3/4 Mitteilungsblatt des Evangelischen Pfarrvereins in Baden e. V. März/April 2015 AUS DEM INHALT: ■ Gemeinde & ihre Vorbilder ß Johannes vor Christus – wie sich badische Gemeinden nennen ß Vorbilder ß Paul Gerhardt und die Folgen ■ Aus dem Pfarrverein ■ Aus der Pfarrvertretung ■ Buchbesprechungen Folgt meinem Beispiel, so wie ich dem Beispiel folge, das Christus uns gegeben hat. 1. Korinther 11,1 (Neue Genfer Übersetzung) 15 farrtag 20 P m u z g un Mit Einlad Editorial Liebe Leserin, lieber Leser! Jeder Mensch hat Vorbilder. Jeder Mensch braucht Vorbilder. An ihrer Biographie und besonders an den Situationen, in denen sie vor wichtigen, mitunter schwierigen Entscheidungen standen, kann ich viel lernen. Am 9. April jährte sich der 70.Tagestag von Dietrich Bonhoeffer. Bonhoeffer ist heute ein Vorbild im Glauben, dessen Biographie in Gemeinde und Religionsunterricht eine gewichtige Rolle spielt. Zumal, wenn die Gemeinde oder die Schule seinen Namen trägt. Mit Dietrich Bonhoeffer als Vorbild in der Nachfolge Jesu unterwegs zu sein, ist dann Verpflichtung und Chance zugleich. Und Gelegenheit, sich durch ihn, den Namensgeber, befragen, motivieren und auf den Weg des Glaubens bringen zu lassen. In diesem Sinne widmen wir die neue Doppelausgabe der Pfarrvereinsblätter allen, die uns Vorbild im Glauben geworden sind und nach denen Gemeinden oder Kirchen benannt wurden: Glaubensvorbilder aus Bibel und Tradition, angefangen bei den Aposteln in der Frühzeit der Kirche über das Mittelalter bis zur Neuzeit. Nicht nur Kinder und Jugendliche, auch Gemeinden brauchen Vorbilder, an denen sie lernen und sich orientieren und mit deren Hilfe sie christliche Identität in der Welt entwickeln können. Vielleicht haben wir Sie angeregt, nach dem eigenen Namensgeber Ihrer Gemeinde neu zu fragen. 74 Pfarrvereinsblatt 3-4/2015 So wünschen wir Ihnen eine interessante Lektüre der Artikel zum Thema, der Rezensionen, der Informationen aus Pfarrverein und Pfarrvertretung wie auch des Beitrags zur Diskussion, der sich auf die letzte Seite der vergangenen Nummer bezieht und genau das widerspiegelt, was die letzte Seite sein will: ein Hingucker zum Schmunzeln – und auch mal zum Aufregen und Ärgern. Für das Tandem in der Schriftleitung Ihre Hinweis auf die übernächste Ausgabe Die übernächste Ausgabe 6/2015 widmet sich dem Thema „Diakonie & Spiritualität“. Bitte senden Sie Ihre Beiträge, am besten als Word-Datei, bis spätestens zum 13. April 2015 an die Schriftleitung. Die kommende Ausgabe 5/2015 zum Thema „Kirchenmusik“ befindet sich bereits in Vorbereitung. Tag der Pfarrerinnen und Pfarrer in Konstanz: Grußwort der Dekanin Herzliche Einladung zum 123. Tag der Pfarrerinnen und Pfarrer in Baden-Württemberg 2015 in Konstanz Und Konstanz liegt am Bodensee, durchströmt vom jungen Rhein; des Hegaus Berge winken im gold’nen Sonnenschein! Am Bodensee, am Strande, da ruht sich’s prächtig aus, er setzt dem Badnerlande die schönste Krone auf. Es lässt sich gut leben am Bodensee und ganz besonders in Konstanz. Nicht nur die Hegau Berge winken, wie es eine der innoffiziellen Strophen des Badnerlieds besingt. An sonnigen Föhntagen grüßen auch der Säntis, die Kurfürsten und wie sie alle heißen, die Berge der Schweizer Alpen. Da ist einem dann eher nach ausruhen und genießen denn nach arbeiten. Im Sommer weht mediterranes Flair durch die Stadt. Das Lebenstempo der Menschen ist dem angepasst. Hier geht es eher ruhig zu denn hektisch. Mit seiner intakten Altstadt (da die Schweiz direkt angrenzt, haben die Konstanzer während des 2. Weltkriegs anstatt zu verdunkeln ihre Lichter hell leuchten lassen, so dass die alliierten Flugzeuge sie für einen Teil der Schweiz gehalten und deshalb nicht bombardiert haben) zieht Konstanz jährlich viele Besucherinnen und Besucher an. Wer am Samstag in die Stadt geht – gemeint ist die Altstadt mit ih- Dekanin Hiltrud Schneider-Cimbal ren vielen attraktiven Gebäuden und Geschäften – kann meinen, er sei in der Schweiz, da viele Schweizer zum Einkaufen nach Konstanz kommen, was sich seit der Freigabe des Franken noch verstärkt hat. Manche behaupten, Konstanz sei ein Vorort von Zürich. Das wäre es auch fast geworden, wenn im 15. Jh. die Landorte der Eidgenossenschaft zugestimmt hätten, dass Konstanz in die Eidgenossenschaft aufgenommen wird, was sie nicht taten, da sie ein Übergewicht der Städte befürchteten. Konstanz ist eine katholische Stadt, das ist nicht nur an der „Fasnet“ spürbar. Vom Pfarrvereinsblatt 3-4/2015 75 „schmotzigen Dunstig“ bis die „Fasnet“ am Dienstag verbrannt wird, läuft in Konstanz nichts. Da wird gefeiert in allen Straßen und Lokalen der Innenstadt. Mitten drin unübersehbar steht das Münster, in dem 1414–1418 das Konstanzer Konzil tagte, um das Schisma von 1378 zu beenden. Auf Betreiben König Sigismunds wurde 1413 in Lodi ein Konzil nach Konstanz einberufen. Konstanz, an einer der damals wichtigsten Handelsstraßen gelegen, erschien ihm dafür ein guter Platz auf neutralem Boden zu sein. So beherbergte Konstanz für fünf Jahre zahlreiche Gäste aus der damals bekannten Welt. Ulrich Richental hat das Geschehen des Konzils in seiner bekannten Chronik festgehalten, so dass wir einen Eindruck davon bekommen können, wie es während des Konzils in Konstanz zuging. Es gab zu wenig Betten, die Besucher mussten umschichtig schlafen – das können wir Ihnen ersparen. Zum 600jährigen Jubiläum des Konzils laden die Stadt, die Kirchen und die Universität zu vielen unterschiedlichen Gottesdiensten, Festakten, Begegnungen, Veranstaltungen, Symposien, Vorträgen und Events ein. So wird es in diesem Jahr ein Gedenkwochenende zum 600. Todestag von Jan Hus geben, das mit einem Gottesdienst mit Landesbischof, Erzbischof, Kardinal Vlk aus Tschechien und einem Vertreter der Böhmischen Brüder endet. Auch der Henhöfertag findet in diesem Jahr (26.9.) in Konstanz statt. 76 Pfarrvereinsblatt 3-4/2015 Im Konzilsgebäude, einem ehemaligen Handels- und Lagerhaus, in dem auch wir tagen werden, fand im November 1417 das Konklave statt, bei dem Martin der V. als einziger Papst nördlich der Alpen gewählt wurde. Zwei der größten Kränkungen der Stadt hängen zum Teil mit uns Evangelischen zusammen: Schon ab 1518 verbreiteten sich die Ideen der Reformation in Konstanz und 1528 war der evangelische Gottesdienst allgemein eingeführt. Die Reformatoren Konrad und Johannes Zwick, Ambrosius und Thomas Blarer und deren Schwester Margarethe waren die wichtigsten Vertreter der neuen Lehre. Von ihnen finden sich noch Lieder in unserem Gesangbuch. Als 1548 kaiserliche Truppen vor den Toren der Stadt standen, ergab sich die von der Pest geschwächte Bürgerschaft unter dem kaiserlichen Druck. Die Blarer-Brüder sowie Konrad Zwick flohen zusammen mit ihren Anhängern in die Schweiz. Die Konstanzer verloren ihre Rechte als freie Reichsstadt und gehörten von nun an zu Österreich. Bis zum Toleranzedikt von Joseph II 1781 war es Evangelischen nicht erlaubt, in der Stadt zu wohnen. 1785 bildete sich eine Kolonie von hugenottischen Flüchtlingen aus Genf. Zu diesen gehörte Jacques Louis Macaire de L’Or. Neben der ersten Bank richtete er eine IndienneManufaktur mit Indigo-Färberei ein. Damit legte er die Grundlage für den wichtigsten Konstanzer Industriezweig des 19. und 20. Jahrhunderts. War der Verlust der Rechte als freie Reichsstadt schon kränkend genug, kam nun noch hinzu, dass der nach Meersburg geflohene Bischof nicht daran dachte, nach Konstanz zurück zu kehren. Als dann 1821 das seit 590 bestehende Bistum Konstanz auf Freiburg und Rottenburg aufgeteilt wurde, war die Kränkung riesig. Dem nicht genug. Im Laufe der Jahrhunderte änderten sich die Verkehrswege und Konstanz rückte immer mehr aus dem Zentrum an den Rand. Die einst stolze freie Reichsstadt verlor zunehmend an Bedeutung. Das 1906 gegründete Technikum Konstanz entwickelte sich im Laufe der Jahre zur Hochschule für Technik, Wirtschaft und Gestaltung. 1966 wurde die Universität gegründet. Anders als in Heidelberg prägt die heutige Eliteuniversität die Stadt kaum. Die Universität liegt im Wald auf dem Gießberg außerhalb der Stadt und die HTWG am Seerhein. Außer den vielen jungen Menschen, für die es immer zu wenig Wohnraum gibt, was die Stadt durch neu begonnene Bauvorhaben nun beenden will, ist in Konstanz wenig von der Universität zu spüren. Bemerkbar macht sich das universitäre Umfeld besonders in den zahlreichen kulturellen Angeboten der Theater, der Südwestdeutschen Philharmonie und den vielen anderen Kulturveranstaltungen, die für eine Stadt in der Größe von Konstanz (81 000 Einwohner) bemerkenswert sind. Bemerkenswert ist auch, dass vor 101 Jahren hier der internationale Versöh- nungsbund gegründet wurde. Am Vorabend des 1. Weltkriegs versuchten Christinnen und Christen aus ganz Europa hier in Konstanz diesen Krieg noch zu verhindern. Kaum in Konstanz angekommen erreichte sie leider schon die Nachricht vom Ausbruch des Krieges. Vielleicht trafen sie sich in Konstanz, weil es hier ganz leicht ist, ins Paradies zu kommen. Die älteste evangelische Kirche der Stadt, die Lutherkirche (1873), liegt in diesem einst vor den Toren der Stadt gelegenen Gebiet, wo sich der Schindanger, auf dem Jan Hus vor 600 Jahren verbrannt wurde, befand. Dort gab es einst kleine Fischerhäuser am Seerhein, der dieses Gebiet nach Nordosten begrenzt. Seerhein deshalb, weil an der alten Brücke in Konstanz der Rhein aus dem Bodensee, in den er bei Rheineck hineingeflossen ist, austritt und wieder zum Fluss wird. Nach einigen Kilometern weitet er sich wieder zum Untersee, Zellersee und Gnadensee und umschließt die Insel Reichenau mit ihrem alten kirchlichen Erbe aus dem 8. bis 10. Jh. In Stein am Rhein setzt er endgültig als Fluss seinen Weg bis in die Nordsee fort. Zu Konstanz gehört auch die Blumeninsel Mainau der Grafen Bernadotte, die ein Magnet für viele Besucher ist. Die Frage, was wir als Evangelische Kirche den zahlreichen Gästen am Bodensee zu bieten haben und wie wir das finanzieren, beschäftigt uns. Durch Projektmittel der Landeskirche konnten zusammen mit dem Kirchenbezirk Überlingen-Stockach verschiedene Angebote für Touristen wie z. B. Pfarrvereinsblatt 3-4/2015 77 „Pilgern auf Badisch“ auf den Weg gebracht werden. Unsere Gottesdienste auf dem Schiff locken Hunderte an und manch einer bleibt enttäuscht zurück, weil das Schiff voll ist. Die evangelischen Kirchengemeinden in Konstanz und im Hegau sind „junge“ Gemeinden. Viele sind erst nach dem 2. Weltkrieg entstanden. Sie buchstabieren, was es heißt, ökumenisches Miteinander zu leben und eigene Identität zu gestalten. Im Sinne des Mottos, das sich der Kirchenbezirk bei der letzten Visitation gegeben hat: „Wir setzen die Segel hin auf Gottes Mehr“, freuen wir uns, dass wir in der Zeit des Konzilsjubiläums mit vielen Menschen aus unterschiedlichen Ländern und mit unterschiedlichen Glaubenstraditionen über die Frage, was bedeutet es, heute zu glauben, ins Gespräch kommen. So sind wir auch gerne Gastgeber für diesen gemeinsamen badisch-württembergischen Pfarrerinnen- und Pfarrertag, bei dem wir hoffentlich miteinander kleine Schritte hin auf „Gottes Mehr“ tun werden. Herzliche Grüße vom See ■ Hiltrud Schneider-Cimbal, Dekanin 78 Pfarrvereinsblatt 3-4/2015 Einladung zur Mitgliederversammlung des Evangelischen Pfarrvereins in Baden e. V. beim Tag der Pfarrerinnen und Pfarrer in Baden und Württemberg im Konzil Konstanz, Hafenstraße 2, Unterer Konzilsaal (EG) Es ist nicht möglich, direkt am Konzil zu parken. Parkplätze finden Sie bei Übernachtung in Ihrem Hotel oder im umliegenden Stadtgebiet. Gegenüber des Konzils befindet sich das Parkhaus am Fischmarkt, weitere Parkmöglichkeiten sind ausgeschildert. Sonntag, 11. Oktober 2015 Beginn: 17.00 Uhr Tagesordnung 1. Tätigkeitsbericht des Vorstandes 2. Rechnungslegung 2014 3. Entlastung des Vorstandes 4. Bestellung eines Rechnungsprüfers 5. Aus der Geschäftsstelle 6. Aufnahme neuer Mitglieder nach § 4 Abs. 2 Satz 2 der Satzung 7. Sonstiges Die Mitglieder des Vorstandes tagen um 14.00 Uhr im Steigenberger Hotel im Blauen Salon und die Mitglieder des Erweiterten Vorstandes tagen um 15.15 Uhr ebenfalls im Steigenberger Hotel im Roten Salon. Karlsruhe, 16. März 2015 Matthias Schärr, Vorsitzender Pfarrvereinsblatt 3-4/2015 79 Tag der Pfarrerinnen und Pfarrer in Konstanz Hinweise zu den Rahmenprogrammen am Tag der Pfarrerinnen und Pfarrer in Baden und Württemberg am Montag, 12. Oktober 2015 Nicht nur zum Pfarrertag, auch zu den Rahmenprogrammen ist eine Anmeldung erforderlich. Weitere TeilnehmerInnen am Pfarrertag melden sich bitte telefonisch in der Geschäftsstelle an (Tel. 07 21 - 84 88 63). Anmeldeschluss ist Ende Mai 2015. Weitere Hinweise zum Pfarrertag finden Sie im beigelegten Einladungsprospekt. Änderungen vorbehalten. Hinweise zu den Rahmenprogrammen: Start für alle Programme ist nach dem Mittagessen um 13.45 Uhr vor dem Konstanzer Konzil. Ende der Rahmenprogramme um ca. 15.45 Uhr. Gottesdienstbeginn: 16.30 Uhr. C: Führung „Von Wuostgräben und anderen stillen Örtchen“ Ein Blick hinter die steinernen Fassaden von Konstanz: Normalerweise nicht zugängliche Feuergassen und Hinterhöfe präsentieren ein ganz anderes Bild der einst mächtigen Bischofsmetropole – das Mittelalter lebt im Verborgenen! D: Führung „Das große sakrale Erbe“ Zahlreiche Kirchen und Klöster zeugen von dem großen sakralen Erbe der einstigen Bischofsmetropole. Besucht werden u. a. die ehemalige Abtei Petershausen, das Münster, das Dominikanerinnenkloster Zoffingen sowie die untergegangene Pilgerkirche St. Jodok. A: Führung „Gegenwart der Vergangenheit“ Klassischer Rundgang durch die historische Altstadt. Schwerpunkt auf traditionellen Sehenswürdigkeiten von Konzil über Münster und St. Stephan bis hin zur Niederburg und ihren Weinstuben. E: Führung „Hus in Konstanz“ Drei Wochen lebte Reformator Jan Hus in Konstanz in Freiheit, bevor er gefangen gehalten und schließlich öffentlich verbrannt wurde. Rundgang durch seine Aufenthaltsorte in dieser Zeit, u. a. Dominikaner- und Franziskanerkloster, Münsterplatz und die heutige Hussenstraße. B: Führung „Auf den Spuren des Konzils“ Der Rundgang beleuchtet die Zeit des Konstanzer Konzils zwischen 1414 und 1418 und zeigt dabei bekannte und weniger bekannte Zeugen und Schauplätze dieser Epoche wie die Grabplatte des Philosophen Chrysoloras oder Hussens Weg zum Scheiterhaufen. F: Führung „Wände erzählen Geschichten“ Konstanz gilt als die am reichsten mit Wandmalereien ausgestattete Stadt des deutschen Sprachraumes. Besonders die Fresken der Gotik verbreiteten sich im 13. Jahrhundert von Konstanz aus in die damals bekannte Welt. Überblick über eine sehr sehenswerte Kunstform. 