Kindesmisshandlung

Kindesmisshandlung
Dr. med. K. Trübner
Institut für Rechtsmedizin
Definition der Kindesmißhandlung
• Keine verbindliche Definition
• Kindesmißhandlung ist eine nicht zufällige gewaltsame
körperliche und/oder seelische Schädigung, die in Familien
oder Institutionen geschieht und die zu Verletzungen,
Entwicklungsverzögerungen oder zum Tode des Kindes
führt
Kindesvernachlässigung
• Tatbestand, dass Kinder, die für ihr Überleben und
Wohlergehen erforderlichen Maßnahmen (Pflege,
Ernährung, Bekleidung, Gesundheitsförderung, soziale
Kontakte, Schutz und Aufsicht durch die Sorgeberechtigten
nicht oder nicht ausreichend erfahren und chronisch
beeinträchtigt oder geschädigt werden können
Häufigkeit
• - Hohe Dunkelziffer
• - 25 % der Fälle unter 2 Jahre
• - Deutschland: pro Woche: zwei Kindstötungen
• - Dunkelfelderhebung:
• 10 % der Mädchen und
• 5 % der Jungen bis 16. Lebensjahr Opfer eines sex.
Übergriffs
• - Vernachlässigung ca. 10 x häufiger als Mißhandlung
Epidemiologie
• Etwa 157 000 Fälle pro Jahr in Deutschland
• Von den stationär behandelten Kindern versterben 12
– 15%
• Jede Woche sterben in Deutschland zwei Kinder in
Folge von Misshandlung
• Das Risiko ist für <1 jährige dreimal größer als für
ein- bis vier-jährige Kinder
• Die Dunkelziffer wird auf das zehnfache geschätzt!
Ursachen der Dunkelziffer
• Kindesmisshandlung ist ein intrafamiliäres Delikt ohne
unabhängige Zeugen
• Mangelnde Aufmerksamkeit von Umgebungspersonen und
behandelnden Ärzten (Fehlinterpretation von Verletzungen)
• Abhängigkeit des Kindes von den Eltern
• Häufig junge Kinder betroffen (keine Äußerung möglich)
Recht auf gewaltfreie Erziehung
§ 1631 Inhalt und Grenzen der Personensorge
(1)Die Personensorge umfasst insbesondere die Pflicht
und das Recht, das Kind zu pflegen, zu erziehen, zu
beaufsichtigen und seinen Aufenthalt zu bestimmen.
(2)Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung.
Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und
andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.
Rechtlicher Hintergrund
§ 171 Verletzung der Fürsorge- oder Erziehungspflicht
§ 174 Sexueller Mißbrauch von Schutzbefohlenen
§ 176 Sexueller Mißbrauch von Kindern
§ 225 Mißhandlung von Schutzbefohlenen
§§ 223,224,226 Gefährliche/Schwere Körperverletzung
Seit 2000 § 1631 BGB („Züchtigungsrecht“) abgeschafft
Prinzip der gewaltfreien Erziehung
Rechtlicher Hintergrund
§ 225 Mißhandlung von Schutzbefohlenen
(1) Wer eine Person unter achtzehn Jahren oder wegen Gebrechlichkeit oder
Krankheit wehrlose Person, die
1. seiner Fürsorge oder Obhut untersteht,
2. seinem Hausstand angehört
3. von dem Fürsorgepflichtigen seiner Gewalt überlassen worden oder
4. ihm im Rahmen eines Dienst-oder Arbeitsverhältnisses untergeordnet
ist,
quält oder roh mißhandelt, oder wer durch böswillige
Vernachlässigung seiner Pflicht, für sie zu sorgen, sie an der Gesundheit
schädigt, wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu 10 Jahren
bestraft.
Rechtlicher Hintergrund
§ 225 Mißhandlung von Schutzbefohlenen
(2) Der Versuch ist strafbar.
(3) Auf Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr ist zu erkennen, wenn
der Täter die schutzbefohlene Person durch die Tat in die Gefahr
1. des Todes oder einer schweren Gesundheitsschädigung oder
2. einer erheblichen Schädigung der körperlichen oder seelischen
Entwicklung bringt.
(4) in minder schweren Fällen des Absatzes 1 ist auf Freiheitsstrafe
von drei Monaten bis zu fünf Jahren, in minder schweren Fällen des
Absatzes 3 auf Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren
zu erkennen.
