D6 k u lt u r b e u t e l ver.di publik 03 · 2015 k u lt u r b e u t e l ver.di publik 03 · 2015 ·········································· m u s i k ····························································································································································· SOlidarität mit der liebe ··········································································································· a u s s t e l l u n g ··················································································· daS auge deS arbeiterS Tocotronic: Rotes Album – Die Popmusik kennt, seien wir ehrlich, eigentlich nur drei große Themenkomplexe: Liebe, Liebe und noch mal Liebe. Da darf man sich fragen, was Tocotronic glauben, in dieser Sache der Welt noch mitzuteilen zu haben. Denn das neue Album, das eigentlich keinen Titel besitzt, aber aufgrund seines einfarbigen Covers als Rotes Album in die Geschichte der Band eingehen wird, ist nicht weniger, so verkündet es Dirk von Lowtzow im Interview, als ein „Kompendium über die Liebe“. Stadtmuseum Dresden – Das „Neue Sehen“, das in der Weimarer Zeit entstand, ist vor allem auch der Leica zu verdanken. Mit der erschwinglichen Kompaktkamera aus Wetzlar wurde es Amateuren aus Arbeiterklasse und Bauerntum auf einmal möglich, ihre Lebenswelt selbst zu fotografieren. So privat familiäre oder kollegiale Bilder auch intendiert waren, im Entwicklungsbad ließen sie eine unvermutete soziale Wirklichkeit erscheinen. Die im Dunkeln lichteten sich jetzt selbst ab. In jener konfliktreichen Epoche dauerte es dann nicht lange, bis die Leica als Waffe im Dienst des Klassenkampfs angewandt wurde. Mit der „Eroberung der beobachtenden Maschinen“ sollte die Welt nicht bloß abgebildet, sondern neu wahrgenommen und entsprechend verändert werden. Zugleich entdeckten die kPd-Führer, dass eine aussagekräftige Fotomontage politisch wirksamer war als textlastige Aufrufe. Nicht mehr mit der bürgerlichen Kultur tritt Agit-Prop in Konkurrenzkampf, sondern mit Werbung, Magazinen und Kino. Die Fotografie wiederum wirkte auf das Fotografierte ein: Mit Blick auf die kommenden Bildreportagen wurden kommunistische Umzüge theatralischer und karnevalesker gestaltet. In diesem klingenden Nachschlagewerk finden sich nun – das muss man wissen – keine Liebeslieder. Sondern eben Lieder über die Liebe. Über die Liebe zu anderen und zu sich selbst. Lieder über die Liebe als Segen und Lieder über die Liebe als Fluch, über die Liebe als Heilung, aber auch als Gefängnis. Schöne Lieder, die mit berauschenden Melodien in ihren Bann ziehen, mit federleichten, an die größten Tage des Pop angelehnten Arrangements und mit einer Sprache, die geheimnisvoll und irritierend von etwas erzählt, was man nur allzu gut zu kennen glaubt – aber in von Lowtzwos Reimen doch immer wieder neu und rätselhaft erscheint. Doch Tocotronic wären nicht die einzige Band der einstigen Hamburger Schule, die den überintellektualisierten Diskurs-Pop in größeren kommerziellen Erfolg verwandeln konnte, würden sie dem Thema Liebe nicht auch überraschende Aspekte abgewinnen. Nach dem Vorgängeralbum, das schon im Titel die programmatisch verhandelte Frage Wie wir leben wollen stellte, hat man nun, so beschreibt es der mittlerweile 44-jährige von Lowtzow, den Blick auf einen Sachverhalt verengt, um ihn erst recht in die Weite schweifen lassen zu können. So geht es darum, ob die Liebe sogar die Schwerkraft überwinden kann und ob man auch den Hass tanzen kann. Es geht um den Rebel Boy, der seine Faust ballt und die Revolution ausruft, für die Freiheit kämpft und dann doch in die Liebe flüchtet: „Kannst Du mir Liebe geben?