die stichprobenartige Kontrolle der Eintragungen und Krankengeschichten in der IVV-MED statt. Kontrolle Der NPM hat sich auch der Problematik der Medikamentengebarung zugewandt. Wiederholt kritisieren nämlich die Kommissionen bei ihren Besuchen, dass in den Justizanstalten vorrätig gehaltene, in der Regel nicht verschreibungspflichtige Medikamente von nicht medizinischem Personal ausgegeben werden. Medikamentengebarung Das BMJ führte dazu aus, dass die Medikamentengebarung der Leiterin bzw. dem Leiter des ärztlichen Dienstes obliegt. Aufgrund ärztlicher Anordnung kann Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des gehobenen Dienstes für Gesundheits- und Krankenpflege die Ausgabe und Verabreichung von Arzneimitteln an Häftlinge – auch bei Abwesenheit der Leiterin bzw. des Leiters des ärztlichen Dienstes – übertragen werden. Im Zusammenhang mit der Ausgabe von Bedarfsmedikation durch Personen, welche nicht dem ärztlichen Dienst angehören, gibt es für jene Justizanstalten, die keine ständige Leiterin bzw. keinen ständigen Leiter des ärztlichen Dienstes vor Ort zur Verfügung haben, aktuell keine einheitlichen Vorgaben. Dies deshalb, da seitens des BMG noch keine abschließende (gesetzliche) Regelung gibt. Die Vollzugsdirektion arbeitet intensiv an einer diesbezüglichen Regelung mit. Im Zusammenhang mit sprachlichen Problemen von Häftlingen aus nicht deutschsprachigen Ländern beim Arztgespräch wurde das BMJ mit der Wahrnehmung der Kommission 2 (Justizanstalt Wels im Dezember 2013) konfrontiert, dass die Beiziehung gerichtlich beeideter Dolmetscherinnen und Dolmetscher nicht verifizierbar war. Arztgespräch nur mit gerichtlich beeidetem Dolmetscherinnen und Dolmetschern Laut Stellungnahme des BMJ sind die Bediensteten der Justizanstalt Wels über die Möglichkeit, zur Abklärung medizinischer Fragen oder Befunde bei sprachlichen Barrieren nur gerichtlich beeidete Dolmetscherinnen und Dolmetscher beizuziehen, nochmals nachweislich informiert worden. XX Die gesetzliche Implementierung des chefärztlichen Dienstes ist zur Herstellung der Rechtssicherheit geboten. XX Eine Regelung, wer wann welche Medikamente den Insassinnen und Insassen ausgeben und verabreichen darf, ist rasch zu erarbeiten. Einzelfall: VA-BD-J/0039-B/1/2013; BMJ-Pr10000/0046-Pr372014 95 Justizanstalten 2.5.2.4 Jugendstrafvollzug in der Justizanstalt – Mängel trotz Verbesserungen Mit Besenstil vergewaltigt Ein besonders tragischer Fall ereignete sich vergangen Frühsommer in der Justizanstalt Wien-Josefstadt. Unter den Augen von Mithäftlingen vergewaltigte ein damals 16-Jähriger einen um zwei Jahre jüngeren Untersuchungsgefangenen und misshandelte diesen schwer. Die Öffentlichkeit zeigte sich schockiert. Das BMJ richtete eine Taskforce zur Verbesserung der Zustände im Jugendstrafvollzug ein. Schwelendes Aggressionspotential Bereits Monate vor diesem Verbrechen hat der NPM die Vollzugsverwaltung auf jenes Gefahrenpotential hingewiesen, das sich jederzeit entladen kann, wenn Jugendliche auf engstem Raum ohne jede Beschäftigung eingesperrt sind. Der NPM hat aus Anlass dieses tragischen Falles eine Sonderprüfung eingeleitet und seine Besuchstätigkeit in der Justizanstalt Josefstadt verstärkt. Sofortmaßnahmen greifen Bei einem Folgebesuch im Herbst 2013 konnte der NPM in vielen Punkten eine Verbesserung der noch im April vorgefundenen Zustände feststellen. Die Haftbedingungen haben sich deutlich verbessert, was auch Insassen bestätigten. Weitere Verbesserungen gefordert Nach wie vor stoßen aber lange Einschlusszeiten sowie ein fehlendes Programm an Aktivitäten auf Kritik. Der NPM regt daher weitere Verbesserungen an. Insbesondere sind Schulungsinhalte festzulegen und deren Einhaltung und Umsetzung zu überprüfen. Dazu teilte das BMJ mit, dass die Jugendabteilungen von Montag bis Freitag von 7.00 Uhr bis 18.00 Uhr als Wohngruppen mit geöffneten Hafträumen geführt werden. Sie bieten ein breitgefächertes und abwechslungsreiches Freizeitprogramm. 96 Mehr Zuwendung Derzeit laufen Bemühungen, einen „Pool“ bzw. eine Interessensgemeinschaft für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit besonderem Interesse am Jugendvollzug einzurichten. Zur qualitativen Verbesserung der Betreuung von Jugendlichen wurde ein zielgerechtes Ausbildungsprogramm „Arbeitsfeld Jugendvollzug“ entwickelt. Bessere Ausbildung Ab dem Frühjahr 2014 umfasst die Grundausbildung der am „Pool Jugendvollzug“ interessierten Mitarbeiterinnen bzw. Mitarbeiter einen vierteiligen spezifischen Lehrgang der Strafvollzugsakademie. Für leitende Bedienstete des Jugenddepartements ist jährlich eine obligatorische dreitägige Fachtagung vorgesehen. Daneben werden fachspezifische Seminare mit zumindest einer verpflichtenden Teilnahme angeboten. Regelmäßige Besprechungen An den wöchentlichen Abteilungsteambesprechungen haben alle Berufsgruppen der Jugendabteilung teilzunehmen (multiprofessionelles Team). Zusätzlich findet monatlich ein Jour fixe statt, weiters sind halbjährliche Team-und Zwischenklausuren geplant. Im Übrigen sollen allen Mitarbeitern die Inanspruchnahme externer Supervision bzw. Intervision („Profis treffen Profis“, Justizanstalten Besuche von Jugendabteilungen in anderen Justizanstalten) und erweiterte Teambuilding-Aktivitäten offenstehen. Der nächste Besuch erfolgte in den Abendstunden. Dabei musste der NPM feststellen, dass nach wie vor nur ein Nachtdienstposten in dem Jugenddepartement eingerichtet ist. Nur ein Nachdienstposten Wie die Kommission erhob, benötigt der Nachtdienstbeamte zwischen 20 Minuten und einer Stunde für einen Rundgang. Während dieser Zeit ist der Beobachtungsstützpunkt nicht besetzt. Der NPM kritisiert, dass in dieser Zeitspanne etwaige Ereignisse in den Hafträumen vom diensthabenden Justizwachebeamten nicht wahrgenommen werden können. Beobachtungsstützpunkt leer Die Forderung, die Nachtdienstposten in der Jugendabteilung nur mit Beamten aus dieser Abteilung zu besetzen, wurde nicht zur Gänze erfüllt. abteilungsfremde Beamte Der NPM bezweifelt, dass im Zeitraum des Rundgangs tatsächlich ein Beamter vor Ort ist, um im Krisenfall rasch reagieren und eingreifen zu können. Er erachtet es daher weiterhin für geboten, dass zumindest zwei Nachtdienstwachebeamte im Jugenddepartement eingesetzt werden. Ein Beamter zu wenig Der Nachtdienst soll ausschließlich durch Bedienstete des Jugenddepartements besetzt werden. Empfohlen wird zudem die ehest mögliche Einrichtung eines Personalpools für Mitarbeiter für das Jugenddepartement mit besonderem Interesse am Jugendvollzug bzw. von Mitarbeitern, die das Ausbildungsprogramm „Arbeitsfeld Jugendvollzug“ absolviert haben. XX Der Nachtdienst im Jugenddepartement soll ausschließlich durch Bedienstete des Jugenddepartements besetzt werden. XX Die Justizverwaltung soll gezielt nach geeigneten Mitarbeitern für den Jugendvollzug suchen. XX Diesen Bediensteten sind nach Absolvieren einer einschlägigen Ausbildung attraktive Arbeitsbedingungen anzubieten. Einzelfall: VA-BD-J/0767-B/1/2013; BMJ-Pr10000/0091-Pr3/2013 2.5.2.5 Frauen im Vollzug – krasse Benachteiligungen evident Aufgrund der Wahrnehmungen der Kommissionen sowie gehäufter Individualbeschwerden über die Benachteiligung von Frauen im Vollzug hat der NPM eine Untersuchung eingeleitet mit dem Ziel, die Situation weiblicher Insassen in den Justizanstalten zu erheben. Österreichweite Erhebung So wurde beispielsweise wiederholt über monotone Arbeiten und zu wenige Möglichkeiten einer sinnvollen Freizeitbeschäftigung geklagt. Während männliche Insassen in nahezu allen Anstalten Sport ausüben können und ihnen die Fitnessräume offenstehen, seien Frauen in ihrer Freizeitgestaltung oft auf stereotype Arbeiten wie Häkeln oder Basteln beschränkt. Was das Be- Anlassfälle 97 Justizanstalten schäftigungsangebot anlangt, würden Frauen nur etwa im halben Ausmaß Arbeit (und damit auch Entlohnung) erhalten. Überdies handle es sich bei den zugewiesenen Arbeiten oftmals um Putz- und Reinigungsdienste, was als diskriminierend empfunden wird. wenig Freizeitaktivitäten Die bisherigen Erhebungen des NPM zeigen tatsächlich große Unterschiede, vor allem bei den Freizeitbeschäftigungen. So haben männliche Insassen in beinahe jeder Anstalt mehrere Sportangebote zur Auswahl, während den Frauen meist nur die Teilnahme an Bastel- oder Kochgruppen bzw. Kochkursen angeboten wird. Geringere Beschäftigungsquote Daten zu den einzelnen Betätigungsfeldern und den Arbeitsbetrieben liegen noch nicht vor. Jedoch lassen die bisher vorliegenden Zahlen sowie die Erhebungen der Kommissionen eine deutliche Benachteiligung von Frauen erkennen. In Klagenfurt etwa haben nur 20 % der inhaftierten Frauen Arbeit, was für ein landesgerichtliches Gefangenenhaus noch als hoch (!) gewertet wird. Das BMJ weist auch den Vorwurf zurück, die Vollzugsverwaltung würde den spezifischen Bedürfnissen von menstruierenden oder unter Wechselbeschwerden leidenden Frauen nicht hinreichend Rechnung tragen. Es würden ausreichend Hygieneartikel bereitgestellt. Die Abteilungsduschen können täglich auch mehrmals benutzt werden. Speziell geschultes Personal fehlt Bedauerlicherweise gibt es bisher keine besondere Qualifikation von Justizwachebeamten, welche im Frauenvollzug oder in den Mutter/Kind-Abteilungen Dienst versehen. Der NPM hat daher das BMJ auf die Bangkok -Regeln (Grundsatz 29-35) aufmerksam gemacht, wonach das Personal für die Besonderheiten des Frauenvollzugs bzw. vor allem für Kinder im Strafvollzug besonders geschult sein muss. Das Ministerium verwies zwar auf die mangelnde rechtliche Verbindlichkeit der Bangkok-Regeln, kündigte aber an, Überlegungen zur Entwicklung eines frauenspezifischen Ausbildungsmoduls anzustellen. keine gynäkologische Vorsorgeuntersuchung Hingegen wird die vom NPM geforderte gynäkologische Vorsorgeuntersuchung mit dem Hinweis auf das Fehlen eines gesetzlich verankerten Rechtsanspruchs weiterhin abgelehnt. Die vorliegende Untersuchung ist noch nicht abgeschlossen. Der NPM wird auch im kommenden Jahr verstärkt das Augenmerk auf die Situation von Frauen im Strafvollzug legen. XX Der Ausbau von Beschäftigungsmöglichkeiten für Frauen ist zu forcieren. XX Aus dem mangelnden Beschäftigungsangebot darf Frauen insbesondere kein finanzieller Nachteil erwachsen. XX Frauen sollen gleichberechtigt Zugang zu Freizeitangeboten erhalten. XX Zum Standard der medizinischen Versorgung zählen auch Vorsorgeuntersuchungen. Einzelfall: VA-BD-J/0766-B/1/2013; BMJ-Pr10000/0068-Pr3/2014 98 Justizanstalten 2.5.2.6 Behindertengerechter Ausbau von Justizanstalten Wie der NPM in seinem Vorjahresbericht (Seiten 81 f.) aufgezeigt hat, sind von den 40 Justizanstalten und ihren Außenstellen derzeit lediglich 16 mit einem oder mehreren Hafträumen für Menschen mit Behinderung ausgestattet. Vor allem in den südlichen Bundesländern gibt es einen Nachholbedarf. So verfügt etwa nur eine von den vier Anstalten in Graz über einen behindertengerechten Zugang. Offenkundiger Mangel Der NPM drängt daher unter Hinweis auf Art 14 Abs. 2 des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderung darauf, dass Menschen mit Behinderung, denen aufgrund eines Verfahrens die Freiheit entzogen wurde, dieselben Lebens- und Aufenthaltsbedingungen haben wie die übrigen Insassen. Angesichts dessen ist die bestehende Bausubstanz ehestens zu adaptieren. Um- und Zubauten sind so rasch wie möglich in Angriff zu nehmen. Gewährleistungspflicht des Staates Das BMJ gab daraufhin bekannt, dass bis Mitte 2015 die Erweiterung des Forensischen Zentrums Asten und der Neubau der Justizanstalt Salzburg in Puch/Urstein fertiggestellt sein sollen. Zeitplan für Neuanlagen Ende 2014 soll mit der Sanierung des Zellentrakts und der Sonderkrankenanstalt in der Justizanstalt Stein begonnen werden. Die Arbeiten sollen bis Mitte 2016 abgeschlossen werden. Die genannten Bauvorhaben wurden nach Beiziehung eines Vertreters einer Behindertenorganisation entsprechend dem „Nationalen Aktionsplan Behinderungen 2012-2020“ in Angriff genommen. Der NPM hat sich persönlich über den Baufortschritt in Puch/Urstein informiert und im Zuge einer Begehung der Mitte Dezember 2014 noch im Rohbau befindlichen Anlage vergewissert, dass sämtliche Räume barrierefrei erreichbar sind. Gefallen finden besonders die großzügige Raumaufteilung, warme Farbtöne bei der Außenwandgestaltung und die hellen, lichtdurchfluteten Hafträume. Umso bedauerlicher ist es, dass die gesamte Anlage, die für 227 Insassen ausgerichtet ist, lediglich über zwei Aufzüge im Gesperre und über vier behindertengerecht ausgestattete Nasszellen verfügt. Dies erscheint im Hinblick auf die zunehmende Überalterung der Insassenpopulation zu wenig. Zu wenig behindertengerechte Hafträume Zwar lässt sich dieses Manko im Stadium des derzeitigen Baufortschrittes nicht mehr bereinigen. Sehr wohl kann man aber dafür Sorge tragen, dass in den besonders gesicherten Hafträumen die aus Nirosta bestehenden WC-Anlagen in den Fußboden eingepasst werden. Offenbar wurde in diesen Räumlichkeiten verabsäumt, den WC-Strang tiefer zu setzen, sodass man zur Benützung des WC auf ein ca. 20 cm hohes Podest steigen müsste. Der NPM forderte, diese eklatante Fehlplanung zu korrigieren und für eine gefahrlose wie barrierefreie Benützbarkeit der WC-Anlage Sorge zu tragen. Die Anstaltsleitung sicherte zu, diese Kritik umgehend an die Bauleitung weiterzugeben. Eklatante Fehlplanung bei Neubau 99 Justizanstalten Laufende Adaptierungsarbeiten Anders als bei den Neubauten wurde ein Vertreter einer Behindertenorganisation bei Adaptierungsarbeiten nicht beigezogen, da die Verpflichtung im Sinne des „Nationalen Aktionsplans Behinderungen 2012-2020“ zum Teil erst nach Planung und Baubeginn (Justizanstalt Eisenstadt) oder während der Planungsarbeiten (Justizanstalt Graz-Karlau) entstanden ist oder der Umfang des Projektes nicht danach verlangte (Justizanstalt Wien-Simmering) Das BMJ betonte, dass die Einhaltung der entsprechenden Normen durch den Generalplaner und die Projektleiter der Bundesimmobiliengesellschaft in Absprache mit den Nutzervertretern überprüft wird. Weitere Überprüfungen XX Der NPM wird auf die Einhaltung dieser Zusagen auch im kommenden Jahr achten und verweist abschließend nochmals auf den vorrangigen Bedarf an barrierefreien Räumlichkeiten in den südlichen Bundesländern. Jede lediglich aus diesem Grund vorgenommene Verlegung eines Insassen reißt diesen aus seinem sozialen Umfeld. Derartige Maßnahmen stehen einer Resozialisierung entgegen. Bauliche Adaptierungen zur behindertengerechten Ausstattung der Justizanstalten sollten Vorrang haben. Insbesondere im Süden des Landes besteht ein großer Nachholbedarf. Einzelfall: VA-BD-J/0106-B/1/2014; BMJ-Pr10000/0005-Pr 3/2014 2.5.2.7 Neue Wege bei Suchtmittelkontrollen – Speicheltests sollen Harnproben ersetzen Statt Harnabgaben Speichelproben Zur Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung in Justizanstalten sind Suchtmittelkontrollen unumgänglich. Menschenrechtlich besonders sensibel sind dabei sowohl die Anordnung wie die Art der Durchführung von Kontrollen auf Suchtmittelmissbrauch. Immer wieder wird von Insassinnen und Insassen der Vorwurf erhoben, willkürlich kontrolliert zu werden. Dabei komme es zu massiven Eingriffen in die Privatsphäre, da Probanden beim Urinieren – direkt oder indirekt (via Spiegel) – von Justizwachebeamten beobachtet würden. Zur Entschärfung dieses Problembereichs ordnete das BMJ in den Justizanstalten Wien-Simmering, Hirtenberg und Wien-Favoriten ein Pilotprojekt „Speicheltest“ an. Damit soll die Alltags- und Vollzugstauglichkeit von Speicheltests erhoben werden. Pilotprojekt „Speicheltest“ Insgesamt wurden bisher 20.042 Analysen vorgenommen. Ihnen lagen 2.616 Proben zugrunde. Bei 40 Proben wurde eine Bestätigungsanalyse mittels Flüssigchromatographie / Massenspektrometrie (LC-MS/MS) angefordert, wobei in 34 Fällen, das sind 85 %, das ursprüngliche Ergebnis bestätigt werden konnte. Im Vergleich dazu wurden im Jahr 2014 insgesamt 853 Harnproben einer Bestätigungsanalyse unterzogen, wobei 162 Proben, das sind 19 %, einen – beispielsweise aus Verwässerung resultierenden – zu geringen Kreatinin-Wert aufwiesen und damit nicht mehr eindeutig zu interpretieren waren. 100 Justizanstalten Analysebedingt ergeben sich, anders als bei Harntests, bei Speicheltests andere Nachweiszeiten für bestimmte Substanzen. Beispielsweise liegt das Zeitfenster der Nachweisbarkeit bei den lipophilen Substanzen Cannabis und Benzodiazepin aus Harn bei sechs bis 30 Tagen, bei Speichel aber nur bei ein bis drei Tagen. Dieser – chemisch bedingte – Effekt eröffnet erstmals die Unterscheidung eines erneuten Konsums dieser Substanzen von einem Konsum zu einem länger zurückliegenden Zeitpunkt. Auswertung Während die Harnabgabe unter Aufsicht per se zu einem potenziellen Eingriff in die Privatsphäre führt, ist das Grundrecht bei der Speicheltestung nicht berührt. Die Proben können nicht nur einfach mittels Pad, sondern auch unabhängig vom Geschlecht der zu testenden Person von jeder und jedem Strafvollzugsbediensteten abgenommen werden. Letztlich entfallen auch Wartezeiten, die von einer Flüssigkeitsaufnahme bis zum Harnlassen einzukalkulieren sind. Praktikabilität Nach Ansicht des BMJ stehen diesem Vorteil aber auch Nachteile gegenüber: Speicheltestungen seien mit rund 35 Euro pro Test gegenüber Harntestungen mit rund 3,80 Euro pro Test (jeweils pro zu testendem Parameter) deutlich teurer. Auswertungsergebnisse würden den Justizanstalten oft noch am Tag der Abgabe der Probe (die Abholung der Teststreifen wurde zwischen dem Labor und Justizanstalt individuell vereinbart), spätestens aber am Folgetag elektronisch übermittelt werden. Anders als bei den Harntests stehe aber das Ergebnis nicht unmittelbar nach Probenabgabe fest. Kosten und Validität Einzuräumen ist allerdings, dass es sich bei den bisher üblichen Harntests nur um Schnelltests handelt, die einen Verdacht bestärken oder abschwächen bzw. ein Verdachtsmoment ergeben können. Ein Beweismittel für einen Suchtgiftkonsum biete nur eine GC/MS-Analyse (gaschromatographische Massenspektrometrie) des Mediums Harn. Harntests liefern keinen Beweis Laut Darstellung des BMJ führten nicht nur die hohen Kosten, sondern auch der Umstand, dass das Ergebnis der Testung nicht unmittelbar zur Verfügung steht, zum Ausscheiden der Justizanstalt Wien-Favoriten aus dem Pilotprojekt, zumal diese Justizanstalt als Therapieeinrichtung auch eine hohe Testfrequenz aufweist. Dennoch steht die Vollzugsverwaltung der österreichweiten Einführung von Speicheltests aufgrund der Ergebnisse des Pilotprojektes weiterhin positiv gegenüber. Allerdings werde die Einführung der Speicheltests kein gänzliches Ende von Harntests zur Folge haben, zumal deren unmittelbar verfügbare Ergebnisse im Vollzugsalltag – etwa bei Stichproben nach der Rückkehr von einem Aus- oder Freigang – auch in Zukunft nicht verzichtbar sein werden. Es bedürfe daher eines ausgewogenen Konzepts, in dem einerseits festgelegt ist, in welchen Bereichen Speichel- bzw. Harntests zum Einsatz kommen, und andererseits, welche Parameter der Speichelprobe einer Auswertung unterzogen werden sollen. Von diesem Konzept werde im Wesentlichen das Auftragsvolumen abhängen, wobei bei einer bundesweiten Implementierung – auch bei konservativer Kos- BMJ will nur Ergänzung, nicht Ersatz 101 Justizanstalten tenschätzung – eine Ausschreibung nach dem Bundesvergabegesetz durchzuführen sein wird. Die bundesweite Ausschreibung sollte auch eine Reduktion der Preise pro Test bewirken. NPM bezieht in seine Beurteilung externe Meinungen ein Aus Sicht des