HILDESHEIM | HILDESHEIMER ALLGEMEINE ZEITUNG SONNABEND, 25. APRIL 2015 Reportage 16 Mit dem Willekummstrank eröffnen die Schlaraffen ihre Sitzung. Das Foto zeigt von links die Ritter Poly-Flor, Musitast, Düllettant, Cardunculus und den Reychsbarden Sing-so-nett. Fotos Chris Gossmann (links) texte Peter rütters (reChts) Im Reich der Schlaraffen Sie haben alle einen Vogel. Und sie sind sogar stolz darauf. Im Zeichen des Uhus trifft sich eine illustre Männerrunde aus Hildesheim einmal in der Woche zur „Sippung“. Es ist eine Versammlung hintersinniger Käuze. D ie Stimmung in der Kehrwiederburg ist prächtig. Aus allen Himmelsrichtungen sind die Ritter in ihren farbenfrohen Rüstungen eingetrudelt, um sich mit Brot, Lethe und Quell von der anstrengenden Reise zu laben. Selbst aus dem fernen Rocky Mountania ist ein Sasse gekommen, um bei dieser denkwürdigen Zusammenkunft dabei zu sein. Doch was ist da hinten los? Mit forschem Schritt nähert sich von der letzten Bank Ritter RAM, geht mit stolzgeschwellter Brust auf den Thron zu. Der Zweieinhalb-ZentnerMann mit dem Biberschwanz am Helm hält eine braune Holzschatulle in der Hand, die er unter den gestrengen Blicken des Zermonienmeisters öffnet. In der Kiste sind Geschenke für die Herrscher Hildesias. Ein bester Riesling, süße Delikatessen aus der österreichischen Heimat und ein Vogelbeerenschnaps: „Denn Geist ist da oben auf dem Thron dringend notwendig“, ruft Ritter RAM in Das Lexikon der Schlaraffen Originelle Namen, kuriose Titel und Orden sowie ein bizarres Vokabular sind das Markenzeichen der Schlaraffen. Hier eine kleine Auswahl: Angehörige des Schlaraffen: Tross Mitglieder: Sassen Begrüßung: Lulu Gattin: Burgfrau Schwiegermutter: Burgschreck Nichtschlaraffen: Profane Festgewand: Rüstung Kopfbedeckung der Ritter: Helm Telefon: Quasselstrippe Brief, Postkarte, E-Mail: Sendbote, Sendwisch, Netzwisch Zusammenkunft: Sippung Vorträge in Poesie, Prosa, Musik: Fechsung Fahren oder Gehen: Reiten Feuerzeug: Brandfackel Gefängnis: Burgverlies Getränke: Labung Trinkgefäß: Humpen Bier: Quell Wein: Lethe Champagner: Schaumlethe Schnaps: Brandlethe Prost: Ehe Das Jenseits: Ahalla Auto: Benzinross Reisebus: Benzin-Elefant Wohnmobil: Schnarchross Elektrische Bahn: Funkenkutsche Weihnachtsbaum: Uhubaum Weltall: Uhuversum Kalenderjahr: a.U. (anno Uhu) den vollbesetzten Saal. Für einen Moment ist es ob dieser Majestätsbeleidigung mucksmäuschenstill. Dann zerschneidet ein dreifaches „Lulu“ aus mehr als 80 Männerkehlen die Ruhe. Selbst die höchsten Würdenträger stimmen mit ein. Denn im Reich der Schlaraffen sind Hiebe auf die Obrigkeit nicht nur an der Tagesordnung. Sie sind sogar erwünscht. Natürlich heißt Ritter RAM nicht Ritter RAM. Und auch nicht Ritter Kugel Schreiber, wie er wegen seines voluminösen Bauchs gern von seinen 30 Mitreisenden aus der Alpenrepublik genannt wird. Der 55-Jährige hört auf den bürgerlichen Namen Peter Schaufler, ist Chefredakteur der „Schlaraffia Zeitungen“. Weil er als Journalist von morgens bis abends mit dem Laptop unterwegs ist, wählte er für sein zweites Leben als Schlaraffe den Namen „RAM“ – die Abkürzung für den Arbeitsspeicher eines Computers. Anspielungen auf den Beruf sind bei den Schlaraffen nicht nur in Österreich beliebt, sondern im gesamten Uhuversum. Was wieder so ein verhohnepiepelnder Begriff der Schlaraffen ist, die sich den Uhu als Verkörperung von Weisheit, Humor und Tugend als Wappentier gewählt haben. Deshalb hockt auch an diesem Abend eine naturgetreue Nachbildung eines Uhus wie bei allen Zusammenkünften der weltweit 265 lokalen Vereine auf dem Thron im Rittersaal der ehemaligen Dompropstei. Hinter dem Uhu haben die deutschen Schlaraffenräte Ritter Roi-n-Schmäh und Ritter Sal-Lü neben den Hildesheimer Oberschlaraffen des Äußeren, Ritter Poly-Flor, und