als PDF - Zeitschrift DEUTSCHLAND & EUROPA

Zeitschrift für Gemeinschaftskunde
ISSN 1864-2942
Geschichte und Wirtschaft
DEUTSCHLAND & EUROPA
Heft 69 – 2015
Bricht Europa auseinander?
Reichtum und Armut in
Europa
DuE69_ums_20150316.indd U1
23.03.15 11:00
Zeitschrift für Gemeinschaftskunde, Geschichte und Wirtschaft
DEUTSCHLAND & EUROPA
HEFT 69–2015
»Deutschland & Europa« wird von der Landeszentrale
für politische Bildung Baden-Württemberg
herausgegeben.
DIREKTOR DER LANDESZENTRALE
Lothar Frick
REDAKTION
Jürgen Kalb, [email protected]
REDAKTIONSASSISTENZ
Sylvia Rösch, [email protected]
ab 1.4.2015: Verena Demel,
[email protected]
BEIRAT
Günter Gerstberger, Robert Bosch Stiftung GmbH,
Stuttgart
Renzo Costantino, Ministerialrat, Ministerium für
Kultus, Jugend und Sport
Prof. Dr. emer. Lothar Burchardt, Universität Konstanz
Dietrich Rolbetzki, Oberstudienrat i. R., Filderstadt
Lothar Schaechterle, Professor am Staatlichen Seminar für Didaktik und Lehrerbildung Esslingen/Neckar
Dr. Beate Rosenzweig, Universität Freiburg und
Studienhaus Wiesneck
Dr. Georg Weinmann, Studiendirektor, DietrichBonhoeffer-Gymnasium Wertheim
Lothar Frick, Direktor der Landeszentrale für politische
Bildung Baden-Württemberg
Jürgen Kalb, Studiendirektor, Landeszentrale für
politische Bildung Baden-Württemberg
Vor dem Beiertheimer Tafel-Laden in Karlsruhe (Baden-Württemberg) standen am 7.2.2014 Menschen Schlange. Die Tafeln versorgen arme Menschen mit Lebensmitteln, die sonst weggeworfen
würden. Mit steigender Zahl von Bedürftigen müssen Brot, Obst und Gemüse jetzt auf mehrere
Köpfe verteilt werden. Nach einer aktuellen Untersuchung aus dem Jahre 2015 der Nichtregierungsorganisation Oxfam (vgl. www.oxfam.de) haben die sozialen Unterschiede in den letzten
Jahren global deutlich zugenommen.
© Uli Deck, dpa, picture alliance
ANSCHRIFT DER REDAKTION
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DRUCK
Süddeutsche Verlagsgesellschaft Ulm mbH
89079 Ulm
Deutschland & Europa erscheint zweimal im Jahr.
Preis der Einzelnummer: 3,– EUR
Jahresbezugspreis: 6,– EUR
Auflage 16.000
Namentlich gezeichnete Beiträge geben nicht die
Meinung des Herausgebers und der Redaktion wieder. Für unaufgefordert eingesendete Manuskripte
übernimmt die Redaktion keine Haftung.
Nachdruck oder Vervielfältigung auf elektronischen
Datenträgern sowie Einspeisung in Datennetze nur mit
Genehmigung der Redaktion.
THEMA IM FOLGEHEFT 70 (NOVEMBER 2015)
Gerechter Welthandel?
Nachhaltigkeit, Freihandel und
Protektionismus
DuE69_ums_20150316.indd U2
23.03.15 11:00
Inhalt
Inhalt
Bricht Europa auseinander?
Reichtum und Armut in Europa.