Opfer
- Existentielle Abhängigkeit
• - Hilflos, wehrlos, arglos
• - Fehlende Lebenserfahrung
• - Eingeschränkte Kommunikationsfähigkeit
• Folgen:
• Schmerzen, Gesundheitsschädigung,Demütigung,
Erniedrigung   posttraumatische Belastungsstörung
Täter
• Meist männlicher Täter (Kindsvater, Lebensgefährte)
• Ursachen/Faktoren der Mißhandlung:
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–
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Elterliches Unvermögen
„Schwieriges“ Kind (FG, kranke Säuglinge, Hyperaktiv)
Unzureichende Unterstützung
Krise
Täter
PKS: Polizeiliche Kriminalstatistik
Risikofaktoren für Kindesmissbrauch
• Soziokulturell: Einstellung der Eltern gegenüber Straftaten und
Gewalt
• Sozioökonomisch: Armut ist ein wichtiger Stressor
• Arbeitslosigkeit: Sozialer Stressor, verbunden mit Armut
• Zerrüttung der Familie: Trennung, Verlust fam. Unterstützung
• Gesundheit: reduzierte Toleranzschwelle v.a. bei
psychiatrischen Erkrankungen, Alkohol-, Drogen- und
Medikamentenabhängigkeit insbesondere der Mutter
• Behinderung des Kindes
• Ausbildung: Geringere Intelligenz
• Schlechte Eltern: Eigene schlechte Kindheitserfahrungen
• Generationenfaktor: Tendenz Misshandlung von Generation zu
Generation zu wiederholen
• Umweltfaktoren: Kälte, Enge, überfüllte Wohnung
Beobachter
• = Zeuge (jurist.)
• Registrierung von Gewalt in der Familie oft nur von
außen
• Wer kann Beobachter sein:
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–
–
Bekannter der Familie
Kindsmutter
Kindergärtnerin, Lehrer
Arzt
Befragung von Kinderärzten (1993)
nur 7,5 % antworteten
Verdacht auf Kindesmißhandlung (in einem Jahr)
• Niemals
50 %
• 1–2x
33 %
• Aber! Eine Praxis: über 50 x Verdacht
Diagnostische Unsicherheit und Unsicherheit bezüglich der
Meldung bei 2/3 der Ärzte
Hinweise auf Kindesmißhandlung
• Allgemein:
• Psych. Zustand des Kindes (Ängstlichkeit
• „gefrorene Aufmerksamkeit
– Kind bleibt ausdruckslos ( kein spontanes Lächeln,
regloses Gesicht) bei voller Aufmerksamkeit
Hinweise auf Kindesmißhandlung
• Verletzungen:
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Buntes Spurenbild (Mehrzeitigkeit)
Nebeneinanderliegende Hämatome
Parallelgestellte Rötungen (Stockschläge)
oberhalb der Hutkrempe (Schläge)
Verletzungen der Lippe/Lippenbändchen
Unterschiedlich alte Frakturen (Epihysenablösung,
Metaphysenablösung, Kallusbildung)
• Bißverletzungen
• Gesamtheit der Verletzungen beachten!
Anamnese und Rekonstruktion
• Bei Verletzungen von Kindern immer differentialdiagnostisch an Kindesmisshandlung
denken
• Bei auffallenden Verletzungen: immer vollständige körperliche Untersuchung!
• Genaue Dokumentation im Untersuchungsbefund:
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Pflegezustand
Körpergröße, Kopfumfang & Gewicht (vgl. Perzentile)
Altersendsprechender Entwicklungszustand
genaue Beschreibung der Verletzung evtl. Fotodokumentation
(Lokalisation, Form, Farbe, Größe, etc.)
Verdacht auf Kindesmißhandlung
• Diagnostik/Konsil (interdisziplinär)
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Rechtsmedizin
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Trauma
Strangulation
Sex. Mißbrauch
Hautbefunde
Radiologie, Unfallchirurgie
HNO
Gynäkologie
Dermatologie
Verdacht auf Misshandlung
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–
Verzögertes Aufsuchen des Arztes trotz schwerer Verletzungen
„Doctor hopping“
Unterschiedliche oder nicht plausible Angaben zum Verletzungshergang
Passen Verletzung und Entwicklungsstand des Kindes zusammen?
Für die Entstehung der Verletzungen wird ein anderes Kind, oder Ungeschicktheit
verantwortlich gemacht
– Gibt es mehrzeitige Verletzungen, die nicht durch einen Unfall entstanden sein
können?