80 Pfarrvereinsblatt 3-4/2015 G: Schifffahrt über den Bodensee Alternativ zu den Führungen wird eine 2stündige Schifffahrt über den Bodensee angeboten, bei der man die einzigartige Landschaft bei kollegialem Austausch genießen kann. Dieses Programm ist auch gut für gehbehinderte und ältere Teilnehmer geeignet. Aufgrund der großen Teilnehmerzahl in diesem Jahr konnten wir Rahmenprogramme nur bis zu einer Gesamtzahl von 500 Personen bereitstellen. Außer den organisierten Rahmenprogrammen bietet Konstanz noch eine Fülle von weiteren Möglichkeiten. Beachten Sie aber, dass am Montag die allermeisten Museen geschlossen sind. Gottesdienstbeginn ist um 16.30 Uhr im Münster, ca. 10 Gehminuten vom Konzil und den meisten Hotels entfernt. Witwen der Ordinationsjubilare: Herzliche Einladung zum Tag der badischen Pfarrerinnen und Pfarrer Die Witwen der diesjährigen Ordinationsjubilare (Ordinationsjahrgänge 1955, 1965, 1975, 1990, 2005) sind zur Ordinationsjubilarsfeier im Rahmen des Pfarrerinnen- und Pfarrertages am 11. und 12. Oktober 2015 in Konstanz herzlich eingeladen. Da bei den Witwen keine Aufzeichnungen über das Ordinationsjahr des verstorbenen Ehemannes geführt werden, sind wir auf Meldungen angewiesen. Die einzelnen Jubilarskurse, zum Beispiel die jeweiligen SprecherInnen, werden gebeten, die Witwen von verstorbenen Kurskollegen auf den Pfarrerinnen- und Pfarrertag anzusprechen. Falls der Wunsch auf Teilnahme besteht, bitten wir in der Geschäftsstelle um Nachricht bis Ende Mai. Natürlich können sich die Witwen der Ordinationsjubilare, die teilnehmen möchten, auch direkt bei uns in der Geschäftsstelle (Tel. 07 21 – 84 88 63) melden. Die Einladung gilt für beide Veranstaltungstage. Die Namen unserer Ordinationsjubilare finden Sie in dieser Ausgabe der Pfarrvereinsblätter. Pfarrvereinsblatt 3-4/2015 81 Thema Johannes vor Christus Wie sich badische Gemeinden nennen In einer kleinen Untersuchung geht Pfr. Dr. Jochen Kunath der Frage nach, welche Namensgeber sich in unserer Landeskirche Gemeinden gesucht haben. Von rund 700 badischen Gemeinden haben fast 170 einen Namen.1 Davon haben ca. die Hälfte wiederum einen biblischen Namen und davon ziemlich genau wieder die Hälfte den Namen eines der vier Evangelisten. In der absoluten Reihenfolge liegt „Johannes“ vorne mit 18 Gemeinden, die seinen Namen tragen, darauf folgen „Christus“, „Paulus“ und „Luther“ mit je 12, „Petrus“ mit 11 und dann „Markus“, „Lukas“ und „Frieden“ mit je 8 Nennungen. Man kann grob die Namensgeber der Gemeinden unterscheiden in 1. biblisch motivierte Namen, 2. kirchengeschichtlich bestimmte Namen und 3. Namen, die eher einem theologischen Motiv folgen. Als biblisch motivierte Namen sind an erster Stelle (wie gesagt) die vier Evangelisten zu nennen; sodann weitere Personen (im weitesten Sinne) aus der Bibel: Immanuel, Michael, Petrus, Andreas, Thomas, Zachäus, Jakobus, Stephanus, Philippus und Christus. Besonders erwähnt werden sollte der Name „Maria Magdalena“ für die evangelische Gemeinde im Freiburger Stadtteil Rieselfeld; nicht nur, weil deren Kirche eine ökumenische ist und die katholische Gemeinde den gleichen Namen mit einem „St.“ davor trägt, sondern es ist die einzige weibliche Per82 Pfarrvereinsblatt 3-4/2015 son aus der Bibel, die als Namensgeberin herangezogen wurde; neben ihr trägt nur noch eine Gemeinde einen „weiblichen Namen“, es ist die Margaretengemeinde in Steinen/Höllstein. Schließlich dienen noch zwei Orte aus der Bibel als Namensgeber: „Emmaus“ (zweimal) und „Gethsemane“. Kirchengeschichtliche Namensgeber sind in der zeitlichen Reihenfolge ihres Wirkens zunächst die beiden Märtyrerinnen: die eben schon erwähnte Margarete und Laurentius (Lorenz) aus dem 3. Jahrhundert, dann (in einem großen Sprung über das Mittelalter hinweg) die Reformatoren Luther (12 Mal), Melanchthon (5 Mal), Calvin (in Mannheim) und Brenz (in Offenburg), ihnen folgen Paul Gerhardt (4 Mal) als Namensgeber, Matthias Claudius (in Freiburg), Blumhardt (in Heidelberg), Wichern (auch in Heidelberg) und schließlich Dietrich Bonhoeffer (5 Nennungen). Nach geschichtlich eher regionalen Größen wurden die Ludwigsgemeinde in Freiburg und die Karl-Friedrich-Gemeinde in Karlsruhe benannt. Schließlich folgen Gemeinden, die eher nach einem theologischen Motiv benannt wurden (31 Gemeinden von 167 Gemeinden, also ca. 20 %). Hierbei ist die Christologie (und hier das Werk Christi) prägend mit insgesamt 14 Nennungen: „Kreuz“ (4 Mal) und „Auferstehung“ (2 Mal), dazu „Epiphanias“, sodann „Erlöser“ (2 Mal), „Versöhnung“ (4 Mal) und „Gnade“ (1 Mal); stark biblisch motiviert ist hierbei der Gemeindename „Zum guten Hirten“ (in Karlsruhe). Er schlägt eine Brücke von biblisch und theologisch motivierter Namensgebung. Nimmt man die hier genannten christologischen Namensgebungen zu der expliziten von „Christus“ dazu, so überholt „Christus“ „Johannes“ doch deutlich mit jetzt insgesamt 26 Nennungen. Desweiteren kommt zweimal die Trinität vor und dreimal „Heilig Geist“; als christliche Glaubenstugenden werden bei Gemeindenamen einmal „Hoffnung“ (in Karlsruhe) und achtmal „Frieden“ genannt, was bei den theologischen Motiven das häufigste Vorkommen bedeutet. Zwei Gemeinden haben ihre Namen von den theologischen und geistlichen Bestrebungen nach Einheit: die Konkordiengemeinde und die Unionsgemeinde, beide in Mannheim. Im Blick auf das Ganze zeigt sich, wie bestimmend Personen für die Namensgebung von Gemeinden sind, und hier allem voran die Bibel, speziell die Evangelisten, sowie die Reformatoren. Es gibt aber auch zahlreiche Namen (22 von 167) die singulär für die Bezeichnung von Gemeinden sind, worin sich das spezielle historische Herkommen, die Kreativität und Individualität der Gemeinden zeigt. Im Blick auf die Gemeinden selbst, deren Homepage zum Beispiel, wird aber auch deutlich, wie oft dort eine Selbstauskunft über die Namensgebung und Namensgeber fehlt. Was nicht heißt, das man von Namensgeber oder Namensgeberin nicht auch inspiriert ist/sein kann. Marginal sind Frauen und vergessen bestimmte Epochen der Kirchengeschichte; theologisch hat man das „Bilderverbot“ auch bei der Namensgebung beachtet, und Namen, die das Glaubensleben beschreiben, haben nicht Eingang gefunden in den Kanon badischer Gemeindenamen. Spannend wäre, ob und wie die Vorbilder das Leben und die Profile der Gemeinden geprägt haben und prägen. ■ Jochen Kunath, Freiburg 1 Diese kleine Recherche geht von den „Gemeindepfarrstellen der Badischen Landeskirche nach Kirchenbezirken“ im „Badischen Pfarrkalender 2015“ aus. Wohlwissend, dass dort auch unter dem Ortsnamen geführte Gemeinde durchaus eigene Namen besitzen können, sind nur die Gemeinden eingeflossen, die dort mit einen eigenem Namen geführt sind. Das sind im Wesentlichen Gemeinden, die in badischen Klein- und Großstädten liegen, wo eine differenzierte Namensgebung erst erforderlich ist. Fusionierte Gemeinden bzw. Gemeindenamen wurden getrennt betrachtet, in Freiburg wurden die Namen der Predigtbezirke mitgewertet und Namen, die sich auf einen Teil der jeweiligen Stadt bezogen (Altstadtgemeinde, Nordgemeinde u. ä.) wurden nicht berücksichtigt. Pfarrvereinsblatt 3-4/2015 83 Thema Vorbilder Brauchen Menschen und besonders Heranwachsende Vorbilder? Prof. Dr. Hartmut Rupp, ehemaliger Leiter des Religionspädagogischen Instituts in Karlsruhe, geht dieser Frage angesichts zunehmender Sorge um die Wertvorstellungen junger Menschen nach. In seinem Vortrag, den er im Februar 2010 auf dem Religionspädagogischen Tag in Konstanz hielt, denkt er über den Wert von Vorbildern als Orientierungshilfen nach und fragt nach einer zeitgemäßen Vermittlung im Religionsunterricht. Noch in den 90er Jahren meinte man in der Pädagogik, die Zeit der Vorbilder sei vorbei. Wenn jeder einmalig sein will, dann braucht man kein Vorbild, ja man muss Vorbilder sogar abweisen. Im Gefolge der Amokläufe stellte sich jedoch der Eindruck ein, dass Heranwachsende Vorbilder nachahmen und sich dabei offenbar von Computerspielen und Filmen bestimmen lassen. Die Frage stellt sich, ob schon allein das Betrachten solcher Szenen prägt. Die Frage bricht auf, ob man nicht andere, bessere Vorbilder ins Spiel bringen muss. Diese Frage stellt sich auch angesichts der Sorge über die Wertvorstellungen Heranwachsender. Sie brauchen positive Vorbilder wird dann gesagt. Angesichts einer erkennbaren Entkirchlichung machen sich auch die Kirchen Sorgen um die Akzeptanz christlicher Lebensorientierungen. Sie sind fremd und für manche schräg geworden. Naheliegend ist es dann, ver84 Pfarrvereinsblatt 3-4/2015 stärkt christliche Vorbilder anzubieten und ihnen nachzuspüren. Hinzu kommt, dass das Leben immer komplizierter und unübersichtlicher wird. Der Gedanke, dass ein Mensch seinen Lebensweg ganz allein findet, ist verwegen. Offenbar brauchen Menschen um „ihren“ Weg und ihren Lebensstil zu finden, Orientierungsmarken, die ihnen helfen, ihr eigenes Konzept zu entwickeln. In diesem Zusammenhang stellt sich Aufgabe, neu über Vorbilder und das Vorbildlernen nachzudenken. Ich will dies in sechs Schritten und mit sechs Fragen tun: 1. Was ist eigentlich ein Vorbild? 2. Wozu braucht es Vorbilder? 3. Was sind gute und schlechte Vorbilder? 4. Sind Märtyrer, Heilige und Glaubenshelden gute Vorbilder? 5. Ist Jesus ein Vorbild? 6. Wie geht das Vorbildlernen im Religionsunterricht? Lassen Sie uns gemeinsam einen Weg gehen. 1. Was ist eigentlich ein Vorbild? Ich versuche eine Definition: Ein Vorbild ist das Bild einer realen, aber auch virtuellen Person, aus der Gegenwart oder der Vergangenheit, das von einem Individuum bewundert, verehrt oder geliebt wird und dessen eigenes Leben, Erleben, Urteilen, Verhalten und Handeln nachhaltig beeinflusst. Diese Bewunderung kann der Person als Ganzer gelten, aber auch in Teilen. So kann mir Luther vor dem Reichstag in Worms imponieren oder Franz von Assisi in seinem Verhältnis zu Tieren. Manche unterscheiden vom Vorbild das Ideal als Inbegriff des Vollkommenen, das aber nicht mehr an eine reale Person gebunden ist; das Idol, das eine fast göttlich verehrte, idealisierte Person bezeichnen soll; den Star, der aus dem Alltäglichen herausgehoben ist und angehimmelt wird, den Helden, eine Person also, die in einem bestimmten Bereich herausragende Fähigkeiten hat und besondere Leistungen vollbracht hat. Manche reden lieber von Modellen statt von Vorbildern. Sie wollen damit betonen, dass es nicht so sehr darum geht, einem Vorbild ganz nachzufolgen, sondern über das Leben eines Menschen nachzudenken, über Entscheidungen zu diskutieren und zu prüfen, was daran sinnvoll und gut ist. Man kann sich bei Modellen auch mit Teilaspekten beschäftigen. Modelle repräsentieren Einstellungen und Verhalten, aber sie drängen nicht auf Nachvollzug. Ich möchte im Moment bei dem Begriff Vorbild bleiben. Auch deswegen, weil er uns so vertraut ist. Helden, Stars, Idole, aber auch die personalen Modelle sind für mich alle Vorbilder, die sich jemand vor sich hin stellt, um sich damit auseinander zu setzen, um sich über sich selbst klar zu werden, um daran irgendwie Anteil zu nehmen oder sich daran zu orientieren. Über die Art der Beziehung soll damit noch nichts ausgesagt sein. Das kann Bewunderung sein, aber auch eine kritische Auseinandersetzung. Meist haben Menschen verschiedene und ganz unterschiedliche Vorbilder. Im Sport ist jemand anderes ein Vorbild, im Glauben jemand anderes. Offenbar verändern sich im Laufe des Lebens die Vorbilder. Wie war das bei Ihnen? Als Junge beschäftigte ich mich mit Winnetou und Old Shatterhand, mit Prinz Eisenherz, in späteren Schuljahren mit französischen Existenzialisten, im Beruf hat mich ein Bischof unserer Kirche geprägt. An dieser Reihe merkt man auch, dass verschiedene Zeiten ganz verschiedene Vorbilder haben. Prinz Eisenherz lesen heutige Jugendliche wohl nicht mehr. Sie leben in PC-Spielen, wie z. B. WOW (world of warcraft). Doch nicht nur das. In einem persönlichen Leben verändern sich mit fortschreitendem Lebensalter auch die Vorbilder. Wie war das bei Ihnen? Sprechen Sie einmal darüber! Das Entscheidende an einem Vorbild ist der personale Bezug, die Bewunderung, die Verehrung, die Liebe, die Neugierde. Ganz allgemein die subjektive Bindung. Ohne diese Bindung ist die Biografie eines Menschen eine nette Geschichte, aus der wir vielleicht viel aus anderen Zeiten lernen können. Es sind aber noch keine Vorbilder. Ganz bestimmt hat diese Bindung mit dem zu tun, was heutzutage als Vorbild gehandelt wird und was andere für gut halten. Meist werden Personen zu Vorbildern, die auch von anderen hochgehalten werden. Ich bringe durch ein Vorbild auch