Vorwort des Herausgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2
Geleitwort des Ministeriums für Kultus, Jugend und Sport . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2
1. Bricht Europa auseinander? Wieviel Ungleichheit vertragen Demokratien? (Jürgen Kalb) .3
2. Der Wandel sozialer Gleichheit in Deutschland und den OECD-Staaten (Martin Groß) . . 8
3. Die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums und die Einstellungen der Eliten zur
sozialen Frage. (Michael Hartmann) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18
4. Armut in Europa: Trends und Risikogruppen (Roland Verwiebe, Nina-Sophie Fritsch) . . . . 28
5. Roma und Sinti: Europas größte Minderheit zwischen Ausgrenzung und Selbstorganisation (Uwe Wenzel) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36
6. Zunehmende Ungleichheit: Folge oder Ursache der jüngsten Wirtschaftskrisen? (Till van Treeck) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46
7. Die Mindestlohndebatte in Deutschland (Hans Gaffal) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58
8. Politische Partizipation und sozio-ökonimische Ressourcenausstattung in europäischen
Demokratien (Oscar W. Gabriel) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68
9. »Die Geschichte der europäischen Migrations- und Asylpolitik – ein Trauerspiel«.
Ein Planspiel zur Asylpolitik. (Holger-Michael Arndt/ Markus W. Behne) . . . . . . . . . . . . 74
DEUTSCHLAND & EUROPA INTERN
Das Planspielangebot der Landeszentrale für politische Bildung in Baden-Württemberg
(Auszüge) (Jürgen Kalb) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78
D&E-Autorinnen und Autoren – Heft 68 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80
D&E
Heft 69 · 2015
Inhalt
1
Vorwort
des Herausgebers
Geleitwort
des Ministeriums
Moderne liberale Demokratien tragen das Versprechen in sich,
dass vor allem Leistung und Arbeit ausschlaggebend für Einkommen, Vermögen und sozialen Status des Einzelnen seien. Spätestens seit Erscheinen des Bestsellers »Das Kapital im 21. Jahrhundert« des französischen Ökonomen Thomas Piketty über eine
dramatisch ansteigende Ungleichheit zwischen Reich und Arm
seit der Jahrtausendwende auch in den entwickelten Staaten regen sich an diesem Grundversprechen mobiler Gesellschaften
und Demokratien Zweifel. Belohnt unser Wirtschafts- und Gesellschaftssystem tatsächlich die besonders Fleißigen und Leistungswilligen oder doch zunehmend Menschen mit hohem Kapitalvermögen und Erbschaftsansprüchen?
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Leserinnen und Leser,
Zudem wird die öffentliche Diskussion darüber, ob die Verteilung
von Bildungschancen vorrangig vom sozialen Status des Elternhauses abhängt, nach wie vor intensiv geführt. So wurde Deutschland zuletzt u.a. von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) für sein undurchlässiges
Bildungssystem kritisiert, das insbesondere Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund oder aus sozial schwachen Familien benachteilige.
Manche Kommentatoren äußern außerdem ihre Verwunderung
darüber, dass es vor diesem Hintergrund in der Bundesrepublik
kaum zu öffentlichen Protesten kommt. Diese entladen sich eher
in Phänomen der Fremdenfeindlichkeit oder rechtspopulistischer
Europaskepsis. Im Süden Europas scheinen linkspopulistische
Bewegungen dagegen zunehmend Zulauf zu bekommen, ob nun
in Griechenland (»Syriza«), Italien (»Fünf-Sterne-Bewegung«) oder
in Spanien (»Podemos«).
2
Das Versprechen der Europäischen Union lautete von Anfang an,
dass sie zum Wohlstand aller führen würde. Ist dieses Versprechen angesichts der jüngsten Wirtschaftskrisen und politischer
Instabilität noch einlösbar? Oder bricht Europa zunehmend auseinander? Die Zeitschrift »Deutschland und Europa« geht diesen
ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen Fragestellungen in ihrer vorliegenden Ausgabe aus unterschiedlichen Perspektiven nach. Braucht Europa nach Jahren der Liberalisierung
der Märkte eine stärkere Regulierung und mehr sozialen Ausgleich? Auch die Politische Bildung muss sich diesem Thema stellen.
die aktuelle Ausgabe von Deutschland & Europa thematisiert die
weltweit wachsende soziale Ungleichheit und beschäftigt sich mit
den Ursachen und Folgen dieser Entwicklung für den Zusammenhalt in Europa. Im Fokus stehen dabei auch die aktuelle Krise der
europäischen Währungsunion und die damit verbundene Zunahme sozialer Unterschiede - nicht nur zwischen den europäischen Ländern, sondern auch innerhalb der einzelnen Mitgliedstaaten.