dem Oberschlaraffen des Inneren, Ritter Musitast Platz genommen. Die beiden sind so etwas wie der Außenund Innenminister des Hildesheimer Reychs, heißen mit profanem Namen Horst Sander und Hans-Joachim Schröder. Fehlt eigentlich nur noch der Oberschlaraffe der Kunst, Ritter Drei-moiZwoa. Doch Achim Falkenhausen ist heute verhindert, weil er als stellvertretender Generalmusikdirektor des Stadttheaters für das Damenprogramm der österreichischen Gäste zuständig ist. Praktischerweise hat er die Burgfrauen zu einer von ihm dirigierten Aufführung von „Otello darf nicht platzen“ eingeladen. Und so sind die Männer im Rittersaal wie immer ganz unter sich, weil Frauen bei den „Sippungen“ draußen bleiben müssen. Ein ebenso unumstößliches Gebot aus den Gründerjahren des 19. Jahrhunderts wie die drei Tabuthemen Politik, Religion und Geschäftliches. „Das Reych erhebe sich“, ruft Ritter Musitast zum Beginn des fast vierstündigen Programms. Auf den Tischen der Ritter stehen Humpen mit Lethe und gere Hände zu legen. Die 2868. Sitzung wird seine letzte als Würdenträger sein. Zuvor muss er aber noch die Sippung mit der Nummer 2867 über die Bühne bringen. „Das Reych möge behutsam zu Stuhle kommen“, ruft Ritter Poly-Flor in die Runde und genehmigt sich erst einmal einen Schluck Lethe aus dem tönernen Humpen. Denn im Saal ist es zu vorgeschrittener Stunde bullig warm. Einige Ritter bitten um Marscherleichterung, legen einen Teil ihrer Montur ab. So wie Ritter RAM, der sich seiner Schärpe entledigt, als er zum Rednerpult stampft, um den Besuch in Hildesheim Beim Schlusslied erheben sich alle von in Reimform vorzutragen. Nur den Biihren Plätzen, singen „Bis zum letzten berschwanz am Helm, den darf er Atemzug lasst uns Schlaraffen bleiben“. trotz der Hitze nicht absetzen. So viel Etikette muss sein. Quell, was Nicht-Schlaraffen unschwer Der „stets unfehlbare“ Poly-Flor als Wein und Bier erkennen. Auch die (Poly-Flor über Poly-Flor) ist vom VorÖsterreicher langen ordentlich zu. Sie trag begeistert, spendiert dem Österreihaben einen langen Tag hinter sich, wur- cher einen Schnaps aus der gut bestückden erst von Bürgermeister Ekkehard ten Bar der „Regierungsbank“. „Weil er Palandt im Rathaus empfangen und doch wohl mit dem Händedruck des durften hinterher im Antik Café den Un- Fungierenden allein nicht zufrieden ist“, terschied zwischen Pfannkuchen und vermutet der Oberschlaraffe ganz richPalatschinken herausfinden: „Sehr wohl- tig. schmeckend“, freut sich Ritter RAM Eine echte Feder des Patenschaftsnoch am Abend und streichelt sich ge- uhus vom Wildgatter hält Poly-Flor gar nüsslich über den Wanst. für Ritter FantasiJus alias Volker HehenAuf Befehl von Ritter Musitast darf kamp bereit. Obwohl Politik ja ausdas Reych nach gemeinsamem Abend- drücklich verboten ist, nimmt der scharflied und Willekummklang sesshaft wer- züngige Ortsbürgermeister aus dem Beden. Routiniert greift der Oberschlaraffe reich Stadtmitte / Neustadt die Bausündes Inneren zum hölzernen Zepter mit den seiner Heimatstadt aufs Korn. Zum dem Uhu an der Spitze und klopft drei- Beispiel den Klingeltunnel, der das Bemal auf Holz. Musitast hat dürfnis nach Abenteuern es eilig. Er weiß, die Ritter der überzivilisierten BeSchnaps und im Saal sind nicht wegen völkerung auf perfekte der Regularien, sondern Uhufedern vom stets Weise erfüllt, weil niewegen der Musik- und mand weiß, ob er den unfehlbaren Wortbeiträge gekommen. Tunnel auch wieder geRitter Poly-Flor Deshalb fährt er seinem sund verlässt. Auch das Hofmarschall über den neu eröffnete Parkhaus Mund, der gerade zum Verlesen des Pro- des St.