zum Ausdruck, zu wem ich gehören möchte. Letztlich aber wählen sich Menschen ihre Vorbilder selbst. Die neurologische Basis für die Aneignung von Vorbildern sind nach Joachim Bauer die so genannten „Spiegelneuronen“. Das sind Nervenzellen in der HirnPfarrvereinsblatt 3-4/2015 85 rinde, die eine Handlung, eine Empfindung oder auch eine Äußerung, die man wahrnimmt, unwillkürlich „spiegeln“. Sie beginnen dann zu feuern und lassen in einer Art innerer Simulation spüren, was in einem anderen vorgeht. Es macht bei dem Empfinden offenbar keinen Unterschied, ob ich etwas selbst mache oder dieses bei einem anderen beobachte. Jedes Mal feuern die Nervenzellen gleich intensiv. Spiegelneuronen sind die neurologischen Grundlagen von Empathie. Dazu gehört auch das Mitleid. Ich verziehe das Gesicht, wenn jemand eine klaffende Wunde hat. Ich spüre selber, was jemand anders empfindet. Spiegelneuronen sind in der Lage, beobachtete Aspekte zu einer Gesamttendenz zusammenzusetzen. Selbst die Handlungsabsichten anderer finden im Gehirn ihren Niederschlag. Dieser fällt umso differenzierter aus, je mehr Erfahrungen ich schon selber gemacht habe. Dann kann ich sogar relativ gut Voraussagen treffen. Diese Nervenzellen speichern auch Handlungen und erlauben nicht nur ein Mitfühlen, sondern auch eine Nachahmung. Sie beeinflussen auch unser Befinden, was z. B. Mobbing erklärt. Die Ablehnung anderer lösen Unsicherheit aus, führen zu Selbstzweifel und lassen Dinge tun, die man eigentlich gar nicht wollte. Allerdings sind diese Spiegelneuronen auf Entwicklung angewiesen. Um Mitgefühl entwickeln zu können, braucht es der Erfahrung persönlich erlebten Mitgefühls. Das klingt wie die behavioristische Verhaltenstheorie von Burrhus Frederik Skinner, die davon ausgeht, dass unser Ver86 Pfarrvereinsblatt 3-4/2015 halten total durch die Umwelt bestimmt wird. Wir richten uns nach dem, was andere gut finden und nicht negativ bestrafen oder ablehnen. Joachim Bauer weist darauf hin, dass auch diese Spiegelungen Konstruktionsprozesse sind (86f.), die immer auch von Vorerfahrungen mit den anderen und mit sich selbst abhängig sind. Bauer bezieht diese Einsichten auch auf PC-Spiele und bewertet diese kritisch (120f.). Aber er betont zugleich, dass für Lernende die zwischenmenschliche Beziehung mit lebendigen Personen von überragender Bedeutung ist (118. 120f.). 2. Wozu braucht es Vorbilder? Offenbar haben alle Menschen Vorbilder, zumindest gab es Phasen in Ihrem Leben, in dem sie irgendwelche Personen bewundert und sich an ihnen orientiert haben. Das kann im Jugendalter, wie wir wissen, durch Nachahmung entstehen. Dann kleiden sich Jugendliche so wie Tokio Hotel, gehen wie die Models bei Heidi Klum oder piercen sich wie Stefan Kretzschmar. Interessanterweise sind es aber gar nicht die Medienstars, die so sehr bewundert werden. Auf solche Ideen kommt man nur, wenn man bei einer Umfrage 30 Popstars vorlegt und danach fragt, wer am ehesten ein Vorbild ist. Fragt man hingegen offener, z. B. zu wem schaue ich auf oder wem würde ich ein Bundesverdienstkreuz verleihen, dann kommt etwas ganz anderes heraus. Die Zeitschrift „Eltern“ fragte 2000 1.842 7–17Jährige: „Wem würdest du ein Bundesverdienstkreuz verleihen?“ Was kam heraus? Das Ergebnis ist: 34,1 % sagen ihre Mutter, 28,6 % der eigene Vater, 23,4% Lady Diana, 18,9 % Großeltern, 14 % sehen Freunde als Vorbild an. Diese Vorbilder stammen also nur zu einem geringen Teil aus der Fernwelt oder aus der Medienwelt, sondern überwiegend aus der Nahwelt. Auffallend ist, dass Mädchen überwiegend weibliche, Jungen hingegen überwiegend männliche Vorbilder wählen und offenbar auch brauchen. Das muss man sich für den Religionsunterricht merken, der zwar überwiegend von Frauen erteilt wird, aber meist mit männlichen Vorbildern hantiert. All das erklärt aber noch nicht, warum Kinder und Jugendliche sich innerlich an Personen binden und zu einem Leitbild für ihr eigenes Leben machen. Warum sind sie geradezu auf Vorbilder angewiesen? Das hat ganz stark mit lebensgeschichtlichen Bedürfnissen und Entwicklungsaufgaben zu tun. Nach Robert Havighurst stellen für sich Menschen in verschiedenem Alter ganz unterschiedliche Entwicklungsaufgaben, die sich aus dem Zusammenspiel von drei Faktoren ergeben: personalen Bedürfnissen (wie Anerkennung, Selbstbehauptung oder Selbstbewusstsein), aus den biologischen Veränderungen und Erwartungen der Umwelt. Zwischen 6 und 12 stellen sich z. B. die Aufgaben, eine positive Einstellung zu sich selbst als einem wachsenden Organismus zu gewinnen, Konzepte und Denkschemata zu entwickeln, die für das Alltagsleben notwendig sind, Gewissen und eine Moral zu bilden, gegenüber sozialen Gruppen und Institutionen Einstellungen zu entwickeln. Zwischen 12 und 18 stellen sich z. B. die Aufgaben, neue und reifere Beziehungen zu Altersgenossen beiderlei Geschlechts aufbauen, die männliche oder weibliche Geschlechtsrolle zu übernehmen, die eigene körperliche Erscheinung zu akzeptieren, von den Eltern und von anderen Erwachsenen emotionale Unabhängigkeit zu erreichen, Werte und ein ethisches System zu erlangen, das als Leitfaden für das Verhalten dient. Das Eigentümliche dieser Entwicklungssaufgaben ist, dass man jeden Tag damit beschäftigt ist. Sie begleiten alles, was man tut oder unternimmt. Die Lösungen prägen die Art und Weise, wie man später neue Aufgaben bearbeitet. Auf diesem Hintergrund möchte ich sagen: Vorbilder sind Gestalten, • an denen seelische Bedürfnisse stellvertretend abgearbeitet werden können, • die es erlauben, eigene Sehnsüchte und Wünsche zu spiegeln, • die eine einigermaßen verlässliche und verstehbare Weltordnung repräsentieren und garantieren, • die moralische Regeln und Prinzipien veranschaulichen, • die beispielhafte Lebensverläufe bieten und erkennen lassen, wie das Leben verlaufen kann. Ich will dies an einigen Beispielen begründen: Alle Kinder haben mit narzistischen Kränkungen zu kämpfen. Da wird das Geschwisterchen scheinbar mehr geliebt oder man bekommt an der Kasse die BonPfarrvereinsblatt 3-4/2015 87 bons nicht, die man unbedingt will. Da muss man ins Bett, obwohl man noch spielen will und sich selber noch gar nicht müde fühlt. Pippi Langstrumpf bietet die Möglichkeit, narzistische Allmachtsphantasien auszuagieren und ein Gegengewicht zu den Kränkungen zu entwickeln. Pippi wohnt ganz alleine zu Haus, ist riesenstark, achtet nicht auf ordentliche Kleidung und macht alles, was sie will. Offenbar brauchen Menschen solche Vorbilder bis ihr Ich realistisch wird. Das kann jedoch dauern. Buben beschäftigen sich derzeit gerne mit wilden Ungeheuern von Playmobil oder sonst wo her. Ich vermute, dass hier die wilden, schrecklichen, chaotischen und ungezogenen Seelenanteile ausagiert werden. Doch sie werden nicht nur ausagiert, sondern sie werden auch bekämpft und besiegt durch Kämpfer, durch Ritter oder sonstige Helden. Ich habe einst Siegfried aus dem Nibelungenlied bewundert und mit großer Freude angesehen, wie der Kasper das Krokodil austrickst. Sollten wir nicht auch in der Grundschule uns mit dem Heiligen Georg oder mit dem Erzengel Michael beschäftigen? Buben brauchen männliche Vorbilder mit Kraft, mit Witz und wenn es sein muss auch mit Waffen. Terminator 2, alias Arnold Schwarzenegger, belegt, dass Jugendliche auf Erzengel Michael geradezu abfahren. Was reizt eigentlich an Michael Jackson, an Madonna, an Christina Aguilera, an Tokio Hotel und all den anderen Popstars? Sie spiegeln eigene Sehnsüchte. Gerade Kids in der Vorpubertät und dann in der 88 Pfarrvereinsblatt 3-4/2015 Pubertät sehnen sich danach, im Mittelpunkt zu stehen, bejubelt zu werden und gut auszusehen und Erfolg zu haben. Die Spiegelneuronen zeigen, dass ich an ihrem Erfolg und an ihrer Bewunderung innerlich teilhaben kann. Das gilt auch für Michael Schumacher, Dirk Nowitzki oder Lukas Podolski. Während die einen deren Trikots oder Mützen tragen, hängen die anderen deren Poster an die Wand oder verfolgen Fernsehsendungen, in denen sie vorkommen. Wiederum geht es um den Wunsch, angehimmelt zu werden, Erfolg zu haben, im Fernsehen zu sein. Jungen orientieren sich offenbar mehr am Sport, Mädchen mehr an Popstars. Das hat auch problematische Seiten, wie die Barbie Puppe zeigt. Da werden auch Körperbilder transportiert, die zur Ablehnung eigener körperlichen Entwicklungen führen können. Möglicherweise hängen davon Essstörungen ab und die Schwierigkeit, ein eigenes akzeptiertes Körperbild aufzubauen. Es gibt gute und schlechte Vorbilder. Kinder und Jugendliche erleben die Welt als unübersichtlich. Da gibt es bedrohliche, aber auch hilfreiche Aspekte. Muss man Angst haben und sich gar bewaffnen? Darf man Vertrauen haben und auf Hilfe rechnen? Comic-Helden wie Superman, Batman, aber auch Filme wie Matrix mit dem messianischen Neo im Mittelpunkt, nehmen diese Unsicherheiten auf und erklären auf dramatische Weise die Welt: Es gibt böse Mächte, die einen bedrohen und zu überwältigen scheinen. Doch es gibt gute Begleiter, die eingreifen, wenn wir nicht weiter wissen. Sie repräsentieren Werte, wie Hilfsbereitschaft, Verantwortung, Empathie, Intelligenz, Mut, Durchsetzungsvermögen, die diese Welt erhalten und sie wohnlich machen. Die Frage ist, ob das wahr ist. Die Fantasy Romane über Harry Potter unterstützen den Traum, etwas Besonderes, ja sogar ein verkanntes Genie zu sein. Doch in der Geschichte des Zauberers von Hogwarts wird gleichzeitig ein Weltbild entworfen. Diese Welt ist gefährlich und durch Bosheit und Heimtücke gekennzeichnet. Das Böse, Lord Voldemort, nimmt stets eine andere Gestalt an und lässt sich nicht recht fassen. Doch es gibt überraschende Helfer und vor allem Freunde, die zu einem halten. Und überhaupt: die Liebe der Mutter schützt vor der allerletzten und größten Gefahr. Daily soaps (Lindenstraße) und Telenovelas (Anna und die Liebe) sind Beziehungsund vor allem Liebesgeschichten. Sie zeigen, wie Personen, ständig neue Alltagskonflikte zu bewältigen haben und dabei ganz unterschiedliche Gefühle durchleben. Sie spiegeln die Beziehungswünsche von Jugendlichen und jungen Erwachsenen, vor allem von Frauen, bieten aber zugleich Verhaltensmodelle für das Alltagsleben an, die in Gesprächen mit anderen diskutiert werden. Die Identifikation mit solchen Vorbildern und das Gespräch darüber vermittelt gleichzeitig das Gefühl, zur Gruppe jener zu gehören, die diese Sendungen sehen. Man will mitsprechen können und dabei im Gespräch Alltagskonflikte bearbeiten. Mit dem Jugendalter stellt sich die Aufgabe, eine personale Identität aufzubauen: Wie will ich sein? Wer will ich sein? Gleichzeitig stellt sich die Aufgabe, sich ein Weltbild und eine entsprechende Moral zu erarbeiten. Biographien, wie z. B. von Martin Luther King geben immer Einblick in eine bestimmte Phase der Weltgeschichte, hier die USA während der Zeit der Bürgerrechtsbewegungen. An Martin Luther King wird aber auch deutlich, wie die Bergpredigt gelebt werden kann und dass dies nichts für Feiglinge ist. Hier werden moralische Regeln und Prinzipien anschaulich und verständlich. Für mich repräsentiert Dietrich Bonhoeffer (Sie merken, ich bin immer bei Männern) das Prinzip Verantwortung vor Gott und den Menschen. Bei dieser Auseinandersetzung ist aber wichtig, dass nichts beschönigt wird. Fatal ist es, wenn sich nachher herausstellt, dass ein solches Vorbild idealisiert wurde und negative Aspekte verschwiegen worden sind. Menschliches Leben ist aber immer auch von Widersprüchen durchzogen, nie rund, sondern stets bruchstückhaft. Die Biographien großer Menschen der Weltgeschichte lassen auch erkennen, wie das Leben läuft und wie es gestaltet werden kann. In einer Lebensphase, in der ich ständig dabei bin zu entwerfen, wie ich leben möchte, wie ich leben könnte und wie ich leben sollte, lassen diese erkennen, was den Lebenslauf bestimmt, was ihn verändert und herausfordert. Wichtig scheint mir aber, dass Heranwachsende sich mit verschiedenen, auch Pfarrvereinsblatt 3-4/2015 89 gegensätzlichen Biographien beschäftigen. Lohnend ist, nach einem roten Faden und nach den Quellen in einem solchen Leben zu suchen. Lohnend fände ich darüber nachzudenken, warum diese Personen sich so und nicht anders entscheiden und was sie dabei motiviert. Biographien sind einzigartig. Jeder lebt sein eigenes Leben. Aber vielleicht zeigen sich Grundhaltungen und Quellen, die auf das eigene Leben bezogen werden können. Ich habe die ganze Zeit die Bedeutung von Vorbildern für die Individuation betont. Das ist gut und richtig so. Vorbilder haben jedoch auch mit Sozialisation zu tun und deshalb auch mit dem gesellschaftlichen Zusammenleben. Vorbilder repräsentieren Tugenden, die menschliche Gemeinschaften brauchen, um auf menschliche Weise und soziale Weise zu funktionieren. Aus diesem Grunde hat die Zeitschrift „Die Zeit“ im November 2009 knappe Beschreibungen von 50 Deutschen vorgelegt, die das repräsentieren, was eine Bürgergesellschaft hierzulande braucht, um zivil zu sein. Sie alle kennen das von Dienstjubiläen, bei denen älter gewordene Kolleginnen und Kollegen als Vorbilder des deutschen Bildungswesens vorgestellt werden. Offenbar brauchen wir auch Vorbilder und Leitbilder für einzelne Institutionen und die Gesellschaft als Ganzes. 