Die hier behandelten Themen sind von hoher Aktualität und werden die Menschen und die Öffentlichkeit in Deutschland und Europa in nächster Zeit weiter intensiv beschäftigen. Damit bietet
diese Ausgabe von D&E hervorragende Anknüpfungspunkte für
den Unterricht - beispielsweise auch im Hinblick auf die Bedeutung von Bildung und Schule in diesem Kontext.
So stellt Martin Groß in seinem Beitrag fest, dass die Akzeptanz
sozialer Ungleichheit auch in Deutschland zu bröckeln beginnt. Er
macht dies unter anderem an Defiziten im Bereich der Chancenund Bildungsgerechtigkeit fest, die auch in den PISA-Studien immer wieder deutlich zum Ausdruck kommen.
Oscar W. Gabriel kommt in seiner Auswertung zu dem Ergebnis,
dass Menschen sich umso stärker politisch beteiligen, je besser
sie mit sozioökonomischen Ressourcen im Sinne von Bildung, Einkommen und qualifizierter Berufstätigkeit ausgestattet sind. In
Deutschland stellt er im Hinblick auf die gleiche Wahrnehmung
von Beteiligungsrechten durch ressourcenstarke und ressourcenschwache Bevölkerungsteile einen besonders hohen Nachholbedarf fest. Somit ist die wachsende soziale Ungleichheit auch für
unsere Demokratie eine Herausforderung, die als spannende Diskussionsgrundlage für den Unterricht dienen kann.
Der aktuelle Zustrom von Flüchtlingen nach Europa rückt ebenfalls Fragen der Gerechtigkeit und der ungleichen Verteilung in
den Fokus der Öffentlichkeit. In der Rubrik D&E INTERN finden
Sie dazu ein interessantes Planspielangebot der LpB, bei dem sich
Schülerinnen und Schüler intensiv mit einer gemeinsamen europäischen Asyl- und Flüchtlingspolitik und anderen aktuellen politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Problemen auseinander setzen sollen.
Herzliche Grüße
Lothar Frick
Direktor
der Landeszentrale
für politische Bildung
in Baden-Württemberg
Vorwort & Geleit wort
Jürgen Kalb
LpB Baden-Württemberg,
Chefredakteur von
»Deutschland & Europa«
Andreas Stoch, Mitglied des Landtags,
Minister für
Kultus, Jugend und Sport
in Baden-Württemberg
D&E
Heft 69 · 2015
BRICHT EUROPA AUSEINANDER? REICHTUM UND ARMUT IN EUROPA.
1. B
richt Europa auseinander? Wieviel
Ungleichheit vertragen Demokratien?
JÜRGEN KALB
N
ach den islamistisch-motivierten terroristischen Anschlägen vom 7. Januar 2015 in Paris
auf die Redakteure der satirischen
Zeitschrift »Charlie Hebdo« und
einen jüdischen Supermarkt, bei
dem auch Polizisten muslimischen
Glaubens unter den 17 Opfern zu
finden waren, gab es Momente internationaler Solidarität gegen Gewalt und Rassismus, die begründeten Anlass zur Hoffnung geben
konnten, dass die westliche Welt
und insbesondere die Europäische
Union angesichts der gemeinsamen Bedrohungen wieder enger zusammen wachsen würde. Paris erlebte in diesen Tagen die größte
Kundgebung der Nachkriegszeit.