“, singt von Lowtzow. „Kannst Du mich befreien?“ So entsteht ein „Assoziationsraum“, wie der Sänger ihn nennt, in dem man sich ebenso verlieren kann wie in der Musik. Die Ausstellung Das Auge des Arbeiters, die nach Zwickau und Köln jetzt im Stadtmuseum Dresden zu sehen ist, bietet einen eindrucksvollen Einblick in die vergessene Welt der proletarischen Fotografie. Sie ist das Ergebnis eines langjährigen Forschungsprojekts unter der Leitung des Dresdner Kulturwissenschaftlers Wolfgang Hesse. Aus sächsischen Sammlungen und Archiven wurden hunderte unbekannte Fotografien ausgegraben. In thematische Bereiche untergliedert, hängen Momentaufnahmen von Hobbyknipsern gleichberechtigt neben ambitionierten künstlerischen Werken wie den Fotomontagen von John Heartfield. Dazwischen werden Grenzgänger wie Albert Hennig präsentiert, der als arbeitsloser Bauarbeiter zum Dessauer Bauhaus kam. Um sie in ihren Kontext zu stellen, werden die Fotografien mit Stadtbildern, Plakaten, aber auch zeitgenössischen Malereien des kritischen Realismus und der neuen Sachlichkeit konfrontiert. Wir entdecken, wie die moderne Medienwelt von unten mitgestaltet wurde. Obwohl dieser Versuch brutal gestoppt wurde, prägt er heute noch unsere Wahrnehmung. Zur Ausstellung ist Guillaume Paoli auch ein lesenswertes, reichlich bebildertes Buch bei Spector Books erschienen. Eine ganz andere Liebe, die, so von Lowtzow, „politische Form der Liebe“, besingt er dann noch in Solidarität. Ein Lied, das aufgrund seiner kryptischen Dimension wohl nicht als neue Hymne der Arbeiterbewegung taugt, aber doch den Status stützt, den sich Tocotronic seit ihrer Gründung 1993 erspielt haben: Die einzige deutsche Band zu sein, die in der Lage ist, selbst der Liebe eine politische Dimension abzugewinnen. Und daraus dann auch noch große Popmusik zu destillieren. Thomas Winkler daS auge deS arbeiterS – erinnerungSFOtOgraFie und bildPrOPaganda um 1930, StadtmuSeum dreSden biS 12. juli 2015. WilSdruFFer Str. 2, 01067 dreSden, di-SO 10-18 uHr daS auge deS arbeiterS – arbeiterFOtOgraFie und kunSt um 1930 (HrSg. WOlFgang HeSSe), Verlag SPeCtOr bOOkS leiPZig, 34 €, iSbn-978-3944669441 Cd, VertigO berlin/ uniVerSal ··················································································································································································································· ··················································································································································································································· Wire: Wire – Es gibt wohl keine Rockband, deren Bedeutung sich dermaßen diametral zu ihrem kommerziellen Erfolg verhält. Wire haben den Postpunk erfunden, gelten als Initiatoren des modernen Avantgarde-Rocks, werden geliebt von Musikern wie Blur-Mastermind Damon Albarn und noch heute von jeder zweiten Band als prägender Einfluss genannt. Platten verkauft hat die 1976 in London gegründete Band trotzdem so gut wie keine – und das wird sich auch mit ihrem 13., schlicht Wire betitelten Studioalbum nicht ändern. Zu sperrig sind die aufgetürmten Klanggebirge, zu widerborstig die seltenen Melodien, zu monoton der pulsierende Beat. Im Vergleich zu ihren Anfangstagen mag Dialog mit der Zeit – In dieser Ausstellung gibt es eine Rampe mit je ein paar Stufen auf jeder Seite. Man soll sie mit speziellen Gewichten an den Beinen nehmen, um zu erfahren, wie schwerfällig der Gang werden kann, wenn man alt ist. Wann man alt ist oder so alt, dass die Beine schwer