3. Was sind gute und schlechte Vorbilder? Gut sind Vorbilder und damit subjektive Bindungen an eine Person, wenn sie einem helfen, zu einem eigenständigen, zuversichtlichen und verantwortungsbewuss90 Pfarrvereinsblatt 3-4/2015 ten Leben zu gelangen (Individuation). Sie sind Vorbilder, wenn sie zu einem Leben in Freiheit, Gerechtigkeit und einem gewaltfreieren Umgang mit der Schöpfung beitragen (Sozialisation). Gut sind Vorbilder, die Mitgefühl und Verlässlichkeit zeigen. Denn das ist genau das, was jeder Heranwachsende braucht. Darin liegt auch das Geheimnis, warum Mama die Beste ist. Heutige Mütter repräsentieren viel Zuwendung und Zuneigung, viel Lebenskompetenz und das Interesse an einem gesicherten Leben. Da dies grundlegenden eigenen Bedürfnissen entspricht, werden sie am ehesten als Vorbilder gewählt. Gute Vorbilder helfen zudem, bei der Bearbeitung von Entwicklungsaufgaben, insbesondere bei der Identitätssuche im Jugendalter. 4. Sind Märtyrer, Heilige und Glaubenshelden gute Vorbilder? Das wird man nicht bestreiten können. Deshalb spielen sie im Religionsunterricht beider Konfessionen eine wichtige Rolle. In der Grundschule sind Elisabeth von Thüringen Bildungsplanthema, der Heilige Nikolaus und Sankt Martin, auf evangelischer Seite kommt Martin Luther hinzu. In der Sekundarstufe I werden gerne biblische Personen vorgestellt: Amos, Paulus, Petrus, Maria. Dazu kommen aus der Kirchengeschichte der Heilige Franziskus, aber auch Johann Hinrich Wichern (1808–1861), Adolph Kolping (1813–1865), Wilhelm Emmanuel Ketteler (1811–1877). Dazu kommen dann aus dem 20. Jahrhundert Martin Luther King, Johannes der XXIII oder Die- trich Bonhoeffer, Frauen wie Mutter Teresa oder Sophie Scholl. Sie repräsentieren moralische Regeln und Prinzipien. In ihrem Leben finden sich Entscheidungssituationen, die exemplarisch durchgespielt, auf eigene Weise gelöst und dann mit ihrem Leben verglichen werden können. Doch wir sollten sorgfältig darauf schauen, was wir da tun. Viele Heilige der katholischen Kirche lebten zölibatär und taten Wunder. Können und wollen wir das zum Vorbild machen? Viele haben sich selbst aufgeopfert. Manchmal hat man den Eindruck, das geschah irgendwie auch lustvoll. Kann das Vorbild sein? Manche haben große Entbehrungen gesucht und auf sich genommen. Sollen wir das Jugendlichen als Vorbild anbieten? Die großen Vorbilder lebten in einer ganz anderen Zeit. Für Schülerinnen und Schüler sind sie Weltrekordler, die eine Sprunghöhe überqueren, die sie selber nie schaffen können. Und ich vermute, dass Sie und ich das auch nicht können. Hinzu kommt, dass sie häufig idealisiert und dadurch überhöht werden. Das könnte ein Grund sein, warum sie so wenig nachhaltig wirken. Dennoch liegen auch da Chancen. Sie zeigen sich bei Fragen wie: Wofür will ich mein Leben einsetzen? Aber auch: Was gibt mir Kraft? Schaut man genauer hin, dann zeigen sich meist noch andere Züge. Hier will ich ganz bei uns Evangelischen bleiben: Luther war in Worms mutig, aber vielleicht nicht so, wie man das im 19. Jahrhundert sah. Doch er hat Sätze über die Juden geschrieben, die sind antisemitisch. Er hat aus ganz opportunistischen Gründen die Zweitehe Philipps von Hessen gesegnet. Gute Vorbilder sind realistisch. Sie zeigen auch die Spannungen und die Widersprüche auf. Die Idealisierungen nehmen uns Jugendliche sowieso nicht ab. Offenkundig können wir auch aus ihrem Leben nur Aspekte herausgreifen. Für Hans Mendl, ein katholischer Religionspädagoge aus Passau, sind gute Vorbilder vor allem Vorbilder aus der Nahwelt. Er sucht nach so genannten local heroes, nach kleinen Heiligen, nach Alltagshelden, die sowohl in der Gegenwart leben, als auch in der Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler anzutreffen sind. Die sind nicht so groß und nicht so ideal. Die Hochsprunglatte liegt niedriger. Da ist die Frau, die sich für Asylbewerber einsetzt. Da ist der Kirchenälteste, der Hilfstransporte nach Rumänien organisiert. Da ist der Jugendliche, der ein Kind vor dem Ertrinken rettet. Diese Heiligen kann man einladen, man kann sie besuchen, man kann sie befragen, man findet von ihnen Artikel auf der Lokalseite der Tageszeitung. 5. Ist Jesus ein Vorbild? Für viele Menschen war und ist Jesus ein attraktives Vorbild. Nach einer Stern Umfrage aus dem Jahre 2003 sagen 26,3 % der Befragten, sie schauten zu Jesus Christus auf und suchten ihm nachzueifern (35 % der Mutter). Wie ist das bei uns selbst? Franz von Assisi hat ihn nachgeahmt und dabei sogar die Wundmale erfahren. Thomas von Kempen hat den BePfarrvereinsblatt 3-4/2015 91 griff der Imitatio, der Nachahmung Christi geprägt, der gerade in der Mystik viel Aufmerksamkeit gefunden hat. Der katholische Religionspädagoge Georg Langenhorst weist darauf hin, dass Jesus in verschiedener Hinsicht zum Vorbild werden kann: • als Lehrer diakonischer Liebe, er wendet sich den Armen zu • als provozierender Prophet: Weh euch, die ihr reich seid • als Hinweisgeber für das, was im Leben ganz wichtig ist. Beten und Handeln gehören zusammen • und als Lehrer der Gottesbeziehung. Gott ist wie ein barmherziger Vater. Das Vaterunser ist Grundmodell der Beziehung zu Gott. Langenhorst sieht Jesus als wahren Menschen. Jesus zeigt, was es heißt als Ebenbild Gottes zu leben, möglicherweise bis hin zur Art und Weise, wie er seinem Tod entgegengeht. Das kann im Einzelfall jedoch ganz schwierig werden. In der Bergpredigt legt Jesus den Männern seiner und unserer Zeit ein Handeln nahe, das allen Idealen der Männlichkeit widerspricht. Da soll man die andere Wange hinhalten, da soll man seinen Feind lieben. Das wurde schon in der Antike als Schwächlichkeit ausgelegt. Das ist auch heute so. Fünfzehnjährige Jungs, die sich wie Machos benehmen können, gehen da auf Gegenkurs. Sie stehen ja vor der Aufgabe, für sich selbst überhaupt erst einmal zu entdecken, wie sie Mann sind und wie sie Mann sein wollen. Dabei orientieren sie sich ganz selbst92 Pfarrvereinsblatt 3-4/2015 verständlich an den Mann-Bildern unserer Zeit. Hier stellen sich zwei Aufgaben: über das eigene Bild der Männlichkeit nachzudenken und zu entdecken, dass Gewaltverzicht Mut braucht. Wer Angst hat, der muss eine Waffe nehmen. Ich vermute aber sehr, dass das viel Zeit braucht. Unser Glaube versteht Jesus sowohl als wahrer Mensch als auch als wahrer Gott. Seine Lebensgeschichte zeigt uns die Barmherzigkeit Gottes auf anschauliche, eben menschliche Weise. Jesus lebt die Liebe Gottes bis hin zur letzten Konsequenz, damit Menschen erfahren, wer sie sind und wie sie leben können. Selbst das Kreuz ist ein Zeichen der Liebe Gottes. Sie zeigt uns die Feindesliebe Gottes. Gott bleibt uns treu, obwohl wir alles tun, um ihn davon abzubringen. Jesus lässt Menschen entdecken, was sie sind: Gottes geliebte Söhne und Töchter, die glücklich werden wollen, die ihr Leben im Griff behalten wollen, die sich aber selbst und anderen im Wege stehen; die Angst haben, nicht geliebt zu werden und die ihren eigenen Grenzen und ihren Schwächen nicht ins Auge sehen können und die selbst dann noch, wenn sie für andere da sind, klammheimlich bewundert werden wollen. Jesus Christus lässt Menschen erfahren, dass sie als Personen Gott recht sind. Sie müssen weder ihre Grenzen und ihre Schwächen wegstecken, noch ihr Versagen und ihre Schuld verbergen. Sie brauchen nicht perfekt zu sein und auch nicht so, wie andere wollen. Jesus verspricht einem jeden von uns Gottes Begleitung in einer unübersichtlichen und uneindeutigen Welt. Jesus traut uns zu, für andere da sein zu können und einen Beitrag leisten zu können für eine gerechtere, friedlichere, solidarische Welt. „Ihr seid das Salz der Welt. Ihr seid das Licht der Welt.“ Jesus zeigt Wege, wie man zu Gott als Quelle finden kann. Jesus Christus stellt uns ein gutes Vorbild vor Augen. Er zeigt uns, wie wir menschlich leben können und er zeigt uns zugleich, was uns die Kraft gibt als Menschen zu leben. Er ist sozusagen das Urbild guter Vorbilder. Er liefert Maßstäbe für gute Vorbilder. Gute Vorbilder machen nicht klein, sondern sie machen Mut. Gute Vorbilder nehmen die Angst und gestehen Schwäche ein. Vorbilder muten einem nicht alles zu, sie nehmen Rücksicht auf eigene Möglichkeiten und lassen diese entdecken. Gute Vorbilder machen aufmerksam auf die Not anderer. Gute Vorbilder lassen erkennen, dass Menschen nicht einfach aus eigener Kraft leben können. Ein solches Vorbild ist für mich in der Bibel Petrus (wieder ein Mann). Er lässt sich begeistern für Jesus und das Reich Gottes. Er ist der Mann der ersten Stunde. Ein Held. Er blickt fast ganz durch, nimmt jedoch den Mund zu voll, verliert den Mut, versagt erbärmlich und läuft davon. Ausgerechnet aber er wird zum Fels für die Gemeinde Jesu Christi bestellt. Ausgerechnet er bekommt die Gewalt der beiden Schlüssel. Ausgerechnet ihm mutet Jesu zu, seine Lämmer zu weiden. An ihm kann man lernen, dass Gott und sein Christus Menschen brauchen können, obwohl sie kläglich versagt haben. Vielleicht gerade deswegen. 6. Und wie geht jetzt das Vorbildlernen im Religionsunterricht? Vorbildlernen hat mit dem Aufbau subjektiver Bindungen an realen und virtuellen Personen zu tun. Das können auch Personengruppen sein. Bindung hat sicherlich mit Aufmerksamkeit und Auseinandersetzung zu tun. Zeit spielt da eine wichtige Rolle. Deshalb sind auch Religionslehrerinnen und Religionslehrer eher Vorbilder, wie jene Personen, die sie in 45 Minutenpaketchen vorstellen. Ich meine das ganz ernst. Wir sind potentielle Vorbilder, vor allem für den christlichen Glauben, für die mit ihm verbundenen Wertvorstellungen und für das Leben in der Kirche. Doch ich kann uns trösten. Wir können Bindungen wollen, doch wir können sie nicht erzeugen. Das machen die Schülerinnen und Schüler selbst. Sie wählen selber aus, was sie beeindruckt und womit sie sich identifizieren. Zwischen Modell und Verhalten vermitteln kognitive Prozesse. Diese werden durch Lob und Tadel, Belohnung und Strafe beeinflusst, aber nicht determiniert. Das entspricht dem Lernen am Modell von Albert Bandura. Vorbildlernen hat mit vier verschiedenen Faktoren zu tun: Der Aufmerksamkeit, der gedanklichen Verarbeitung, dem Ausprobieren und der Verstärkung von anderen aber auch durch sich selbst. Die gedankliche Verarbeitung hat Pfarrvereinsblatt 3-4/2015 93 immer auch mit Wissen zu tun. Vorbildlernen funktioniert am besten mit lebendigen Modellen, funktioniert aber auch bei beim Betrachten von Filmen oder dem Lesen von Geschichten. Aufmerksamkeit finden Modelle, die im Trend liegen, die positiv verstärkt werden, die zu der Bezugsgruppe gehören, zu der ich selber gehören möchte, die klar umrissen sind, die Prestige haben, Intelligenz, Einfluss, die selbstsicher sind, aber eben auch emotionale Wärme zeigen. Das Modell muss aber zu der Person irgendwie passen und die Identifikation muss elementaren Bedürfnissen gerecht werden. Solche Bedürfnisse sind die Wünsche nach Selbstachtung und dem Einbringenkönnen von eigenen Gaben, nach Wertschätzung, nach Liebe und sozialer Bindung aber auch nach gewisser Sicherheit. Hier wird noch einmal deutlich, warum moderne Mütter so bedeutsam sind. Eine Siebtklässlerin schreibt: „Ich habe kein Vorbild, da ich mich nicht festlegen möchte. Es gibt viele Promis, Bekannte oder andere, die ich als Vorbild nennen könnte. Aber von denen haben viele nur eine Eigenschaft, die mir gefällt und die ich auch gerne haben möchte. Aber es gibt keine Person, an der ich alles perfekt finde. Wenn es eine Person aus Sarah Connor, LaFee und Hermine aus Harry Potter geben würde, könnte ich diese Vorbild nennen. Wer für jemanden ein Vorbild ist, ist jedermanns eigene Entscheidung!“ Diese eigene Konstruktion findet sich nicht erst bei Jugendlichen, sondern schon bei Kindern, und zwar von Anfang 94 Pfarrvereinsblatt 3-4/2015 an. Das hat jedoch didaktische Konsequenzen. Es kommt offenbar darauf an, eigene Bindungsprozesse zu unterstützen, zu begleiten, aber auch zu befragen. Ich sehe drei Bereiche des Vorbildlernens: (1) die persönlichen Vorbilder, die Stars und die Helden (2) die kleinen Heiligen des Alltages (3) die großen Vorbilder des Christentums und andere Religionen Bei den persönlichen Vorbildern, bei den Stars und Helden geht es um jene Vorbilder, die Schülerinnen und Schüler schon längst haben. Wir entdecken sie, wenn wir danach fragen, was sie beeindruckt, wem sie ähnlich werden wollen, welches ihre Stars sind, ihre Helden und ihre Vorbilder. Das können Leitfragen sein für Collagen, für Präsentationen, für Installationen. Ich denke dabei vor allem an die Schülerinnen und Schüler ab neun Jahren. Da sollte auch die Mama und der Papa erscheinen können, aber auch Raum bleiben für Harry Potter, für Batman und Spiderman. Bei größeren kommen Pop- und Sportstars zum Zuge. Was finde ich an denen gut? Da sie meist nur von einer Seite wahrgenommen werden, wäre es wichtig, Biographisches herauszufinden. Dabei geht es auch um Befragungen. Meinen die es ganz ehrlich, wenn sie bei einer Charity-Show mitmachen? Glauben die an Gott oder an was glauben die eigentlich? Wir sollten uns nicht scheuen, uns auch Helden aus PC-Spielen zeigen zu lassen. Wir verstehen sonst nicht, wo die Jugendlichen leben und wen sie anhimmeln, mit wem sie sich identifizieren. Für Christen ist es wichtig zu entdecken, ob Attraktivität, Erfolg, Leistung und Glauben zusammengehen können. Bei den kleinen Heiligen oder Helden des Alltages besteht die erste Aufgabe darin, diese überhaupt einmal zu finden. Wem sollte man eigentlich hier bei uns das Bundesverdienstkreuz verleihen? Da muss man schon recherchieren in der Zeitung, in der Zeitungsredaktion, im Mitteilungsblatt, im Rathaus oder im Pfarramt. Wonach man suchen kann, findet man auch auf der Homepage Local Heroes von Hans Mendl. Daraus entsteht dann eine Ausstellung, eine Homepage, ein Buch. Wichtig ist das Gespräch. Warum ist da so etwas wie ein Held oder wie ein Heiliger oder eine Heilige? Hier geht es um Vorbilder, zu denen man selber Schritt für Schritt erst seine Bindung aufbaut. Zu der