Auch wenn die zahlreich erschienenen Staats- und Regierungschefs
aus rund 50 Ländern (I Abb. 1 I) aus
Sicherheitsgründen nicht tatsächAbb. 1 Bei einer der größten Kundgebungen der Nachkriegszeit gedachten mehr als eine Million Menschen der
lich die Kundgebung mit deutlich
17 Opfer der islamistischen Anschlagsserie gegen die Karikaturisten der Zeitschrift »Charlie Hebdo«, gegen Kunden
mehr als einer Million Teilnehmern
eines jüdischen Lebensmittelgeschäfts sowie gegen französische Polizisten. Gemeinsam mit Frankreichs Präsident
anführten, so war dies doch deutFrançois Hollande ließen sich die Staats- und Regierungschefs aus 50 Ländern gemeinsam fotografieren. Die symlich mehr als ein Akt symbolischer
bolische Geste war Teil des » Republikanischen Marsches« durch die Hauptstadt Paris, darunter Bundeskanzlerin
Politik. Es schien für einen Moment
Angela Merkel (CDU), Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und Palästinenserpräsident Mahmud Abbas.
so, als nähme die politische Klasse
© European Council/ Europäischer Rat, 11.1.2015
die deutlich gewordenen Herausforderungen für die Politik, die VerHerausforderungen für westliche Grundwerte
teidigung der Menschenrechte und der liberalen Demokratie
und für den europäischen Einigungsprozess
entschlossen an. Dies soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich seit geraumer Zeit fremden- und ausländerNicht wenige Zeitgenossen sahen in den terroristischen Anschläfeindliche Tendenzen in Europa vermehrt bemerkbar machen.
gen vom 7. Januar 2015 in Paris allerdings eher eine Bestätigung
So nahm der Anteil rechtspopulistischer Parteien bei der Euder vom us-amerikanischen Politikwissenschaftler Samuel Hunropawahl im Mai 2014 deutlich zu und speziell in Deutschland
tington bereits 1993 aufgestellten These vom »Kampf der Kultumehren sich in einigen Städten wie Dresden Demonstrationen
ren«, der nunmehr in vollem Gange sei. Keine Woche vergehe in
von zutiefst Enttäuschten, die sich nicht zuletzt durch ihre
westlichen Großstädten ohne Terrorwarnungen, kein Tag ohne
Weigerung auszeichnen, mit der Politik und den Medien in
Berichte über Gräueltaten im Nahen Osten. Der »Islamische
einen sachlichen Dialog zu treten. Auch deshalb wird in der
Staat« (»IS«) stelle das bestehende Machtgefüge in seiner GrauSoziologie, aber auch der Wirtschafts- und Politikwissensamkeit gänzlich infrage, seine Schergen versklavten, köpften
schaften inzwischen die Diskussion geführt, woher diese
und zerstörten alles und jeden, der nicht den Regeln ihrer perverFrustration denn kommen könne. Nicht wenige sind der festierten Islamauslegung entspräche. Selbst jahrtausendealte
ten Überzeugung, dies hänge mit der fortschreitenden GlobaKunstschätze fallen derzeit Bulldozern und Vorschlaghämmern
lisierung sowie der rapiden Zunahme sozialer Ungleichheit
zum Opfer.
auch in den prosperierenden Staaten wie Deutschland zusamDie heftig diskutierte und umstrittene These vom »Kampf der
men. Die Frage, wieviel Ungleichheit Demokratien eigentlich
Kulturen« ist eine politische Theorie der internationalen Bezievertragen, wurde erstmals gar zum »Megathema« (Handelshungen, die davon ausgeht, dass sich nach dem Ende des Kalten
blatt vom 20.1.2015) des jährlichen Weltwirtschaftsforums 2015
Krieges zukünftige internationale Konflikte vor allem zwischen
in Davos.
verschiedenen Kulturräumen, insbesondere der westlichen Zivilisation und dem islamischen oder chinesischen Kulturraum abspielen würden. Seine Überlegungen erweiterte Huntington in
seinem 1996 erschienenen Werk »Clash of Civilizations and the Remaking of World Order« zu einer umfassenden Theorie, die einen
nicht unerheblichen Einfluss auf die us-amerikanische Außenpoli-
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Bricht Europa auseinander?