NPM hat die Speicheltestung trotz der bisher bekannten Schwächen (höhere Kosten, keine sofortige Verfügbarkeit der Testergebnisse) mehr Vor- als Nachteile. Dies wurde auch bei einem im Dezember 2014 an der TUWien abgehaltenen Symposium zum Thema „Drogenanalytik und Suchtmittelgesetz in der Praxis“, an dem der NPM teilnahm, deutlich. Wie dort von Wissenschaftlern und Praktikern erörtert wurde, sind gewisse Substanzen (z.B. Kokain, Amphetamine) im Speichel besser und länger nachweisbar. Andere Substanzen sind im Speichel kürzer als im Urin nachweisbar, z.B. Cannabis. Ein Vorteil des Speicheltests ist zudem, dass die Testergebnisse nicht durch vorheriges Trinken von viel Wasser „verdünnt“ und damit verfälscht werden können. Problematisch erscheint überdies, dass das Ergebnis der derzeit verwendeten Harnstreifentests von den subjektiven Wahrnehmungen jener Person abhängen, die den Streifen bewertet. Dabei spielen auch die aktuellen Lichtverhältnisse eine Rolle. Hinzu kommt, dass Streifen-Schnelltestungen keine ausreichende forensische Validität besitzen. Diese ist ausschließlich durch eine durch ein Labor durchzuführende spezielle gaschromatographische Untersuchung (GC/MS-Analyse) festzustellen. Erst dieses Verfahren ergibt ein eindeutiges Ergebnis. Zusammengefasst vermag der NPM dem Argument der unmittelbaren Verfügbarkeit bei Anwendung von Streifen-Schnelltestungen in Anbetracht der kurzen Auswertungsdauer in den chemischen Laboren sowie der möglichen elektronischen Übermittlung des Ergebnisses nicht beizutreten. Was die Kosten anlangt, ist anzumerken, dass naturgemäß bei Auswertung von Testergebnissen durch ein chemisches Labor höhere Kosten anfallen. Bei einer forensisch validen Auswertung (durch ein Labor) sind aber Harntests und Speicheltests nahezu gleich kostenintensiv. XX Im Hinblick auf den geringen Eingriffscharakter sollen Speicheltests Harntests ersetzen. XX Sämtlichen Anstalten sollen Speicheltests ehestens zur Verfügung gestellt werden. Einzelfall: VA-BD-J/0040-B/1/2013; BMJ-Pr10000/0062-Pr3/2014 2.5.2.8 Kriterienkatalog bei Ordnungsstrafen – Forderung bleibt aufrecht Sanktionenpraxis nicht einheitlich 102 Im Vorjahresbericht (S. 79f) hat der NPM auf die große Ungleichheit bei der Bestrafung wegen Ordnungswidrigkeiten hingewiesen. Diese Ungleichheit resultiert daraus, dass es keine Richtlinien zur Verhängung von Sanktionen gibt. Justizanstalten Nach Meinung des BMJ steht einem derartigen Katalog die Vielfalt der möglichen Pflichtenverletzungen sowie in Frage kommenden Sanktionen entgegen. Zudem bestehe in jedem Einzelfall die Möglichkeit, ein Rechtsmittel zu ergreifen. Die Auffassung des BMJ war vor allem angesichts des vom NPM verfolgten präventiven Charakters eines Strafenkatalogs weder ausreichend noch über- NPM regte Evaluierung an zeugend. Da inzwischen eine Rechtsänderung Platz gegriffen hat und seit 1.1.2014 nicht mehr Verwaltungsbehörden, sondern ordentliche Gerichte Rechtsmittelinstanz in Ordnungsstrafverfahren sind, regte der NPM als ersten Schritt an, die Spruchpraxis der ab Jahresbeginn 2014 zuständigen Vollzugsgerichte und -senate zu analysieren. Mit welcher Ordnungsstrafe bei welchem Fehlverhalten zu rechnen ist, sollte in einer den Häftlingen jederzeit zugänglichen Form veröffentlicht und periodisch aktualisiert werden. Damit sind auch die Maßstäbe transparent, nach denen über Rechtsmittel entschieden wird. Das BMJ replizierte nun darauf und gab an, die in § 107 StVG normierten Tatbilder als ausreichende Information anzusehen. Der vom NPM unter dem Titel BMJ sieht kein Informationsbedürfnis der Evaluierung der Rechtsprechung der Vollzugssenate in Ordnungsstrafsachen unverändert erfolgten Anregung zur amtswegigen Serviceleistung werde man weiterhin nicht nähertreten. Zur Weiterentwicklung dieses Themenbereichs erreichte den NPM im November 2013 eine Stellungnahme von Amnesty International mit dem Titel „Menschenrechtliche Überlegungen zur Sanktionspraxis bei Ordnungswidrigkeiten Auch Amnesty International ortet Handlungsbedarf in Justizanstalten“. Im Abschnitt „Festlegung von Ordnungsstrafen“ erhebt Amnesty International dezidiert die Forderung, es müsse nicht nur klar geregelt sein, welche Verhaltensweisen als Pflichtverstöße gelten. Auch Art und Dauer der zulässigen Maßnahmen müssten feststehen. Der NPM möge daher, wie es abschließend in dem Papier heißt, „österreichweit verstärkt das Thema im Fokus behalten“. In seiner letzten Sitzung des Jahres 2013 beschloss der MRB, eine diesbezügliche Arbeitsgruppe einzurichten. Deren Beratungsergebnisse bleiben abzuwar- MRB richtet Arbeitsgruppe ein ten. Sodann wird der NPM dem BMJ die weitere Vorgangsweise empfehlen. XX Der NPM besteht auf seiner Forderung, wonach es Aufgabe der Vollzugsverwaltung ist, die Folgen von Ordnungswidrigkeiten zu veranschaulichen. XX Das Zur-Verfügung-Stellen dieser Daten hat für die Insassen präventiven Charakter. XX Den Entscheidungsträgern sollen diese Daten Orientierung für eine gleichförmige Spruchpraxis bieten. Einzelfall: VA-BD-J/0045-B/1/2013 103 Justizanstalten 2.5.2.9 Beschwerdemanagement und Information über Rechtsschutzmöglichkeiten Beschwerdemanagement geboten Der NPM hat im Vorjahresbericht (S. 80) eine systematische Erfassung und Auswertung von Beschwerden gefordert, damit die Vollzugsverwaltung Defizite rasch feststellen und mit geeigneten Maßnahmen prompt darauf reagieren kann. Gegenwärtig besteht keine technische Möglichkeit, zu aussagekräftigen Daten zu gelangen, weil Beschwerden nirgendwo systematisch, umfassend und strukturiert erfasst werden. Das BMJ hat jedoch inzwischen die Bedeutung eines Beschwerdemanagements als Erkenntnisquelle für Defizite und Verbesserungsmöglichkeiten akzeptiert. Angekündigt wurde, gemeinsam mit der Vollzugsdirektion nach „Entwicklungsmöglichkeiten“ zu suchen. Zeitlicher Vorlauf Nach Mitteilung des BMJ ist die bundesweite Fertigstellung des IVV-Moduls „Ordnungsstrafverfahren“ die Voraussetzung für eine technische Applikation „Beschwerderegister“. Der Probebetrieb war für Herbst 2014 geplant. Die bundesweite Inbetriebnahme des IVV-Moduls „Ordnungsstrafverfahren“ soll Mitte 2015 erfolgen. 2016 soll das „Beschwerderegister“ in allen Anstalten elektronisch geführt werden. Die Kommission 3 stellte anlässlich eines Besuchs der JA Graz-Jakomini fest, dass mehrere Insassen über die geänderten Beschwerdemöglichkeit in Ordnungsstrafverfahren und den Umstand, dass der Rechtszug seit 1.1.2014 an das Vollzugsgericht geht, nicht Bescheid wussten. Die Kommission befasste daher das BMJ mit dieser Angelegenheit. Wie sich aus dem Antwortschreiben ergibt, sei zwar der Haftraumaushang zu Beginn des Jahres 2014 überarbeitet und aktualisiert worden. An die Anstalten werde diese aktualisierte Fassung aber erst Ende September 2014 versendet. Bis dahin werde den Insassen die geltende Rechtslage in den Rechtsmittelbelehrungen mündlich bzw. schriftlich vermittelt. Überalterte Haftraumaushänge Für den NPM ist es nicht nachvollziehbar ist, dass der Haftraumaushang erst neun Monate nach Inkrafttreten einer Rechtsänderung, die Anfang September 2013 im BGBl kundmacht wurde, aktualisiert wurde. Die bis zum Austausch ausgehängten Behelfe waren geeignet, Insassen zu falschen Rechtsansichten zu verleiten. XX Die Errichtung eines Beschwerderegisters ist nachdrücklich zu verfolgen. XX Informationsaushänge haben im Falle einer Rechtsänderung so rasch wie möglich angepasst zu werden. Einzelfall: VA-BD-J/0045-B/1/2014; BMJ-Pr10000/0016-Pr3/2014 104 Justizanstalten 2.5.2.10 Zugang zum Internet als wichtiger Teil der Resozialisierung Der NPM hat sich im Berichtszeitraum vertiefend der Frage des Zugangs zum Internet für Insassen zugewandt. War das BMJ im vergangenen Jahr noch zurückhaltend (siehe die Ausführungen im PB-Bericht 2013 auf S. 87), so erachtet es inzwischen den Ausbau der elektrotechnischen Infrastruktur ebenfalls als wünschenswert. Freilich könne jede Erweiterung nur im Rahmen der begrenzten finanziellen Ressourcen erfolgen. Begrenzte Mittel Der NPM pflichtet dem BMJ bei, dass Abschließung zum Wesen des Strafvollzuges gehört und mit der Anhaltung der weitgehende Verlust der Freizügigkeit einhergeht. Notwendige Folge der Anhaltung ist auch eine Beschränkung eines beliebigen Verkehrs mit Personen außerhalb der Justizanstalt. Interessenabwägung geboten Dass unkontrollierte elektronische Nachrichtenübermittlungen wegen der damit verbundenen Gefahr für die Sicherheit und Ordnung in der Justizanstalt nicht zulässig sind, versteht sich von selbst. Gleiches gilt für die schrankenlose Nutzung des Internets. Limitierter Zugang Unbestritten ist aber auch, dass die Fähigkeit im Umgang mit Informationsund Kommunikationstechnologien für eine Reintegration in die Gesellschaft erforderlich ist. Diese Fähigkeit sollte während der Zeit des Freiheitsentzuges nicht verloren gehen. Kenntnisse sollten dem aktuellen Stand der Technik entsprechend erworben und vertieft werden. Mittel zur Reintegration Die Frage des Internetzgangs für Insassen ist kein Problem, das lediglich Österreich betrifft. Vorgehensweise europaweit unterschiedlich In Deutschland dürfen Häftlinge in acht Gefängnissen zur Weiterbildung die Server der Fernuniversität Hagen (zum Teil nur unter Aufsicht) ansteuern. In Belgien gibt es das Projekt „Prisoncloud“, das Insassen einen beschränkten, aber sicheren Zugang zum Internet im Wege einer Plattform für Arbeit/ Beschäftigung und Freizeitgestaltung ermöglicht. Angesichts des hohen finanziellen Aufwands, der mit der Einrichtung einer haftraumgestützten Internetnutzung in bestehenden Vollzugseinrichtungen verbunden ist, hat sich die Vollzugsverwaltung in Österreich dazu entschlossen, eine „Prison-cloud“Lösung nicht weiter zu verfolgen. Einzig in Norwegen sind seit dem Jahr 2010 Haftanstalten eingeschränkt mit dem Internet verbunden. Es können nur Internetseiten aus den Kategorien „Bildung“ oder „Nachrichten“ aufgerufen werden. Das System erweist sich allerdings als sehr wartungsintensiv. Derartige (Mehr)Belastungen aufgrund der in der österreichischen Vollzugsverwaltung sehr knappen Ressourcen wären auf absehbare Zeit nicht erbringbar. Da sowohl die Europäischen Strafvollzugsgrundsätze (Punkt 28.1) als auch die CPT-Standards (CPT/Inf [2001] 16 Pkt. 32, 33, 67 und CPT/Inf [99] 12 Pkt. 3) 105 Justizanstalten das Angebot an (Aus-)Bildungsmöglichkeiten als eine der Kernaufgaben des Strafvollzugs sehen, sollte auch im österreichische Straf- und Maßnahmenvollzug die Nutzung von Computern und Internet für Lernzwecke vorgesehen sein. Der NPM begrüßt daher, dass die österreichische Vollzugsverwaltung seit dem Jahr 2012 in Kooperation mit deutschen Strafvollzugsanstalten eine Lernplattform betreibt. Diese Lernplattform wird derzeit in zwölf Justizanstalten zu Schulungszwecken angeboten und beinhaltet 160 Lernprogramme. Im Rahmen des gelockerten Vollzugs und in einem Projekt in Oberfucha (AußensteIle der JA Stein) wird zu Ausbildungszwecken das Internet zu bestimmten Zeiten freigeschaltet. Der NPM regt an, beide Projekte innerhalb eines überschaubaren Zeitraums zu evaluieren und danach, allenfalls adaptiert, in weiteren Justizanstalten eine überwachte Internetnutzung anzubieten. XX Die bisherige Praxis einer Lernplattform, wie sie derzeit in zwölf Justizanstalten angeboten wird, ist zeitnahe zu evaluieren. XX Es sind nachhaltig Schritte zu setzen, um zu Fortbildungszwecken einen missbrauchssicheren Zugang zum Internet zu schaffen. Einzelfall: VA-BD-J/0210-B/1/2014; BMJ-Pr10000/0064-Pr3/2014 2.5.3 Sonderkrankenanstalt in der Justizanstalt Stein – schwerwiegende Vorwürfe Mannigfache Kritik Im Mai 2014 besuchte die Kommission 5 die Justizanstalt Stein. Sie hat sich dabei insbesondere der Gesundheitsversorgung in der Sonderkrankenanstalt und im Maßnahmenvollzug zugewandt. Dabei musste die Kommission eine unzureichende medizinische Versorgung, eine Unterbesetzung des medizinischen Personals sowie ein bedenkliches Pflegeverständnis des Pflegepersonals gegenüber Insassen feststellen. Geriatrische Abteilung Einzelfälle lassen darauf schließen, dass pflegebedürftige Insassen zur täglich notwendigen Versorgung weder eine adäquate Anleitung noch aktive Unterstützung durch das Pflegepersonal erhalten. Siechende Insassen Der NPM erachtet es als im höchsten Maß besorgniserregend, dass etwa ein Angehaltener, der unter Stuhlinkontinenz leidet und eine Zeit lang einen künstlichen Darmausgang gehabt hat, keine Anleitung und Hilfe bei der Stomaversorgung vom Pflegepersonal erhielt. Vielmehr war der Insasse auf die Unterstützung von Mitinsassen angewiesen. Ein anderer Häftling wurde im Rollstuhl angetroffen. Er hatte eigenen Angaben zufolge seit fünf Monaten einen Dauerkatheter. Das Urinieren funktioniere nicht. Ein suprapubischer Katheter sei, wie es in dem Protokoll der Kommission heißt, „noch nicht angedacht worden“. Obwohl er selbst keine Hilfe 106 Justizanstalten zur Mobilisierung erhalte, versuche er, Mithäftlingen etwa beim Wechseln von Einlagen zu helfen. Ein dritter Insasse hatte deutliche Zeichen einer ausgeprägten Alzheimer-Demenz mit Tremor; er wies zudem eine örtliche und zeitliche Desorientiertheit auf. Insgesamt kamen beim Besuch der Sonderkrankenanstalt Zweifel auf, ob die pflegerische Versorgung gewissenhaft und fürsorglich ist. Wahrgenommene Äußerungen und Eintragungen in den Krankenakten – wie etwa „braucht Windeln“ oder „sekkiert ganze Nächte die Schwestern und Ärzte“ – deuten auf eine geringschätzende Einstellung des Personals gegenüber den Insassen hin und lassen auf ein bedenkliches Pflegeverständnis schließen. Wenig Empathie Wie der Anstaltsarzt einräumte, sind ihm aus Zeitmangel kaum Visiten in den Hafträumen möglich. Wegen der organisatorischen Überlastung gibt es auch zu wenig Zeit, auf Gesprächswünsche einzelner Patienten einzugehen. Kaum Zeit Hinsichtlich des Mehrbedarfs an ärztlichem Personal führte das BMJ aus, intensiv bemüht zu sein, auch während urlaubs- oder krankheitsbedingter Abwesenheiten eine umfassende Versorgung aller Insassen sicherzustellen. Zurückgewiesen werde die Kritik an der pflegerischen und medizinischen Versorgung. Jedem in der Sonderkrankenanstalt untergebrachten Insassen komme aufgrund einer 24-stündigen Anwesenheit des Pflegepersonals eine entsprechende Versorgung zu. Zu den einzelnen Fällen sei zu sagen, dass entsprechende Behandlungen vorgenommen und Veranlassungen ergriffen wurden. Offen bleibt, wie die Versorgung und Pflege von Insassen gewährleistet ist, die nicht in der Sonderkrankenanstalt untergebracht sind, aber dennoch einen erhöhten Pflegebedarf aufweisen. Die Erklärungen des BMJ lassen sich mit den Wahrnehmungen der Kommission nur schwer in Einklang bringen. Auch wenn auf Basis der vorliegenden Informationen der NPM eine abschließende Beurteilung noch nicht treffen kann: Dass Insassen mit erhöhtem Pflegebedarf für tägliche körperliche Verrichtungen – aufgrund mangelnder Kapazitäten oder Unterstützung durch das Pflegepersonal – auf die Mithilfe von Mitinsassen angewiesen sind, ist völlig unzulänglich. Vorabkritik Derzeit scheint in der Sonderkrankenanstalt der Justizanstalt Stein eine grundrechtskonforme Gesundheitsversorgung nicht gegeben. Sollte die Sonderkrankenanstalt der Justizanstalt Stein weitergeführt werden, bedarf es nachhaltig baulicher, personeller, pflegerischer und medizinischer Verbesserungen, um Mindestanforderungen des Rechts auf Gesundheit zu entsprechen. XX Der NPM fordert, dass die pflegerische Versorgung gewissenhaft, fürsorglich und auch menschlich wahrgenommen wird. XX Dem BMJ wird empfohlen, rasch Klarheit zu gewinnen, ob die Sonderkrankenanstalt in dieser Form überhaupt fortgeführt werden kann. Einzelfall: VA-BD-J/0696-B/1/2014; BMJ-Pr10000/0059-Pr3/2014 107 Justizanstalten 2.5.4 Bauliche Mängel auf der forensischen Abteilung des LKH Rankweil Enge schafft Stress Beim Besuch der forensischen Station des Krankenhauses Rankweil fiel der Kommission eine Reihe von Defiziten auf. So ist etwa die Raumsituation äußert prekär: Die mit bis zu vier Betten ausgestatteten Zimmer lassen keine Privatsphäre zu, die einzelnen Liegen sind nicht einmal durch einen Sichtschutz getrennt. Der Gang ist der einzige Aufenthaltsbereich und nur ca. acht m2 groß. Es ist dies außerdem der einzige Raum, in dem Patienten rauchen können. Es gibt keinen nützbaren Außen- oder Freibereich. Hohes Aggressionspotential Die Kommission merkte an, dass auf dieser Station mitunter psychisch stark belastete Personen untergebracht sind, die keinerlei Gewissheit über das weitere strafrechtliche Verfahren oder über die Dauer ihres Aufenthalts im Spital haben. Das zumeist auf einer forensischen Station vorhandene Aggressionspotential kann durch diese angespannte Raumsituation zusätzlich verstärkt werden. Unnötige Gefahrenquelle In einem Ergotherapieraum, den das Personal durchqueren muss, befanden sich zum Besuchszeitpunkt Gegenstände, mit denen die Patienten sich selbst oder andere gefährden können. Fehlende Grünanlage Vermisst wurde ein Außenbereich oder ein Innenhof, der es den Untergebrachten ermöglicht, sich an der frischen Luft aufzuhalten. Dieser Freiraum würde viele Aggressionen auf der Station verhindern und eine wesentliche Verbesserung für die Patienten bringen. BMJ weist Verantwortung von sich Mit diesen Mängeln konfrontiert, verwies das BMJ auf die jährlich geleisteten Zahlungen, erachtete sich jedoch für die konkreten Bedingungen der Anhaltung und die Ausstattung der Station nicht für zuständig. Zwar würden alle vom BMJ in Anspruch genommene Krankenanstalten einmal jährlich von Mitarbeitern der zuständigen Fachabteilung der Vollzugsdirektion visitiert. Eine Aufsichtsfunktion im engeren Sinn komme aber weder dem BMJ noch der Vollzugsverwaltung zu. Zu den konkret aufgeworfenen Fragen könne man daher nicht Stellung nehmen. Zuweisung ändert nichts an Zurechnung Diese Auffassung kann der NPM nicht akzeptieren. Nach dem StVG hat die Unterbringung psychisch kranker Rechtsbrecher in den dafür besonders bestimmten Anstalten oder in den dafür besonders bestimmten Außenstellen zu erfolgen. Alternativ kann die Zuweisung in eine öffentliche Krankenanstalt für Psychiatrie erfolgen. Diese Einrichtung muss dafür geeignet sein, was sich aus § 158 StVG ergibt. Im gegenständlichen Fall geht es nicht bloß darum, eine von der Kommission erkannte Gefahrensituation zu entschärfen. Vielmehr wird in Frage gestellt, ob die Einrichtung (noch) habituell geeignet ist und damit der Vollzugsauftrag erfüllt werden kann. 108 Justizanstalten In der Sache selbst konnte im Zuge eines Kontaktgespräches mit dem BMJ Einvernehmen darüber erzielt werden, dass auch infrastrukturelle Gegebenheiten bei öffentlichen Krankenanstalten für Psychiatrie in den Verantwortungsbereich des BMJ fallen. Verantwortung letztlich akzeptiert XX Weist das BMJ Untergebrachte einer öffentlichen Krankenanstalt für Psychiatrie zu, muss es sich auch Defizite der Infrastruktur dort zurechnen lassen. XX Kann das BMJ nicht erwirken, dass diese Defizite behoben werden, ist der Insasse in einer justizeigenen Einrichtung unterzubringen. Einzelfall: VA-BD-J/0156-B/1/2013; BMJ-PR1000/0072-Pr3/2013 2.5.5 Ausstattung der Krankenzimmer – Forensische Psychiatriestation der Landesnervenklinik Sigmund Freud Im Spätherbst 2013 hat die Kommission die forensische Psychiatriestation der Landesnervenklinik Sigmund Freud besucht. In der abschließenden menschenrechtlichen Beurteilung finden sich sehr erfreuliche Bemerkungen: Die therapeutische Arbeit und Betreuung wird als „hochprofessionell“ gesehen. Es gab in den letzten Jahren keine Gewaltsituationen. Das