Bewunderung kommt dann der Stolz über die eigene Recherche. Ich vermute, dass Vorbilder durch eine persönliche intensive Beschäftigung erst zu Vorbildern werden. Meines Erachtens sollte jedoch kein Schüler/keine Schülerin die Schule verlassen haben, ohne sich mit einem der großen Vorbilder des Christentums, aber auch anderen Religionen, detailliert und persönlich befasst zu haben. Einige Namen sind schon gefallen, andere kommen noch dazu: Franz von Assisi, Thomas Morus, Mutter Teresa, Nikolaus von der Flüe, Martin Luther King, Sophie Scholl, Dietrich Bonhoeffer, Bischof Romero, Dorothee Sölle, Mahatma Gandhi, Dalai Lama, Paul Schneider, Maximilian Kolbe, Alfred Delp, Bartholomaeus de las Casas und viele andere mehr. Aber das könnte bei je- dem Schüler, bei jeder Schülerin jemand anderes sein. Eine wichtige Rolle spielt dabei das eigene Interesse, die eigene Neugier. Dies kann der Person, der Zeit oder einem Detail gelten. Grundlage dafür sind Biographien, wie die von Renate Wind über Dietrich Bonhoeffer oder Filme über Martin Luther oder jetzt Albert Schweitzer. Im Laufe der Klassen 9 und 10 hätte jeder (realistischer Weise wohl doch eine Kleingruppe) die Aufgabe, seine Person in 45 Minuten vorzustellen. Dazu gehört jedes Mal auch ein Gespräch: Was imponiert mir an diesem Leben? Womit tue ich mich aber auch schwer? Wo gibt es so etwas wie einen roten Faden? Welche Entscheidungen waren besonders wichtig? Wie hätte ich gehandelt? Was hat die Person bewogen so zu handeln wie sie gehandelt hat? Ist das ein Heiliger oder eine Heilige? Aber was ist eigentlich ein Heiliger? Wichtig ist, dass ganz verschiedene Biographien vorgestellt und erarbeitet werden. Abschließend möchte ich noch einmal drei Aspekte hervorheben. (1) Heranwachsende stricken sich ihre Vorbilder selbst. Aber ohne Wolle kann man nicht stricken. Darin gründet die Aufgabe, im Religionsunterricht Vorbilder zu thematisieren. (2) Vorbildlernen braucht Zeit und Aufmerksamkeit. Der normale Unterricht reicht dazu nicht aus. Dazu braucht es schon Zeit neben dem Unterricht, z. B. in Recherchen oder Projekten. Ohne Pfarrvereinsblatt 3-4/2015 95 Thema eine gewisse Begeisterung geht das jedoch nicht, aber auch nicht ohne viel Verstärkung durch Lehrende. (3) Zum Vorbildlernen gehört auch das Nachdenken über das Vorbildlernen. Aber das kann ich mir erst bei älteren Schülerinnen oder Schülern vorstellen. Soweit meine Einsichten. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ■ Hartmut Rupp, Karlsruhe Quelle: www.rpi-baden.de/html/media/ dl.html?i=15455 Paul Gerhardt und die Folgen Pfarrer Achim Schowalter ist Pfarrer in der Paul-Gerhardt-Gemeinde Bruchsal. Da wird schon mal die Gemeindearbeit und das Gemeindeleben zu Arbeit und Leben mit „unserem“ Paul Gerhardt. Eine Liebeserklärung. Eine der ersten Stunden im Konfirmandenunterricht: Kirchen-Rallye. Wer hat zuerst die Lücken auf dem Laufplan ausgefüllt: Anzahl der Kirchenbänke? Was steht und liegt alles auf dem Altar? Wer ist auf den Bildern in der Sakristei abgebildet? … Und dann noch: Adresse des Gemeindezentrums: Paul-Gerhardt-Straße. Name der Kirche: Paul-Gerhardt-Kirche. „Alles Paul Gerhardt hier“, meinte einmal ein Konfirmand. „Aber wer war das?“ Um den Liederdichter und Pfarrer Paul Gerhardt geht es dann zum Abschluss der Konfirmandenstunde. Seine Lebensgeschichte, seine Lieder und warum die Kirche Paul-Gerhardt-Kirche heißt. Letzteres ist im Grundsteintext festgehalten: „Weil in den notvollen Jahren des zweiten Weltkriegs von 1939–1945 und nach der Zerstörung von Bruchsal die glaubensstarken und aus der Not geborenen Lieder Paul Gerhardts, des Sängers aus dem Dreißigjährigen Krieg, unserer Gemeinde besonders lieb und tröstlich geworden waren, beschloss der Kirchengemeinderat am 7. Oktober 1953, dass dieses Gotteshaus den Namen PaulGerhardt-Kirche tragen soll.“ In den knapp über der 60 Jahren Gemeindegeschichte seither wurden die 96 Pfarrvereinsblatt 3-4/2015 Lieder von Paul Gerhardt in den Gruppen und Kreisen, alleine zu Hause oder auch unterwegs aus Ausflügen, bei Beerdigungen und im Gottesdienst und noch zu manch anderen Anlässen gerne und häufig gesungen. Und weil die Lieder eben von Paul Gerhardt sind, gönnte man sich auch mal alle im Gesangbuch abgedruckten Strophen. Immer wieder gab und gibt es Andachten oder Liedpredigten, die ein Paul-Gerhardt-Lied in den Focus nehmen. Und oft hat dies einen besonderen Flair: das ist „unser“ Paul Gerhardt. Konfi-Unterricht zu lernen ist in jedem Jahr für die Konfirmandinnen und Konfirmanden, von denen viele Migrationshintergrund haben, eine echte Herausforderung. Mein Motivationsversuch: In diesem Lied – wie überhaupt bei Paul Gerhardt – sind viele Schätze für einen lebendigen Glauben zu heben. Oder, wie ein Kollege einmal sagte: Paul Gerhardt, das sind Schwarzbrot-Texte. ■ Achim Schowalter, Bruchsal Den 400. Geburtstag des Liederdichters wollten wir als Gemeinde besonders feiern. Zwei Vortragsabende, ein Liederabend, Gottesdienste mit Liedpredigten und verschiedene kleine Impulse brachten den Jubilar in Erinnerung. Unser letztes Paul-Gerhardt-Experiment: Beim Gottesdienst zum 60. Geburtstag der Gemeinde haben wir den Festgottesdienst mit dem Lied „Befiehl du deine Wege“ beschlossen – die erste Strophe gesungen vom Kirchenchor auf den Bachsatz von „O Haupt voll Blut und Wunden“, die zweite vom Frauenchor Femmes Vocales auf die Melodie von Michael Haydn und zwei weitere Strophen begleitet von der Jugendband – verrockt auf die Melodie von Bartholomäus Gesius/Georg Philipp Telemann, die sich im Gesangbuch findet. Es war der Versuch, Paul Gerhardt ins Gespräch der Generationen zu bringen. Das Echo: von verständnislos bis euphorisch. A propos „Befiehl du deine Wege“ und Konfis: Vier Strophen aus diesem Lied im Pfarrvereinsblatt 3-4/2015 97 Zur Diskussion Je Suis Charlie – wirklich? Was um alles in der Welt hat die Redaktion der Badischen Pfarrvereinsblätter bewegt, um nicht zu sagen, geritten, auf der Rückseite ihrer Februarausgabe unter der Sparte „Zu guter Letzt“ unkommentiert in der bekannten logo-ähnlichen Form abzudrucken: JE SUIS CHARLIE? Welche Botschaft wollte sie uns dabei mitgeben, falls da von „Botschaft“ überhaupt die Rede sein kann? Überhaupt keine Frage, dass das abscheuliche Verbrechen von Paris zutiefst Entsetzen und Betroffenheit in aller Welt auslöst und dass den Opfern unser Respekt und den Angehörigen unser Mitgefühl gehört. Keine Frage, dass die Terroristen von Paris überhaupt nicht auf dieses Podest der selbsternannten Religionsschützer, auf das sie sich selbst heben wollen, gehören, sondern gemeine Mörder und Trittbrettfahrer sind, die auch so behandelt werden müssen: als Kriminelle. Ferner außer Frage, dass Presse- und Meinungsfreiheit gerade jetzt erst recht hochgehalten und praktiziert werden muss und sich Demokratien nicht im Geringsten durch Terror einschüchtern lassen dürfen. Aber muss es denn nicht endlich mal erlaubt sein, nach der Qualität und dem Niveau der Karikaturen von Charlie Hebdo zu fragen? Es gibt wirklich Karikaturen und Satiren mit Geist und Niveau, auch solche über Kirchen. Die Karikaturen von Charlie Hebdo gehören nicht dazu, sondern sind unterste Schublade mit einem Aussage- und Informationswert annä98 Pfarrvereinsblatt 3-4/2015 hernd gleich Null. Das gilt sowohl für die gegen den Islam wie gegen das Christentum gerichteten Karikaturen, die eine Geisteshandlung verrät, der nichts mehr heilig ist und die skrupellos in den Dreck zieht, was immer noch einigen Menschen auf dieser Welt, die mit Gewalt nicht das Geringste zu tun haben, heilig ist. Wenn ein Tag nach dem Pariser Anschlag in Charlie Hebdo eine Karikatur veröffentlicht wird, die den Gekreuzigten am Strand liegend zwischen Damen im Bikini zeigt mit dem Kommentar: „Dreh mich mal um, dass ich besser lieg!“ ist alles, was sich Niveau nennen kann, um Dimensionen unterschritten. Es liegt auf derselben Ebene, wenn, wie auch schon geschehen, ein mit Urin gefüllter Bottich, obendrauf ein Kreuz schwimmend, allen Ernstes als Kunstwerk ausgezeichnet wird. Bezeichnenderweise war es das eher linksorientierte ARD-Magazin Panorama, dass aus Anlass dieser aktuellen Ereignisse in einem bemerkenswerten Beitrag sogar von der „Heuchelei“ bei der Verteidigung der Pressefreiheit sprach, die solange hochgehalten wird, wie sie dem eigenen Meinungsmainstream entspricht, auch wenn sie sich das Recht herausnimmt, in den Dreck zu ziehen, was gläubigen Menschen, ob Moslems oder Christen heilig ist. Wo bleibt hier die längst überfällige Stellungnahme von Christen und Kirche und muss hier erst Panorama kommen und die notwendigen kritischen Fragen stellen, das gewiss nicht im Verdacht ist, Kirchen unter allen Umständen zu verteidigen? Keine Frage, dass Christen (und auch Moslems) derartige Verunglimpfungen aushalten müssen und auch solche Art der „Karikatur“ in einer Demokratie erlaubt ist. Aber sie sollten in aller Klarheit mit dem Mittel gekontert werden, das Christen und Kirchen allein haben: mit dem Wort und mit Argumenten – und mit genau dem Respekt vor den Menschen, die diese Karikaturisten vermissen lassen. JE SUIS CHARLIE? – ich jedenfalls nicht. Abschließend möchte ich noch daran erinnern: Ohne die jüdisch-christliche Tradition und ohne den biblischen Glauben, dass der Mensch Ebenbild Gottes ist, gäbe es keine Menschenrechte und auch keine Meinungs- und Pressefreiheit. Wer also meint, Religion und Glaube derart karikieren zu müssen, muss wissen, was er da tut. ■ Erhard Schulz, Sinsheim Pfarrvereinsblatt 3-4/2015 99 Aus dem Pfarrverein Ein neues Angebot – Dies Academicus in Heidelberg am 3.7.2015 Der Evangelische Pfarrverein wird sich in diesem Jahr das erste Mal daran beteiligen, zusammen mit der theologischen Fakultät der Universität Heidelberg und dem Freundeskreis der Fakultät einen Dies Academicus zu organisieren. Alle Mitglieder, aktive und emeritierte Pfarrerinnen und Pfarrer sind ganz herzlich eingeladen, einen Tag nach Heidelberg zu kommen und an zwei Vorlesungen teilzunehmen, die aus diesem Anlass gehalten werden (siehe nebenstehendes Plakat). Die Idee kam zustande, weil von Kolleginnen und Kollegen immer wieder von der Erfahrung berichtet wurde, dass es im Alltag des Pfarramtes schwer gelingt, sich theologisch auf dem Laufenden zu halten. Mit Prof. Theißen und Prof. Oeming konnten wir zwei Professoren unserer Fakultät gewinnen, die vielen auch aus aktuellen Publikationen bekannt sind. Prof. Dr. Manfred Oeming wird uns unter dem Titel: „Die Steine und das Wort – Die Bedeutung der Archäologie für die Interpretation der Bibel“ über neueste Ergebnisse seiner Ausgrabungen berichten und was daraus für die Exegese des Alten und Neuen Testaments folgt. Prof. Dr. Gerd Theißen wird uns durch den Bericht über die neuesten exegetischen Forschungen des Römerbriefes auf den neuesten Stand bringen. In der Pause zwischen den Vorträgen soll genug Zeit zum Austausch sein. 100 Pfarrvereinsblatt 3-4/2015 Wir bitten alle Interessierten herzlich, bis zum 15.6.2015 kurz in der Geschäftsstelle per Mail oder telefonisch Bescheid zu geben, dass sie kommen werden. Telefon: 07 21 - 84 88 63, E-Mail: [email protected] Wer sich angemeldet hat, bekommt das Vorlesungsverzeichnis des Vormittags zugesandt, falls man den ganzen Tag an der Universität verbringen möchte. Fahrt und evtl. Mittagessen bitten wir selbst zu organisieren. Nach der Veranstaltung sind diejenigen, die noch im Heidelberg bleiben können, herzlich eingeladen am Fakultätsfest in der Karlstraße teilzunehmen, bei dem man mit Professoren und Studierenden in Kontakt kommen kann. Wir freuen uns, Ihnen dieses Angebot machen zu können und sind gespannt auf die Resonanz. ■ Matthias Schärr, Heidelberg Pfarrvereinsblatt 3-4/2015 101 Die folgenden Seiten wurden aus Datenschutzgründen entfernt Die folgenden Seiten wurden aus Datenschutzgründen entfernt Aus der Pfarrvertretung Aktuelle Informationen Seit Jahresbeginn (und zunächst einmal für 3 Jahre) gilt eine neue Rechtsverordnung zur Zusammenarbeit in Dienstgruppen (GVBl 16 2014, S. 298–301). Diese RVO ist die Konkretisierung des Gesetzes zur Neuordnung des Gruppenamtes, das die Landessynode im Frühjahr 2014 beschlossen hatte. Mit diesem Gesetz wurde die Form der Zusammenarbeit zwischen PfarrerInnen und GemeindediakonInnen, die es bisher nur in Gruppen(pfarr)ämtern gab, zum Standard; nunmehr wird jede Zusammenarbeit zwischen den beiden Berufsgruppen auf Stellen innerhalb einer Pfarrgemeinde als Dienstgruppe bezeichnet (wobei auch weitere Personen, die auf landeskirchlichen Stellen in der Gemeinde tätig sind, wie z. B. KirchenmusikerInnen, einer Dienstgruppe zugeordnet werden können); auch wurde die Möglichkeit überparochialer Dienstgruppen geschaffen. Außerdem beschloss die Synode, dass auch GemeindediakonInnen mit der Pfarramtsverwaltung einer Gemeinde beauftragt werden können, auf Anregung der Pfarrvertretung jedoch nur dann, wenn GemeindediakonInnen mit mindestens 75 %-Deputat in dieser Gemeinde eingesetzt sind. Die Rechtsverordnung regelt nun Details der Beschlüsse vom vergangenen Frühjahr: So muss eine Dienstgruppe die Aufgabenverteilung (unter Einbeziehung der betroffenen Gremien) in einem Dienstplan regeln; eine koordinierende Person (mit StellvertreterIn) beruft regelmäßig Dienstbesprechungen ein, deren Absprachen zu 108 Pfarrvereinsblatt 3-4/2015 protokollieren sind. Die koordinierende Person soll nach zwei Jahren wechseln. Zur Klärung im Konfliktfall wie auch zur Reflexion der Zusammenarbeit soll die Dienstgruppe regelmäßig Supervision wahrnehmen. Eine interessante Neuregelung ist die Möglichkeit, das mit einer Stelle verbundene Pflichtdeputat