3
Jürgen Kalb
Abb. 2 4
» … ein feines Süppchen« tik seit 9/11 im Jahre 2001 hatte. Darin stellt er die Behauptung auf,
dass ein grundsätzlicher, kultureller Antagonismus zwischen einzelnen Zivilisationen bestehe und dass es vor allem dieser Gegensatz sei, der die Weltordnung nach dem Ende des ideologisch geführten Ost-West-Konfliktes besonders prägen werde.
In Zeiten des Terrors wie im Januar 2015 erlebt Huntington gerade
politisch eine Renaissance. So wie der 11. September 2001 ein Anschlag auf die Symbole amerikanischer Hegemonie war, wird der
7. Januar 2015, der Tag, an dem zwei selbst ernannte islamistische
Gotteskrieger ein Blutbad in den Pariser Redaktionsräumen von
»Charlie Hebdo« anrichteten, als Anschlag auf die europäische
Werteordnung gedeutet. Nicht nur Frankreichs früherer Präsident Nicolas Sarkozy sprach vielen Europäern aus der Seele, als er
das Attentat als einen »Angriff auf die Zivilisation« verurteilte.
Die Pegida-Bewegung
In Deutschland machte sich insbesondere in Dresden eine Bürgerbewegung (PEGIDA) diese Stimmung zu
eigen. Als »Patriotische Europäer gegen
die Islamisierung des Abendlandes« veranstaltet Pegida seit dem 20. Oktober 2014 wöchentliche Demonstrationen gegen eine von ihr behauptete
»Islamisierung« und eine aus ihrer
Sicht verfehlte Einwanderungs- und
Asylpolitik in Deutschland und Europa. Ursprünglich als geschlossene
Facebook-Gruppe gegründet, ist sie
seit dem 19. Dezember 2014 unter
dem Kürzel PEGIDA als Verein eingetragen. Die Teilnehmerzahl wuchs
laut Polizeiangaben von etwa 350 am
20. Oktober 2014 kontinuierlich auf
mehr als 25.000 am 12. Januar 2015
an. Über 150.000 »Likes« hat die nun
geöffnete Facebook-Seite dieses Vereins Anfang 2015 bereits vorzuweisen.
Dabei ist eine inhaltliche Einordnung
dieser Bewegung, die stets betont,
nicht »rechts« zu sein, nicht einfach.
Pegida-Demonstranten
reagieren
auf Pressearbeit oder gar wissenschaftliche Begleituntersuchungen
vor Ort regelmäßig mit Sprechchören
wie »Lügenpresse, Lügenpresse«
oder »Lügenpresse, halt die Fresse«
und »Volksverräter« als Bezeichnung
für Politiker. Befragungen lehnt ein
großer Teil der Demonstranten kategorisch ab. Die NS-Propaganda hatte
den Kampfbegriff »Lügenpresse« in
den 1930er und 1940er Jahren gegen
Kommunisten und Juden gerichtet.
Am 5. Januar 2015 wurden zudem Parolen wie »Sachsen bleibt deutsch«
und »Merkel muss weg« gezeigt und
skandiert.
Die Technische Universität Dresden
(TUD) befragte am 22. Dezember
2014 sowie am 5. und 12. Januar 2015
dennoch rund 400 Pegida-Demonstranten. Nach Aussage ihres Leiters
Hans Vorländer gilt die Umfrage we© Gerhard Mester, 2015
gen der Zahl der Antworten als empirisch gesichert, jedoch wegen der
Antwortausfälle von 65 % der Adressaten nicht als repräsentativ.