Verletzungsmuster
• Meistens stumpfe Gewalt
• Verletzungen vor allem an geschützten
Körperteilen:
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Gesäß,
Rücken,
Unterarme,
Ohren,
Wangen,
Mund
Sturz
Misshandlung
Beispiele für typische Verletzungen
• Ziehen am Ohr/Haaren
• Schläge
• Kneifen
• Zupacken
• Fesselung
an
• Gewaltsames Füttern
Lippenbändchens
• Fußtritte
• Schütteln
Einrisse der Ohrläppchen, umschriebene
Haarausrisse
evtl. Doppelstriemen bei Stockschlägen
uncharakt. Hämatome, evtl. Spuren von
den Fingernägel
Griffspuren
Hautrötung, Abschürfungen, Hämatome
Hand-/Fußgelenken
Verletzung des Mundes,
und Zähnen
möglicherweise Profilabdrücke
Hirnblutungen, Einblutung in der Retina
Cave: Bauchtritte müssen nicht zu äußerlichen Verletzungen führen,
können aber schwere innere Schäden verursachen!
Radiologisches Konsil
DD von Schädelfrakturen (n. Hobbs)
Unfallbedingte Fraktur
Misshandlung
• Einzelne und lineare Frakturen
• Schmaler Bruchspalt, max. 1-2 mm
• Parietal, nur ein Schädelknochen
betroffen
• Begrenzte Impressionen mit schlüssiger
Anamnese
• selten intrakranielle Verletzungen außer
ab Fallhöhe von 2-3 m,
• selten epidurales Hämatom
• Multiple, komplexe, verzweigte
Frakturen
• Weiter Bruchspalt, wachsend, >3 mm
• Okzipital, bilat., parietal, mehr als 1
Schädelknochen betroffen
• Komplexes Frakturmuster,
ausgedehnte/multiple Impressionen
• Subdurales Hämatom,
Hirnrindenkontusionen, intrazerebrale
Hämorrhagien und Hirnödeme
Dermatologisches Konsil
– bei 10% der misshandelten Kinder Nachweis thermischer Verletzungen
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–
–
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typische Verletzungsmuster durch Immersion (Eintauchen)
Gleichmäßige Verbrühungstiefe
scharfer Rand zur gesunden Haut (Wasserspiegel),
Handschuh-/Sockenartige Verbrühungen
beim Eintauchen vom Gesicht fehlen Abrinnspuren,
vollständiger Abdruck mit klarer Kontur (Zigaretten usw.),
gleichmäßige Verletzungstiefe
Gynäkologisches Konsil
• Befunde bei Verdacht auf sexuellen Missbrauch:
– Nachweis von Samen, Spermien, saurer Phosphatase in Anal-,Oral-,
Vaginalabstrich
– Schwangerschaft
– Frische anogenitale Verletzungen ohne adäquate alternative Unfallangabe
– Positiver Nachweis von STD
– Vergrößerte Hymenalöffnung verbunden mit Hymenrupturen
Diagnose
• 1. Besteht eine Plausibilität?
• 2. Besteht eine Krankheit?
Einbeziehung der Sorgeberechtigten
• Wie verhalten sie sich gegenüber dem Kind?
• Wie schnell kommen sie zum Arzt?
• Vorbehandelnder Arzt (häufige Arztwechsel)?
• Welche Erklärung bieten die Sorgeberechtigten?
Diagnose
• Analyse von Verletzungen (Rechtsmedizin)
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Typ der Gewalt (scharf, stumpf, thermisch, geformt)
Lokalisation
Art der Gewalt( Unfall, Fremd- /Selbstbeibringung)
Geschehensablauf (Rekonstruktion)
Interpretation der Gewalt (Gefährlichkeit, Spätfolgen)
Schütteltrauma-Syndrom
Allgemeines
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Häufigkeit in Deutschland ca. 100-200 Fälle/Jahr
Letalität bis zu 30%, Langzeitschäden 62-96%
Ursachen: multifaktoriell
Täter: meist Väter/ Lebensgefährten der Mütter,
selten Mütter od. weibl. Babysitter
Prädisposition
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2.- 5. Lebensmonat (Hauptschreialter)
überproportional großer Kopf
hoher Wassergehalt des Gehirns
geringe Myelinisierung
relativ großer Subarachnoidalraum
schwache Nackenmuskulatur
fehlende Kopfhaltungskontrolle
offene Schädelnähte und Fontanelle
Pathogenese
• Akzelerations- Dezelerationstrauma mit
rotatorischer Komponente  Scherkräfte
• Scherkräfte wirken auch zwischen grauer und
weißer Substanz und zwischen verschiedenen
unterschiedlich dichten Neuronenschichten
• multiple Abrisse neuronaler Verbindungen
 diffuse axonale Schädigung (DAI)
• retinale Blutung  Scherkräfte zw.