werden, kann man sogenannte Senior-Guides fragen. Sie begleiten durch diese Erlebnisausstellung. Entweder erzählen sie von sich selbst oder erklären die verschiedenen interaktiven Stationen. So kann man auch versuchen, eine Haustür zu öffnen, nur dass einem dabei die das Quartett zwar geradezu eingängig klingen, aber immer noch entwickeln die dunkel dräuenden Stücke eine unheimliche, meditative Kraft. Ohne Unterlass bohrt sich der Rhythmus in den Magen, während Colin Newman seine gewohnt hellsichtigen Texte zwischen banalen Alltagsbeobachtungen und psychotischen Gesellschaftsanalysen singt. Schon lange nicht mehr hat eine so alte Band eine so lebendige Platte veröffentlicht. Thomas Winkler Cd, Pink Flag/ CargO reCOrdS Savina Yannatou & Primavera En Salonico: Songs Of Thessaloniki – Die neue Cd der griechischen Sängerin Savina Yannatou und ihres Ensembles Primavera En Salonico ist eine Hommage an Savina Yannatou‘s Heimatstadt, an Thessaloniki. Die nordgriechische Hafenstadt war vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert die Heimat ver- schiedenster Ethnien – darunter sephardische Juden, Bulgaren, Türken und Armenier. Die politischen und sozialen Verhältnisse, Ausgrenzung und Vertreibung in ihren jeweiligen Heimatländern haben sie in Thessaloniki angespült. Sie alle haben zum speziellen Kultur-Mix der Region beigetragen. Savina Yannatou spürt dieser kulturellen Vielschichtigkeit auf ihrer neuen Cd nach. Dabei kann sie sich auf die Qualität ihres Ensembles stützen, das seit 20 Jahren zusammen spielt. Und auf einen Sound, der mit seiner Verbindung aus westlichen (Violine, Akkordeon, Kontrabass) und orientalischen (Oud, Qanun, Nay) Instrumenten fasziniert. Das macht Yannatou‘s Musik einzigartig. Und es zeigt auch, wie sich Migration auf den Verlauf musikalischer Entwicklungen auswirkt. Peter Rixen eCm Bass Sultan Hengzt: Musik wegen Weibaz – Sensibilität ist die neue Härte. Auf diesen, erst einmal recht seltsamen Gedanken kann man kommen, wenn man das neue Album von Bass Sultan Hengzt hört. Der Berliner Rapper, der seine Karriere einst an der Seite von Bushido begann und bislang eher mit muskelstrotzenden Reimen auffällig geworden ist, legt mit Musik wegen Weibaz ein irritierend vielschichtiges Werk vor. Das beginnt beim Cover für eine spezielle Premium-Edition des Albums in limitierter Auflage, auf dem sich zwei Männer küssen und das in der zur Homophobie neigenden HipHopSzene bereits für solch einen großen Aufruhr gesorgt hat, dass Fabian Catal- di, wie der Rapper eigentlich heißt, die virale Erregung mit einem klaren Bekenntnis gegen Diskrimierung kontern musste. Und das hört mit Musik und Texten noch lange nicht auf: Der ansonsten im deutschen Gangsta-Rap vorherrschenden Bollerei werden elegante, tatsächlich feminine Beats, Samples alter Schlager oder schicke Gitarren-Licks entgegengesetzt. Darüber stellt Bass Sultan Hengzt immer wieder das eigene Image in Frage, hinterfragt Sexismus und Machogehabe. „Jeder Kopf aus Stein trifft irgendwann ‘nen festeren“, rappt der einst so harte Rapper – und es klingt kein bisschen resigniert, sondern eher erleichtert. Thomas Winkler Cd, nO limitS/ SOulFOOd · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · m u lt i m e d i a · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · F OTO S : S P E C TO R B O O K S ; YA N G L U / F R I D E R I C I A N U M ; B . B O S T E L M A N N / M U S E U M F U R KO M M U N I K AT I O N B E R L I N ; P R O M O ; V E R L E I H D7 www.gruenesmoothies.org – Grüne Smoothies bestehen aus zerkleinerten grünen Blattgemüsen und Kräutern, kombiniert mit Früchten und Wasser. Den