Der durchschnittliche Teilnehmer der Studie kommt demnach aus
der sächsischen Mittelschicht, ist männlich, 48 Jahre alt, konfessionslos, nicht parteigebunden, gut ausgebildet, berufstätig und
verfügt über ein für Sachsen etwas überdurchschnittliches Nettoeinkommen. Knapp 50 % gaben an, Arbeiter oder Angestellte zu
sein, 20 % selbstständig, 18 % Rentner, 2 % arbeitslos. 38 % gaben als Bildungsstand Mittlere Reife, 28 % einen Studienabschluss, 16 % Abitur, 5 % einen Hauptschulabschluss an. Drei
Viertel seien konfessionslos, ein Fünftel protestantisch. Zwei
Drittel fühlten sich keiner Partei verbunden, 17 % der AfD, 9 % der
CDU, 4 % der NPD, 3 % der Linkspartei. Als Hauptgrund ihrer Teilnahme nannten die Befragten zumeist Unzufriedenheit mit der
Politik (54 %), »Islam, Islamismus und Islamisierung« (23 %), Kritik an den Medien und der Öffentlichkeit (20 %) sowie Vorbehalte
gegen Asylbewerber und Migranten (15 %). 42 % hatten insbesondere Vorbehalte gegenüber Muslimen oder dem Islam, je 20 %
äußerten Sorgen vor hoher Kriminalität durch Asylbewerber oder
Abb. 3 Wahrnehmungsstörungen der Bevölkerung in Europa (nach aktuellen Umfragen) © Süddeutsche Zeitung vom 31.1.2015, S. 8
Bricht Europa auseinander?
D&E
Heft 69 · 2015
hatten Angst vor sozioökonomischer Benachteiligung. Vorländer sieht Pegida dennoch nicht vorwiegend als Bewegung von
Rechtsextremisten, Rentnern oder Arbeitslosen. Die Kundgebungen seien für die meisten
eine »Ausdrucksmöglichkeit für tief empfundene, bisher nicht öffentlich artikulierte Ressentiments gegenüber der politischen und
meinungsbildenden Elite«. Diskussionen, wie
man mit diesen Protesten und Demonstrierenden umzugehen habe, erregten zeitweise
heftig die öffentliche Diskussion.
Dabei korrespondieren die Parolen von Pegida und ähnlichen Bewegungen in anderen
Großstädten, wie aktuelle Umfragen belegen
(I Abb. 3 I), deutlich mit einer weit verbreiteten Wahrnehmungsstörung der Mehrheitsgesellschaft gegenüber dem Anteil der Muslime in Westeuropa. Dazu kommt, dass in
kaum einer anderen Stadt in Westeuropa der
prozentuale Anteil der Muslime an der Gesamtbevölkerung so gering ist wie in Dresden (ca. 0,4 %). Hier von der Gefahr einer »Islamisierung« zu sprechen, scheint daher eine
mehr als kühne These. Ebenso verhält es sich
mit den bisherigen (März 2015) Auswirkungen des Terrors des »Islamischen Staats« auf
Abb. 4 Das Gesellschaftsbild einer sozialen, solidarischen Gesellschaft
Westeuropa.
© FAZ, 19.2.2015, S. 10, nach Zahlen des Instituts für Demoskopie, Allensbach
Das im Nord-Irak ausgerufene »Kalifat«, das,
geht es nach deren Urhebern, bald die gesamte muslimische Welt umspannen soll, hat
Wie viel Ungleichheit verträgt die Demokratie?
auch für die übergroße Mehrheit der Muslime nichts zu bieten
außer Knechtschaft und wird folglich von allen zentralen IslamKonzerne wie GM und Ford haben einst die Massenproduktion
Vertretern in Europa kategorisch abgelehnt. Meldungen über
des amerikanischen Traums ermöglicht, heute schaffen UnterKonflikte zwischen einheimischen Kämpfern und »Fremdenlegionehmen wie Apple, Microsoft, Google und Facebook eine Handnären« aus Westeuropa fügen sich mit Berichten über Schwierigvoll Multimilliardäre. Der breiten Masse bleiben Lohnstagnation
keiten, neue Rekruten anzuwerben, zu einem Bild des Niederund erodierende Sozialsysteme, ein Nährboden für Politikvergangs zusammen (Handelsblatt, 12.3.2015, S. 12 f).