erfahrene Team leistet, wie sich die Kommission vergewissern konnte – interdisziplinär gemeinsam „hervorragende Arbeit“. Der Umgang der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter untereinander ist wertschätzend und gut, mit den Patienten freundlich, es herrscht eine entspannte Stimmung. Die ärztliche Dokumentation und Pflege der Dokumentation wird als „vorbildlich“ beschrieben. Das Entlassungsmanagement wird als „sehr gut und umfassend“ qualifiziert. Behandlung und Betreuung vorbildlich Aus menschenrechtlicher Sicht problematisch ist allerdings, dass Patienten bis zur Realisierung des Ausbaus der Station immer noch in zwei Sechsbettzimmern untergebracht sind. Diese Situation bedauert auch das Team. Eine möglichst rasche Verbesserung erachten alle Seiten als wünschenswert. Platzbedarf Als Erstmaßnahme wurden zur Wahrung der Privatsphäre der Patienten Trennwände zwischen den Betten montiert. Was die Forderung der Reduzierung des Belages betrifft, so führte die Landesnervenklinik Sigmund Freud aus, dass eine Verminderung der Zimmerbelegung veranlasst werden könne, was aber den Verlust von zumindest vier Pflegeplätzen bedeute. Bis zur Fertigstellung der baulichen Erweiterung versuche man, das Defizit dahingehend auszugleichen, indem zwei Betten in den Sechsbettzimmern für jene Patienten freigehalten werden, deren Unterbringung unterbrochen ist. Allerdings bestehe im Bedarfsfall die Verpflichtung, diesen Patienten wieder ein Bett anzubieten. Da es das Ziel sei, in solchen Fällen dem Patienten tunlichst wieder „sein“ Bett zur Verfügung zu stellen, lasse sich bis auf weiteres die Anzahl der tatsächlich aufgestellten Betten nicht reduzieren. Bett muss freigehalten werden 109 Justizanstalten Auch CPT tritt für Einzelunterbringungen ein Das BMJ sieht diesen Kompromiss mit den Vorgaben des CPT unter Berücksichtigung des bereits bestehenden Sanierungskonzepts noch vereinbar. Richtig ist, dass sich das CPT zu den Lebens- und Aufenthaltsbedingungen der Sigmund Freud Klinik anlässlich seines Besuchs im Februar 2009 nicht geäußert hat. Wiederholt hat das CPT allerdings empfohlen, ein therapeutisches Umfeld mit Einzelzimmern und kleineren Unterbringungseinheiten zu schaffen (zuletzt aus Anlass der Überprüfung einer forensischen Psychiatriestation eines Lissaboner Spitals im Juli 2012, CPT/Inf [2013] 4). Vor diesem Hintergrund begrüßt der NPM die Bemühungen des BMJ, den zuständigen Rechtsträger zu einem raschen Ausbau der forensischen Station der Landesnervenklinik Sigmund Freud zu bewegen. XX Lassen sich Sechs-Personen-Zimmer baulich nicht trennen, so kann bereits das Aufstellen mobiler Trennwänden ein Mehr an Privatsphäre schaffen. Einzelfall: VA-BD-J/0843-B/1/2013; BMJ-Pr10000/0084-Pr3/2014 2.5.6 Defizite bei Fixierungen – Forensische Abteilung LKH Hall Angebunden und allein gelassen Im Zuge eines Besuches der forensischen Abteilung des LKH Hall musste die Kommission feststellen, dass eine Patientin über 14 Stunden fixiert wurde. Die Kommission nahm daraufhin Einsicht in die Pflegedokumentation. Sie musste dabei feststellen, dass aus der Dokumentation nicht hervorgeht, dass das Pflegepersonal während der Fixierung bei der Patientin ständig anwesend war. Dagegen spricht, dass die Patientin während der Fixierung mehrfach eingenässt habe und eigenen Angaben zufolge ca. 30 Minuten im urinierten Bett gelegen sei. Die Delegation musste auch feststellen, dass keine gelinderen Maßnahmen dokumentiert sind. Weiters fehlt eine Dokumentation einer Nachbesprechung mit der Patientin. Isolierzimmer erinnert an „Todeszelle“ Sodann besichtigte die Delegation das Isolierzimmer mit dem Fixierungsbett. Dieses habe – so einzelne Kommissionsmitglieder – einen „furchteinflößenden Charakter“ vermittelt und Assoziationen zu Bildern einer „Todeszelle“ in Amerika ausgelöst. Sofortmaßnahmen Die Kommission schlug dem ärztlichen Leiter der Einrichtung und seiner Stellvertreterin vor, den Raum mit einer beruhigenden Wandfarbe auszumalen. Weiters regte sie an, eine freundlich farbige Decke über das Bett zu legen, die die Gurte verdeckt und im Bedarfsfall leicht entfernt werden kann. Der Vorschlag wurde aufgegriffen und der Raum mit einer grünen Wandfarbe ausgemalt. Die Farbe soll an die Natur erinnern, beruhigend wirken und Sicherheit vermitteln. Grün ist auch die Tagesdecke, welche die Gurte verdeckt. Ablauforganisation ist anzupassen 110 Der Kommission wurde in Aussicht gestellt, dass jene Checkliste, nach der bei Fixierungen und Isolierungen vorzugehen ist, in nächster Zeit überarbeitet werden soll. Dabei sollen auch jene Punkte aufgenommen werden, die vom Justizanstalten CPT als unbedingt erforderlich angesehen werden. Dazu zählt nach den CPTStandards (Punkte 43 ff.), dass während der Fixierung ständig ein geschulter Mitarbeiter anwesend sein muss, um therapeutische Hilfe zu leisten. Auch die technisch vorgesehene Videoüberwachung soll in der Checkliste erwähnt werden. Diese solle auch Vorgaben beinhalten, wie der Videomonitor zu überwachen ist. Aufgenommen werden sollen Regeln bezüglich der Dauer der Fixierung und ab welchem Zeitraum die Fixierung durch Anordnung des Arztes zu erneuern ist. Die Checkliste soll um Regelungen zur Mitarbeiterschulung, der Beschwerdepolitik und der Nachbesprechung ergänzt werden. Auch soll dem Patienten die Möglichkeit eröffnet werden, eigene Bemerkungen beizufügen. Letztlich soll gewährleistet werden, dass dieses Formblatt dem Patienten als Kopie ausgehändigt wird. Der NPM weist darauf hin, dass nach der Judikatur des EGMR jede Fesselung an ein Krankenbett nur solange währen darf, als dies nach den Umständen unabdingbar ist (EGMR 27.11.2003, Hénaf/Frankreich, Appl 65.436/01 Z 52). Strenge Judikatur Der NPM empfahl, ein Formblatt zur „Einschränkung der Bewegungsfreiheit“ zu erstellen. In dem Formblatt soll der anordnende Arzt angeleitet werden, den Einzelfall bezüglich möglicher gelinderer Mittel näher zu beschreiben und anzuführen, welche schonenderen Maßnahmen erfolglos versucht wurden, um diese zusätzliche Freiheitsbeschränkung zu verhindern. Auch diesbezüglich ist auf die CPT-Standards zu verweisen, wonach eine Fixierung von Patienten nur als „letzter Ausweg“ erfolgen soll. Fixierung als ultima Ratio Das Formblatt soll weiters die Verpflichtung zur Dokumentation beinhalten, allfällige Verletzungen des Patienten oder des Personals festzuhalten und damit nachvollziehbar zu machen. Alternativen sind zu dokumentieren Hiezu teilte der Krankenanstaltenträger mit, dass das Intranet-Formblatt „Einschränkung der Bewegungsfreiheit“ derzeit TILAK-intern im Hinblick auf die Elektronische-Krankengeschichte neu erarbeitet werde. Selbstverständlich wird dieses Formular auch auf der Station A6 verwendet. Es soll inhaltlich auch die Erwähnung von gelinderen Mitteln beinhalten. Formblatt wird überarbeitet XX Die Fesselung an ein Krankenbett ist nur zulässig, wenn dies aufgrund des Krankheitsverlaufes unabdingbar ist. XX Die äußeren Umstände bei einer Fixierung dürfen für den Patienten nicht furchteinflößend sein. XX Während der Dauer einer Fixierung ist diese Art der Anhaltung laufend zu hinterfragen. XX Vom NPM empfohlenes Formblatt zur „Einschränkung der Bewegungsfreiheit“ ist zu erstellen. Einzelfall: VA-BD-J/0844-B/1/2013 111 Justizanstalten 2.5.7 Korrekte Medikation? – Justizanstalt Garsten Medikation hinterfragt Die Kommission stellte im Sommer 2013 in der Justizanstalt Garsten fest, dass am Tag ihres Besuches von den 64 Insassen im Maßnahmenvollzug 38 Personen Praxiten 50 mg erhielten. Diese Verordnung konnte ebenso wenig nachvollzogen werden wie die Ausfolgung des Depotantipsychotikums Zypadhera. Beides wurde mit dem für die Anstalt tätigen Psychiater besprochen. Chefärztin visitiert Anstalt Auf Empfehlung des NPM nahmen der zuständige Leiter der Fachabteilung in der Vollzugsdirektion und die Chefärztin eine Nachschau vor. Gesondert erörterten die Chefärztin und der in der Anstalt tätige Psychiater die von der Kommission kritisierte Verordnung von Psychopharmaka. Wie der RH ebenfalls erhob (Bericht 2014/15 Punkt 15.3), kann künftig die Medikamentenverschreibung anhand der monatlichen Controllingberichte der Bundesrechenzentrum GmbH nachvollzogen werden. Erhebungen vor Ort Im vorliegenden Fall konnte sich die Chefärztin vergewissern, dass die Verordnung der Psychopharmaka auf Grundlage der konkret diagnostizierten psychiatrischen Krankheitsbilder gemäß ICD-10 erfolgte. Durch obligatorische Verlaufskontrollen wird überprüft, ob die Medikamente ansprechen. Im Bedarfsfall werden Änderungen der Therapie vorgenommen. Abschließendes Gespräch mit Psychiater Die Verabreichung von Psychopharmaka durch den Psychiatrischen Dienst in der Justizanstalt Garsten entspricht, so die Chefärztin, den Grundsätzen der Evidence-based-Medicine und ist mit den zuständigen Fachgremien abgesprochen. Aus Sicht des Chefärztlichen Dienstes waren keine Missstände erkennbar. Dennoch geht der NPM davon aus, dass das mit dem Arzt geführte Gespräch zur Sensibilisierung und zum Problembewusstsein beigetragen hat. XX Auffälligkeiten bei der Verordnung von Psychopharmaka können mithilfe des Controllingmoduls „Medikamentenverwaltung“ rasch erkannt werden. XX Die monatlich erscheinenden Berichte sind auf die Verschreibepraxis hin zu sichten. XX Gegebenenfalls hat der Chefärztliche Dienst den Anstaltsarzt um Aufklärung zu ersuchen. Einzelfall: VA-BD-J/0695-B/1/2013 ; 0696-B/1/2013 2.5.8 112 Fehlende Ergotherapie im Maßnahmenvollzug – Justizanstalt Garsten Unzureichendes Angebot In Garsten wandte sich die Kommission nicht nur der Medikation zu, sondern untersuchte auch das Betreuungsangebot. Die Kommission erachtete dabei den Ausbau des Therapieprogramms, insbesondere die Einführung von Ergotherapie, für zielführend. Fehlende Mittel Hierzu hielt die Anstaltsleitung fest, dass es einen Therapiebetrieb erst seit diesem Jahr gebe. Die Kosten für einen Ergotherapeuten würden allerdings nicht Justizanstalten finanziert. Es komme zu keinen weiteren Personalaufnahmen und insbesondere zu keiner Ausweitung des Budgets, etwa für die von der Kommission vorgeschlagenen Mehrstunden für das psychiatrische Personal. Das BMJ führte hierzu aus, dass ein „mehr als wünschenswertes“ Therapieangebot in Form ergotherapeutischer Betreuung als wesentliches Behandlungselement im Maßnahmenvollzug an den derzeitigen Budgetrestriktionen scheitere. Das dazu notwendige zusätzliche Betreuungspersonal könne auch nicht über die Justizbetreuungsagentur aufgenommen werden. Zum Teil könne dieses Leistungsspektrum durch einen zu Jahresbeginn eingerichteten arbeitstherapeutischen Betrieb abgedeckt werden, indem einige Insassen mit Bastelarbeiten beschäftigt werden. Derzeit nur Bastelgruppe Der NPM gibt zu bedenken, dass es sich dabei nur um ein Provisorium handelt, das ein bestehendes Defizit abfedern, nicht jedoch ausgleichen kann. Insbesondere gilt es sicherzustellen, dass mögliche Therapien nicht deshalb unterbleiben, weil sie im Hinblick auf Aufwand und Kosten über das standardisierte Angebot der Anstalt hinausgehen, anderenfalls dem Individualisierungsgebot, wie es das Bundesverfassungsgericht in seinem Erkenntnis vom 4. Mai 2011 (= EuGRZ 2011, 297 ff.) zum Ausdruck bringt, nicht entsprochen wird. Bedürfnisentsprechende Tätigkeiten XX Zur staatlichen Fürsorgepflicht zählt das Angebot einer bestmöglichen individuellen Betreuung des Insassen, mit dem Ziel, dessen spezifische Gefährlichkeit so rasch wie möglich abzubauen. XX Ergotherapien dürfen dabei nicht fehlen. Einzelfall: VA-BD-J/0696-B/1/2013 2.5.9 Ausstattung von Dreipersonenhafträumen – Justizanstalt Linz Im Spätsommer 2013 fiel der Kommission bei einem Besuch der Justizanstalt Linz auf, dass Dreipersonenhafträume durchwegs mit zwei Stockbetten ausgestattet waren, was den Eindruck der Beengtheit in Verbindung mit der Anordnung der Fenster, die keinen Ausblick ins Freie ermöglichen, besonders verstärkte. Zwei Stockbetten in Drei-Personen-Zimmer Laut Stellungnahme des BMJ gingen der Justizanstalt Linz durch die Errichtung einer Abteilung für weibliche Insassinnen 35 Haftplätze für männliche Insassen verloren. Aus diesem Grund wurden in acht Dreipersonenhafträumen in der Abteilung 1 und in acht Dreipersonenhafträumen in der Abteilung 2 jeweils zwei Stockbetten aufgestellt (zuvor befand sich in diesen Hafträumen je ein Stockbett und ein Einzelbett). Die Einzelbetten wurden vorübergehend mittels Stecksystem zu Stockbetten umgebaut. Diese Hafträume weisen eine Gesamtgröße von je 19,5 m2 bzw. 57,4 m3 auf. Die Vollzugsverwaltung ist nach Maßgabe der faktischen Gegebenheiten (Belag) bestrebt, den ursprünglichen Umbau bedingt Zusammenlegung 113 Justizanstalten Zustand in den Dreipersonenhafträumen mit je einem Stockbett und einem Einzelbett wieder herzustellen. Aus Sicht des NPM vermag der Verlust von Haftplätzen nicht zu rechtfertigen, dass in Dreipersonenhafträumen in der angegeben Größe jeweils zwei Stockbetten aufgestellt werden. Auch wenn es die Größe des Raumes zulässt, muss neben dem Platzangebot auch ausreichend natürliches Licht und Frischluftzufuhr gegeben sein; vgl. hiezu auch den Bericht des (CPT) zu Österreich vom 15. bis 25.2.2009, GZ 311363/2009, CPT/Inf(2015)5. Überdies müssen die Insassen die Möglichkeit haben, einen angemessenen Teil der Tageszeit außerhalb des Haftraums zu verbringen. Die Vorgangsweise vermag zwar vorübergehend sein, die Belegung des Haftraums mit vier Personen widerspricht aber aufgrund der räumlichen Enge der Justizanstalt Linz einer angemessenen Unterbringung. XX Die Ausstattung eines Dreipersonenhaftraums mit zwei Stockbetten ist wegen der möglichen Überbelegung des Raumes zu vermeiden. Einzelfall: VA-BD-J/0840-B/1/2013; BMJ-Pr10000/0049-Pr3/2014 2.5.10 Besonders gesicherte Hafträume in bedenklichem Zustand – Justizanstalt Feldkirch, Außenstelle Dornbirn Aufgelassener Haftraum In der Außenstelle Dornbirn der Justizanstalt Feldkirch wurden die Mitglieder der Kommission auf zwei Absonderungsräume im Keller aufmerksam, welche jedoch nach Auskunft des Kommandanten aktuell nicht mehr in Verwendung stünden. Eine Absonderungszelle werde als Lagerung für Putzmittel verwendet. Gefahrenquelle Der Zustand der beiden besonders gesicherten Hafträume wurde von der Kommission als bedenklich gesehen. Es gibt viele Ecken und Kanten. Im Falle eines Belages sei die Verletzungsgefahr groß. Das BMJ führte dazu aus, in der Außenstelle gebe es nur Insassen im gelockerten Vollzug. Bei diesen wäre keine Unterbringung in einem besonders gesicherten Haftraum zu befürchten. Außerdem sei dem StVG keine Verpflichtung zu entnehmen, wonach jede Anstalt über einen besonders gesicherten Haftraum verfügen müsse. MRB teilt Ansicht des BMJ Befasst mit der Frage, schloss sich der MRB der Ansicht des BMJ an. Sollte es dennoch zu einem Vorfall kommen, könne der Insasse ohne Verzug in die Hauptanstalt, erforderlichenfalls in ein nahe gelegenes Krankenhaus, überstellt werden. Notwendige Vorkehrungen Angesichts dessen empfiehlt der NPM: Wenn besonders gesicherte Hafträume nicht mehr als solche in Verwendung stehen und auch kein Bedarf für solche Hafträume gesehen wird, so sind diese Räume für eine Unterbringung von Insassen untauglich zu machen (z.B. Entfernung des Türschlosses). Sodann sind sie aus dem Haftraumplan zu streichen. 114 Justizanstalten XX Besonders gesicherte Hafträume, welche aufgrund ihrer Ausstattung nicht verwendet werden, sind unbrauchbar zu machen. XX Anschließend ist der Raum aus dem Haftraumplan zu eliminieren. Einzelfall: VA-BD-J/0632-B/1/2013, BMJ-Pr10000/0098-Pr3/2013 2.5.11 Fehlende sperrbare Spinde und zu große Tische – Justizanstalt Sonnberg In der Justizanstalt Sonnberg kritisierte die Kommission die hohe Zahl der Mehrbetthafträume (bis zu fünf Betten), welche zum Teil zur Gänze belegt sind. In diesen Hafträumen gibt es keine versperrbaren Spinde. Die Insassen haben keine Rückzugsmöglichkeit und keine Möglichkeit der Sicherung privater Gegenstände. Übergriffe auf fremdes Eigentum würden begünstigt. Mehrpersonenhafträume Das BMJ räumte ein, dass im Altbau (dem historischen Teil des Schlosses) Hafträume sind, die mit bis zu fünf Personen belegt werden. Die in diesem Bereich untergebrachten Insassen haben den Vollzugsstatus „gelockerter Vollzug“. In diesen Wohngruppen sind die Haftraumtüren unversperrt. Dem kritisierten Mangel an Rückzugsmöglichkeiten stehen aber deutlich mehr Bewegungsmöglichkeiten der Insassen gegenüber. Offener Vollzug gleicht nicht alle Nachteile aus Zwar mag es zutreffen, dass die Insassen grundsätzlich nicht im Besitz von wertvollen Gegenständen sind. Diese bleiben als Depositen verwahrt. Dieser Umstand spielt aber ebenso wenig eine Rolle wie jener, dass es in der Vergangenheit selten zu Diebstahlsanzeigen oder dahingehenden Vorwürfen gekommen ist. Das Interesse insbesondere im gelockerten Vollzug, nicht um den Verbleib privater Gegenstände besorgt sein zu müssen, ist nachvollziehbar. Dass es aus Gründen des budgetär verbunden Aufwands sowie der Sicherheit und Ordnung „nicht machbar“ sei, versperrbare Kästen zur Verfügung zu stellen, überzeugt demgegenüber nicht. Sorge um privates Eigentum Der NPM empfiehlt, versperrbare Spinde anzuschaffen, die sich mittels Generalschlüssel von der Justizwache öffnen lassen. Derartige versperrbare Kästen sollten insbesondere dort zur Verfügung stehen, wo aufgrund einer großen Fluktuation privates Eigentum besonders gefährdet ist. Entsprochen würde damit auch einer Forderung, wie sie das CPT mehrfach geäußert hat (z.B. CPT/ Inf (2010) 33: „Lockable space for their personal belongings“). Weiters kritisierte die Kommission, dass bei Tischbesuchen der Tisch viel zu groß sei und eine Distanz schaffe, die fast ebenso markant sei wie bei der Trennung durch eine Glasscheibe sei. Das BMJ verwies darauf, dass ein neues Besucherzentrum errichtet werden soll. zu großer Tisch Auch diesbezüglich ist dem NPM nicht einsehbar, weshalb nicht durch einfache Verbesserungsmaßnahmen wie den Austausch eines zu langen Tisches, einem bestehenden Defizit rasch abgeholfen wird. 115 Justizanstalten XX Der Nachteil durch Zuweisung in einem Mehrpersonenhaftraum kann durch Reduktion der Einschlusszeiten gemindert werden. XX Umso wichtiger ist es in diesen Fällen, dass den Insassen abschließbare Kästen zur Verfügung stehen. XX Zu große Tische lassen Berührungen bei Besuchen nicht zu. Sie sind auszutauschen. Einzelfall: VA-BD-J/0337-B/1/2014, BMJ-Pr10000/0042-Pr 3/2014 2.5.12 Selbstmordgefährdeter Insasse im Einzelhaftraum – Trotz Risiko in Einzelhaft Justizanstalt Leoben In der Justizanstalt Leoben stieß die Kommission auf einen Untersuchungshäftling, der nach angedrohtem Suizid in einem Einzelhaftraum mit Echtzeitvideoüberwachung untergebracht war. Der Mann leidet an einer psychischen Störung, welche eine Unterbringung mit anderen Insassen nicht gestattet. Als der Insasse Selbstmordabsichten äußerte, wurde er für nahezu zwei Monate in einen Einzelhaftraum mit Echtzeitvideoüberwachung verlegt. Procedere bei Selbstmordgefahr Mit Ausnahme von Göllersdorf wird derzeit in allen Anstalten ein Haftraumzuweisungsprogramm (VISCI – Viennese Instrument for Suicidality in Correctional Institutions) verwendet. Das Programm weist aus, ob die betreffende Person suizidal (rot), geringfügig suizidal (orange) oder stabil (grün) ist. Ist die Ampel auf „rot“, werden sofort Interventionen gesetzt. Eine Einzelunterbringung ist dann untersagt. Eine andere Möglichkeit ist die Unterbringung in einem sogenannten „Listener-Haftraum“. Das heißt, ein vertrauenswürdiger und entsprechend geschulter Insasse wird mit dem