meist cremigen Mixgetränken wird nachgesagt, gegen Giftstoffe und Entzündungen im Körper zu wirken, den Darm zu reinigen und Wundheilungen zu fördern und manches mehr. Über derlei Informationen und Tipps hinaus, bietet die vorliegende Webseite auch zahlreiche Rezepte für grüne und fruchtige Smoothies, jeweils mit Beschreibung, Zutatenliste und Foto. Zudem widmet sich das Zweier-Team eingehend den Standmixern, die für die Zubereitung von Smoothies am besten geeignet sind. Ihre häuslichen Gerätetests – mitunter etwas bieder – halten sie in Videoclips fest, und im zur Website gehörenden Shop kann man die Mixer auch bestellen, nun gut. In ihrem Blog setzen sie sich mit Kritik an Smoothies, weiteren Ernährungsfragen oder auch mal der Zubereitung von ··········································· Der Siegeszug von PC, Tablet und Smartphone scheint unaufhaltbar. Doch Mediziner warnen vor einer schmerzhaften Folge der Digitalisierung unseres Alltags: d SmS-Schultern p Maus-Augen s Handy-Nacken Großeinkauf: Die LebensmittelHandelskette Edeka würde gern 450 Filialen des Konkurrenten Kaiser’s übernehmen. Woran ist dies erstmal gescheitert? ö am geforderten Kaufpreis c am Kartellamt e an einer Klage der Verbraucherzentralen Nur wo Edeka draufsteht, ist auch Edeka drin? Mitnichten. Zu der Kette gehören auch die Ladengeschäfte von Sorbets auseinander, und das sprachlich stets sehr zugänglich und verständlich. So weckt die Webseite Neugier – und Appetit. Henry Steinhau www.movelo.com/de/elektrofahr rad – Sich ein Fahrrad mit Elektromotor, also ein E-Bike anzuschaffen, ist noch immer relativ kostspielig. Doch sich für den Urlaub oder für Ausflüge eines auszuleihen, ist schon erschwinglicher. Auf der Website von Movelo lassen sich zunächst einmal zahlreiche Verleihstationen auffinden, die sich diesem Anbieter angeschlossen haben, und zwar in fast allen Bundesländern. Zusätzlich sind auch einige E-Bike-Verleiher in Österreich, Italien, Frankreich und Irland verzeichnet, bei Bedarf auch auf einer interaktiven Landkarte. Die Datenbank unterscheidet dabei auch jene und solche, bei denen man Wechselakkus tauschen oder sich als Gruppe oder für Moun- tainbiking mit E-Bikes melden kann. Praktisch ist der integrierte Routenplaner, während der Menüpunkt „Technik“ mager ausfällt – und einen Hinweis darauf gibt, dass an diesem Angebot offenbar ein E-Bike-Hersteller maßgeblich mitwirkt. Gleichwohl eignet sich die Movelo-Website – wie auch die parallel angebotenen Smartphone-Apps für Apple i OS und Android – durchaus als Ausgangspunkt für Reiserecherchen und Tourvorbereitungen. Henry Steinhau p r e i s r ät s e l ····················································································································································· a i ö netto, nah und gut, Reichelt Rewe, Kaufland und penny Metro und Karstadt Bei der Hannover-Messe standen diesmal Roboter im Zentrum. Immer öfter fällt ein neuer Begriff für die Arbeitswelt der Zukunft: g gute Arbeit w die personallose Fabrik k Arbeit 4.0 Etwa seit einem Vierteljahr ist der Mindestlohn in Deutschland Gesetz – und die Welt ist nicht untergegangen. Aber Arbeitgeber umgehen das Gesetz mit vielerlei Tricks. Wo erhalten Beschäftigte hierzulande Rat, wenn sie sich fragen, ob es mit ihrem Lohn seine Ordnung hat? u r h durch die Mindestlohn-App bei der Mindestlohn-Hotline des dgb bei der Bundesanstalt für den Mindestlohn (BfM), auch Nahles-Behörde genannt Bundeslandwirtschaftsminister Christian Schmidt will ab 2017 verbieten, was in seinen Augen eine aus ethischer Sicht unerträgliche Praxis darstellt: q den Einsatz von