verschiedenen Retinaschichten mit Gefäßabriss
Klinische Symptome
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Irritabilität
Trinkschwierigkeiten
Somnolenz
Apathie
cerebrale Krampfanfälle
Apnoe
Temperaturregulationsstörungen
Erbrechen bei Hirndruck
Diagnostik I
• körperliche Untersuchung
 Hämatome/ Griffmarken
 Frakturen
• Anamnese
 Vorstellungszeitpunkt
 Ablauf
Diagnostik II
• Bildgebung
 initial CCT
 MRT im Verlauf
 Röntgen Skelett, insb. Thorax
• augenärztliches Konsil
 retinale Blutung?
 Glaskörpereinblutung
Spätfolgen
2/3 der Überlebenden leiden unter neurologischen
Folgeschäden
Hirnatrophie
subdurale Hygrome
multizystische Enzephalopathien
zerebrale Anfallsleiden
mentale Retardierung
Atrophie der Sehnerven
Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom
Münchhausen Syndrom by Proxy
• Erfinden, Übersteigern oder tatsächliches
Verursachen von Krankheiten oder deren
Symptomen bei Dritten, meistens Kindern
• Täter größtenteils Mütter
• Ziel: wiederholte ärztliche Behandlung des Kindes,
dadurch sekundärer Aufmerksamkeitsgewinn der
Mütter
• Artifizielle Störung
• Form der Kindesmisshandlung
• relativ selten, hohe Dunkelziffer
Charakteristika der Mütter
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wirken zugänglich und überfürsorglich
verfälschen die Anamnese
Vorfälle nur von ihnen beobachtet
häufiger Arztwechsel
Einfordern invasiver Diagnostik
suchen Kontakt zum medizinischen Personal
häufig medizinische Vorkenntnisse
oft selbst Opfer von Gewalt
Formen der Manipulation
• Schilderung nicht vorhandener Symptome (Herz- und
Atemstillstände, epileptische Anfälle)
• Fälschung von Messdaten und Körpersubstraten (z.B.
Fieberkurven, NaCl-Zugabe beim Schweißtest)
• Erzeugung realer Symptome
- Medikamentenverabreichung
- „Anersticken“
- Mangel-/Fehlernährung
Diagnostik
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Anamnese
klinische Untersuchung
chemisch-toxikologische Untersuchung
diagnostische Trennung von Mutter und Kind
versteckte Videoüberwachung (stationär)
Hinweise für Ärzte
• Diskrepanz zwischen Untersuchungs- und Laborbefunden
• Diskrepanz zwischen Schilderung der Mutter und klinischer
Untersuchung
• rekurrierende Symptomatik ohne plausible Erklärung
• keine Besserung trotz Behandlung; Komplikationen
• Abklingen der Symptome bei räumlicher Trennung vom
Verursacher
• keine Zuordnung zu bekanntem Krankheitsbild
Diagnose
1. Erkrankung des Kindes durch nahe Bezugsperson fälschlich
angegeben, vorgetäuscht oder künstlich erzeugt bzw.
aufrechterhalten
2. häufige Untersuchungen und Behandlungen des Kindes
3. wahre Ursachen werden nicht angegeben
4. Symptome/Beschwerden bilden sich nach Trennung vom
Verursachenden zurück
Empfehlungen
1. Gespräch mit den Eltern
2. Meldung an das Jugendamt bei
„leichten Fällen“ und Kooperations-bereitschaft
sowie engmaschige med. Kontrolle unter
Einbeziehung der Geschwisterkinder
3. Anzeige bei Polizei /StA
Probleme bei einer Meldung
• Risiko des diagnostischen Irrtums
• Schweigepflicht (§ 203 StGB)
rechtfertigender Notstand:
„das höherwertige Rechtsgut“
• Straftat: Körperverletzung/Todesfolge
• Ökonomische Überlegungen
Garantenpflicht des Arztes
Ursachen der Fehler
Bei (schweren) Mißhandlungen wird
1.
2.
Nicht an Mißhandlung gedacht
An Mißhandlung gedacht, aber nicht konsequent gehandelt
3. An Mißhandlung wird gedacht, es wird vom Arzt
konsequent gehandelt, aber Jugendamt,
Vormundschaftsgericht, Polizei, StA, Familiengericht
oder Gutachter versagen