im Religionsunterricht vollständig durch eine andere Person in der Dienstgruppe vertreten zu lassen (§ 7 (2)). Da sich jedoch fehlende Unterrichtserfahrung bei einem späteren Wechsel auf eine andere Stelle als nachteilig erweisen könnte, sieht die RVO einen Mindestanspruch auf 2 Stunden Religionsunterricht vor. Wer also auf einen späteren Wechsel in die Schule spekuliert, sollte dies durch die Ausgestaltung des Dienstplans deutlich machen; andernfalls dürften Bewerbungen wenig aussichtsreich sein. Wichtig ist die Bestimmung, dass Dienstpläne neu zu erstellen sind, wenn ein neues Mitglied zur Dienstgruppe hinzukommt. Ob diese Regelung in der Praxis funktioniert oder ob sich Spezialisierungen ergeben, die auch Stellenwechsel überdauern (weil sie den oder die Neue in Form deutlicher Erwartungen binden), wird die Zukunft zeigen. Ich kann jedenfalls PfarrerInnen, die sich auf Stellen in einer Dienstgruppe bewerben, nur raten, die Frage möglicher Aufgabenverteilungen schon im Vorfeld einer Bewerbung zu thematisieren und in Grundzügen abzusprechen. Wie Dienstpläne für Dienstgruppen oder Vereinbarungen für überparochiale Dienst- gruppen aussehen können, wird zukünftig eine Handreichung der Landeskirche, die noch in Bearbeitung steht, musterhaft zeigen; sie ist zu finden unter http://www.service-ekiba.de/html/media/dokumente_formulare_arbeitshilfen700.html. Bei der Januarsitzung hat sich die Pfarrvertretung mit einem landeskirchlichen Vorhaben beschäftigt, das in Form von Schulungen und einer Verpflichtungserklärung auf uns alle zukommen wird: dem Projekt „Alle Achtung. Grenzen achten – vor Missbrauch schützen“ (http://alleachtung.net). Hintergrund ist ein Bundesgesetz von 2012, welches das Kindeswohl und den Schutz von Kindern vor Missbrauch zum Standard für Kinder- und Jugendarbeit macht. Das Projekt soll nun dieses Gesetz umsetzen. Zum Projekt der Landeskirche gehört die Schulung im Umgang mit Kindern, bei denen Anzeichen für Kindeswohlgefährdung bestehen ebenso wie der Ausschluss von Menschen mit Vorstrafen im Bereich der sexuellen Gewalt und des Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen aus deren Betreuung durch Vorlage eines erweiterten polizeilichen Führungszeugnisses. Nachdem die Konzeptionsphase im Lauf dieses Jahres zu Ende geht, folgt eine Umsetzungsphase 2015 bis 2018, bei der im Anschluss an Schulungen Verpflichtungserklärungen unterzeichnet werden sollen (der Wortlaut der Erklärung kann unter „Material“ auf der oben genannten Homepage abgerufen werden). Die Pfarrvertretung hat in ihrer Stellungnahme die Einführung der Verpflichtungs- erklärung begrüßt; das Ansehen der PfarrerInnenschaft hängt daran, dass Menschen sich auf die Achtung ihrer Grenzen bei uns absolut verlassen können. Gleichzeitig legt die Pfarrvertretung Wert darauf, dass in der Handhabung bei Verdachtsfällen nicht nur das berechtigte Interesse von Schutzbefohlenen vor Grenzverletzungen berücksichtigt wird, sondern auch das schützenswerte Interesse von MitarbeiterInnen der Landeskirche vor unberechtigten Verdächtigungen, die gerade im Bereich des sexuellen Missbrauchs rufschädigend und existenzzerstörend sein können. Daher hat die Pfarrvertretung darum gebeten, an den weiteren Beratungen zu Handlungsplänen und MitarbeiterInnenschulung beteiligt zu werden. Die Pfarrvertretung hat nun eine eigene Homepage. Informationen über die Aufgaben und die Zusammensetzung des Gremiums wie auch über aktuelle Beratungsgegenstände können abgerufen werden über www.ekiba.de/pfarrvertretung. Rechte können nur dann in Anspruch genommen werden, wenn sie bekannt sind. Daher hier der Hinweis auf eine anscheinend noch wenig bekannte Bestimmung der neuen Rechtsverordnung Urlaub vom März 2014 (http://www.kirchenrecht-baden.de/showdocument/id/4289/section/ 00000010/search/Urlaub/exact/#s000000 10): Nach § 4 (2) können Pfarrerinnen und Pfarrern ab dem Jahr, in dem sie das 55. Lebensjahr vollenden, auf Antrag vom Evangelischen Oberkirchenrat pro Kalenderjahr drei Tage Dienstbefreiung für eine Maßnahme der Rekreation bzw. SaPfarrvereinsblatt 3-4/2015 109 lutogenese bewilligt werden. Die Maßnahme ist mit dem Antrag anzugeben. Die Tage dürfen mit maximal vier Tagen Erholungsurlaub kombiniert werden. Die Tage sind nicht auf das Folgejahr übertragbar. Bei einem Antrag von Pfarrerinnen und Pfarrern, die ausschließlich hauptberuflich Religionsunterricht erteilen, ist auf schulische Belange besonders Rücksicht zu nehmen. Nach Auskunft des Personalreferats liegt die Entscheidung über die Art der Maßnahme beim Antragsteller. Im Januar hat das Kollegium des Oberkirchenrats eine neue Rechtsverordnung zum Thema Pfarrdienstwohnung verabschiedet. Anlass für diese RVO waren der Regelungsbedarf für die immer häufigere Situation, dass Kirchengemeinden Wohnungen als Dienstwohnung anmieten (wer zahlt z. B. die Kosten eines Umzugs, wenn sich im Lauf der Nutzung der Bedarf durch Änderung der persönlichen und familiären Verhältnisse ändert?), sowie die Verlagerung der Verantwortung für die bauliche Betreuung der Pfarrhäuser vom Oberkirchenrat auf die Kirchengemeinden (verbunden mit Stellenkürzungen im Baureferat des Oberkirchenrats). Keine Antworten gibt die Rechtsverordnung auf strittige Fragen wie die nach der Finanzierbarkeit der Pfarrhäuser sowohl für die Kirchengemeinden wie auch (über die zu versteuernden Mietwerte oder die Nebenkosten) für die PfarrerInnen oder zur Frage der Residenzpflicht. Ein wichtiger Punkt in der neuen RVO ist der Wechsel von sehr genauen Beschrei110 Pfarrvereinsblatt 3-4/2015 bungen der Ausstattung von Pfarrhäusern in den alten Richtlinien zu allgemein gehaltenen Mindeststandards, die sich an den Bedürfnissen einer fünfköpfigen Pfarrfamilie orientieren, und zum relativ weiten Begriff von der „guten Ausstattung“ (§ 13) – die zumindest dort, wo es Mietspiegel gibt, dann doch wieder genauer wird. Sollte sich in der Praxis erweisen, dass dieser Wechsel zu Konflikten über das Verständnis einer „guten Ausstattung“ führt – hierfür bitte ich um Rückmeldungen – ist in der RVO bereits die Möglichkeit vorgesehen, dass der EOK Richtlinien erlässt. Auch hinsichtlich der Überführung der Verantwortung für Pfarrdienstwohnungen auf die Kirchengemeinden hält die RVO in ihrer Begründung fest, dass bei fortschreitendem Diskussionsstand die RVO gegebenenfalls anzupassen ist – wenn Bedarf dafür gesehen wird (z. B. weil sich erweist, dass Gemeinden oder VSAs mit der Aufgabe überfordert sind), sollte die Pfarrvertretung informiert werden. Eine Überschreitung des Mindeststandards ist natürlich möglich (im Rahmen der finanziellen Möglichkeiten der Gemeinde). Eine übergeordnete Verantwortung des Oberkirchenrats bleibt in der RVO darin erhalten, dass eine Unterschreitung des Mindeststandards genehmigungspflichtig ist (§ 5). Auf Standardunterschreitungen soll – das wurde auf Bitte der Pfarrvertretung eingefügt – in der Ausschreibung hingewiesen werden. Von den betroffenen PfarrerInnen ist bei Standardunterschreitungen eine Stellungnahme einzuholen (so zu lesen in der Begründung der RVO). Aus meiner Sicht kann diese Regelung sinnvoll sein, wenn man z. B. als Single in einer Gemeinde ohne Pfarrhaus nicht eine Dienstwohnung angemietet bekommen möchte, die am Bedarf einer fünfköpfigen Familie ausgerichtet ist. Auf der anderen Seite besteht natürlich die Gefahr, dass Kirchengemeinden auf Kosten von PfarrerInnen am Standard der Pfarrdienstwohnungen sparen. Daher kann ich an dieser Stelle nur dringend dazu raten, sich nicht auf Stellen zu bewerben, auf denen die Wohnperspektive unklar ist – in den Auseinandersetzungen um die Erfüllung des Standards und die angemessene Ausstattung steckt so viel Konfliktpotenzial, dass der Start in einer neuen Gemeinde dadurch erheblich erschwert werden kann. Die bei Bewerbungen wünschenswerte Transparenz hinsichtlich der zukünftigen Wohnsituation, bisher nur in Form einer Anfrage zum zu versteuernden Mietwert möglich, gilt nun auch in Bezug auf den Energieverbrauch der Pfarrhäuser. Auf Anregung der Pfarrvertretung ist in § 19 (2) die Bestimmung aufgenommen worden, dass BewerberInnen um eine Pfarrstelle ein den staatlichen Vorgaben entsprechender Energieausweis vorzulegen ist. Neu ist die Tatsache, dass bei den nutzungsberechtigten Mitnutzern einer Pfarrdienstwohnung erstmals Personen ausdrücklich genannt werden, die in eingetragener Lebenspartnerschaft mit dem Nutzer bzw. der Nutzerin leben (§ 4). Das Kollegium ist hier einer Anregung der Pfarrvertretung gefolgt. Neu ist weiter die Pflicht der Kirchengemeinde zum Tragen der Heizkosten für stillgelegte Räume (§ 9) (die Stilllegung kann zur Absenkung des zu versteuernden Mietwerts sinnvoll sein). Neu ist auch, dass in Pfarrhäusern (d. h. der räumlichen Verbindung von Dienstwohnung und Amtsräumen) die Kosten für Telekommunikationsanlagen einschließlich Internetzugang nun auch für den Dienstwohnungsbereich durch die Kirchengemeinden übernommen werden (soweit nicht durch die private Nutzung weitere und höhere Kosten entstehen) (§ 20). § 28 (7) stellt für Pfarrhäuser das Erfordernis der Barrierefreiheit auf, soweit es den Amtsbereich betrifft. Das ermöglicht behinderten Gemeindegliedern den Zugang zum Pfarramt und entspricht dem Geist der Integrationsvereinbarung für PfarrerInnen mit Schwerbehinderung. Bislang noch nicht aufgegriffen wurde die Bitte der Pfarrvertretung, die behindertengerechte Ausstattung auch auf den Wohnbereich auszudehnen; schließlich ist bei Dienstwohnungspflicht die Frage von Arbeitsplatz und privatem Wohnen nicht zu trennen. Um die Kosten für entsprechende Baumaßnahmen nicht zum Wahlhindernis für PfarrerInnen mit Schwerbehinderung werden zu lassen, haben wir die Einrichtung eines landeskirchlichen Fonds angeregt. Ein letzter Punkt: Während der Beratungen der RVO waren die Schönheitsreparaturen beim Einzug in eine PfarrdienstPfarrvereinsblatt 3-4/2015 111 Buchbesprechung wohnung (§ 13 (8) ) ein Gegenstand von Nachfragen der Pfarrvertretung. Daher hier die Klarstellung, dass es trotz Änderungen im Wortlaut in der Sache so bleibt wie bisher: Die erforderlichen Maler- und Tapezierarbeiten werden vor dem Einzug auf Kosten der Kirchengemeinde durchgeführt. ■ Volker Matthaei, Stutensee 112 Pfarrvereinsblatt 3-4/2015 Jan Assmann: Exodus Die Revolution der Alten Welt Verlag C.H. Beck, München 2015, 493 Seiten, Leinen, zahlreiche Abb., 29,95 Euro Schon das Vorwort liest sich spannend, charakterisiert Assmann doch den biblisch-israelitischen Monotheismus treffend als „Monotheismus der Treue“, indem er die Bedeutungsbreite des hebräischen Wortes „æmuna“ ernst nimmt. Diese Begrifflichkeit zieht sich durch das ganze Buch. Als „ursprüngliche(s) Element des biblischen Monotheismus“ sieht er mit Recht den Gedanken des Bundes. Um in diesen „einzuziehen, musste aus Ägypten ausgezogen werden.“ Entsprechend benennt er sein Thema „der Auszug aus Ägypten und seine Folgen“. Dass Mythen grundlegende Menschheitsfragen beantworten wollen, ist seit langem bekannt. Dass der „Exodus-Mythos“ die Frage beantworte, wer „wir“ sind, müsste allerdings dahingehend präzisiert werden, „wer Israel ist“. Viele seiner interessanten Annahme klingen plausibel, auch wenn sie nicht belegbar sind. Dabei besticht Assmann häufig durch gekonnte Formulierungen, etwa das Neue am Exodus bestehe in „Revolution und Revelation“ oder es sei eine „Geschichte, die sich die Angekommenen erzählen, nicht die Aufgebrochenen“ und es gehe „um die Vergewisserung des Neuen und nicht um die bloße Emanzipation vom Alten.“ Auch der Hinweis, im Hebräischen werde Sklavendienst und Gottesdienst mit demselben Wort beschrieben, gehört hierher. – Aber Schluss mit diesen glänzenden Zitaten, sonst müsste man fast das gesamte Buch abschreiben! Es muss der Hinweis genügen, dass bereits die Einleitung eine Fülle auch theologisch bedeutsamer und treffend formulierter Feststellungen und Notizen enthält. Jedem Kapitel sind Zitate vorgeschaltet. Zunächst gibt Assmann die Erzählung des Exodusbuches wieder mit Hin weisen auf besonders bemerkenswerte Einzelheiten, die auch für Theologen als Kurzcharakteristik der Exodusgeschichte lesenswert sind, auf strukturelle Parallelen zu späteren Ereignissen bis in die Neuzeit: (Genozid, Überfremdungsmotiv) sowie auf allgemeine religionsphänomenologische Motive (göttlicher Offenbarungen). Der Einzug in das Neue bedeutet noch nicht Einzug in das verheißene Land, sondern in den Bund. Unter diesem Gesichtspunkt wird die Sinaioffenbarung samt den Krisen auf dem Weg dahin referiert und reflektiert. Bei der Sinaioffenbarung im engeren Sinn weist er auf den Übergang von narrativen zum normativen Sprachstil hin, eine wichtige Beobachtung. Bei der Frage nach dem historischen Hintergrund beweist sich der Ägyptologe. Dabei fragt er, was diese Erzählung „ihren jeweiligen Zeitgenossen und uns bis heute unter Berufung auf die Vergangenheit sagen will“; denn die „Fragen nach der historischen Wirklichkeit führen ins Leere.