Selfie-Sticks j die sogenannte Steinzeit-Diät b das Kükenschreddern Warum werden wir in den kommenden Monaten noch von dem Österreicher Max Schrems hören? i Er hat federführend für 25 000 Betroffene eine DatenschutzSammelklage gegen Facebook eingereicht, über die in Wien vor Gericht verhandelt werden soll l r Der Sänger ist der erfolgreichste Star bei der populären Internet-Plattform Instagram Er hat das Karriere-Netzwerk Linkedin gekauft Er war Botschafter der uSa in El Salvador, in Bolivien und Argentinien. Als erster uS-Bürger mexikanischer Abstammung wurde er 1975 zum Gouverneur eines uS-Bundesstaates gewählt. Wie hieß der im April mit 98 Jahren verstorbene Politiker? ü Che Guevara m Raul Hector Castro v Hugo Chávez Wir verlosen unter allen richtigen Einsendungen 3x Liad Shohams Stadt der Verlorenen aus dem DuMont-Buchverlag Die Kennbuchstaben der richtigen Lösungen, ergeben, neu sortiert, den Namen eines Mannes, dessen 200. Geburtstag kein Aprilscherz war. Bitte schicken Sie eine Postkarte mit dem Lösungswort bis zum 1. Juni 2015 (Datum des Poststempels) an: ver.di publik Preisrätsel, 10112 Berlin. Letztes Lösungswort: frühling Gewonnen haben: H.-W. Bellert (Berlin), Ch. Plew (Lappersdorf), G. Gernhuber (Bad Schwartau), E. Burmeister (Hilden), B. Seeberger (Kirkel). Herzlichen Glückwunsch! Hand zittert, als hätte man Schüttelfrost. Im Alter ist es oft eher die Krankheit Parkinson, die das Zittern der Glieder verursacht. So kann man diese Ausstellung als eine sanfte Vorbereitung auf das Altern betrachten oder sich in seinem Alter bestätigt sehen. Der gewollte Dialog mit den Senior-Guides holt die Selbstversuche im Abstrakten in die Realität. Allerdings fehlt der Schau ein wichtiger Aspekt: Was ist, wenn man nicht nur alt, sondern auch arm ist? Die Guides dort sind davon nicht betroffen. Aber man kann ja mit ihnen darüber reden. Petra Welzel muSeum FÜr kOmmunikatiOn berlin, leiPZiger Str. 16, biS 23. auguSt 2015, di 9-20, mi-Fr 9-17, Sa/SO 10-18 uHr Inhuman – Im Allgemeinen versteht der Mensch unter dem Begriff inhuman schlicht unmenschlich, meist im Sinne von grausam. Er bezeichnet aber auch das, was nach dem Ableben aus dem Humanen wird, oder auch das Nicht- Menschliche im weltweiten Internet. Insofern beschäftigen sich die 15 jungen, sogenannten Post-InternetKünstler/innen in dieser Ausstellung mit den vielfältigen Formen des NichtMenschlichen. Etwa mit Avataren, sozusagen geklonten Ichs, die man sich im Netz zulegt. Oder dem digitalen Nachlass Verstorbener, der sich nicht einfach in einer Urne beisetzen lässt. Sehr beeindruckend in der Reihe aller Werke ist der „UterusMan“ der chinesischen Künstlerin Lu Yang. Er ist eine Art Mangafigur in einem 3D-animierten Video und ein Held, ohne Frage. Aber mit einer schrägen Aufgabe. Selbst mit Menstruationsblut angetrieben, ist ihm die Aufzucht eines Revoluzzers – noch im Fötus-Status – aufgetragen, der der Welt nicht unbedingt Gutes bringen wird. Der „UterusMan“ ist eine Mahnung wie einige andere Werke der Ausstellung auch. Und letztlich ein Ruf nach Menschlichkeit. Petra Welzel muSeum FrideriCianum, kaSSel, biS 14. juni 2015, di-SO 11-18 uHr ··········································· k i n o ······························································································································································· Die Maisinsel – Diese Landschaft, diese Gesichter! Und was für Bilder von archaischer Schönheit! Es geschieht zwar nicht viel in dieser Geschichte, aber im Stillen baut sich eine Dramatik auf. Im Grenzgebiet zwischen Georgien und Abchasien herrscht Krieg. Doch auf