suizidgefährdeten Häftling in einem Haftraum untergebracht. Sind bereits suizidale Handlungen gesetzt worden oder liegt sonst eine akute psychotische Phase mit Selbst-und/oder Fremdgefährdung vor, kann eine vorübergehende Verlegung in einen videoüberwachten Sicherheitshaftraum gemäß § 103 Abs. 2 Z 4 StVG angeordnet werden. Binnen 24 Stunden ist der Gefährdete einem Facharzt für Psychiatrie vorzustellen, welcher über die weitere Anhaltung eine Empfehlung abgibt. Im konkreten Fall wurde der Insasse in 14-tägigen Intervallen von einem Facharzt für Psychiatrie untersucht und medikamentös behandelt. Die Selbstmordgefährdung konnte jedoch nicht aufgehoben werden. Erst nachdem der Insasse gegen seine Anhaltung Vorbehalte angemeldet hatte, wurde ihm ein anderer Einzelhaftraum ohne Videoüberwachung zugewiesen. Durchgängige Beobachtung nicht gewährleistet 116 Der NPM kritisiert die Art und Dauer der Anhaltung in einem Einzelhaftraum. Gegenständlich blieb die Selbstmordgefährdung nach Ansicht des Arztes aufrecht. Die VISCI-Einschätzung war auf „rot“. Damit erscheint die Anhaltung Justizanstalten in einem Einzelhaftraum, mag dieser auch videoüberwacht sein, nicht die geeignete Art der Unterbringung, um sicherzustellen, dass der selbstmordgefährdete Insasse über viele Wochen durchgängig beobachtet wird. Kann hausintern der besonderen Fürsorgepflicht in diesen Situationen nicht entsprochen werden, ist es geboten, den Insassen umgehend in eine psychiatrische Anstalt zu verlegen. XX Ein selbstmordgefährdeter Insasse darf nicht in einem Einzelhaftraum untergebracht werden. XX Eine Videoüberwachung schließt nicht aus, dass sich der Gefährdete in einem unbeobachteten Moment suizidiert. Einzelfall: VA-BD-J/0241-B/1/2014, BMJ-Pr10000/0098-Pr3/2014 2.5.13 Mentale Hilfe nach Einsätzen bei Suiziden und Suizidversuchen – Justizanstalt Göllersdorf Aus Anlass des Ablebens eines Untergebrachten stattete die Kommission der Justizanstalt Göllersdorf einen Besuch ab. Sie wandte sich dort insbesondere der Frage zu, wie in Krisenfällen sowohl den Untergebrachten als auch dem Personal Unterstützung angeboten werden kann. Dabei erneuerte die Kommission ihre Anregung, dass Mitarbeiter, die einen Suizidierten auffinden, nicht nur eine Akutunterstützung nach dieser besonders belastenden Situation bekommen, sondern verpflichtend eine begleitende Supervision absolvieren sollen. Vielfach herrsche nämlich die Meinung, dass es ein Ausdruck des Versagens sei, wenn man professionelle Begleitung benötige. Todesfälle würden vielfach verdrängt und mit lapidaren Hinweisen weggeredet. Ängste oft verdrängt Das BMJ nahm diese Kritik ernst und verwies auf einen Erlass aus dem Jahr 2001. Demnach ist u.a. nach Ereignissen mit letalen Folgen dem/der betroffenen Bediensteten innerhalb von 24 Stunden ein erster Betreuungskontakt, binnen weiterer 48 Stunden ein zweites Betreuungsgespräch anzubieten. Die zu derartigen Betreuungsangeboten einschlägig qualifizierten Bediensteten (CISM-Betreuer) sind verpflichtet, diese Angebote an die Betroffenen aktiv heranzutragen. Es ist gleichzeitig akkordierter Standard, dass für Zielpersonen keine Verpflichtung bestehen kann, derartige Betreuungsangebote in Anspruch zu nehmen. Die Teilnahme erfolgt ausschließlich auf freiwilliger Basis. Weitere Betreuung auf ausschließliche Initiative des betroffenen Bediensteten ist auch noch bis zu sechs Wochen nach dem Vorfall möglich. Soforthilfeangebot Diese an individuellen Bedürfnissen orientierte Vorgangsweise sei zweckmäßiger als eine flächendeckende Verpflichtung zur Teilnahme an einer Supervision. Die Erfahrung lehrt, dass die individuelle Verarbeitung belastender Ereignisse von Person zu Person äußerst unterschiedlich erfolgt und sich eine verpflichtende bzw. aufoktroyierte standardisierte Bearbeitung belastender Ereignisse somit weniger sinnvoll und bedarfsgerecht erweist als die derzeitige Vorgangsweise. Individuelle Betreuung 117 Justizanstalten In der Justizanstalt Göllersdorf steht ein ausgebildeter CISM-Betreuer zur Verfügung. Dieser war aber zum Zeitpunkt des Vorfalls im Urlaub. Die Nachbetreuung eines betroffenen Bediensteten der Justizanstalt Göllersdorf wurde ersatzweise vom CISM-Betreuer der Justizanstalt Wien-Josefstadt wahrgenommen, was mit einer geringen Verzögerung einherging. Aufklärung soll helfen, Vorurteile abzubauen Das BMJ versicherte, dass es ihm ein Anliegen sei, allfälligen Vorbehalten Bediensteter gegenüber Betreuungsmaßnahmen durch entsprechende Aufklärungsarbeit zu begegnen. Zu diesem Zweck wurde im Jahr 2012 die Suizidprävention im Allgemeinen mit einem einschlägigen Erlass neuerlich thematisiert. Im März 2013 fanden zwei Fachseminare zur Suizidprävention statt. Nachbetreuung für alle Betroffenen Der NPM empfahl eine Folgeveranstaltung noch in diesem Jahr, was aufgegriffen wurde. Gegenstand der Veranstaltung waren Nachbetreuungsangebote für Bedienstete und betroffene Insassen. Nachbetreuungsangebote für Insassen und Patienten wird es künftig in jedem Fall geben. XX Die Konfrontation mit Suiziden führt oft lange danach zu Belastungsstörungen, die durch Maßnahmen des Dienstgebers zu minimieren sind. XX Die Justizverwaltung hat alle Anstrengungen zu unternehmen, um die Inanspruchnahme von psychotherapeutischer Hilfe nicht als Schwäche erscheinen zu lassen. Einzelfall: VA-BD-J/0092-B/1/2014, BMJ-Pr10000/0011-Pr 3/2014 2.5.14 Barscher Umgangston – Justizanstalt Wien-Josefstadt Beschimpfungen und Verspotten Bei ihrem Besuch im Juli 2014 musste die Kommission in der Justizanstalt Wien-Josefstadt feststellen, dass in der Abteilung C 2 ein barscher Umgangston herrscht. Insassen beklagten zudem, dass sich Justizwachebeamte ihnen gegenüber sehr unfreundlich verhalten. Die Häftlinge schilderten, dass sie von einem Stockbeamten mehrfach beschimpft und durch das Nachäffen von Tierlauten erniedrigt wurden. Der NPM empfahl der Anstaltsleitung eine sofortige entsprechende Belehrung des/der Beamten, die auch erfolgte. Korrekter Umgang als gesetzliches Gebot Gemäß § 22 StVG sind die Gefangenen mit Ruhe, Ernst sowie unter Achtung ihres Ehrgefühls und der Menschenwürde zu behandeln. Verletzende oder herablassende Umgangsart und Formulierungen sind verboten und werden vom NPM auf das Schärfste verurteilt. Die Professionalität des Gefängnispersonals erfordert, dass es in der Lage ist, mit Gefangenen in einer annehmbaren und menschlichen Weise umzugehen und gleichzeitig auf Fragen der Sicherheit und Ordnung zu achten. In dieser Hinsicht sollte die Anstaltsleitung das Personal ermutigen, ein vernünftiges Maß an Vertrauen und Erwartung zu haben, dass die Gefangenen gewillt sind, sich korrekt zu benehmen. [Auszug aus dem 11. Jahresbericht [CPT/Inf (2001) 16]. 118 Justizanstalten XX Herablassender und beleidigender Umgangston verletzt die Menschenwürde. XX Korrekte Umgangsformen sind nicht nur gesetzlich geboten. Sie sollten eine Selbstverständlichkeit sein. Einzelfall: VA-BD-J/0760-B/1/2013, BMJ-99003612/0007-Pr3/2014 2.5.15 Bilder von unbekleideten Frauen im Dienstzimmer – Justizanstalt Stein Im Mai 2014 fiel der Kommission anlässlich eines Besuchs der Justizanstalt Stein auf, dass in einem Dienstzimmer Lichtbildaufnahmen von unbekleideten Frauen hängen. Anstößige Fotos im Dienstzimmer Der NPM forderte das sofortige Entfernen dieser Bilder, da sich weibliche Justizwachebeamtinnen durch die herabwürdigende oder verletzende Darstellungen sexuell belästigt fühlen könnten. Die kompromittierenden Bilder im Dienstzimmer wurden unverzüglich entfernt und der Anstaltsleiter angewiesen, dafür Sorge zu tragen, dass derartige Bilder im gesamten Anstaltsbereich keinesfalls mehr aufgehängt werden. Die Würde von Frauen und Männern am Arbeitsplatz ist zu schützen. Verhaltensweisen, welche die Würde des Menschen verletzen, einschränken oder dies bezwecken, insbesondere herabwürdigende oder verletzende Äußerungen und aufreizende Darstellungen (Poster, Kalender, Bildschirmschoner usw.), sind zu unterlassen. Mit dem Tatbestand der sexuellen Belästigung ist nicht nur der Schutz der körperlichen Integrität vor unerwünschten sexuellen Handlungen, sondern auch die psychische Verletzbarkeit gemeint. Folglich kann das Anbringen von Bildern von unbekleideten Frauen im Dienstzimmer eine sexuelle Belästigung darstellen. Sexuelle Belästigung XX Sexuelle Belästigung verletzt die Menschenwürde. Ebenso inakzeptabel sind herabwürdigende oder verletzende Äußerungen und Darstellungen, die daher zu vermeiden sind. XX Der Dienstgeber hat dafür Sorge zu tragen, dass die geschlechtliche Selbstbestimmung, sexuelle Integrität und Intimsphäre der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht gefährdet wird. XX Dementsprechend hat er sicherzustellen, dass keine Bilder von unbekleideten Frauen in Dienstzimmern angebracht werden. Einzelfall: VA-BD-J/0696-B/1/2014, BMJ-Pr10000/0059-Pr3/2014 2.5.16 Positive Feststellungen Vorbildhaftes Verhalten eines Beamten – Justizanstalt Stein, Außenstelle Oberfucha Acht Justizwachebeamte und 29 männliche Häftlinge. Das ist die Belegung in der Außenstelle Oberfucha nahe Krems. Die Hafträume sind sparsam, abge- Gutes Betriebsklima trotz abgewohnter Räumlichkeiten 119 Justizanstalten wohnt und eng. Allerdings besteht die Möglichkeit zur individuellen Gestaltung und provisorischen Raumteilung. Die räumliche Beengtheit wird kompensiert durch eine große Bewegungsfreiheit untertags. Respektvoller Umgang Der Umgangston mit den Häftlingen und die Rücksichtnahme auf persönliche Gegebenheiten erscheinen vorbildlich. Der Ton ist wertschätzend, die Insassen werden mit Respekt behandelt. Diesen Eindruck konnte die Kommission bei ihrem Besuch im August 2014 in der Justizanstalt gewinnen. Best Practice Oberfucha liefert damit den Beweis dafür, wie offener Strafvollzug funktionieren kann. Wie gut trotz unterschiedlicher Rollen das Zusammenleben von Justizwache und Insassen funktioniert, zeigte sich an einem Einzelfall. Am Tag vor dem Kommissionsbesuch klagte ein Insasse über starke Zahnschmerzen. Da der Zahnarzt auf Urlaub war, fuhr der diensthabende Beamte mit dem Häftling am nächsten Tag zu einem Zahnarzt nach Herzogenburg. Es habe nur einer Überweisung aus der Zentralanstalt bedurft, dann sei er gefahren. Er würde es von sich auch „nicht erwarten“, das Wochenende mit Zahnschmerzen zu verbringen. Daher sei ihm klar gewesen, dass er mit dem Insassen zum Arzt fahre. Beispielwirkung wichtig Für den NPM ist dies ein Beispiel von „Best Practice“. Das BMJ wurde um Weitergabe dieser positiven Rückmeldung an den betreffenden Justizwachebediensteten ersucht. Auch im Zuge von Vorträgen, die Vertreter des NPM gehalten haben, wurde die Einstellung des Beamten als vorbildlich hervorgehoben. XX Persönliches Engagement und wertschätzender Umgang mit den Insassen sind unverzichtbarer Teil eines menschlichen Strafvollzuges. XX Die Vollzugsverwaltung sollte vorbildliches Verhalten honorieren. Einzelfall: VA-BD-J/0883-B/1/2014; BMJ-Pr10000/0082-Pr3/2014 120 Polizeiinspektionen, Polizeianhaltezentren und Kasernen 2.6 Polizeiinspektionen, Polizeianhaltezentren und Kasernen 2.6.1Einleitung Im Berichtsjahr führten die Kommissionen 65 Besuche in Polizeieinrichtungen durch. Dabei entfielen 24 Besuche auf Polizeianhaltezentren (PAZ) einschließlich Anhaltezentren (AHZ), 39 Besuche auf Polizeiinspektionen (PI) und zwei Besuche auf sonstige Dienststellen. Während einige aufgezeigte Mängel nur einzelne Einrichtungen betrafen, brachten gleichartige Feststellungen und Wahrnehmungen der Kommissionen auch systematische Schwachstellen der Anhaltebedingungen im Polizeibereich zutage. 65 Besuche in Polizeieinrichtungen In vielen Fällen konnten die Einrichtungsleitungen weniger gravierende Defizite bereits im Anschluss an die Abschlussgespräche mit den Kommissionen beheben. Positiv ist auch die Kooperationsbereitschaft des BMI, gemeinsam mit dem NPM Lösungen für strukturell bedingte Probleme zu erarbeiten. Hingegen scheiterte die Umsetzung von Vorschlägen des NPM teilweise – wie bereits im Vorjahr – an der finanziellen und personellen Ressourcenknappheit der verantwortlichen Behörden. In Kasernen führten die Kommissionen fünf Besuche durch. 2.6.2 5 Kasernenbesuche Systembedingte Problemfelder – Polizeianhaltezentren 2.6.2.1 Arbeitsgruppe erzielt erste Ergebnisse Im PB 2012 (S. 49 f.) und im PB 2013 (S. 92 ff.) berichtete der NPM über strukturelle Mängel der Lebens- und Aufenthaltsbedingungen in PAZ. Im Zuge eines bereits im Jahr 2012 eingeleiteten Prüfverfahrens über die Anhaltebedingungen in PAZ unterbreitete der NPM dem BMI zahlreiche Vorschläge zur Verbesserung der Situation. So prüfte das BMI etwa – einer Anregung des NPM folgend – die Informationsblätter für Häftlinge auf ihre leichtere Verständlichkeit hin und überarbeitete diese inhaltlich. Nach einem regen schriftlichen Austausch zwischen NPM und BMI machte das BMI den Vorschlag zur Einsetzung einer Arbeitsgruppe. Bereits seit März 2014 erörtern Vertreterinnen und Vertreter des BMI sowie des NPM gemeinsam ausgewählte Themen, die bisher noch keiner befriedigenden Lösung zugeführt werden konnten. PAZ dienen grundsätzlich der Anhaltung von Menschen in Schubhaft, Verwahrungs- und Verwaltungsstrafhaft. Am Beginn der Arbeitsgruppe berichtete das BMI über die Einführung eines neuen Konzepts für den Vollzug der Schubhaft. Seit Jahresbeginn 2014 bestehen demnach drei Kategorien von PAZ. In PAZ der Kategorie 1 wird keine Schubhaft mehr vollzogen. In PAZ der Kategorie 2 soll Schubhaft nur noch bis zu sieben Tagen vollzogen werden. Dies Gesamtkonzept Schubhaft 121 Polizeiinspektionen, Polizeianhaltezentren und Kasernen betrifft die PAZ Eisenstadt, Klagenfurt, Linz, Graz, Innsbruck und Bludenz. PAZ der Kategorie 3 sind dem längerfristigen Schubhaftvollzug (mehr als sieben Tage) gewidmet. Darunter fallen die PAZ Wien und Sbg sowie das neue AHZ Vordernberg, wobei letzteres ausschließlich dem Schubhaftvollzug dient (vgl. dazu auch PB 2014, S. 130 ff.). Die ehemaligen PAZ Leoben und Schwechat werden mittlerweile nur noch als Verwahrungsräumlichkeiten für kurzfristige Anhaltungen genutzt. Durch die Reduzierung des Schubhaftvollzugs auf weniger Standorte erhofft sich das BMI eine generelle Verbesserung der Anhaltebedingungen. Standards für Einzelzellen Ausführlich beschäftigte sich die Arbeitsgruppe mit der Vollziehung von Einzelhaft, soweit diese als besondere Sicherheitsmaßnahme angeordnet wird. Die Arbeitsgruppe legte einheitliche Standards für die Anhaltung in Einzelhafträumen fest. Dazu zählen besonders gesicherte Hafträume gemäß Anhalteordnung, d.h. geflieste Sicherungszellen, gepolsterte bzw. gummierte Sicherungszellen und sonstige Einzelzellen. Zukünftig soll jedes PAZ – neben Gemeinschaftszellen – über alle drei Arten von Einzelzellen verfügen. Die Anhaltung in diesen Zellen (anstelle der regulären Anhaltung in Gemeinschaftshaft) hat unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsprinzips nur in Ausnahmefällen und so kurz wie möglich zu erfolgen. Hinsichtlich folgender Kriterien formulierte die Arbeitsgruppe spezifische Standards für die genannten Einzelhafträume: Benutzung, Beleuchtung, Belüftung, Rufmöglichkeit, Ausstattung, technische und persönliche Überwachung der Zellen sowie Dokumentation. Die Bedenken des NPM an der Videoüberwachung von Toilettenbereichen in Sicherungszellen (vgl. dazu PB 2013, S. 102) räumte das BMI dadurch aus, dass die Bildgebung dieser Zellenbereiche inzwischen technisch oder mechanisch unkenntlich gemacht wurde. Damit kann sowohl dem Interesse an der Aufrechterhaltung der Sicherheit als auch dem Interesse an der Wahrung der Intimsphäre der Häftlinge ausreichend Rechnung getragen werden. Langfristig soll die Videoüberwachung von Sicherungszellen in allen PAZ lichtquellenunabhängig mittels Infrarotkameras und undeutlicher (verpixelter) Übertragung der Toilettenbereiche erfolgen. Offener Schubhaftvollzug Ein Durchbruch gelang aus Sicht des NPM in Bezug auf die Praxis des Schubhaftvollzugs. Die Arbeitsgruppe kam überein, dass der generelle Standard für den Vollzug der Schubhaft der offene Vollzug sein soll. Schubhäftlinge sind demnach – nach Durchführung einer ärztlichen Untersuchung und einer allfälligen Einvernahme durch die zuständige Behörde – längstens binnen 48 Stunden nach Einlieferung in ein PAZ oder AHZ im offenen Vollzug unterzubringen. Als Ziel formulierte die Arbeitsgruppe die Vereinheitlichung und Ausdehnung der Öffnungszeiten aller offenen Stationen von täglich 8 bis 21 Uhr. Einvernehmlich legte die Arbeitsgruppe auch die künftig geltenden Ausschlusskriterien für den Vollzug der Schubhaft auf offenen Stationen fest. Darunter fallen etwa Selbst- und Fremdgefährdung des Häftlings, mangelnde Gruppenfähigkeit, die gesundheitliche Gefährdung anderer oder hygienische Gründe. 