“ Demgegenüber frage die „Gedächtnisgeschichte“ nicht danach, „,wie es eigentlich gewesen ist‘, sondern danach, wie es erinnert wurde“, zwei hermeneutisch wichtige Gesichtspunkte. Im weiteren geht er auf die Hyksos-These und Beziehungen zwischen Ps 104 und dem Echnaton-Psalm als weitere Beispiele für Israels Erinnern an die Ägyptenzeit ein, weiß aber, dass dies umstritten ist. Hinweise auf die Habiru und die „Seevölker“ fehlen ebenso wenig. Unter dem Leitgedanken einer wunderbaren Rettungserfahrung werden mit bedenkenswerten Hinweisen sowohl rituelle als auch geschichtliche Haftpunkte dieser Tradition erörtert. Die Priesterschrift sieht er nicht als Quelle, sondern als die kanonische Endgestalt und „Grundschrift des frühen Judentums“, die komponierend und kommentierend die unterschiedlichen Überliefe rungsstufen zusammenfasst. Er unterscheidet mehrere im Bibeltext erhaltene Gesamtkompositionen. Wichtig ist ihm die Unterscheidung von „Textpflege“ und „Sinnpflege“, die er im Vergleich anderer Kulturen mit der biblischen Tradition (bis hin zur „mündlichen Tora“) deutlich macht. So entsteht ein interessantes Gesamtbild mit unterschiedlichen Sichtweisen Ägyptens, wenn auch nicht alle Details unanfechtbar sind. Wichtig ist jedoch die Betonung, dass das Gedächtnis selektiv erinnert, was in jeweiligen Situationen von Bedeutung ist. Wichtig ist die mit dem Bundesschluss verbundene Unterscheidung zwischen innen und außen, Volk Israel und Völkern, wobei er feststellt: „Diese Unterscheidung, das muss ausPfarrvereinsblatt 3-4/2015 113 drücklich betont werden, hat nichts mit Intoleranz und Gewalt zu tun“, sondern mit Vorbild. Dies gilt jedoch nicht für das Verhältnis zu kanaanäischen Völkern – übrigens eine Unterscheidung, die auch Martin Buber traf. Dieses Kapitel ist angesichts heutiger Diskussionen auch theologisch besonders lesenswert. Nach diesen grundsätzlichen Erörterungen wendet sich Assmann im zweiten Teil unter dem Titel „Der Auszug“ detailliert einzelnen Elementen z. B. Leiden der Israeliten in Ägypten, die Namensoffenbarung am Sinai, aber auch „Vertrag und Gesetz“ oder die „Institution der Gottesnähe“, wobei bereits die Kapitelüberschriften neugierig machen. So erörtert er etwa die Zwangsarbeit in Ägypten anhand damaliger Rechtsverhältnisse, und stellt fest, die Schilderung der Verschärfung der Fron in Ex 5 sei dabei „besonders reich an genuin ägyptischen Details“ – bis dahin, dass Erhöhung von Arbeitsnormen als schwere Sünde galt. Von hier aus betrachtet er Bibeltexte, nach denen Israeliten eigene Volksgenossen als Sklaven hielten, und erhebt die theologische und soziale Bedeutung der Erinnerung an die Unterdrückung in Ägypten, aber auch die Betonung der „Allochthonie“. Diese Erfahrungen behalten ihre Bedeutung bis in die Zeit der römischen Unterdrückung und die Neuzeit. Interessante Aspekte gewinnt er auch den Erzählungen vom Gebot der Kindestötung und der Geburt Moses ab, prophetischen Texten, bei denen er zwischen Bundesbruch und Treuebruch unterscheidet u. v. a. m. 114 Pfarrvereinsblatt 3-4/2015 Die Offenbarung des Gottesnamens stellt Assmann in einen größeren biblischen und geistesgeschichtlichen Zusammenhang bis hin zu Schiller und Schönbergs Oper „Moses und Aron“, die er auch in anderen Zusammenhängen heranzieht. Die als „Zauberwettkampf“ beschriebenen „ägyptischen Plagen“ versteht er zusammen mit der Einsetzung des Pessach und dem Schilfmeerwunder als „Gottes Machtoffenbarung“. Die Rezension darf sich nicht in zu viele Details verlieren. Generell ist festzustellen, dass Assmann sich in die repräsentative theologische Diskussion gründlich eingearbeitet hat, die er auch am Ende des Buches aufführt und in zahlreichen Fußnoten zitiert – allerdings meist affirmativ, nicht diskursiv. Stattdes sen kommt sein reiches kulturgeschichtliches, altorientalisches, vor allem ägyptologisches Wissen zum Tragen und hilft, die biblischen Texte zeitund religionsgeschichtlich einzuordnen und besser zu verstehen. Für die Identität Israels stellt er fest: Die Israeliten wussten sich im Unterschied zu anderen Völkern „zusammengehörig durch die Erwählung in den Bund mit JHWH und die Annahme des Gesetzes“, nicht durch territoriale Abgrenzung. Außerdem betont Assmann die Bedeutung der Zeugenschaft und spricht von der Tora als „nationalem Gedächtnis“. Theologie und Religionspädagogik werden künftig gut daran tun, bei der Behandlung dieser Texte und Fragen, je- Buchbesprechung weils Assmanns Exodus-Darstellung in ihre Überlegungen einzubeziehen, zumal die markanten Kapitelüberschriften die Orientierung erleichtern. Zusammenfassend kann man nur dem katholischen Alttestamentler Bernhard Lang zustimmen, dessen Urteil auf dem Umschlagstext lautet: „Noch keiner hat über das Buch Exodus, den Mann Mose, den Auszug aus Ägypten und die von Gott verfügten Gebote – und die Wirkungsgeschichte all dessen in unserer Kultur – so elegant und überzeugend geschrieben wie Jan Assmann. Nimm und lies!“ Man kann nur hinzufügen: „Immer wieder“. ■ Hans Maaß, Karlsruhe Martin Buber: Die Erzählungen der Chassidim Mit einem Nachwort von Michael Brocke. Manesse-Verlag, Zürich 2014, 784 Seiten, Leinen, 29,95 Euro Schon der Einband mit der Wiedergabe eines Chagall-Bildes weckt Interesse und lässt gerne zu diesem eindrucksvollen Buch greifen. In seinem Nachwort gibt Michael Brocke einen kurzen Überblick über Bubers Begegnung mit den Zeugnissen chassidischen Judentums in der heutigen Ukraine vom 18. Jh. bis zum Ausgang des 19. Jh., wie es u. a. in Joseph Roths „Juden auf Wanderschaft“ sichtbar wird. Immer wiederkehrende zentrale Begriffe werden dabei als bekannt vorausgesetzt bzw. im Verzeichnis „Wichtige Namen und Begriffe“ erklärt. Zum besseren Verständnis sollen allerdings zwei zentrale Begriffe hier kurz erläutert werden. „Chassidim“ bedeutet die „Frommen“ und ist Bezeichnung der Anhänger ihres geistigen Führers, des „Zaddik“, eigentlich „Gerechter“, Buber bevorzugt aber wie in seiner Bibelübersetzung die Bezeichnung „Bewährten“. Seine Anthologie zeichnet nach Brocke die Tatsache aus, dass hier nicht nur der frühe Chassidismus oder religionsphilosophische Erörterungen zu Wort kommen, sondern auch Vertreter „des mehr und mehr dynastisch vererbten ,Zaddikismus‘. Wir erfahren dabei, dass Buber nur etwa zehn Prozent seiner reichhaltigen Sammlung ausgewählt und stilisPfarrvereinsblatt 3-4/2015 115 tisch bearbeitet hat und zeitlebens darauf bestand, „dass nicht die ,esoterische Lehre‘, sondern die vitale Erzählliteratur das innerste Leben der Gemeinschaften und ihrer Generationen widerspiegelt.“ Brocke verschweigt auch nicht, dass Buber mit seiner Art der Weitergabe auf Kritik stieß, u. a. auch weil er seine Quellen nicht in allen Fällen „preisgab“. Kennzeichnend für diese Erzählungen sei: „Buber entlastet die Geschichten vom ,Ballast‘ des historischen Kontextes und stutzt sie auf die wesentliche Aussage zurecht.“ Dies macht Brocke an Beispielen deutlich, teilweise auch in Gegenüberstellung zu Bubers Vorlagen. Dabei bleibe die „kabbalistische Komplexität“ oft auf der Strecke bzw. dem Leser „erspart“. So kommt Brocke zu dem Urteil, bei Buber trete „der Chassidismus als stärker der Welt geneigt und ihr zugewandt auf, als es der vehemente religiöse Ausbruch einst wollte und weiterhin will“, aber er habe es geschafft, „die heilsame Kraft der Erzählung herauszustellen.“ Entsprechend beginnt auch Bubers eigenes Vorwort: „Dass Chassidim sich von ihren ,Zaddikim‘, von den Führern ihrer Gemeinschaften, Geschichten erzählen, das gehört zum innersten Leben der chassidischen Bewegung. Man hat Großes gesehen, man hat es mitgemacht, man muss es berichten, es bezeugen.“ Wie er sich den Entstehungsprozess vorstellt, beschreibt Buber: „Wir können am Beispiel der Baalschem-Legende verfolgen, wie die legendäre Überlieferung im Chassidismus sich entwickelt. Familien116 Pfarrvereinsblatt 3-4/2015 legende und Schülerlegende umfließen geheimnisvolle Vorgänge als Andeutungen schon den Lebenden und verfestigen sich nach seinem Tode zu Erzählungen,“ – eine durchaus rationale Betrachtungsweise. Entsprechend ordnet er auch die einzelnen Erzählungen an, beginnend mit Israel ben Elieser, dem „Baal-Schem-Tow“, seinen Schülern, dem engeren Kreis und den Nachkommen; ähnlich auch bei anderen Zaddikim. Für Bubers Sicht des ihm vorliegenden Materials ist sein Urteil bezeichnend: „In der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts beginnt dann die literarische Korruption, die überlieferte Motive geschwätzig verarbeitet und mit erdichteten zu einer niedrigen Art volkstümliche Belletristik zusammenflickt.“ So erklärt sich auch die von Brocke festgestellte Auswahl und stilistische Überarbeitung durch Buber. Er unterzog sich der Mühe, den ursprünglichen Kern „so genau wie möglich zu rekonstruieren und ihn in der ihm seiner Art nach angemessenen Form so klar wie möglich zu erzählen“. Buber unterscheidet sich hierbei methodisch nicht von der zeitgleichen historisch-kritischen Bibelexegese. Dabei sieht er die Anekdote im „jüdischen Diaspora-Geist“ verwurzelt; alles Psychologische und Ornamentale soll dabei ferngehalten werden; „je nackter sie ist, umso mehr erfüllt sie ihre Aufgabe“. Ein Beispiel: „Rabbi Michal sprach: ,Wie der böse Trieb den Menschen zur Sünde zu verführen sucht, so sucht er ihn zu verführen, dass er allzu gerecht werde.‘“ Bubers Vorwort ist allerdings mehr als übliche Vorworte: eine methodische Einführung in den Umgang mit religiösen Legenden. keine Rüge aus. Da offenbarte sich ihm der Prophet und verhieß ihm einen Sohn, der die Augen Israels erleuchten werde.“ Die anschließende Einleitung nennt dann als Ziel des Buches, es wolle seine „Leser in eine legendäre Wirklichkeit einführen“; legendär, weil die Erzählungen „auf begeisterte Menschen“ zurückgehen, die nicht von sich berichten, „sondern von dem, was auf sie gewirkt hat.“ Wo er Wundergeschichten wiedergibt, die „Irreales“ enthalten, leitet er diese ein mit dem „Vermerk: ,Es wird erzählt‘. Bereits an einer der ersten Erzählungen über Baal-Schem-Tow lässt sich dies erkennen, die hier als einziges Beispiel dafür wiedergegeben werden soll: „Es wird erzählt: Elieser, der Vater des Baalschem, wohnte in einem Dorfe. Er war ein so gastfreier Mann, dass er am Dorfrand Wächter aufstellte, die mussten die armen Wanderer auffangen und zu im bringen, dass er sie verpflege und versorge. Im Himmel freute man sich seines Tuns, und einmal kam man überein, ihn zu prüfen. Der Satan machte sich dazu erbötig; aber der Prophet Elija bat, man möge lieber ihn gehen lassen. In der Gestalt eines armen Wanderers mit Ranzen und Stab trat er an einem Sabbatnachmittag an Eliesers Haus und sprach den Gruß. Elieser achtete der Sabbatverletzung nicht, denn er wollte den Mann nicht beschämen; er lud ihn sogleich zum Mahl und behielt ihn bei sich. Auch am nächsten Morgen, als der Gast Abschied nahm, sprach Elieser Buber will von Menschen erzählen, die „in Begeisterung, in begeisterter Freude“ lebten; denn Begeisterung zu erzeugen, sieht er als Grundmotiv aller großen Religionen an. Dem Judentum bescheinigt er, trotz der großen „messianische(n) Konzeption einer kommenden Vollendung auf Erden“ nie die Tendenz aufgegeben zu haben, „der Vollkommenheit eine irdische Stätte zu schaffen.“ Und „Die Entstehung des Chassidismus bedeutet das Bestehen dieser Probe.“ Dem Chassidismus geht es um einfache Menschen in ihrer Not und Armut. Wie er ihre existenziellen religiösen Fragen beschreibt, kann hier nur angedeutet werden, die bildhafte Ausdruckskraft seiner Worte muss man selbst lesen! Wie er stellvertretendes Leiden versteht, macht er an R. Nachman von Bratzlaw deutlich. So ist auch Bubers Feststellung zu verstehen, nicht nur bewusstes Einwirken des Zaddik auf seine Chassidim wirke sich auf diese aus, sondern „seine leibliche Nähe: Dadurch, dass man ihn betrachtet, vollendet sich der Sinn des Gesichts, und dadurch, dass man ihm lauscht, der Sinn des Gehörs. Nicht die Lehre des Zaddiks, sondern sein Dasein übt die entscheidende Wirkung“. Dennoch sind die einzelnen Anekdoten und Weisheitssprüche, die Buber in dieser umfangreichen Sammlung wiedergibt, voller nachdenkenswerter Anregungen – nicht nur für Chassidim! Pfarrvereinsblatt 3-4/2015 117 Dass außer Baalschem nur wenige aus seinem näheren Umkreis Gegenstand der chassidischen Erzählungen sind, erklärt Buber mit dessen Faszination; „erst in der dritten Generation sehen wir, um das zentrale Lehrhaus, das des großen Maggids, geschart, eine große Reihe von Zaddikim, jeder von eigner Art, deren Gedächtnis die Legende mit bildnerischer Liebe pflegt.“ Diese werden auf den folgenden Seiten der Einleitung charakterisiert, so stellt dass diese zugleich eine Geschichte des Chassidismus dar. Leider nennt Buber weder hier noch an anderer Stelle die Lebensdaten dieser religiösen Führergestalten. Dass diese Epoche oft als „eine des beginnenden Niedergangs“ bezeichnet wird, hält Buber für eine „Vereinfachung des Sachverhalts“. Allerdings sieht er eine Problematik dieser Epoche in „der Vielheit der Zaddikim ohne übergeordnete Instanz“, die aber „als eine wesentliche Grundlage der chassidischen Bewegung begriffen werden muss.“ Diese kann in Einzelfällen sogar „in grotesker Verwilderung“ dazu führen, dass man den „letzten Sprung tat, mit beiden Füßen in einen mythologisch ausstaffierten Nihilismus hinein“. 