-BernwardKrankenhauses zieht tokolls ansetzen will: „Ja, ja, wir wissen, der Ritter genüsslich durch den Kakao, dass Ihr fleißig ward. Lasst gut sein“, da es neben seiner „bedeutenden Funkkanzelt er den Reychs-Beamten ab. Dem tion“ auch als Sichtschutz „vor den optibleibt nichts anderes übrig, als sein schen Zumutungen der romanischen St.Schriftstück wieder einzupacken. Godehard-Basilika“ dient. Zeit, dass Ritter Poly-Flor das KomBei soviel Gift und Galle wollen die mando übernimmt. Ein befreundeter Gäste aus Österreich natürlich nicht hinArzt hatte ihn 1988 vor die Wahl gestellt, ten anstehen. Als Poly-Flor mal wieder entweder Golfer oder Schlaraffe zu wer- einen Beitrag eines Wiener Ritters lobt, den. Dass Horst Sander mit der zweiten ertönt nicht nur der Zwischenruf „Zu Alternative die bessere Entscheidung für viel“ aus den hinteren Reihen, sondern sich getroffen hat, ist an den vielen Aus- auch der wenig schmeichelhafte Satz: zeichnungen seines blauen Ritterman- „Für einen Wiener ist es leichter, in Nietels abzulesen. Unter der blau-gelb-ro- dersachsen anzukommen als im übrigen ten Schärpe in den Farben Hildesias Österreich.“Das gefällt der Schlaraffenbaumeln Medaillen und Orden, aufge- schar, die sich mit einem lauten „Ehe“ nähte Abzeichen zeugen von den vielen immer wieder gegenseitig zuprostet. Reden und Machwerken, die der Ritter Als der Worte genug gewechselt, die bei seinen Reisen in andere Reyche zum letzten Töne des Klaviers und der FanfaBesten gegeben hat. re verstummt sind, nehmen sich alle an Seit elf Jahren ist Ritter Poly-Flor nun die Hand, singen den Schlaraffenschwur: schon Oberschlaraffe des Äußeren. In „Bis zum letzten Atemzug lasst uns der nächsten Woche will er seinen Rück- Schlaraffen bleiben.“ tritt bekanntgeben, um das Amt in jünDas walte Uhu. Der Uhu darf nicht fehlen. Das Wappentier ist bei jeder Sippung der Schlaraffen dabei. Man spricht Deutsch S ie sind weder Karnevalsverein, Loge noch Geheimbund. Schlaraffia ist eine weltweite Vereinigung von Männern, die sich der Pflege der Kunst, der Freundschaft und des Humors verpflichtet fühlen. Einen Bezug zum Schlaraffenland der Fabel, wo Milch und Honig fließen und Nichtstun als Tugend gilt, gibt es nicht. Vielmehr ist es ein Schlaraffenland des Geistes. Rund 11 000 Mitglieder, meist Freunde der schönen Künste, gehören in 14 Ländern, darunter auch in den USA, Thailand und Australien, dem Verband an. Bei den Zusammenkünften wird weltweit deutsch gesprochen. Schlaraffia wurde 1859 in Prag gegründet. Dort trafen sich zunächst Künstler, die mit satirischer Lust die Überheblichkeit des Adels und die dünkelhafte Titel- und Ordenssucht des Beamtentums aufs Korn nahmen. Heute finden sich in Schlaraffia Männer aus allen Schichten und Berufen. Zwischen Oktober und April treffen sie sich wöchentlich zu einem schrulligen Spiel mit literarischen und musikalischen Beiträgen. Man scherzt und spottet, streitet und ergötzt sich an Rede und Gegenrede. Die Schlaraffia Hildesheim blickt auf eine rund 100-jährige Geschichte zurück. Vor der Zwangsauflösung durch die Nazis im Jahr 1938 besaß der Verein ein eigenes Haus am Andreasplatz neben der Alten Münze. Seit mehr als 50 Jahren treffen sich die Männer in der Kesslerstraße 57. Schlaraffia steht jedem Bürger offen. Wem das phantasievolle Spiel zusagt, kann während einer Pilger- und Prüflingszeit testen, ob er sich als Schlaraffe eignet. Wer als Mitglied aufgenommen ist, tritt erst in den Knappen, dann in den Junkerstand. Mit dem Ritterschlag erfährt der Schlaraffe die höchste Standesstufe. Interessierte können sich unter der Emailadresse bei afalkenhausen@ aol.com melden. Am Sonnabend, 6. Juni, gibt es im Rahmen des Projekts „Hinten auf dem Hof“ die Möglichkeit, den Rittersaal unter fachkundiger Leitung zu besichtigen. Die heiteren Ritter der Tafelrunde. Seit rund 100 Jahren kämpfen die honorigen Herren der Schlaraffia Hildesia gegen den Bierernst des Lebens.
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