122 Polizeiinspektionen, Polizeianhaltezentren und Kasernen Die Arbeitsgruppe betonte, dass der mögliche Ausschluss eines Schubhäftlings von der offenen Station bei Hungerstreik keine Disziplinarmaßnahme sein soll, sondern der intensiveren therapeutischen und medizinischen Betreuung Hungerstreikender dient. Diesbezüglich skizzierte sie sowohl Kriterien für die notwendige Verlegung eines Schubhäftlings bei Hungerstreik als auch für die weitere Vorgehensweise und Betreuung. Wichtig erschien der Arbeitsgruppe dabei der Aufbau eines Vertrauensverhältnisses zwischen Hungerstreikenden und externen – d.h. nicht in einem Dienstverhältnis zum BMI stehenden – Ärztinnen bzw. Ärzten. In der mangelnden Fachausbildung der in PAZ tätigen Bediensteten sah der NPM stets ein gravierendes strukturelles Manko. Umso erfreulicher ist es, dass das BMI nun zusagte, einen Basisausbildungslehrgang zu implementieren, den künftig alle Exekutivbediensteten absolvieren müssen, die in PAZ eingesetzt werden. Diese Grundausbildung soll den in PAZ tätigen Bediensteten jene fachlichen, persönlichen und sozialen Kompetenzen vermitteln, die zu einer qualitativ hochwertigen Aufgabenerfüllung im Bereich des polizeilichen Anhaltewesens erforderlich sind. Voraussichtlich wird die Grundausbildung einen theoretischen Teil im Ausmaß von drei Wochen und einen praktischen Teil im Ausmaß von einer Woche umfassen. Im Rahmen der Arbeitsgruppe sollen sowohl die Organisation als auch die Inhalte der Schulungen weiter erörtert werden. Der NPM regte diesbezüglich etwa an, die Themen Suizidprävention und Umgang mit psychisch auffälligen Personen in die Grundausbildung einfließen zu lassen. Ausbildung des Personals Weitere für die Arbeitsgruppe vorgesehene Themen wie die Verbesserung der Arbeits- und Beschäftigungsangebote für Häftlinge sowie die Schaffung alternativer Besuchsmodalitäten (verstärkter Tischbesuch) und die generelle Ausdehnung der Besuchszeiten in PAZ konnten bis zu Redaktionsschluss dieses Berichts noch keiner abschließenden Lösung zugeführt werden. Aus Sicht des NPM hat sich die gemeinsame Erarbeitung von Lösungen für komplexe und teilweise bereits über viele Jahre bestehende Probleme gut bewährt. Die Arbeitsgruppe wird ihre Tätigkeit daher im Jahr 2015 fortsetzen. Einen konkreten Zeitpunkt für die vollständige Umsetzung der von der Arbeitsgruppe festgelegten Standards konnte das BMI noch nicht nennen, da einer Implementierung dieser neuen Standards sowohl Änderungen der Anhalteordnung als auch bauliche und organisatorische Änderungen voranzugehen haben. Fortsetzung der Arbeitsgruppe Einzelfall: VA-BD-I/0510-C/1/2012, BMI-LR1600/0034-III/10/2014 2.6.2.2 Mangelhafte Begründung bei Verbringung von Häftlingen in Sicherungszellen Aus Anlass von Besuchen im PAZ Linz und im PAZ Steyr stellte die Kommission im Berichtszeitraum mehrfach gravierende Defizite der Dokumentation Wiederholte Kritik an Begründungsmängeln 123 Polizeiinspektionen, Polizeianhaltezentren und Kasernen bzw. der Begründung bei Verbringung von Häftlingen in besonders gesicherte Hafträume (Sicherungszellen) fest. In der Dokumentation fand sich in vielen Fällen entweder eine mangelhafte oder keine Begründung, ob die in der Anhalteordnung genannten Voraussetzungen für die Unterbringung in einer besonders gesicherten Zelle vorlagen. In Kritik zog die Kommission teilweise auch gravierende Abweichungen der ärztlichen Dokumentation von der Maßnahmendokumentation. Dies ist jedoch in Hinblick auf das verfassungsgesetzlich garantierte Recht auf persönliche Freiheit höchst bedenklich, da nur das absolut notwendige Maß einer Freiheitsentziehung zulässig ist und Haftverschärfungen nicht ohne nähere Begründung vorgenommen werden dürfen. Der NPM erachtet es daher für unbedingt erforderlich, ein besonderes Maß an Sorgfalt bei der Begründung für die Verlegung von Häftlingen in besonders gesicherte Zellen anzuwenden. Für die Kommission war auffällig, dass Unterbringungen in besonders gesicherten Zellen häufig aufgrund von befürchteter Selbstgefährdung der Häftlinge und/oder Sachbeschädigung erfolgten. In diesem Zusammenhang ist auch der Umgang mit stark alkoholisierten, substanzbeeinträchtigten und psychisch auffälligen Personen zu hinterfragen. Der Alkoholrausch sowie ein Erregungszustand bei Alkoholisierung sind psychische Störbilder. Die Behandlung der davon betroffenen Personen sollte dementsprechend in der Kompetenz einer dafür spezialisierten Fachklinik liegen. Eine von Amtsärztinnen und Amtsärzten empfohlene engmaschige Observanz in einer besonders gesicherten Zelle kann nicht eine notwendige kompetente fachspezifische Diagnostik und Behandlung des Krankheitsbildes ersetzen. Die Unterlassung einer medizinischen Betreuung ist in diesen Fällen in Hinblick auf die besondere Fürsorgepflicht des Staates bei Freiheitsentziehungen problematisch. Zudem wäre in solchen Fällen das vom CPT geforderte Prinzip der gleichwertigen Gesundheitsfürsorge verletzt (vgl. CPT Standards, S. 94 Rz 32). Strenge Anforderungen an die Dokumentation Auf Basis der Feststellungen der Kommission erging das Ersuchen an das BMI, seinen Dienststellen nachdrücklich in Erinnerung zu rufen, dass das Vorliegen eines in der Anhalteordnung genannten Grundes für die Unterbringung in einer besonders gesicherten Zelle in jedem Einzelfall genau, sorgfältig und nachvollziehbar zu dokumentieren ist. Weiters erschien dem NPM eine Sensibilisierung dahingehend geboten, dass bei befürchteter Selbstgefährdung und/oder Sachbeschädigung sowie beim Umgang mit stark alkoholisierten, substanzbeeinträchtigten und psychisch auffälligen Personen bei Bedarf eine kompetente fachspezifische Diagnostik und Behandlung zu gewährleisten ist. BMI veranlasst Schulungen In Reaktion auf die Kritik des NPM veranlasste das BMI eine Sensibilisierung der in oberösterreichischen PAZ tätigen Bediensteten hinsichtlich der schriftlichen Begründung bei Verlegung von Häftlingen in besonders gesicherte Zellen sowie hinsichtlich der Gewährleistung einer medizinischen Betreuung dieser Personen. Laut BMI habe im Juni 2014 eine Besprechung der LPD OÖ mit den 124 Polizeiinspektionen, Polizeianhaltezentren und Kasernen Kommandanten der PAZ Linz, Wels und Steyr stattgefunden. Im Juli 2014 sei eine entsprechende Schulung ausgewählter Bediensteter dieser PAZ erfolgt. Inzwischen hätten sich sämtliche Bedienstete in oberösterreichischen PAZ einer solchen Schulung unterzogen. Der NPM wertet diese Schulungs- und Sensibilisierungsmaßnahmen als wichtigen Schritt, damit die rechtlichen Vorgaben für die Anhaltung von Häftlingen in besonders gesicherten Hafträumen sowie deren Dokumentation künftig beachtet werden. Es bleibt zu hoffen, dass die bereits ergriffenen Maßnahmen eine nachhaltige Qualitätssteigerung der Begründung und Dokumentation bei Unterbringung von Häftlingen in Sicherungszellen bewirken werden. Bezüglich der Frage der Haftfähigkeit bei Suchtmittelbeeinträchtigung unterbreitete der NPM bereits im Jahr 2012 den Vorschlag, die Unterbringung von alkoholisierten, substanzbeeinträchtigten, psychisch auffälligen und selbstgefährdeten Personen in besonders gesicherten Zellen grundlegend zu überdenken. Das BMI kündigte an, eine Richtlinie über die wünschenswerte Vorgangsweise auszuarbeiten, sodass die notwendige Gesundheitsversorgung solcher Personen künftig adäquat berücksichtigt wird. Leider konnte das BMI seine Ankündigung bisher nicht umsetzen. Begründend führte es aus, dass die Ausarbeitung einer entsprechenden Handlungsanleitung in engem Zusammenhang mit der Überarbeitung der Richtlinie für den polizeiärztlichen Dienst und der Anhalteordnung stehe. Substanzbeeinträchtigte und psychisch auffällige Personen Die derzeitige Praxis zeigt jedoch, dass das BMI dringend Überlegungen zum Umgang mit alkoholisierten, substanzbeeinträchtigten, psychisch auffälligen und selbstgefährdeten Häftlingen anstellen sollte. Die Erarbeitung von Kriterien für eine medizinisch notwendige Überstellung in Fachkliniken anstelle der Unterbringung in besonders gesicherten Zellen könnte die Risiken einer mit etwaigen Fehlentscheidungen einhergehenden gesundheitlichen Gefährdung dieser besonders verletzlichen Personengruppe minimieren. Der NPM wird daher weiterhin auf eine Lösung dringen. Ausarbeitung einer Handlungsanleitung ausständig XX Der Grund für die Unterbringung in einer besonders gesicherten Zelle gemäß Anhalteordnung ist in jedem Einzelfall zu dokumentieren. XX Es ist eine Richtlinie auszuarbeiten, die die Gesundheitsversorgung von alkoholisierten, substanzbeeinträchtigten, psychisch auffälligen und selbstgefährdeten Personen berücksichtigt. Einzelfälle: VA-BD-I/0402-C/1/2013, BMI-LR1600/0126-III/10/2013; VA-BDI/0167-C/1/2014, BMI-LR1600/0095-III/10/2014; VA-BD-I/0224-C/1/2014, BMI-LR1600/0084-III/10/2014; 2.6.2.3 Unzureichende Abtrennung der WC-Bereiche in Mehrpersonenzellen Im Zuge ihrer Besuche im PAZ Sbg kritisierte die Kommission, dass der Sanitärbereich in den Zweipersonenzellen lediglich durch eine Trennwand vom rest- Zweipersonenzellen im PAZ Sbg 125 Polizeiinspektionen, Polizeianhaltezentren und Kasernen lichen Zellenbereich getrennt ist, sodass seitlich in den Sanitärbereich eingesehen werden kann. Die nur teilweise Abmauerung von WC-Bereichen (ohne Türen) erachtete die Kommission deshalb für problematisch, weil nicht auszuschließen ist, dass ein Häftling während der Verrichtung der Notdurft von einem Mithäftling und möglicherweise auch vom Wachpersonal beobachtet werden kann. Dies würde das Recht auf Privat- und Intimsphäre erheblich verletzen. Diesbezüglich legte das BMI dar, dass ein Umbau von 43 Zellen im PAZ Sbg (jeweils Errichtung einer Wand, Einbau einer Türe sowie anschließende Bodenleger- und Malerarbeiten) budgetär nicht realisierbar sei. Falls ein Häftling seine Privatsphäre als gefährdet erachte, bestehe aber die Möglichkeit, dass dieser auf seinen ausdrücklichen Wunsch und bei freien Kapazitäten eine Zweipersonenzelle alleine benützen könne. Das BMI betonte, dass das PAZ den Wünschen der Häftlinge bezüglich der Alleinbenützung einer Mehrpersonenzelle grundsätzlich immer entspreche, sofern es die Belagszahl des PAZ Sbg zulasse und nicht andere Gründe dagegen sprechen würden. Achtpersonenzelle im PAZ Steyr Auch im PAZ Steyr musste die Kommission feststellen, dass das WC in einer zum Besuchszeitpunkt mit sechs Verwaltungsstrafhäftlingen belegten Zelle nicht nach allen Seiten hin abgemauert ist. Zwar ist die Häftlingstoilette in der Achtpersonenzelle des zweiten Obergeschoßes rundherum abgemauert und mit einer Türe versehen, nach oben hin jedoch offen. Für die Häftlinge ist es entwürdigend und erniedrigend, die Notdurft derart zu verrichten, da sie die Mithäftlinge unmittelbar mit Gerüchen und bzw. oder Geräuschen konfrontieren. Der NPM ersuchte das BMI daher, so rasch wie möglich die erforderlichen baulichen Maßnahmen zu ergreifen, um das WC auch nach oben hin vom Rest des Zellenbereichs abzutrennen. Die Anregung des NPM, die WC-Wand bis zur Deckenhöhe zu schließen, lehnte das BMI ab. Einerseits wäre durch eine solche bauliche Maßnahme keine Be- und Entlüftung der WC-Bereiche möglich. Andererseits wäre die Implementierung einer Wanderhöhung in die historische Deckenkonstruktion des PAZ Steyr zu teuer. Die räumlichen Ressourcen des PAZ Steyr würden es auch nicht zulassen, dass die gegenständliche Zelle nicht durch mehr als eine Person belegt werde. Das PAZ Steyr habe allerdings zugesichert, dass die Zelle in Zukunft nur mehr mit maximal sechs Personen belegt werden soll. Zudem bestehe die Möglichkeit, dass eine Person auf ihren Wunsch und bei entsprechenden Ressourcen in eine Einzelzelle bzw. Mehrpersonenzelle zur alleinigen Benützung verlegt werden könne. Sofern von einem Häftling der Wunsch geäußert werde, in einer Zelle allein sein zu wollen und ein derartiger Haftraum frei sei, werde diesem Wunsch entsprochen. Die Generalsanierung des PAZ Linz stehe dabei im besonderen Fokus, zumal die meisten Anhaltungen im Zentralraum Linz stattfinden würden. Die Schließung anderer Verwahrungsräume, insbesondere des PAZ Steyr, sei nach einer Generalsanierung des PAZ Linz angedacht. 126 Polizeiinspektionen, Polizeianhaltezentren und Kasernen Der NPM begrüßt grundsätzlich die vom BMI ins Treffen geführte Möglichkeit eines Häftlings, auf seinen ausdrücklichen Wunsch und bei freien Kapazitäten eine Mehrpersonenzelle allein zu benützen. Dies ändert jedoch nichts daran, dass die nur teilweise vorhandene Abtrennung der WC-Bereiche in Mehrpersonenzellen den vom CPT erarbeiteten Standards nicht vollständig entspricht (CPT-Standards S. 18 Rz 49; Finnland-Bericht vom 11.05.1999, Abs. 72, 73). In mehrfach belegten Zellen sollten Toiletten unbedingt nach allen Seiten hin abgemauert sein. Die baulichen Mängel der WC-Bereiche, die das BMI vorwiegend aus budgetären Gründen nicht zu beheben beabsichtigt, führen zu einer (potenziellen) Verletzung der Intimsphäre der Betroffenen und waren daher Verletzung der Intimsphäre vom NPM zu beanstanden. Auch die derzeit mögliche Zuweisung einer Mehrpersonenzelle an Einzelpersonen kann nur eine Übergangslösung darstellen, welche die Ursache des Problems nicht beseitigt. Dazu kommt, dass es in der Kommunikation mit fremdsprachigen Menschen – auch bei entsprechendem Bemühen – Missverständnissen geben und nur unzureichend sichergestellt werden kann, dass die Betroffenen über eine mögliche alleinige Benützung von Mehrpersonenzellen Kenntnis erlangen. Der Belag im PAZ Sbg und im PAZ Steyr kann sich auch rasch verändern und damit käme die Grundproblematik der mangelnden Wahrung der Intimsphäre der Betroffenen voll zum Tragen. Zudem lassen es die räumlichen Ressourcen des PAZ Steyr offenbar schon derzeit nicht zu, dass die gegenständliche Zelle nur mehr durch eine Person belegt wird. Da jedem einzelnen Häftling ein Recht auf Wahrung seiner Intimsphäre zukommt, kann auch die seitens des BMI zugesicherte Belegung der in Rede stehenden Achtpersonenzelle mit „nur“ sechs Personen die Bedenken des NPM nicht auszuräumen. Auch im PAZ Graz rügte der NPM bereits mehrfach, dass die Toiletten in Mehr- Hafträume im PAZ Graz personenzellen nur durch eine nicht durchgängig geschlossene Türe vom restlichen Haftraum abgetrennt sind. Das BMI erwog zwar eine vollständige Verblendung der Nassbereiche. Bisher erfolgte jedoch keine bauliche Umsetzung. Zuletzt teilte das BMI mit, dass das Ressort Angebote zur Abtrennung der Toilettenbereiche bis zur Raumdecke eingeholt habe. Da die Angebote jedoch nachgebessert werden müssten, konnte das BMI keinen genauen Zeitpunkt für eine Umsetzung der baulichen Maßnahmen nennen. Der NPM begrüßt das Tätigwerden des BMI und wird die Realisierung der baulichen Maßnahmen weiter verfolgen. Im PAZ Linz sind die Toiletten in manchen Zellen ebenfalls nicht (vollständig) abgemauert. Teilweise existiert nicht einmal ein Vorhang als Sichtschutz. In diesem Fall versicherte das BMI jedoch, dass in Hafträumen, in denen das WC nicht abgemauert ist, bis zu einer baulichen Adaptierung keine Mehrfachbele- keine Beanstandung im PAZ Linz gung erfolgt. Eine Beanstandung des NPM konnte aufgrund dieser Zusage des BMI (vorerst) unterbleiben. 127 Polizeiinspektionen, Polizeianhaltezentren und Kasernen XX Die WC-Bereiche in den Zweipersonenzellen des PAZ Sbg sind baulich abzutrennen. XX Der WC-Bereich in der Achtpersonenzelle des PAZ Steyr ist baulich abzutrennen. XX Die WC-Bereiche in den Mehrpersonenzellen des PAZ Graz sind baulich abzutrennen. XX Mehrpersonenzellen des PAZ Linz ohne (vollständig) abgemauerten WC-Bereich sind bis zu einem Umbau nicht mit mehreren Häftlingen zu belegen. Einzelfälle: VA-BD-I/0402-C/1/2013, BMI-LR1600/0126-III/10/2013; VA BDI/0501-C/1/2013, BMI LR1600/0029-III/10/2014; VA BD I/0167 C/1/2014, BMI-LR1600/0095-III/10/2014; VA BD I/0676 C/1/2014, BMI-LR1600/0104III/10/2014; 2.6.2.4 Verständigung bei medizinischen Untersuchungen Gute Sprachkenntnisse unerlässlich Im Zuge eines Besuchs im PAZ Innsbruck beschäftigte sich die Kommission intensiv mit der Verständigung zwischen Ärztinnen bzw. Ärzten und Häftlingen. Den Empfehlungen des CPT zufolge sollte in Hafteinrichtungen dem physischen und psychischen Zustand von Häftlingen besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Für eine fachgerechte Beurteilung des gesundheitlichen Zustandes ist vor allem eine gute Verständigung zwischen Ärztinnen bzw. Ärzten und Häftlingen notwendig. Vor allem die Beurteilung der psychischen Befindlichkeit eines Häftlings bedarf einer exakten sprachlichen Auseinandersetzung mit der untersuchten Person. Dies kann jedoch nur in einer Sprache gelingen, welche die untersuchende und die untersuchte Person ausreichend beherrschen. Ansonsten müsste eine Dolmetscherin bzw. ein Dolmetscher oder eine sprachkundige Person beigezogen werden. Für eine gründliche Untersuchung reichen so genannte „Small talk“-Kenntnisse einer Sprache weder auf der Seite des Untersuchenden noch des Untersuchten oder auch einer beigezogenen sprachkundigen Person aus. Bei Durchsicht der Krankenakten sämtlicher zum Besuchszeitpunkt im PAZ Innsbruck aufhältiger Personen fiel der Kommission auf, dass bei vier Häftlingen mit nicht deutscher Muttersprache keine durchgängige Beiziehung einer Dolmetscherin bzw. eines Dolmetschers oder einer sprachkundigen Person erfolgte. Der NPM erachtet es jedoch für unabdingbar, dass bei ärztlichen Untersuchungen von Angehaltenen, die nicht ausreichend Deutsch sprechen, stets eine Dolmetscherin bzw. ein Dolmetscher oder zumindest eine andere sprachkundige Person hinzugezogen wird. Änderungen im Anhalteprotokoll 128 Verbesserungsbedarf erkannte die Kommission auch bei der Formulierung des Anhalteprotokolls III, das bei Neuzugängen zu führen ist, in dem u.a. die Beiziehung einer Dolmetscherin bzw. eines Dolmetschers oder einer sprachkundigen Person vermerkt werden muss. Nicht erkennbar war dabei bisher, ob die Polizeiärztin bzw. der Polizeiarzt im konkreten Fall eine Dolmetscherin bzw. Polizeiinspektionen, Polizeianhaltezentren und Kasernen einen Dolmetscher oder lediglich eine sonstige sprachkundige Person beizog. Der NPM regte daher mehrere Änderungen des Anhalteprotokolls III an. Bei Aufnahme eines Häftlings ist von diesem ein ärztlicher Anamnesebogen (Fragebogen) auszufüllen. Dieser enthält zahlreiche medizinische Fachausdrücke, deren Verständnis gute Sprachkenntnisse erfordert. Die Selbsteinschätzung bzw. Selbstüberschätzung angehaltener Personen kann dazu führen, dass Häftlinge mangels richtigen Verständnisses der Begrifflichkeiten falsche Angaben über den eigenen Gesundheitszustand machen. Der NPM regte aus diesem Grund an, dass jede angehaltene Person den ärztlichen Anamnesebogen – unabhängig von seinen allenfalls nur alltagstauglichen Deutschkenntnissen – künftig unaufgefordert in ihrer Muttersprache erhält. Anamnesebogen in Muttersprache Das BMI betonte, dass die Vollzugsbehörden bemüht seien, die Verständigung zwischen dem ärztlichen Personal und fremdsprachigen Angehaltenen sicherzustellen. Erforderlichenfalls seien Ärztinnen bzw. Ärzten bei Beurteilung der Haftfähigkeit oder anderer medizinischer Fragen Dolmetscherinnen bzw. Dolmetscher zur Seite zu stellen. Dolmetschende versus Sprachkundige In der Praxis wird ein „Drei-Stufen-Prinzip“ angewendet: 1. Hinzuziehung von Mithäftlingen, 2. Hinzuziehung von Bediensteten der Schubhaftbetreuung bzw. Rückkehrberatung, 3. Hinzuziehung von professionellen Dolmetscherinnen bzw. Dolmetschern. Dieses System habe sich laut BMI – unter Berücksichtigung der individuellen Erforderlichkeit – bisher bewährt. Eine ausschließliche oder verstärkte Hinzuziehung von professionellen Dolmetscherinnen bzw. Dolmetschern bei ärztlichen Untersuchungen sei daher nicht beabsichtigt. Zu ärztlichen Untersuchungen beigezogene sprachkundige Personen (z.B. Angehörige, Mithäftlinge oder Bedienstete der Schubhaftbetreuung bzw. Rückkehrberatung) unterliegen zwar keiner Verschwiegenheitspflicht in Bezug auf gesundheitsbezogene Patientendaten. Das BMI betonte jedoch, dass die Heranziehung solcher sprachkundiger Personen ausschließlich mit Einverständnis des betroffenen Häftlings erfolgen dürfe. Das BMI informierte in diesem Zusammenhang auch über eine im Juni 2014 abgehaltene Fortbildungsveranstaltung mit 23 Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus allen Bundesländern. Im Rahmen dieser Veranstaltung sei erneut eine Sensibilisierung der Polizeiärztinnen und Polizeiärzte hinsichtlich des Erfordernisses einer exakten sprachlichen Auseinandersetzung zwischen Ärztinnen bzw. Ärzten und der untersuchten Person sowie der Notwendigkeit der Beiziehung von Dolmetscherinnen bzw. Dolmetschern oder sprachkundigen Personen erfolgt. Das BMI veranlasste die Aufnahme folgender Punkte in das Anhalteprotokoll III: 1. Unterscheidung zwischen der Beiziehung einer Dolmetscherin bzw. eines Dolmetschers oder einer sprachkundigen Person, 2. Angabe des vollständigen Namens der beigezogenen Dolmetscherin bzw. des Dolmetschers oder der sprachkundigen Person, 3. Zustimmung des Häftlings zur Hinzuziehung ei- 129 Polizeiinspektionen, Polizeianhaltezentren und Kasernen ner sprachkundigen Person und Kenntnisnahme der fehlenden Verschwiegenheitspflicht von Sprachkundigen. Auch die Anregung des NPM, Häftlingen die Anamneseblätter künftig stets in ihrer Muttersprache auszuhändigen, wertete das BMI als wertvollen Hinweis. BMI setzt Vorschläge weitgehend um Erfreulich ist, dass das BMI fast alle Vorschläge des NPM umzusetzen bereit war. Aus Sicht des NPM erscheint die Anwendung des vom BMI dargestellten Drei-Stufen-Prinzips grundsätzlich geeignet, um eine gute sprachliche Verständigung zwischen Ärztinnen bzw. Ärzten und Häftlingen sicherzustellen. Auch die laufende Sensibilisierung von Polizeiärztinnen und Polizeiärzten qualifiziert der NPM als wichtigen Schritt, um Kommunikationsdefizite und Missverständnisse im Zuge ärztlicher Untersuchungen zu vermeiden. Die vom BMI überarbeitete Version des Anhalteprotokolls III soll nun transparent und nachvollziehbar machen, ob Dolmetscherin bzw. Dolmetscher oder Sprachkundige bei ärztlichen Untersuchungen beigezogen waren. Genauere Angaben der Häftlinge auf den in ihrer Muttersprache ausgehändigten Anamnesebögen werden künftig zu einer besser fundierten Beurteilung des Gesundheitszustandes angehaltener Personen durch Polizeiärztinnen und Polizeiärzte beitragen. Der NPM hofft, dass sich die in PAZ tätigen Ärztinnen und Ärzte ihrer Verantwortung hinsichtlich einer fachgerechten Beurteilung des gesundheitlichen Zustandes der Häftlinge, welche stets eine gute sprachliche Verständigung voraussetzt, bewusst sind. XX Bei ärztlichen Untersuchungen von nicht Deutsch sprechenden Angehaltenen ist eine Dolmetscherin bzw. ein Dolmetscher oder eine sprachkundige Person beizuziehen. XX Angaben über die Hinzuziehung einer Dolmetscherin bzw. eines Dolmetschers oder einer sprachkundigen Person sind in den Anhalteprotokollen zu dokumentieren. XX Jedem Häftling ist der ärztliche Anamnesebogen unabhängig von möglichen Deutschkenntnissen in seiner Muttersprache auszuhändigen. Einzelfall: VA-BD-I/0645-C/1/2013, BMI-LR1600/0099-III/10/2014 2.6.3 Inbetriebnahme des Anhaltezentrums Erste Eindrücke vom neuen AHZ Vordernberg Bereits im vergangenen Berichtsjahr informierte das BMI den NPM über die Errichtung eines neuen, ausschließlich dem Schubhaftvollzug gewidmeten Anhaltezentrums in Vordernberg. Mit dem für 200 Häftlinge konzipierten AHZ Vordernberg strebte das BMI einen reformierten Schubhaftvollzug nach neuesten Standards und Erkenntnissen an (vgl. PB 2013, S. 93). Die Inbetriebnahme des AHZ Vordernberg erfolgte nach Vorliegen der Arbeitsstättengenehmigung mit 28. Februar 2014. Im April 2014 führte die zuständige Kommission einen angekündigten Erstbesuch im AHZ Vordernberg durch. Im Zuge dessen fand auch ein ausführliches Round-Table-Gespräch mit den leitenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des AHZ Vordernberg statt. Die Kommission nahm das Betriebsklima und den wertschätzenden Umgang als sehr positiv wahr. Sie spürte beim Personal eine 130 Polizeiinspektionen, Polizeianhaltezentren und Kasernen hohe Motivation, dieses innovative Projekt mitzugestalten und gemeinsam gute Arbeit zu leisten. Beeindruckend fand die Kommission auch die großzügige architektonische Gestaltung und die Ausstattung des Gebäudes. Die Bemühungen des BMI, den Schubhaftvollzug modernen menschenrechtlichen Standards entsprechend zu konzipieren und zu organisieren, waren für die Kommission in mehrfacher Hinsicht erkennbar (z.B. Unterbringung in großen, gut gestalteten Wohneinheiten, breites Angebot an Beschäftigungsmöglichkeiten, psychosoziale Betreuung, Trennung von gutachterlicher und kurativer Tätigkeit der Ärztinnen und Ärzte sowie Einsatz von diplomiertem Gesundheitspersonal etc.). Die Bediensteten des AHZ Vordernberg betonten einerseits die konstruktive Zusammenarbeit zwischen der Polizei und dem privaten Sicherheitsunternehmen G4S, andererseits aber auch die klare Trennung der Aufgaben- und Befugnisverteilung. Die praktische Umsetzung der Aufgabentrennung zwischen Polizei und G4S wird die Kommission allerdings erst im Zuge weiterer Besuche beurteilen können. Zusammenarbeit Polizei und G4S Im Rahmen des Abschlussgesprächs formulierte die Kommission mehrere Vorschläge zur Verbesserung. So würde etwa die Dokumentation sämtlicher Tätigkeiten und Maßnahmen seitens des G4S-Personals eine erhöhte Transparenz und Nachvollziehbarkeit bewirken. Wichtig erschien der Kommission auch, dass die im „Infomat“ abrufbaren Informationen rasch in den entsprechenden Übersetzungen (Ausarbeitung in 27 Sprachen) verfügbar sind. Kritik übte die Kommission an dem Umstand, dass Häftlinge ihre Mobiltelefone abgeben müssen. Schließlich äußerte die Kommission das Anliegen, dass Häftlinge nach Aufhebung der Schubhaft unverzüglich entlassen bzw. in die Obhut der Caritas übergeben werden können. Vorschläge zur Verbesserung Auch während ihres zweiten Besuchs im August 2014 bewertete die Kommission die Aufenthaltsbedingungen im AHZ Vordernberg generell als gut und stellte keine gravierenden Missstände fest. Während des Abschlussgesprächs richtete die Kommission trotzdem mehrere Empfehlungen an die Einrichtungsleitung. Diesbezüglich trafen der Leiter des AHZ Vordernberg und der Leiter von G4S teilweise Zusagen, von deren Umsetzung sich die Kommission im Zuge von Folgebesuchen hoffentlich überzeugen können wird. Bei ihrem Besuch im Dezember 2014 setzte sich die Kommission intensiv mit dem Zugang der Häftlinge zu Informationen auseinander. Sie übte insbesondere Kritik an der unzureichenden Beiziehung von professionellen Dolmetscherinnen bzw. Dolmetschern durch die Bediensteten, an der mangelhaften Aufklärung der Häftlinge über die Möglichkeit der Kontaktaufnahme mit der Rechtsberatung, am Verbot der Nutzung von Internet und Mobiltelefonen durch die Häftlinge sowie an der Absonderung hungerstreikender Häftlinge in einer eigenen Wohngruppe. Auch erkannte die Kommission Schulungsbedarf des Personals im Bereich der Identifizierung und des Umgangs mit potentiellen Opfern von Menschenhandel. Zugang zu Informationen 131 Polizeiinspektionen, Polizeianhaltezentren und Kasernen Der NPM konfrontierte das BMI bereits mit diesen Kritikpunkten. Zu Redaktionsschluss des Berichts lag jedoch noch keine Stellungnahme des Ressorts vor. XX Dokumentation sämtlicher Tätigkeiten und Maßnahmen seitens des G4S-Personals. XX Rasche Übersetzung der im „Infomat“ abrufbaren Informationen in 27 Sprachen. XX Unverzügliche Entlassung nach Aufhebung der Schubhaft und Übergabe in die Obhut der Caritas. Einzelfälle: VA-BD-I/0350-C/1/2014, BMI-LR1600/0054-III/10/2014; VA-BDI/0577-C/1/2014; VA-BD-I/0889-C/1/2014 2.6.4 PAZ Klagenfurt – kein Sozialraum für Verwaltungsstrafhäftlinge Aus Anlass ihrer Besuche im PAZ Klagenfurt kritisierte die Kommission die Anhaltebedingungen von Verwaltungsstrafhäftlingen. Die Kommission hielt es für problematisch, dass die Verwaltungsstrafhäftlinge, die im geschlossenen Vollzug angehalten werden, keinen Zugang zu einem Sozialraum haben. Zudem stellte die Kommission fest, dass die Beschäftigungsmöglichkeiten für Verwaltungsstrafhäftlinge innerhalb der Zellen sehr begrenzt sind (Spiele, Lesen), zumal zum Zeitpunkt der Besuche noch keine Steckdosen für TV- und Radio-Empfang eingebaut waren. Kein Geld für Sozialraum Das BMI führte dazu aus, dass ein Umbau des PAZ Klagenfurt zur Errichtung eines Sozialraumes derzeit budgetär nicht realisierbar sei. Mangels entsprechender Raumkapazitäten scheide auch eine Umwidmung von Räumlichkeiten in Sozialräume für Verwaltungsstrafhäftlinge aus. Allerdings würde das PAZ den Verwaltungsstrafhäftlingen nicht nur Spiele und Lesestoff, sondern auch batteriebetriebene Elektrogeräte und Trainingsunterlagen zur sportlichen Betätigung aus ihren Effekten aushändigen. NPM empfiehlt Umbau Der NPM hält es für sehr bedauerlich, dass das BMI keine Möglichkeit der Nutzung eines Sozialraumes für Verwaltungsstrafhäftlinge sieht. Damit in Zusammenhang steht auch der Umstand, dass Verwaltungsstrafhäftlinge sportliche Aktivitäten derzeit nur in den Zellenbereichen ausüben können. Der NPM verkennt nicht, dass das BMI die budgetären Rahmenbedingungen beachten muss. Jedoch unterliegen Verwaltungsstrafhäftlinge langen Einschlusszeiten, die täglich nur durch eine Stunde Bewegung im Freien sowie gelegentlich durch Besuche, Telefongespräche oder die Verrichtung von Hausarbeit unterbrochen werden. Der NPM misst daher ausreichenden Freizeitaktivitäten und sozialen Kontaktmöglichkeiten der Häftlinge untereinander (z.B. Gespräche, Gesellschaftsspiele, gemeinsame sportliche Betätigung etc.) maßgebliche Bedeutung zu, um außerhalb der Einschlusszeiten eine Verbesserung der Haftbedingungen herbeizuführen. Das BMI sollte einen Umbau des PAZ Klagenfurt zwecks Errich- 132 Polizeiinspektionen, Polizeianhaltezentren und Kasernen tung eines Sozialraumes für Verwaltungsstrafhäftlinge anstreben und – auch in budgetärer Hinsicht – prioritär verfolgen. Erfreulich ist der Umstand, dass das BMI seinen eigenen Angaben zufolge die bereits im Jahr 2009 ausgesprochene Empfehlung des CPT bezüglich der Ausrüstung der Zellen mit Steckdosen inzwischen umgesetzt hat. Demnach seien nun alle zehn Zellen im geschlossenen Vollzugsbereich mit je einer schaltbaren Steckdose ausgestattet. Ausrüstung der Zellen mit Steckdosen Der NPM begrüßt, dass den im geschlossenen Vollzugsbereich angehaltenen Häftlingen somit neben dem Betrieb von batterie- bzw. akkubetriebenen Geräten (z.B. Radios) und dem Zugang zur zentralen Radioanlage (Hausradio) zumindest in dieser Hinsicht erweiterte Informations- und Unterhaltungsmöglichkeiten offenstehen. XX Im PAZ Klagenfurt ist ein Sozialraum für Verwaltungsstrafhäftlinge zu errichten. VA-BD-I/0289-C/1/2013, Einzelfälle: LR1600/0039-III/10/2014 2.6.5 VA-BD-I/0710-C/1/2013, BMI PAZ Linz – wiederholte Kritik an Hygienestandards und desolaten Bädern Bereits anlässlich eines Besuchs der Kommission im Jahr 2012 wies das PAZ Linz zum Teil erhebliche Verunreinigungen auf. Besonders markant war dies in den Sicherungszellen. Die beobachteten Verschmutzungen, der unangenehme Geruch und ein starkes Aufkommen von Ungeziefer (Schmetterlingsmücken) belegten eine unzureichende Reinigung. Die Bäder im PAZ Linz machten einen veralteten und stark abgenützten Eindruck. Bei einem neuerlichen Besuch im PAZ Linz im Jahr 2013 konnte die Kommission hinsichtlich der Hygienebedingungen keinerlei Verbesserung gegenüber der im Zuge des vorangegangenen Besuchs wahrgenommenen Situation feststellen. Verunreinigungen und Ungeziefer In Reaktion auf diese Kritik veranlasste das BMI eine Reinigung und teilweise Desinfektion der Zellen sowie der Stationen durch eine Reinigungsfirma. Zusätzlich seien die Tageszellen ausgemalt worden. Das BMI habe die Leitung des PAZ angewiesen, künftig rechtzeitig entsprechende Maßnahmen für die Reinhaltung zu veranlassen. Im Zuge eines Besuchs im Jahr 2014 wiederholte die Kommission ihre Kritik am schlechten Zustand der Bäder. Im Bad auf der Frauenstation waren die Duschköpfe zum Besuchszeitpunkt so verkalkt, dass Wasser in alle Richtungen spritzte. In Kritik zog die Kommission auch, dass es in den Zellen nur Kaltwasser gibt. Desolate Bäder Daraufhin veranlasste das BMI die Instandsetzung der Duschen (Austausch der Duschköpfe) und eine engmaschigere Kontrolle der Funktion (vor allem Lösung durch Gesamtsanierung? 133 Polizeiinspektionen, Polizeianhaltezentren und Kasernen der Abstrahlrichtung des Wassers). Generell betonte das BMI, dass die Bäder im PAZ Linz in einem ihrem Alter entsprechenden Zustand seien. Das Bad in der Station A sei aufgrund des desolaten Zustands bereits gesperrt worden. Zudem sei beabsichtigt, vorhandene Mängel im Zuge einer geplanten Gesamtsanierung des PAZ Linz zu beheben. Weiters bestätigte das BMI, dass die Zellen des PAZ Linz nur über einen Kaltwasserstrang verfügen. An eine Änderung sei erst mit der geplanten Sanierung gedacht. Allerdings werde den Häftlingen des PAZ Linz zum Zwecke der Körperreinigung täglich ein Zugang zu Waschbecken mit Warmwasseranschluss in den Sanitärräumen zur Verfügung gestellt. Fernsehgeräte für Häftlinge Positiv zu vermerken ist der Umstand, dass das PAZ Linz in den beiden Tageszellen der Stationen A und D über Fernsehgeräte verfügt. Nach Kritik des NPM an den eingeschränkten Beschäftigungsmöglichkeiten der Häftlinge stellte die LPD OÖ für die Station B ein weiteres Fernsehgerät zur Verfügung. Angesichts der von der Kommission generell beanstandeten Beschäftigungssituation im PAZ Linz begrüßt der NPM diese Maßnahmen. Verbesserung der Personalsituation Auf Anregung des NPM führte die LPD OÖ eine Evaluierung der Personalsituation durch und verfügte eine Dienstzuteilung von drei Bediensteten in das PAZ Linz. Der NPM erachtet diese – hoffentlich langfristig wirksame – Maßnahme für sehr wichtig, um die Personalsituation im PAZ Linz, insbesondere die von den Bediensteten angesprochene Unterbesetzung der Dienststelle, zu verbessern. XX Es ist rechtzeitig und regelmäßig für die Reinhaltung des PAZ Linz zu sorgen. XX Die Duschen sind regelmäßig zu kontrollieren (vor allem die Abstrahlrichtung des Duschwassers) und erforderlichenfalls in Stand zu setzen (Austausch der Duschköpfe). XX Den Häftlingen ist täglich ein Zugang zu Waschbecken mit Warmwasseranschluss in den Sanitärräumen zur Verfügung zu stellen. Einzelfälle: VA-BD-I/0402-C/1/2013, BMI-LR1600/0126-III/10/2013; VA BDI/0224-C/1/2014, BMI-LR1600/0084-III/10/2014 2.6.6 Positive Feststellungen Moderner Schubhaftvollzug im AHZ Vordernberg Moderner Schubhaftvollzug 134 Gelungen ist aus Sicht des NPM der Bau des im Februar 2014 in Betrieb genommenen AHZ Vordernberg. Beeindruckend fand die Kommission vor allem die großzügige architektonische Gestaltung und die Ausstattung des Gebäudes. Die Bemühungen des BMI, den Schubhaftvollzug modernen menschenrechtlichen Standards entsprechend zu konzipieren und zu organisieren, waren für die Kommission in mehrfacher Hinsicht erkennbar (z.B. Unterbringung in großen, gut gestalteten Wohneinheiten, breites Angebot an Beschäftigungsmöglichkeiten, psychosoziale Betreuung, Trennung von gutachterlicher und Polizeiinspektionen, Polizeianhaltezentren und Kasernen kurativer Tätigkeit der Ärztinnen und Ärzte sowie Einsatz von diplomiertem Gesundheitspersonal etc.). Einzelfall: VA-BD-I/0350-C/1/2014, BMI-LR1600/0054-III/10/2014 Zusammenarbeit zwischen NPM und BMI Sehr konstruktiv nahm der NPM die Zusammenarbeit mit dem BMI im Rahmen der seit März 2014 regelmäßig zusammentretenden Arbeitsgruppe wahr. Die Erfahrungen haben gezeigt, dass auch komplexe und teils über Jahre ungelöste Probleme im persönlichen Austausch mit Vertreterinnen und Vertretern des BMI einer Lösung zugeführt werden konnten. Ohne die Bereitschaft des BMI, sich den Standpunkten des NPM anzunähern und eine allenfalls zunächst ablehnende Haltung gegenüber Empfehlungen des NPM aufzugeben, wäre eine Erhöhung menschenrechtlicher Standards im polizeilichen Anhaltevollzug nicht möglich. Die fachliche Expertise und die Kenntnisse des Haftalltags der an der Arbeitsgruppe beteiligten Personen waren für die bisher erzielten Erfolge ebenso ausschlaggebend wie das gute Gesprächsklima. Im Lichte dieser positiven Erfahrungen werden weitere gemeinsame Arbeitsgruppen für thematisch abgegrenzte Bereiche sinnvoll sein. Arbeitsgruppe mit BMI Einzelfall: VA-BD-I/0510-C/1/2012, BMI-LR1600/0034-III/10/2014 Persönliches Engagement von Bediensteten Lob verdienen auch engagierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in PAZ. Immer wieder berichten die Kommissionen von in PAZ tätigen Bediensteten, die sich – über ihre beruflichen Verpflichtungen hinaus – persönlich für eine Verbesserung der Haftbedingungen einsetzen. Das Engagement mancher Bediensteter zeigt sich etwa bei der Beschaffung von Spielen und Lesematerial für die Häftlinge oder auch durch einen besonders wertschätzenden und respektvollen Umgangston mit den Häftlingen. Dass trotz der herausfordernden und teils sehr belastenden Tätigkeit in PAZ keine Frustration bei den Bediensteten entsteht und deren Empathie den Häftlingen gegenüber erhalten bleibt, ist eine nicht zu unterschätzende Voraussetzung für einen humanen Anhaltevollzug. 2.6.7 Kleine Schritte mit großer Wirkung Systembedingte Problemfelder – Polizeiinspektionen 2.6.7.1 Mangelhafte Dokumentation von Anhaltungen Bei ihren Besuchen nehmen die Kommissionen routinemäßig Einsicht in die Verwahrungsbücher und Anhalteprotokolle der jeweiligen Polizeiinspektionen. Freiheitsentzüge sollen lückenlos dokumentiert werden. In Anhalteprotokollen, in denen zur Wahrung der Rechte der Betroffenen deren Unterschrift erforderlich ist, sollte diese Unterschrift auch tatsächlich eingeholt bzw. deren Verweigerung dokumentiert werden. Ebenso sollten besondere Maßnahmen, wie z.B. Beginn und Ende des Anlegens von Handfesseln, lückenlos dokumen- 135 Polizeiinspektionen, Polizeianhaltezentren und Kasernen tiert sowie etwa bei überdurchschnittlich langen Handfesselungen eine entsprechende Begründung vermerkt werden. „Nachweisliche“ Information über Rechte Im Falle einer Freiheitsentziehung stehen der festgenommenen Person bei sonstiger Verletzung des Freiheitsrechtes bestimmte Mindestrechte zu (Verständigung, Information). Von diesen Verständigungsrechten müssen die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes Betroffene in Kenntnis setzen. Über Verständigungs- und Informationsrechte ist jede festgenommene Person „nachweislich“ zu belehren. Nachweislich ist eine Belehrung dann, wenn diese in Form einer entsprechenden Dokumentation festgehalten wird. Dadurch kann im Nachhinein überprüft werden, inwieweit eine Belehrung tatsächlich stattgefunden hat. Ebenso ist die Inanspruchnahme einzelner Rechte bzw. der Verzicht auf einzelne Rechte von der festgenommenen Person handschriftlich zu unterfertigen und somit ausdrücklich zu dokumentieren. Verweigert eine Person trotz Einräumung ihrer Rechte die Unterschrift, so ist dies, um den Dokumentationserfordernissen Rechnung zu tragen, vom einschreitenden Polizeiorgan ebenfalls festzuhalten. Wie schon im PB 2013 (S. 96 f.) berichtet, kritisierten die Kommissionen bei ihren Besuchen neuerlich mehrfache Dokumentationsmängel. Bereits in der Vergangenheit erreichte der NPM, dass das BMI Sensibilisierungsmaßnahmen bei den einzelnen Exekutivbediensteten setzt und das Erfordernis einer genauen Dokumentation auch im Rahmen von Schulungen und Fortbildungen verstärkt behandelt wird. Klärung in Abschlussgesprächen XX Der NPM nahm im Berichtszeitrum neuerlich Mängel wahr, wie beispielsweise das Fehlen der Unterschriften von Festgenommenen sowie der einschreitenden Exekutivbediensteten oder des Eintrags der Uhrzeit bzw. des Ortes von Festnahmen. In der Regel können die Kommissionen Dokumentationsmängel im Rahmen der Abschlussgespräche direkt mit den dienstführenden Kommandantinnen und Kommandanten abklären. Anhaltungen auf PI sind nachvollziehbar und lückenlos zu dokumentieren. Einzelfälle: VA-BD-I/0190-C/1/2013, BMI-LR1600/0076-II/10/a/2013; VA-BDI/0385/2013; VA-BD-I/0505-C/1/2013; VA-BD-I/0507/2013; VA-BD-I/0631C/1/2013; VA-BD-I/0486-C/1/2014 2.6.7.2 Mangelhafte Ausstattung der Dienststellen Mängelbehebung wird meist vor Ort zugesagt 136 Bei Besuchen nahmen die Kommissionen unterschiedliche Mängel in der Ausstattung der Dienststellen wahr. Diese Feststellungen betrafen im Berichtszeitraum z.B. ungenügende Heiz- und Belüftungssysteme, fehlende bzw. mangelhafte Geräte (veraltete Funkgeräte) oder die Raumpflege bzw. Hygiene. Diese Beanstandungen werden im Rahmen der Prüfungen des NPM regelmäßig behoben bzw. wird seitens der Dienststellen eine Mängelbehebung in Aussicht gestellt. Polizeiinspektionen, Polizeianhaltezentren und Kasernen Auch hier nützen die Kommissionen meist das Abschlussgespräch, um vor Ort die Probleme zu erörtern und eine Verbesserung zu erreichen. Nur in Fällen, in denen auf diesem Weg keine Lösung zugesagt werden kann, führt der NPM nach dem Besuch eine Korrespondenz mit dem BMI. Dabei handelt es sich meist um Probleme, deren Beseitigung eines größeren budgetären oder personellen Aufwandes bedarf. XX Die PI müssen hygienisch, gepflegt und mit funktionierenden Heizungen ausgestattet sein. Einzelfälle: VA-BD-I/0385-C/1/2013; BMI-LR1600/0105-III/10/2013; VA-BDI/0507-C/1/2013, BMI-LR1600/0138-III/10/2013; VA-BD-I/0566-C/1/2013, BMI-LR1600/0124-III/10/2013; VA-BD-I/0017-C/1/2014 2.6.8 Abschaltbare Rufklingel in Anhalteräumen Bei einem Besuch in der PI Lehen stellte die Kommission fest, dass die Rufklingel in einem Anhalteraum deaktiviert war. Gemäß der Anhalteordnung sind in den Hafträumen zur Verständigung der Aufsichtsorgane geeignete Einrichtungen vorzusehen. Dieser Bestimmung wird in aller Regel durch den Einbau eines Rufklingelsystems Genüge getan. Für den NPM ist durchaus nachvollziehbar, dass bestimmte renitente Personen die Aufrechterhaltung des Dienstbetriebes durch ununterbrochenes Be- Verständigung des Wachpersonals tätigen des Rufklingelsystems maßgeblich stören können. Die Möglichkeit, das Rufklingelsystem abzuschalten, ist jedoch in Folge der dann fehlenden Verständigungsmöglichkeit der inhaftierten Person menschenrechtlich problematisch. Auf Bedürfnisse der Häftlinge und mögliche Notsituationen kann bei Abschalten der Klingel nicht reagiert werden; dies insbesondere dann, wenn – wie im konkreten Fall – die (Re-)Aktivierung des Rufklingelsystems vergessen wurde. Eine Lösung dieses Problems sollte daher nicht im Abschalten des Rufklingelsystems und somit unter Umgehung der gesetzlichen Vorschriften gesucht werden. Die Rufklingel eines Anhalteraums sollte grundsätzlich stets aktiviert und akustisch wahrnehmbar sein. Auch nach den CPT-Standards (S 16 Rz 48) müssen Personen in Polizeigewahrsam stets in der Lage sein, Kontakt zum Wachpersonal aufzunehmen. In Akkordierung mit dem BMI teilte die LPD Sbg mit, dass künftig keine abschaltbaren Rufklingeln mehr verbaut werden und die derzeit vorhandenen Deaktivierung künftig nicht mehr möglich Rufklingeln sukzessive zurückgebaut werden. Somit ist gewährleistet, dass Rufklingeln künftig technisch nicht mehr abschaltbar sind. Sollte eine Deaktivierung in der Übergangsperiode doch noch möglich sein, hat die Rufklingel jedenfalls ständig aktiviert zu bleiben. 