dem malerischen Enguri-Fluss, der vom Kaukasus ins Schwarze Meer mündet, sieht alles friedlich aus, nur aus der Ferne hört man Schüsse. Der Fluss schwemmt Brocken fruchtbaren Bodens in die Ebene, wo sie sich zu kleinen unbewohnten Oasen zusammenschließen. Ein alter Farmer baut auf einer dieser Inseln eine Fischerhütte für sich und seine Enkelin. Minutiös zeichnet Ovashvili all die Mühsalen dieser beiden Einsiedler nach. Sie graben den Boden um, säen Mais, fangen Fische, schweben aber auch in Gefahr. Plötzlich liegt ein verwundeter Soldat im Feld und weckt den Freiheitsdrang der jungen Enkeltochter, deren Sexualität gerade erwacht. Der Film erzählt sinnbildlich vom Kreislauf des Lebens. Am Ende zerstört die Natur alles, was der Mann erschaffen hat. Kirsten Liese ge / d / F /CZ / kZ 2014. r: geOrge OVaSHVili, d: ilyaS Salman, mariam buturiSHVili, irakli SamuSHia, 100 min., Start: 25.mai Mein Herz tanzt – Palästina in den 80er Jahren. Palmen, Wüsten, MuezzinGesang und Sirenenalarm im Krisenherd eines der brisantesten Konflikte. Eyad wächst als Sohn eines palästinensischen Widerstandskämpfers auf. Stolz erzählt der kleine Junge seinem jüdischen Austauschschüler: „Mein Vater ist Terrorist!“ Die Auseinandersetzung zwischen Israelis und Arabern prägt sein kindliches Weltbild. Das Leben des Mathematikgenies ändert sich Jahre später schlagartig. Als einzigen Palästinenser nimmt ihn ein Elite-Internat in Jerusalem auf. Das erste Mal erfährt er, was es heißt, Außenseiter zu sein. Gleichzeitig verliebt er sich in seine jüdische Mitschülerin Naomi. Doch nur eine folgenschwere Entscheidung hilft ihm, seinen Weg als Erwachsener zu gehen. Erneut macht der israelische Regisseur Erin Riklis die persönliche Dimension des Nahostkonflikts sichtbar. Sein eindringliches Plädoyer für eine friedliche Koexistenz bewegt sich zwischen einer Geschichte über das Erwachsenwerden und einem Drama. Mit Gespür für Zwischentöne und groteske Situationen wirft er einen offenen Blick auf das Gegeneinander von Kulturen. Inmitten scheinbarer Ausweglosigkeit entdeckt er sensibel und humorvoll menschliche Gesten, die Hoffnung machen. Luitgard Koch d/ F/i 2014 r: eran rikliS, d: danielle kitZi, ali Suliman, yael abeCaSSiS, 104 min., kinOStart: 21.mai Love & Mercy – Die Angestellte eines Autohändlers trifft auf eine faszinierende, aber beschädigte Berühmtheit. Wohin kann eine Affäre mit so einem Typen führen? Der Spielfilm über den kreativen Kopf der Beach Boys, Brian Wilson, versucht, die Sentimentalitäten von Künstlerbiografien zu vermeiden. Love & Mercy verdankt seine Wucht der Doppelbesetzung mit Paul Dano als Brian in den scheinbar leichtlebigen Sixties und John Cusack als Brian drei Jahrzehnte später. Zunächst baut sich eine Tragödie auf. Extreme Sensibilität, Erfolg und Erfolgsdruck sowie garstige Menschen formen einen Innovateur der Musikwelt zur tablettensüchtigen Ruine. Schauspieler Paul Giamatti terrorisiert ihn als pseudogütiger Psychotherapeutendiktator. Gegengewichte des Films sind das sonnige Südkalifornien, die eingewobene Entstehung eines Hits, ohne den unser aller Leben einen beglückenden Song ärmer wäre, und, dass Brian Wilson am Ende von seiner Autoverkäuferin und zukünftigen Frau gerettet wird. Good good good vibrations. Jutta Vahrson uSa 2014, r: bill POHlad. d: jOHn CuSaCk,eliSabetH bankS, 120 min., kinOStart: 11. juni ··········································· buch································································································································································ Leonie Treber: Mythos Trümmerfrauen – Arrangiert waren die Fotos in Zeitschriften und Zeitungen in West-‚ und Ost-Deutschland, die in unserem Gedächtnis geblieben sind: die Frauen geschminkt und die Arbeitskleidung aufgehübscht, wenn sie tapfer in den Schuttbergen ihrer Arbeit der Enttrümmerung nachgingen. Das weist Leonie Treber in ihrem lesenswerten Buch nach. Als die Historikerin sich ihrer Studie über die Trümmerfrauen zu widmen begann, war ihre Absicht keineswegs, einen Mythos zu zerstören, aber ihre Ergebnisse ließen ihr keine Wahl. Der Anteil der Frauen an der Enttrümmerung der kriegszerstörten deutschen Städte war zahlenmäßig gering, Bau- firmen übernahmen die Hauptarbeit. Ihr Bild aber war wirkmächtig und Teil einer Strategie der Entstigmatisierung dieser Arbeit, die zu Kriegszeiten von Zwangsarbeitern und kZ-Häftlingen verrichtet werden musste. Außerdem wurde so das Bild einer Frau des Aufbruchs und Aufbaus inszeniert, das völlig ausblendete, dass Frauen auch Täterinnen und Mitläuferinnen im Nationalsozialismus gewesen waren. Bettina Klix klartext-Verlag, eSSen, 2014, 483 Seiten, 29,95 € Liad Shoham: Stadt der Verlorenen – Für Flüchtlinge und illegale Einwanderer riskiert Michal Poleg ihr Leben. Die junge Israelin arbeitet für eine Hilfsorganisation und betreut vor allem Afrikaner. Eines Tages wird sie tot in ihrer Wohnung in Tel Aviv aufgefunden – erschlagen. Mit diesem Szenario beginnt Liad Shoham seinen Thriller, der sich zu ei- nem umfassend recherchierten, kritischen Gesellschaftsporträt entwickelt. Er blickt hinter die Kulissen von Staat, Justiz, ngOs, Polizei und Politik. Shoham, selbst Anwalt, interessiert sich für die komplexen Zusammenhänge hinter Verbrechen – diesmal beleuchtet er den Umgang mit Einwanderern und deren Leben im Schatten der Gesellschaft. Nach dem Mord an der Frau fällt der Verdacht auf einen Eritreer. Er gesteht die Tat, doch die Polizistin Anat Nachmias glaubt nicht an seine Schuld und ermittelt auf eigene Faust. Tatsächlich wurde der Afrikaner von Schleppern zu seinem Geständnis gezwungen. Und ein Staatsanwalt gerät unter Verdacht, der wahre Täter zu sein. Ein fesselnder gesell- schaftspolitischer Roman von aktueller Brisanz. Günter Keil liad SHOHam, Stadt der VerlOrenen, dumOnt, auS dem HebräiSCHen VOn ulrike HarniSCH, 412 Seiten, 9,99 € Albertine Sarrazine: Der Astragal – Wird man einer sprachfertigen Vorlage in der bildlichen Umsetzung gerecht? Wie kann man etwas darüber Hinausreichendes schaffen, um nicht eine weitere einfallslose Literaturadaption zu produzieren? In der 1968er Verfilmung des autobiografischen Romans Astragalus von Albertine Sarrazine findet man zumindest in der Eingangssequenz zu einigen Bildern von Prägnanz, die der vornehmlich von Jugendstrafanstalten, Prostitution und Kriminalität geprägten Welt eine visuell aussagekräftige Komponente hinzufügen. Bevor dieses Jahr eine Neuverfilmung des unter anderem von Patti Smith geschätzten und mit einem Essay bedachten Stoffes in die Kinos kommt, erscheint mit der Comicadaption eine weitere Variation bildlicher Weiterentwicklung. Und diese weiß, trotz dem Format geschuldeter inhaltlicher Kürzungen, durch den Einsatz von eindrucksvoll gegeneinander ausgespielten Schwarzweiß-Flächen und Reduktion auf das Wesentliche zu überzeugen. Die heutige Relevanz der Thematik – ein algerisches Adoptivkind wächst nach dem Krieg mit Algerien in Frankreich auf – bedarf da auch keiner weiteren Erklärung. Oliver Ristau ZeiCHnungen: terkel riSbjerg; SZenariO: anne-CarOline PandOlFO naCH albertine SarraZine, Verlag SCHreiber & leSer, ÜberS.: karen bO, 220 Seiten, 22,80 €
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