118 Pfarrvereinsblatt 3-4/2015 Manche Erzählungen weisen eine Nähe zum gleichzeitigen Pietismus auf, andere erinnern an Johann Peter Hebels Kalendergeschichten. Verschiedene Register zu wichtigen Namen und Begriffen sowie zu Bibelstellen erleichtern den Zugang und machen das Buch zu einem echten Arbeitsbuch. Al lerdings wünschte man sich, das Stich wortregister wäre noch ausführlicher, um die verborgenen Schätze heben zu können. ■ Hans Maaß, Karlsruhe Die Geburtstagslisten wurden in der Online-Ausgabe aus Datenschutzgründen entfernt. In memoriam Ludwig Herrmann * 30.3.1926 † 3.1.2015 Mit 19 Jahren hätte Ludwig Herrmanns fast 89jähriges Leben schon mehrfach ausgelöscht sein können. Ludwig Herrmann beschreibt eindrücklich in seinen Kindheits-, Jugend- und Kriegserinnerungen, wie oft ihm der Tod zum Greifen nahe gekommen ist. Als 7jähriger ist er vom Auto erfasst worden, als junger Soldat den Granaten um Haaresbreite entkommen, er wurde beinahe erschossen, erhängt … Die Kriegserfahrungen haben sich für sein ganzes Leben tief in seine Seele eingebrannt, wie bei zahllosen Männern seiner Generation auch. Die Kinder jener zahllosen Männer sind unfreiwillige Erben jener Traumata. Auch Sie, die Kinder haben immer wieder etwas hiervon aushalten müssen. So übermächtig ist jene Zeit für Ludwig Herrmann, dass er nur 19 Lebensjahre – bis 1945 – biographisch niederschreibt. Das andere hätte er vielleicht jetzt noch schreiben wollen. Aber es blieb bei 19 aufgeschrieben Jahren. Wenn dann das wirkliche Leben aber beinahe 89 Jahre währt – zeigt das für mich, wie sehr das Leben ein Geschenk ist! – ein unverfügbares Geschenk. Geschenkt ist so viel in diesem reichen Leben von Ludwig Herrmann: Hätten wir ihn gefragt, so hätte er sicher zuerst auf seine verstorbene Frau Gisela gewiesen. Erstaunlich genug in seiner verfassten Biographie ist ja, dass er mit Zeilen zu ihr, Gisela, seine Erinnerungen beginnt und dass er auch mit Zeilen zu ihr endet. 122 Pfarrvereinsblatt 3-4/2015 Seine geliebte Frau, seine Gefährtin, seine Pfarrkollegin „mit den Engelsflügeln“ ist das liebende Gegengewicht zu all den Kriegserfahrungen. Ich zitiere Ludwig Herrmann auf der letzten Seite seiner Erinnerungen: „Am 06. Januar 1946 begann für mich mein eigentliches Leben (mit 19 Jahren). … (an) der Universität in Heidelberg … durfte ich mein Abitur ablegen. … und durfte studieren und fand den Beruf, den ich über dreißig Jahre ausübte. Im Vorsemesterkurs traf ich Gisela. Sie wurde später meine liebe Frau. Über 55 Jahre durften wir miteinander leben. Dieses Zusammensein ist das größte Geschenk in meinem Leben. Dafür danke ich Gott von Herzen.“ Die „Engelsflügel“ waren ihr – Gisela – von ihren Schülern am BBZ (an der Gehörlosenschule) drüben in Stegen einmal verliehen worden. Ihre Schüler sahen das so. So sage ich: Ludwig Herrmann hatte einen „Engel“ an seiner Seite. Für sich selber hätte er diese Bezeichnung nie und nimmer akzeptieren können: – zu schonungslos, zu ehrlich, zu redlich … verfasste er seine Autobiographie – und lässt auch das nicht weg, was negativ ist, was nachfolgenden Generationen unverständlich, ja vielleicht sogar abstoßend erscheinen könnte: Wie beispielsweise: seine jugendliche Begeisterung für die nationalsozialistische Sache – „aber so dachte man damals“ formulierte er nüchtern. Um dann zugleich zu beschreiben, wie Mann und Frau (seine Eltern nämlich) eben auch nicht so dachten. Und der Junge oft im Zwiespalt zwischen nationalsozialisti- scher Gesinnung seiner Altersgenossen und der biblisch-christlichen, ethischen Fundierung seiner Eltern fast zerrieben wurde. Er war „dazwischen“ von Anfang an – so sagte er auch selber. Seine Herkunftsfamilie aber war der zweite bedeutende Lebenshalt neben seiner Frau. Ein Geschenk! Vom Vater erhielt er zur Einsegnung am Sonntag Judika, im März 1940, seinen Konfirmationsspruch zugesprochen – geschenkt. Manche Geschenke will man zunächst nicht. Er selbst hätte sich das Bibelwort aus dem Römerbrief nie und nimmer herausgesucht. Aber er lernte es mit der Zeit als sein Wort annehmen und schätzen. Sein Konfirmationsspruch: Röm. 1, 16: „Denn ich schäme mich des Evangeliums nicht; denn es ist eine Kraft Gottes, die selig macht, alle, die daran glauben“. Sich nicht schämen für das Evangelium Jesu Christi. Ludwig Herrmann schreibt hierzu: „Ich danke meinem Vater, dass er mir mit diesem Wort half, mich dem Zeitgeist (des Nationalsozialismus) entgegenzusetzen und auf das Zentrum zu sehen, das allein für den Menschen tragend ist.“ (das Wort Evangelium – Frohe Botschaft übersetzte sich Ludwig Herrmann auch etwa mit: Menschenfreundlichkeit Gottes – Liebe zu jedem Menschen – auch zu unseren Schwächen! – etwas fundamental anderes als die Ideologie des Nationalsozialismus! – fundamental anders auch als unsere gesellschaftliche Überzeugung der ökonomisierten Leistungsgesellschaft heute! Pfarrvereinsblatt 3-4/2015 123 Euch Enkel möchte ich fragen: Was hilft Euch, den Zeitgeist auch kritisch zu betrachten? Eurer Konfirmationsspruch – oder Worte vom Großvater? „Ich schäme mich des Evangeliums nicht.“ Ein Beispiel für dieses „sich nicht schämen“ erzählt er selbst. Am Essenstisch der Familie Herrmann in Mosbach geriet er manches Mal in heftigen Streit mit dem Vater über nationalsozialistische Meinungen. Er, jung, begeistert und verführt, vertrat diese – der Vater war dagegen. So sehr, dass er den jungen Ludwig fast vom Essenstisch verwies und ihm das nachmittägliche Fußballspiel mit den Kameraden verbot. Wenn dann aber die Kameraden – als sie ihn abholen wollten – vor der Türe den Vater einen Reaktionär schalten und einen Feind der nationalsozialistischen Gesinnung – war sich Ludwig nicht zu schade, aus dem Fenster zu springen und sich mit dem Frevler einen Faustkampf zu liefern und so den Vater zu verteidigen. Er schämte sich der Eltern und deren christlicher Überzeugung nicht. Diese lebenslange (?) Haltung brachte ihm nicht nur Freunde ein. Auch in seiner evangelischen Landeskirche nicht. Auch da konnte er – im Bild gesprochen – aus dem Fenster springen und sich in den Faustkampf stürzen. Ich empfinde das manchmal als ein ausgesprochenes Qualitätsmerkmal – wenn ich das so sagen darf. „Ich schäme mich des Evangeliums nicht, sagt das Römerbriefwort – aber eine An124 Pfarrvereinsblatt 3-4/2015 fechtung, eine Last, eine Zumutung war es dem Prediger Ludwig Herrmann oft. Er kannte und durchlebte die Verzweiflung wegen der unverständlichen Bibelworte. Die Verzweiflung am Evangelium. Manches Mal raubte sie Ihm die Kraft, ja, die Fähigkeit zur Predigt. Und er übertünchte dies dann am Sonntagmorgen in der Kirche nicht mit irgendwelchen frommen Phrasen, sondern sagte es – seiner Art entsprechend – offen der Gemeinde – und es entspann sich ein Predigtgespräch im Gottesdienst. So erzählten Sie mir und auch er erzählte mir es. Waren das Sternstunden gelebten Glaubens? Seine Kämpfe und Zweifel gründeten in seiner intellektuellen Redlichkeit. Auch das eine Familientradition. Hierein passte gut das theologische Konzept Rudolf Bultmanns, das ihn mitprägte. 1958 veröffentlichte jener seine „Theologie des Neuen Testamentes“. Nur einen Satz daraus möchte ich anreißen, um deutlich zu machen, was Ludwig Herrmanns Ringen vielleicht erhellen kann: Bultmann schreibt: „Die Tatsache der Auferstehung (Jesu) kann nicht als ein objektiv feststellbares Faktum bewiesen oder einleuchtend gemacht werden, so dass man darauf hin einfach glauben kann“ – trotz der Aussagen das Apostels Paulus, der in 1. Korinther 15 viele Zeugen der Auferstehung Jesu aufzählt. Die Auferstehung Jesu ist nicht einfach ein historischer Fakt, wie zahllose andere Geschichtsfakten – und Daten. Für die sich Ludwig Herrmann ja auch sehr interessierte. (Diese Aussage ist intellektuell redlich) und dann sagt Bult- mann weiter: „Aber sie kann geglaubt werden, wenn der Auferstandene im verkündigten Worte gegenwärtig ist.“ Ich möchte Bultmanns Worte jetzt nicht ausdeuten. – Ich habe schon den Eindruck, dass Ludwig Herrmann das in jüngeren Jahren durchaus versucht hat: den Auferstanden im Predigtwort gegenwärtig zu haben – aber das ist ein übermenschliche Aufgabe. Wer sich daran wagt, kann manches Mal nur verzweifeln. Nun aber: Genug der Theologie! Geschenk des Lebens ist, dass sein Leben dennoch nicht mit dem Begriff „Verzweiflung“ umschrieben werden kann. Wohl mit den Begriffen „ringen“ oder aber „zwischen den Stühlen“ … Er selber kann im Rückblick sein Leben wesentlich mit dem Wort: „Geschenk“ umschreiben! „Ich hab es gut gehabt … ich bin behütet gewesen … das Zusammensein mit meiner Frau ist das größte Geschenk …“ Geschenk, dass er um das letzte Weihnachtsfest jetzt (endlich!) zu Ihnen sagen konnte: „Ihr müsst Vertrauen haben!“ Hat er den Engel der Weihnachtsgeschichte noch einmal neu hören können, der sagt: Fürchtet euch nicht, siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird, denn euch ist … der Heiland geboren …“ Geschenke von den Eltern, das Geschenk seiner Frau Gisela, die so vieles in seinem Leben erst ermöglicht hat – ein Engel eben! Die Beziehung zu Ihnen, den vier Kindern – die Enkel – die Geschwister, zahllose Menschen in den Gemeinden, der Fachhochschule in Freiburg und anderswo … Geschenk auch in den letzten 5 Jahren: Eine tägliche Hilfe und Gesprächspartnerin an seiner Seite: Frau Elena Staiger – Sie, Frau Staiger ein wunderbares Beispiel für die zahlreichen wertvollen Menschen, die zu uns nach Deutschland kommen. Wenn ich das mit einem politischen Seitenblick hier so sagen darf. Geschenkt hat er selber vielen Menschen so viel – so auch von unserer Kirchengemeinde ein herzliches Dankeschön, dass er früher immer mal wieder als Prediger aushalf oder mit Vorträgen den Seniorenkreis bereicherte – und bis zuletzt – je nach Gesundheit und Vermögen und auch Lust – in unseren Gottesdiensten anwesend war. Geschenk – vielleicht darf ich das so sagen – auch sein leichter Tod – soweit wir das sagen können – ohne Kampf und Schmerz und Hadern – sondern irgendwie befreit und erlöst – einfach nach dem Morgenkaffee mit einem Buch in der Hand einschlafen zu dürfen. Ludwig Herrmann hat seine Biographie nicht weiter geschrieben – gar zu Ende geschrieben. Mit der Schilderung des 19. Lebensjahres hört er auf zu schreiben. Obwohl es da erst losgegangen ist. Vielleicht schreibt ja jemand von Ihnen (den Kindern, Enkeln, der Familie): Die restlichen 70 Jahre mit Mutter, uns und all den andern … Pfarrvereinsblatt 3-4/2015 125 „Die Flöhe vom Athos“ – das nur für Insider! – und vieles mehr zu erzählen wäre befreiend! Und keine Sorge! Zu Ende schreiben müssen Sie die Geschichte nicht. Das übernimmt Gott – der unverfügbare, der Unerklärliche. Der Liebende – wie ich glaube – wie er glaubte … „Ich schäme mich des Evangeliums von Jesus Christus nicht; denn es ist eine Kraft Gottes, die selig macht, alle, die daran glauben.“ Das war sein Konfirmationsspruch – und dazu beschreibt er, wie ihm im badischen Katechismus die Frage 89 (Frage 1 im HD Katechismus) wichtig geworden ist: „Was ist nun dein einziger Trost im Leben und im Sterben“ – was allein hält dich im Leben und im Sterben – einzig und allein? Und darauf die Antwort: Dass ich mit Leib und Seele, beides im Leben und im Sterben, nicht mein, sondern meines getreuen Heilandes Jesu Christ eigen bin … Ich wünsche Ihnen, der Familie, dass Sie sich auch so gehalten fühlen – und daraus den Lebensmut schöpfen für Ihr frohes, hoffnungsvolles und anpackendes Leben, Ludwig Herrmann im Herzen – aber Ihren eigenen Weg zu gehen. Amen. ■ Stefan Boldt, Kirchzarten 126 Pfarrvereinsblatt 3-4/2015 "Freud und Leid" wurde in der Online-Ausgabe zum Schutz der persönlichen Daten entfernt Zu guter Letzt Die entscheidende Frage Als Jesus einmal in der Einsamkeit gebetet hatte und die Jünger sich wieder um ihn scharten, fragt er sie: „Für wen halten mich die Leute?˝ Sie gaben ihm zur Antwort: „Für Johannes den Täufer˝, „für Elija˝, „ja, sie sagen: einer der alten Propheten ist wiedergekommen!˝ – „Jedenfalls halten sie dich für einen ganz bedeutenden Menschen. Sie sagen: Jesus, das ist ein wirklich guter Mensch, ein Vorbild für alle. So ein Lehrer der Humanität wie Sokrates zum Beispiel oder Goethe oder Gandhi, sagen sie. Manche bezeichnen dich auch als einen großen Sozialreformer ... Einen Revolutionär der Liebe, so hat dich einer genannt!˝ bloße Gesinnungseinheit mit Gott – entfaltete und zumal auf den früheren Konzilien von Ephesus und Chalzedon formulierte, die zweite Person der heiligen Dreifaltigkeit, der Sohn des Vaters, der Logos mithin, sein göttliches Wort, das von der Ewigkeit her im Besitz des vom Vater mitgeteilten einen göttlichen Wesen ist, das in der Zeit aus Maria eine menschliche Natur als vollendete eigene Wirklichkeit angenommen hat, so dass du in der Einheit derselben göttlichen Person eine göttliche und eine menschliche Natur unvermischt und ungetrennt besitzt und als derselbe, also wahrhaft Gott und Mensch, zu glauben und zu bekennen bist.˝ „Und ihr?˝ fragte er weiter, „was sagt ihr von mir?˝ Er war ein bisschen außer Atem, der Simon Petrus, als er das gesagt hatte, aber es war ein großartiges Bekenntnis. Es schien ihm freilich, als ob Jesus ein wenig lächelte. Auf jeden Fall verbot er den Jüngern streng, dies irgend jemandem zu sagen. Da gab Simon Petrus zur Antwort, und man merke gleich, er hatte inzwischen seinen Rahner wohl studiert: „Du bist, wie die Kirche gegen alle Missbildungen und Verkürzungen – besonders in Richtung auf eine Lothar Zenetti Schriftleitung: Andrea Knauber und Dr. Jochen Kunath Dr. Jochen Kunath, Markgrafenstr. 18 b, 79115 Freiburg. Tel.: 07 61/4 59 69-0, Fax: 07 61/4 59 69-69 Andrea Knauber, Im Brüchle 11, 76646 Bruchsal. Tel.: 0 72 57/90 30 70, Fax: 0 72 57/92 43 30 Textbeiträge senden Sie bitte an: [email protected] Herausgeber: Vorstand des Evangelischen Pfarrvereins in Baden e. V., Vorsitzender: Pfarrer Matthias Schärr; Geschäftsstelle: Postfach 2226, 76010 Karlsruhe, Tel.: 07 21/84 88 63, Fax: 07 21/84 43 36 Sitz: Reinhold-Frank-Straße 35, 76133 Karlsruhe, www.pfarrverein-baden.de, E-Mail: [email protected] Grafik, Gestaltung und Versand: Perfect Page, Kaiserstraße 88, 76133 Karlsruhe Text-/Bildnachweis: Titelbild: Kirche am Petersberg in Friesach, Foto: Neithan90, Wikimedia Commons; Composing: Lisa Crocoll, Perfect Page. Zu guter Letzt: aus: www.theologie.uni-wuerzburg.de/..._/Lothar-ZenettiText-1.doc Auflage: 2 110 auf chlorfreiem Papier Herstellung: Karl Elser Druck GmbH, Niederlassung Karlsbad, Ettlinger Straße 30, 76307 Karlsbad-Langensteinbach
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