137 Polizeiinspektionen, Polizeianhaltezentren und Kasernen XX Damit Personen im Polizeigewahrsam stets Kontakt zum Wachpersonal aufnehmen können, ist ein permanent aktiviertes Rufklingelsystem vorzusehen. Einzelfall: VA-BD-I/0492-C/1/2013, LPD-Salzburg P1/31364/2013 2.6.9 Freiwilliger Aufenthalt in einem versperrten Raum Bei einem Besuch in der PI Bad Ischl stellte die Kommission fest, dass einer Person angeboten wurde, sich zwischen zwei Vernehmungen in einem Verwahrungsraum auszuruhen. In dieser Zeit wurde der Verwahrungsraum versperrt. Freiwilligkeit oder Haft? Der NPM hält „freiwillige“ Aufenthalte in versperrten Verwahrungsräumen für problematisch. Gerade im Zuge von Amtshandlungen gegen im Zusammenhang mit einem Strafverfahren beschuldigte Personen könnte es mitunter fraglich sein, inwieweit eine freie Willensentscheidung noch vorliegt bzw. eventuell die Zustimmung mangels Handlungsalternativen unter psychischem Druck erfolgt. Die Abgrenzung zur Haft und damit zur hoheitlichen Freiheitsentziehung ist schwierig, zumal die betroffene Person – wie aufgezeigt – kaum Handlungsalternativen haben dürfte. Im Zweifel muss daher eher von einer Haft ausgegangen werden, wenn sich eine Person auf einer Polizeidienststelle in einem versperrten Anhalteraum befindet. Ist dies der Fall und liegen keine Haftgründe vor (bzw. werden die verfassungsgesetzlich garantierten Mindestrechte nicht gewährt), erweist sich eine solche Anhaltung als rechtswidrig. Im konkreten Fall ergaben die Erhebungen des BMI, dass der Angehaltene nach Betätigung der Rufglocke jederzeit den Anhalteraum bzw. die PI verlassen hätte können. Daher sei eine Abgrenzung zur Haft und damit zur hoheitlichen Freiheitsentziehung möglich gewesen. Das BMI teilte jedoch die Ansicht, dass freiwillige Aufenthalte in versperrten Verwahrungsräumen als problematisch zu bewerten sind. XX Ein Aufenthalt in einem versperrbaren Haftraum ist nur dann freiwillig, wenn kein Zweifel daran besteht, dass sich der Betroffene der Freiwilligkeit bewusst ist. Einzelfall: VA-BD-I/0190-C/1/2013, BMI-LR1600/0076-III/10/a/2013 2.6.10 Positive Feststellungen Dokumentation positiver Feststellungen Zu jedem Besuch in einer PI erstellen die Kommissionen ein umfangreiches Besuchsprotokoll. Regelmäßig werden auch positive Wahrnehmungen gemacht, die in den Abschlussgesprächen der diensthabenden Leiterin bzw. dem diensthabenden Leiter mitgeteilt und im Protokoll festgehalten werden. Auch solche positiven Wahrnehmungen berichtet der NPM dem BMI regelmäßig. Diese positiven Wahrnehmungen können unterschiedliche Bereiche betreffen wie etwa die bauliche Ausstattung, insbesondere hinsichtlich der Barrierefreiheit oder der Hafträume, die personelle Ausstattung, das Arbeitsklima auf der 138 Polizeiinspektionen, Polizeianhaltezentren und Kasernen jeweiligen Dienststelle, die Dokumentation der Festnahmen, der professionelle Umgang mit psychisch kranken Personen, flexibles Vorgehen bei der Versorgung Festgenommener (Verpflegung) oder das Engagement bei der Bearbeitung und Prävention von Gewalt im familiären Bereich. Auch Lob über die konsensuale Lösung von Problemen vor Ort, die von der Bevölkerung an die Dienststelle herangetragen wurden, hat der NPM dem BMI bereits zur Kenntnis gebracht. Einzelfälle: BD-VA-I/0643-C/1/2013, BMI-LR1600/0055-III/10/2014 PI Bad Schllerbach); BD-VA-I/0064-C/1/2014, BMI-LR1600/0079-III/10/2014 (PI Wals); BD-VA-I/0186-C/1/2014; BMI-LR1600/0083-III/10/2014 (PI Lehmanngasse); BD-VA-I/0284-C/1/2014 (PI Schmiedgasse), BD-VA-I/0400-C/1/2014, BMI-LR1600/0113-III/10/2014 (PI Hermagor); BD-VA-I/0423-C/1/2014 (PI Berndorf). 2.6.11 Systembedingte Problemfelder – Kasernen 2.6.11.1 Sanitärbereiche in militärischen Hafträumen Die Kommissionen widmeten sich anlässlich von Kasernenbesuchen gelegentlich der Frage nach den Ausstattungsstandards von militärischen Haft- bzw. Anhalteräumen. So schlugen sie etwa vor, die im Verantwortungsbereich des BMI geltenden Standards auch auf das BMLVS zu übertragen. Insbesondere sollten militärische Haft- bzw. Anhalteräume mit integrierten Sanitärbereichen (WC, Waschgelegenheit und Dusche) ausgestattet werden. Sanitärbereich in Hafträumen Verbindliche (internationale) Standards über ein solches „Upgrade“ militärischer Haft- bzw. Anhalteräume existieren nicht. Aus budgetären Gründen wäre die flächendeckende Neugestaltung der Sanitärbereiche auch nicht möglich. Der NPM hält aber eine Ungleichbehandlung von Soldatinnen bzw. Soldaten und sonstigen in militärischem Gewahrsam befindlichen Personen gegenüber in Polizeianhaltung befindlichen Personen für nicht argumentierbar. Auf dieser Basis nahm der NPM eine Abklärung mit dem BMLVS in Angriff. Als Ergebnis sicherte das BMLVS zu, dass im Zuge der Planung größerer Umbauten bzw. Neubauten von Kasernen Überlegungen, militärische Haft- bzw. Anhalteräume mit integrierten Sanitärbereichen auszustatten, miteinfließen werden. XX Berücksichtigung bei Um- und Neubauten Militärische Anhalteräume sollen nach Möglichkeit künftig mit getrennten Sanitärbereichen ausgestattet sein. Einzelfall: VA-BD-LV/0047-C/1/2014, S91154/42-PMVD/2014 2.6.12 Positive Feststellungen Auch wenn die Besuche der Kasernen nur einen sehr kleinen Teil der Arbeit des NPM ausmachen, soll nicht unerwähnt bleiben, dass das BMLVS und die 139 Polizeiinspektionen, Polizeianhaltezentren und Kasernen jeweiligen Kommandanten bzw. Bediensteten vor Ort den Kommissionen offen gegenüberstehen und das Mandat, das für Orte der Anhaltung im militärischen Bereich erst seit 1. Juli 2012 besteht, nicht in Frage stellen. 140 Zwangsakte 2.7Zwangsakte 2.7.1Einleitung Im Berichtsjahr 2014 beobachteten die Kommissionen 69 Akte unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt. Darunter fielen insbesondere Abschiebungen und Rückführungen, Demonstrationen, Fußballspiele, Razzien sowie Großveranstaltungen. Wie schon in den Jahren davor gab es aus Sicht des NPM keine bzw. kaum Beanstandungen bei Polizeieinsätzen anlässlich von Fußballspielen und Razzien. Hingegen kritisierte der NPM in mehreren Fällen den Ablauf von Abschiebungen (Verbringung in Drittstaaten) bzw. Rückführungen (Verbringung in EU-Staaten aufgrund der Dublin-VO) und die Durchführung von Kontaktgesprächen im Vorfeld dieser Amtshandlungen. Bei Demonstrationen zeigte sich ein differenziertes Bild. Während sich die Exekutive bei kleineren Demonstrationen sehr vorbildlich verhielt, war der Polizeieinsatz bei den Gegendemonstrationen und der damit verbundenen Ausschreitungen des „Schwarzen Blocks“ im Zuge der Veranstaltung des Wiener Akademikerballs verbesserungswürdig. Das BMI zeigte in diesem Zusammenhang Verständnis für die Kritik des NPM und sagte Verbesserungen zu. 2.7.2 Systembedingte Problemfelder 2.7.2.1 Abschiebungen und Rückführungen In Tirol kritisierte die Kommission die Tätigkeit eines zum Kontaktgespräch beigezogenen Übersetzers. Dieser war kein ausgebildeter Dolmetscher, sondern ein Sprachkundiger mit medizinischen Kenntnissen. Zudem führte er das Gespräch zum Teil selbst und ergänzte selbständig Inhalte, die er für sinnvoll hielt. Eine Übersetzung muss stets objektiv die Inhalte wiedergeben, weshalb ein persönliches Einbringen des Dolmetschers in das Gespräch oder sogar eine eigene Gesprächsführung fehl am Platz sind. Das BMI sagte zu, künftig die Dienste dieser sprachkundigen Person nicht mehr in Anspruch zu nehmen. Dolmetscherinnen und Dolmetscher müssen objektiv bleiben Ein weiterer Kritikpunkt betraf den Umstand, dass bei ärztlichen Begutachtungen keine Anamnese erhoben wurde. Das BMI versprach in diesem Fall, notwendige Sensibilisierungsmaßnahmen aller im PAZ Innsbruck eingesetzten Amts- und Vertragsärztinnen bzw. Amts- und Vertragsärzte zu treffen. Mehrmals beanstandete der NPM, dass in Fällen von Hungerstreik keine Psychiaterinnen bzw. Psychiater beigezogen wurden. Diesbezüglich betonte das BMI, dass die Amtsärztin bzw. der Amtsarzt selbst entscheiden müsse, ob eine Notwendigkeit bestehe, eine Psychiaterin bzw. einen Psychiater beizuziehen. Der NPM wies das BMI in diesem Zusammenhang auf die sehr sensible Problematik des Hungerstreiks hin. Psychiatrische Begutachtung bei Hungerstreik 141 Zwangsakte Problematisch erachtete der NPM auch die fehlende Anamnese bei Flugangst sowie die Nichtaufklärung über mögliche Nebenwirkungen eines Medikaments gegen Flugangst. Das Medikament wurde letztlich aber nicht verabreicht. Versorgung chronisch Kranker Die gesundheitliche Versorgung chronisch kranker Menschen sollten die Behörden bei Abschiebungen und Rückführungen immer ausreichend mitbedenken. Der Anregung einer Kommission folgend hinterfragte der NPM, inwieweit eine Vorsorge bei diesen Amtshandlungen auch grenzüberschreitend mitbedacht wird. Das BMI wies darauf hin, dass bei Überstellungen in einen anderen Mitgliedsstaat gemäß der Dublin III-VO medizinische Bedürfnisse dem Zielland bekannt zu geben seien. Nach Einwilligung der bzw. des Betroffenen werde dem Zielstaat ein Datenblatt samt medizinischen Befunden übermittelt. Bei schwerwiegenden Krankheiten werde auch die individuelle Betreuung abgeklärt. Bestehen bei Abschiebungen in einen Drittstaat Rücknahmeübereinkommen, sei ein solcher Datenaustausch ebenso möglich, auch könnten Verbindungsbeamtinnen und Verbindungsbeamte eingeschaltet werden. Bei Abschiebungen in Drittstaaten, mit denen kein Übereinkommen besteht, ist eine solche Vorgangsweise rechtlich nicht vorgesehen, die Zuständigkeit österreichischer Behörden endet somit „an der Grenze“. Für den Austausch von sensiblen Gesundheitsdaten und die Einflussnahme auf die Gesundheitsversorgung im Zielland fehlt es an einer Rechtsgrundlage und der Möglichkeit, in einem fremden Staat hoheitlich zu handeln. Zu bedenken ist auch, dass etwa drogenabhängige Personen, die in Österreich eine Substitutionsbehandlung erhalten haben, nicht ohne weiteres mit diesen Medikamenten in ein anderes Land einreisen dürfen, strafgesetzliche Bestimmungen könnten zum Tragen kommen. Im Sinne der Judikatur des EGMR ist aber vor allem im Hinblick auf Art. 3 EMRK in den vorgeschalteten Verfahren stets zu prüfen, ob die Möglichkeit der Behandlung im Zielland besteht und somit eine aufenthaltsbeendende Maßnahme überhaupt zulässig ist. Bei einer Abschiebung rügte die Kommission den unkoordinierten Ablauf bei der Ankunft einer Familie in der Familienunterkunft Zinnergasse in Wien. In dieser Einrichtung wird nicht Schubhaft, sondern das so genannte gelindere Mittel vollzogen. Die Familie wurde zunächst mit einer anderen Familie verwechselt. Zudem war unklar, ob bzw. welche Dolmetscherin bzw. welcher Dolmetscher kommen würde und wer für die Zurverfügungstellung von Babynahrung verantwortlich war. Das BMI versprach, den Fall aufzuarbeiten und die Bediensteten zu sensibilisieren. Gute Verständigung ist sehr wichtig 142 Bei einer weiteren Abschiebung in Sbg führte die unterbliebene Beiziehung einer Dolmetscherin bzw. eines Dolmetschers zu großer Unsicherheit der abzuschiebenden Personen. Der Albanerin wurden Schriftstücke in deutscher Sprache vorgelegt, die sie mangels ausreichender Deutschkenntnisse nicht Zwangsakte verstehen konnte. Zudem konnte die Betroffene Anweisungen aus denselben Gründen nicht sofort Folge leisten, was seitens der Bediensteten als unkooperatives Verhalten ausgelegt wurde. Die Frau war durch die mangelnde Verständigungsmöglichkeit offenbar in hohem Maße verunsichert. Das BMI bezeichnete die Nichtbeiziehung einer Dolmetscherin bzw. eines Dolmetschers als Missverständnis. Die Kommission für NÖ und Bgld kritisierte, dass bei der gleichzeitigen Abschiebung von drei Familien mit Kindern zu wenige Beamtinnen bzw. Beamte im Einsatz waren. Drei Abschiebungen mit Kindern, wovon zumindest eine Unzureichende Vorbereitung und zu wenig Betreuung wegen massiven Widerstands sehr problematisch war, hätten nicht zur selben Zeit mit dieser Anzahl von Beamtinnen und Beamten stattfinden dürfen. Trotz des bestehenden Spannungsfeldes zwischen Vorbereitung der Betroffenen und deren Recht auf persönliche Freiheit müssen die Abzuschiebenden auch psychologisch auf eine Abschiebung ausreichend vorbereitet werden. Das BMI schloss sich der Auffassung des NPM an. Das Ressort betonte in diesem Fall, dass die Beiziehung von mehr weiblichen Beamtinnen oder Schubhaftbetreuerinnen förderlich gewesen wäre. Mehrmals rügte der NPM nach Beobachtungen der Kommissionen in Wien, Trennung von Familien dass bei Abschiebungen bzw. Rückführungen die Trennung von Familien in Kauf genommen wurde. So war in einem Fall der Ehemann untergetaucht, während die Einsatzkräfte versuchten, die Ehefrau mit ihren Kindern nach Polen rückzuführen. Die Rückführung wurde zwar abgebrochen, der NPM beanstandete aber die geplante Vorgangsweise der Behörde, da auf Art. 8 EMRK nicht ausreichend Rücksicht genommen wurde. Dass die Rückführung abgebrochen und verschoben wurde, begrüßte der NPM. Das Wohl der Kinder und die Auswirkungen auf das Familienleben sind auch bei tatsächlicher Durchführung der Abschiebung oder Rückführung stets zu beachten. Im Sinne des Art. 8 EMRK ist jedoch im Zweifelsfall dem Schutz der Kinder und des Familienlebens Vorrang vor dem Interesse des Staates an einer Außerlandesschaffung einer Familie zu geben. Dem BMI ist aber insofern nicht entgegenzutreten, als jede Rückführung oder Abschiebung letztlich einer Einzelfallprüfung zu unterziehen ist. Auch die Gesprächsführung der Bediensteten mit einer alleinstehenden Frau und ihren Kindern gab Anlass zu Kritik. So betonte der NPM, dass bestimmte – Einfühlungsvermögen bei Gesprächen möglicherweise sachlich gemeinte – „Informationen“, beispielsweise dass bei Widerstand gegen die Abschiebung mit einer Anzeige und einem Gerichtsverfahren zu rechnen sei, in der schwierigen Situation einer Abschiebung von den Betroffenen als bedrohlich und einschüchternd empfunden werden können. Selbst wenn diese Informationen grundsätzlich zutreffend sind, wäre es aus Sicht des NPM besser, diese in solch heiklen Situationen zu vermeiden. 143 Zwangsakte XX Bei Abschiebungen bzw. Rückführungen sollen Trennungen von Familien vermieden werden. XX Bei Familienabschiebungen mit Kindern ist die Beiziehung zusätzlicher weiblicher Beamtinnen hilfreich. XX Eine psychiatrische Begutachtung und/oder psychologische Vorbereitung kann schwierigen Situationen vorbeugen. XX Bei Flugangst ist eine ärztliche Begutachtung – auch der verschriebenen Medikamente – vorzunehmen. XX Bei chronisch kranken Menschen sind die Behörden des Ziellandes bei bestehender Rechtsgrundlage über die medizinischen Bedürfnisse zu informieren. XX Babynahrung muss immer in ausreichendem Maß zur Verfügung stehen. XX Gute Gesprächsführungen unter Bedachtnahme auf die Situation sind zu standardisieren. XX Bei Abschiebungen bzw. Rückführungen sind professionelle Dolmetscherinnen bzw. Dolmetscher zur Verfügung zu stellen. Einzelfälle: VA-BD-I/0707-C/1/2013, BMI-LR1600/0028-III/10/2014; VA-BDI/0538-C/1/2013, BMI-LR1600/0020-III/10/2014; VA-BD-I/0636-C/1/2013, BMI-LR1600/0015-III/10/2014; VA-BD-I/0373-C/1/2014, BMI-LR1600/0088III/10/2014; VA-BD-I/0014-C/1/2014, BMI-LR1600/0030-III/10/2014; VA-BDI/0146-C/1/2013, VA-BD-I/0188-C/1/2013; VA-BD-I/0259-C/1/2013, BMI- LR1600/0056-III/10/2014; VA-BD-I/0289-C/1/2014, VA-BD-I/0290-C/1/2014, BMI-LR1600/0050-III/10/2014; VA-BD-I/0286-C/1/2014, BMI-LR1600/0087III/10/2014; 2.7.2.2 Rollenkonflikte des Vereins Menschenrechte Österreich Der ehemalige Menschenrechtsbeirat beim BMI regte in einer seiner letzten Empfehlungen (Juni 2012) an, dass der Verein Menschenrechte Österreich (VMÖ) nicht als alleiniger Auftragnehmer in der Funktion des Menschenrechtsbeobachters betraut werden möge. Zudem sollten Rollenkonflikte des VMÖ als Menschenrechtsbeobachter, Dolmetscher und Rückkehrberater vermieden werden. Menschenrechtsbeobachter In weiterer Folge leitete der NPM Anfang 2013 ein amtswegiges Prüfverfahren ein. Dabei ging es um die Frage, ob das BMI künftig auch andere Organisationen als Menschenrechtsbeobachter beauftragen wird. Das BMI teilte mit, dass es den Vorschlag des ehemaligen Menschenrechtsbeirats beim BMI aufgegriffen habe. Demnach würden bereits mit anderen NGOs Gespräche über die Tätigkeit als künftige Menschenrechtsbeobachter geführt. Das BMI erklärte seine Absicht, nach dem Rotationsprinzip verschiedene NGOs als Menschenrechtsbeobachter einzusetzen. Ende 2014 lag diesbezüglich noch keine Entscheidung vor. 144 Zwangsakte Zudem kritisierte der NPM in vielen Fällen die Tätigkeit des VMÖ in seiner dolmetschenden Funktion. Dabei ging es einerseits um die Qualität der Dolmetscherleistungen, als auch um die Gefahr von Rollenkonflikten bei gleichzeitiger Funktion als Dolmetscher und Rückkehrberater. So beobachteten die Kommissionen etwa, dass Bedienstete des VMÖ versucht hätten, Abzuschiebende im Zuge des Kontaktgesprächs davon zu „überzeugen“, sich kooperativ gegenüber den Polizeibediensteten zu zeigen und mögliche Widerstände gegen eine Abschiebung aufzugeben. Rollenkonflikte des VMÖ Der NPM vertritt – ebenso wie bereits der ehemalige Menschenrechtsbeirat beim BMI – die Auffassung, dass die Bündelung verschiedener Funktionen in einer Person unweigerlich zu Rollenkonflikten führt, weil die dahinter stehenden Interessen bzw. Ziele in der jeweils ausgeübten Funktion unterschiedlich sind. Während die (Sozial-)Betreuung in der Rückkehr- bzw. Schubhaftberatung typischerweise von einem Vertrauensverhältnis zur betreuten Person geprägt ist, zeichnet sich eine professionelle Dolmetschertätigkeit durch eine streng objektive und gleichsam außerhalb der Interessen der sonst beteiligten Personen stehende Position aus. Das BMI bestätigte, dass es eine strikte Trennung zwischen der Rolle des Menschenrechtsbeobachters und der Rückkehrvorbereitung für wichtig erachte. Hinsichtlich einer allfälligen Doppelrolle von Rückkehrberatung und Dolmetschertätigkeit vertrat das BMI jedoch die Meinung, dass bei Rückkehrberatungen oftmals ein Vertrauensverhältnis begründet werde, das sich bei Übersetzungen positiv auswirken könne. Aus diesem Grund greife das BMI bei Kontaktgesprächen gerne auf sprachkundige Bedienstete der mit der Rückkehrvorbereitung beauftragten Organisationen zurück. Der NPM bestreitet keineswegs die positiven Aspekte, wenn eine Rückkehrberaterin bzw. ein Rückkehrberater die Muttersprache der abzuschiebenden Person spricht. Unbeschadet dessen kann jedoch eine sprachkundige Rückkehrberaterin bzw. ein sprechkundiger Rückkehrberater eine professionelle Dolmetscherin bzw. einen professionellen Dolmetscher nicht ersetzen. Noch offen ist, ob sich überhaupt andere NGOs für das Projekt interessieren und gegebenenfalls welche NGOs als künftige Menschenrechtsbeobachter in Frage kommen. XX Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Rückkehrberatung können professionelle Dolmetscherinnen und Dolmetscher nicht ersetzen. XX Rückkehrberatung und Dolmetschertätigkeit sind von unterschiedlichen Personen auszuüben. Einzelfälle: VA-BD-I/0430-C/1/2012, VA-BD-I/0542-C/1/2012, VA-BD-I/0470C/1/2012, VA-BD-I/0479-C/1/2012, VA-BD-I/0455-C/1/2012, BMILR1600/0053-III/10/2014; VA-BD-I/0205-C/1/2014, VA-BD-I/0206-C/1/2014, BMI-LR1600/0045-III/10/2014; VA-BD-I/0286-C/1/2014, BMI-LR1600/0087III/10/2014; 145 Zwangsakte 2.7.2.3 Verständigung der Kommissionen über Polizeieinsätze – neuer Erlass des BMI Bereits im PB 2013 bemängelte der NPM, dass die Kommissionen in vielen Fällen über Einsätzen der Polizei sehr spät bzw. gar nicht informiert wurden. Aus diesem Grund kam der NPM mit dem BMI überein, dass jener Erlass, der die Voraussetzungen regelt, ob und wann die Kommissionen über Polizeieinsätze informiert werden („Verständigungserlass“), überarbeitet werden soll. Arbeitsgruppe des NPM und BMI In einer Arbeitsgruppe einigten sich der NPM und das BMI im Frühsommer 2014 über eine Neufassung des sogenannten „Verständigungserlasses“. Dieser regelt zentrale Begriffe wie Schwerpunktaktion, Großveranstaltung und Versammlung neu und stellt insbesondere hinsichtlich der erwarteten Dimension eines Polizeieinsatzes nicht mehr auf eine Festnahmeprognose ab. Es galt eine Balance dahingehend herzustellen, dass die Kommissionen zwar über alle potentiell menschenrechtsrelevanten Einsätze informiert, andererseits aber nicht mit Informationen über Einsätze „überschwemmt“ werden. Bis dato gab es an der Handhabung der neuen Regelung kaum Kritik der Kommissionen. Selbstverständlich ist aber auch bei bester Absicht aller Beteiligten nicht auszuschließen, dass eine Verständigung über einen Polizeieinsatz in der Praxis nicht oder zu spät erfolgt. So kritisierte eine Kommission etwa, dass ein Kontaktgespräch in der Familienunterkunft Zinnergasse für 16 Uhr angekündigt war. Als die Kommission kurz vor 16 Uhr eintraf, war das Gespräch jedoch bereits beendet. Einzelfall: VA-BD-I/00048-C/1/2014, BMI-LR1600/0033-III/10/2014 2.7.2.4 Fremdenrechtliche Kontrollen mit GVS-Relevanz Informationsblätter Seit Jahren führen Bedienstete der Fremdenpolizei und des BMI fremdenrechtliche Kontrollen durch, die auch Aspekte der Grundversorgung (GVS) umfassen. In Entsprechung einer Empfehlung des ehemaligen Menschenrechtsbeirats beim BMI wurden Informationsblätter in 13 Fremdsprachen übersetzt, die kontrollierten Personen in der jeweils passenden Sprache auszufolgen sind. Diese Maßnahme soll der mit dem Zweck einer Kontrolle einhergehenden Ungewissheit entgegen wirken. In einem Fall kritisierte die Kommission, dass die Kontrollorgane den Betroffenen die Informationsblätter nicht aushändigten. Das BMI bedauerte diesen Vorfall und versicherte, dass die Informationsblätter grundsätzlich ausgegeben würden. Eine Kommission kritisierte anlässlich der Begleitung einer fremdenrechtlichen Kontrolle mit GVS-Relevanz, dass ihr die Exekutive – im Gegensatz zu Zeiten des ehemaligen Menschenrechtsbeirats beim BMI – keine Listen mit Namen und Adressen der zu kontrollierenden Personen aushändigte. Die Zur- 146 Zwangsakte verfügungstellung solcher Listen würde aber die Tätigkeit der Kommissionen erheblich erleichtern. Vertreterinnen und Vertreter des NPM und des BMI erörterten diese Frage im Rahmen eines Round-Table-Gesprächs im Oktober 2013. Im Sommer 2014 gab das BMI bekannt, dass die Behörden mittels Erlasses angewiesen wurden, den Kommissionen künftig diese Listen im Vorfeld einer Kontrolle auszuhändigen. Kommissionen erhalten Namenslisten Eine Kommission kritisierte, dass im Zuge einer fremdenrechtlichen Kontrolle mit GVS-Relevanz eine kontrollierte Person minutenlang in Unterwäsche auf dem Gang im Stiegenhaus verbringen musste. Das BMI sagte gegenüber dem NPM eine Sensibilisierung der betroffenen Bediensteten zu. Im Zusammenhang mit einem weiteren Fall betonte das BMI, dass im Rahmen der berufsbegleitenden Fortbildung der Bediensteten auch auf Kontrollen mit GVS-Relevanz eingegangen werde. Das Briefing und Debriefing vor und nach jedem Einsatz würde dazu genützt, auf bisherige Erfahrungen hinzuweisen und neu gemachte Erfahrungen einer Reflexion zuzuführen. Fortbildungsmaßnahmen Einzelfälle: VA-BD-I/0418-C/1/2012, BMI-LR1600/0021-BüroMRB/2013; VABD-I/0625-C/1/2013, BMI-LR1600/0014-III/10/2014; VA-BD-I/0536-C/1/2013, BMI-LR1600/0132-III/10/2013; VA-BD-I/0150-C/1/2013, BMI-LR1600/0111III/10/2014 2.7.3 Demonstrationen mit Ausschreitungen des „Schwarzen Blocks“ gegen den Wiener Akademikerball 2014 Wie jedes Jahr beobachteten die Wiener Kommissionen auch im Jahr 2014 den Polizeieinsatz anlässlich von Demonstrationen gegen den Wiener Akademikerball. Dabei handelt es sich zweifellos um einen extrem schwierigen Einsatz. Einer Betrachtung der taktischen Einsatzgrundsätze enthält sich der NPM, positiv zu erwähnen ist aber, dass die LPD Wien durch eine kritische Evaluierung bestrebt war, bestmögliche Erkenntnisse für den Einsatz im Folgejahr zu gewinnen. Im Zuge ihrer Beobachtungen kritisierten die Kommissionen vor allem die Bildung der Polizeikessel. Durchsagen der Polizei waren akustisch nicht wahrnehmbar, sodass die im Kessel eingeschlossenen Personen nicht wussten, wie sie sich zu verhalten hatten. Ein Mangel an Computern führte dazu, dass Identitätsfeststellungen zum Teil mehr als zwei Stunden dauerten. In der Akademie der Bildenden Künste am Schillerplatz fand gerade ein Tag der offenen Tür statt, als das Gebäude von der Polizei eigekesselt wurde. Ein Verlassen der Veranstaltung war den Gästen somit nicht mehr möglich, weil es auch in diesem Fall an genügend Ausrüstung fehlte und unklare Informationen erteilt wurden. Die Folge war, dass manche Gäste die Veranstaltung erst nach Mitternacht verlassen konnten. Mangelnde Information bei Kesselbildung 147 Zwangsakte Der NPM wies das BMI diesbezüglich auf eine Empfehlung des ehemaligen Menschenrechtsbeirats beim BMI hin, in der Richtlinien für eine menschenrechtskonforme Bildung von Polizeikesseln aufgestellt wurden. Das BMI versicherte, den Bediensteten diese Empfehlung für die Durchführung von Polizeikesseln wieder ins Bewusstsein zu rufen. Einsatz von Pfefferspray Ein weiterer Kritikpunkt des NPM betraf den Einsatz von Pfefferspray, der den Kommissionen zufolge unverhältnismäßig war. Nach Ansicht des BMI war dieser Einsatz in der gegebenen Situation jedoch das gelindeste Mittel. Trotzdem griff das BMI die Anregungen des NPM zum Einsatz von Pfefferspray auf, um die Einsatzkräfte bei ähnlichen Anlässen entsprechend weiter und nachhaltig zu sensibilisieren. Der NPM rügte zudem, dass es beim Zutritt von Kommissionsmitgliedern zu Einsatzbereichen punktuell zu Schwierigkeiten gekommen war. Die LPD Wien nahm diese Kritik des NPM zum Anlass, die Einsatzkräfte neuerlich über die Erkennbarkeit und Befugnisse der Kommissionsmitglieder zu informieren. Dialog-DeeskalationDurchgreifen Im Kontakt mit den Demonstrantinnen und Demonstranten wäre ein stärkerer Einsatz der bei der EURO 2008 so erfolgreich eingesetzten „3-D-Strategie“ (Dialog – Deeskalation – Durchgreifen) von Vorteil gewesen. Das BMI wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Einsätze der Wiener Polizei selbstverständlich weiterhin vom Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, des Interessenausgleichs und der „3-D-Philosophie“ getragen seien. Auch bestritt das BMI nicht, dass bei schwierigen Einsätzen Fehler auftreten können. Einzelfälle würden jedoch stets zum Anlass für Verbesserungen genommen. XX Bei der Bildung von Polizeikesseln sind den Eingekesselten gut hörbare Informationen zu geben. XX Die Einkesselung sollte so kurz wie möglich dauern. XX Identitätsfeststellungen sind so rasch wie möglich abzuwickeln, wofür eine ausreichende Ausstattung mit Computern nötig ist. XX Die bisher erfolgreich eingesetzte 3-D-Strategie der Polizei (Dialog – Deeskalation – Durchgreifen) ist beizubehalten und weiterzuentwickeln. Einzelfall: VA-BD-I/0213-C/1/2014, BMI-LR1600/0041-III/10/2014; 2.7.4 AGM-Kontrollen im Grenzbereich Bei den so genannten AGM-Kontrollen handelt es sich um Ausgleichsmaßnahmen in Form von Kontrollen im Grenzgebiet. Die Kommission für Ktn und Stmk beobachtete im Berichtsjahr einige dieser Einsätze. Sie führte ein ausführliches Abschlussgespräch mit Vertreterinnen und Vertretern der LPD Ktn. Die LPD verwies darauf, dass Einsätze mit Aufgriffen von mehr als zehn Personen häufiger geworden seien. Große Personengruppen würden dann auf die verschiedene Dienststellen (Villach, Thörl Maglern, PAZ Klagenfurt) auf- 148 Zwangsakte geteilt, wobei Familien zusammenbleiben würden. Bei Aufgriffen in der Stmk soll künftig auch der nächste Ausstieg und die Bearbeitung in Leoben möglich sein. Im PAZ Klagenfurt waren getrennte Räumlichkeiten für die Unterbringung von ca. 15 Personen im Zuge von AGM bereits in der Fertigstellung. Die Verpflegung wurde vertraglich geregelt und wird vom PAZ Klagenfurt bzw. der JA Klagenfurt zur Verfügung gestellt. Die Kommission kritisierte, dass zum Zeitpunkt des Einsatzes keine Dolmetscherinnen und Dolmetscher verfügbar waren. Es musste auf sprachkundige Personen aus dem Bekanntenkreis der Beamtinnen und Beamten zurückgegriffen werden. Die Erstbefragung bei traumatisierten Personen ist sowohl für die Dolmetscherinnen und Dolmetscher als auch für die Beamtinnen und Beamten sehr schwierig. Die Beamtinnen und Beamten berichteten, dass sie verstärkt mit dem Aufgriff von teils sehr jungen, schwer traumatisierten und zum Großteil weiblichen Asylwerbenden aus Somalia und anderen nordafrikanischen Staaten sowie mit syrischen Flüchtlingen aus Kriegsregionen konfrontiert gewesen seien. Mehr Beamtinnen für solche Einvernahmen sollten zur Verfügung stehen. Ausreichende Verständigung ist wichtig Die Kommission wies auch auf den beobachteten Mangel in der Informationsweitergabe hin und betonte die Wichtigkeit der Information der Angehaltenen über erkennungsdienstliche Maßnahmen und den weiteren Verlauf der Amtshandlung. Die LPD berichtete über eine Änderung des Ablaufes, sodass die Amtshandlungen schneller durchgeführt werden könnten. Es werde nach Eintreffen einer Dolmetscherin bzw. eines Dolmetschers eine Gesamtbelehrung vor Beginn der erkennungsdienstlichen Maßnahmen durchgeführt, da schriftliches Informationsmaterial oft nicht verstanden werde. Aufklärung über Amtshandlung XX Dolmetscherinnen und Dolmetscher müssen zur Verfügung stehen. XX Die Erstbefragung traumatisierter Personen muss professionell erfolgen. XX Eine rasche Aufklärung über die Amtshandlung ist unerlässlich. Einzelfall: VA-BD-I/0548-C/1/2014 2.7.5 Positive Feststellungen Die Kommissionen beobachteten viele polizeiliche Amtshandlungen. Wie schon eingangs erwähnt, geben nicht alle Beobachtungen Anlass zu Kritik. Bei fast allen Fußballspielen, Razzien und Veranstaltungen und mehreren Abschiebungen verhielt sich die Polizei höchst professionell. Die Kommissionen gaben die positiven Rückmeldungen den Beamtinnen und Beamten bzw. deren Vorgesetzten in Abschlussgesprächen weiter. Bei manchen Beobachtungen hob die Kommission das Verhalten einiger namentlich genannter Beamtinnen und Beamten besonders positiv hervor. Auch darüber informierte der NPM das BMI. Viele Polizeieinsätze korrekt 149 Zwangsakte In einem Fall einer Demonstration in Wien ersuchte die Kommission, die positiven Eindrücke an die LPD Wien speziell zu melden. Diesem Wunsch kam der NPM gerne nach. Grund für dieses Lob war wie in anderen Fällen auch das deeskalierende Verhalten der Polizei unter Anwendung der 3-D-Strategie. Potentielle Störenfriede wurden weggewiesen, die Begleitung der Demonstration durch die Polizei erfolgte in lockerer Formation ohne Schilde und aufgesetzte Helme in einem großzügigen Seitenabstand zum Demonstrationszug. Diese Taktik führte zu einem reibungslosen Ablauf der Demonstration (VABD-I/0752-C/1/2014, BMI-LR1600/0110-III/10/2014). Neuer Verständigungserlass 150 Auch die die Besprechungen im Zuge der Arbeitsgruppe über den neuen Verständigungserlass waren geprägt von einer offenen Gesprächskultur und gegenseitigem Vertrauen, mit dem Ziel, eine gemeinsame Lösung zu finden. Die Tatsache, dass es bis Redaktionsschluss keine wesentliche Kritik an der Informationspolitik des BMI dem NPM gegenüber gab, zeigt, dass das gegenseitige Vertrauen bisher berechtigt war (siehe Pkt. 2.7.2.3). Legislative Anregungen 3 Anregungen an den Gesetzgeber Neue Anregungen Bundesministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz Legislative Anregung Reaktion des Ressorts Details Bundeseinheitliche Leistungsstandards für Alten- und Pflegeheime – Anregung an Bund und Länder. PB 2013 S. 48 ff. PB 2014, Band 2. S. 27 ff. Bundeseinheitliche Ausgestaltung des Rechts auf persönliche Assistenz für Menschen mit Behinderung – Anregung an Bund und Länder. PB 2013, S. 137 ff PB 2014, Band 2, S. 75 ff. Systematische Anstrengungen zur Überprüfung von Bundes- und Landesgesetzen am Maßstab der UN-BRK; Anregung an Bund und Länder. PB 2014, Band 2, S. 60 ff. Deinstitutionalisierung (Umsetzung von Art 19 UN-BRK) – Anregung an Bund und Länder. PB 2014, Band 2, S. 75 ff. Sozialversicherungsrechtliche Absicherung der Tätigkeit von Menschen mit Behinderung in Werkstätten; Erhöhung der Durchlässigkeit zum 1. und 2. Arbeitsmarkt (Umsetzung von Art. 27 UNBRK)- Anregung an Bund und Länder. PB 2014, Band 2, S. 78 ff. Bundesministerium für Familien und Jugend Legislative Anregung Reaktion des Ressorts Details Bundesweit einheitliche Mindeststandards in Bezug auf sozialpädagogische Wohngemeinschaften – Anregung an Bund und Länder. PB 2014, Band 2, S. 54 ff. Rechtsanspruch auf Hilfen für junge Erwachsene – Anregung an Bund und Länder. PB 2014, Band 2, S. 60 f. 151 Legislative Anregungen Bundesministerium für Gesundheit Legislative Anregung Erhöhung des Ausbildungsschlüssels im Sonderfach „Kinder- und Jugendpsychiatrie“, um dem bestehenden Fachärztemangel zu begegnen. Reaktion des Ressorts Das BMG steht dieser Anregung positiv gegenüber. Details PB 2014, Band 2, S. 48 f. Das BMG stellte in Aussicht, Erhöhung der Arzneimittelsicherheit (Vermeidung von potenziell unangemes- Ärztekammer zu sensibilisiesenen Arzneimitteln und Polypharmazie) ren. für geriatrische Patientinnen und Patienten. PB 2014, Band 2, S. 33 f. Informationspflicht von Ärztinnen und Ärzten gegenüber Angehörigen anderer Gesundheitsberufe in Alten- und Pflegeheimen, soweit dies für Behandlung, Pflege und Umsetzung des HeimAufG erforderlich ist. PB 2014, Band 2, S. 33 f. Das BMG sicherte ein Informationsschreiben an die Länder zu. Eine Klarstellung im ÄrzteG wird nicht ausgeschlossen. HeimAufG – Ausdehnung des Anwendungsbereichs, um gleichen Rechtsschutz gegen altersuntypische Freiheitsbeschränkungen für Minderjährige in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe und Minderjährigen in Einrichtungen der Behindertenhilfe zu gewährleisten. Zentrales Register zur Erfassung freiheitsbeschränkender Maßnahmen (Umsetzung der Empfehlung des CPT). PB 2014, Band 2, S. 73 f. BMG und GÖG führten Gespräche. PB 2014, Band 2, S. 42 f. Umgesetzte Anregungen Bundesministerium für Gesundheit Legislative Anregung Verbot der Verwendung von Netzbetten in psychiatrischen Einrichtungen und Pflegeheimen per Erlass oder Gesetz bei gleichzeitiger Sicherstellung, dass medikamentöse oder mechanische Freiheitsbeschränkungen nicht häufiger eingesetzt werden. 152 Reaktion des Ressorts Das BMG hat mit Erlass festgehalten, dass die Verwendung von Netzbetten unzulässig ist, und in Hinblick auf nötige Begleitmaßnahmen eine Übergangsfrist bis 1. Juli 2015 gesetzt. Details PB 2013, S. 56 f. PB 2014, Band 2, S. 45 f. Abkürzungsverzeichnis Abkürzungsverzeichnis ABGB Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch Abs.Absatz AGMAusgleichsmaßnahmen AHZAnhaltezentrum APT Vereinigung zur Verhinderung von Folter ArbeitszeitGArbeitszeitgesetz Art. Artikel ÄrzteGÄrztegesetz BGBl. Bundesgesetzblatt BgldBurgenland BHBezirkshauptmannschaft Bundeskanzleramt BKA BKHBezirkskrankenhaus Bundes-Kinder- und Jugendhilfegesetz BKJHG BM... Bundesministerium ... … für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz BMASK BMBF … für Bildung und Frauen … für Europa, Integration und Äußeres BMeiA BMFJ … für Familien und Jugend … für Finanzen BMF BMG … für Gesundheit … für Inneres BMI BMJ … für Justiz BMLFUW … für Land- und Forstwirtschaft, Umwelt und Wasserwirtschaft … für Landesverteidigung und Sport BMLVS BMVIT … für Verkehr, Innovation und Technologie … für Wissenschaft, Forschung und Wirtschaft BMWFW BPDBundespolizeidirektion B-VG Bundes-Verfassungsgesetz bzw. beziehungsweise CAT CPT UN-Ausschuss gegen Folter Europäisches Komitee zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe d.h. DGKP EG das heißt diplomiertes Gesundheits- und Krankenpflegepersonal Europäische Gemeinschaft 153 Abkürzungsverzeichnis EGMR Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte ELAK Elektronischer Akt EMRK Europäische Menschenrechtskonvention etc. et cetera (f)f. folgend(e) (Seite, Seiten) FSW Fonds Soziales Wien gem. gemäß G(es)mbH Gesellschaft mit beschränkter Haftung Gewerbeordnung GewO GÖG Gesundheit Österreich GmbH. GuKG Gesundheits- und Krankenpflegegesetz GVSGrundversorgung GZ Geschäftszahl HeimAufGHeimaufenthaltsgesetz iZM in Zusammenarbeit mit JAJustizanstalt KAVKrankenanstaltenverbund KindRÄGKinderschaftsrechts-Änderungsgesetz KSchGKonsumentenschutzgesetz KtnKärnten LKHLandeskrankenhaus LPDLandespolizeidirektion LRegLandesregierung MRBMenschenrechtsbeirat N.N. Beschwerdeführerin, Beschwerdeführer NGONichtregierungsorganisation (non-governmental organisation) NÖ Niederösterreich NPM Nationaler Präventionsmechanismus NQZ Nationales Qualitätszertifikat für Alten- und Pflegeheime in Österreich Nr. Nummer OGH Oberster Gerichtshof OLGOberlandesgericht OÖ Oberösterreich 154 Abkürzungsverzeichnis OPCAT OSZE Fakultativprotokoll zum Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa PAZPolizeianhaltezentrum PB Bericht der Volksanwaltschaft an den Nationalrat und an den Bundesrat PIPolizeiinspektion Pkt.Punkt RzRandziffer S. Seite SbgSalzburg SPT UN-Unterausschuss zur Verhütung von Folter StAStaatsanwaltschaft StGBStrafgesetzbuch StmkSteiermark StVGStrafvollzugsgesetz TILAK Tiroler Landeskrankenanstalten GmbH. u.a. unter anderem u.Ä. und Ähnliches UbGUnterbringungsgesetz UMF unbegleitet minderjährige Flüchtlinge United Nations UN UN-BRKUN-Behindertenrechtskonvention UN-KRK Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen UNODC Büro der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung VAVolksanwaltschaft VbgVorarlberg vgl. vergleiche VOVerordnung VolksanwGVolksanwaltschaftsgesetz WG Wohngemeinschaft WHOWeltgesundheitsorganisation Z z.B. Zl. Ziffer zum Beispiel Zahl 155 Impressum Herausgeber:Volksanwaltschaft 1015 Wien, Singerstraße 17 Tel. +43 (0)1 51505-0 http://www.volksanwaltschaft.gv.at Redaktion und Grafik: Volksanwaltschaft Herausgegeben: Wien, im März 2015
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