drossenheit. Für Fukuyama stellen Welthandel und DigitalisieZudem zeigt schon ein flüchtiger Blick auf die Koalition, die sich
rung die demokratische Ordnung vor Herausforderungen, denen
gegen die Islamisten stellt, wie unscharf das Konzept des
sie nicht gewachsen ist. Das Ergebnis sei »ein breiter Trend zu
»Kampfes der Kulturen« nach wie vor ist. Amerikaner und Araber
mehr wirtschaftlicher Ungleichheit in vielen entwickelten Gesellwerfen Bomben, während am Boden schiitische Milizen auf iranischaften«. Nun lautet die Frage, die ihn beschäftigt, nicht: Wie
sche Anweisung vorrücken. Wenn es einen »Kampf der Kulturen«
viel Ungleichheit produziert der Markt? Sie lautet: Wie viel Ungibt, dann tobt er innerhalb der muslimischen Welt.
gleichheit verträgt die Demokratie?
»Computer und intelligente Maschinen ermöglichen es, Mittelklasse-Jobs
Die Kehrtwende von Francis Fukuyama
wegzuautomatisieren«, argumentiert Fukuyama. »Jobs, die das soziale
und wirtschaftliche Rückgrat einer stabilen Gesellschaft bilden. Gerade
In seiner jüngsten Publikation hat der us-amerikanische Politikdie Demokratie braucht eine breite Mittelschicht, um die Polarisierung zu
wissenschaftler Francis Fukuyama, der einst 1992 mit seiner These
vermeiden, die beispielsweise weite Teile Südamerikas auseinanderreißt.«
vom »Ende der Geschichte« den globalen Sieg der liberalen westFukuyama glaubt nicht daran, dass die durch die technologische
lichen Demokratien prognostizierte, eine deutliche KehrtwenRevolution entfesselten Wachstumskräfte den Kampf gegen die
dung vollzogen. Jahrzehntelang zählte sich Fukuyama zu der inUngleichheit erleichtern. »Die Wohlstandsgewinne der vergangenen
tellektuellen Strömung der Neokonservativen. Doch nach der
zwei Jahrzehnte sind den wenigen an der Spitze der Einkommenspyramide
desaströsen Irak-Invasion, die Präsident George W. Bush 2003 auf
zugefallen. Ohne politische Korrekturen wird Wachstum also nicht dazu
neokonservativen Rat hin befehligte, wandte sich Fukuyama von
beitragen, die Ungleichheit zu überwinden. Es wird die Ungleichheit verseinen alten Weggefährten ab. Die wahre Bedrohung der liberaschärfen.« Das ist ein Plädoyer für eine neue, Einkommens- und
len Demokratie , so Fukuyama heute, werde nicht in finstermittelVermögensunterschiede ausgleichende Politik, ausgerechnet von
alterlichen Koranschulen ausgebrütet, sondern z.B. im grellen
einem Denker, der einst das Label »neokonservativ« trug.
kalifornischen Sonnenlicht. So zumindest sieht es Fukuyama, der
Mit seinen Sorgen steht Fukuyama dabei beileibe nicht allein:
zur Überzeugung gelangt ist, dass der liberalen Demokratie eine
»Heute steht die Fähigkeit der marktwirtschaftlichen Demokratien, breit
Gefahr von innen erwachsen ist, dass die erodierende Mittelgestreute Wohlstandsgewinne zu erbringen, stärker denn je infrage« (zit.
schicht das Fundament aushöhlt, auf dem die demokratische
nach: Handelsblatt vom 12.3.2015, S.13), argumentierte bereits vor
Ordnung beruht.
ihm der Franzose Thomas Piketty in seiner weltweit die BestselÄhnliche Befunde legen auch Untersuchungen des Allensbacher
lerlisten stürmenden Publikation »Das Kapital«.
Instituts für Demoskopie für Deutschland nahe (I Vgl. Abb 4 I). Die
In der aktuellen Ausgabe von D&E hat der Tübinger Professor für
Mehrheitsgesellschaft tritt in Deutschland ganz entschieden für
Soziologie Dr. Martin Groß die zentralen wissenschaftlichen Beden sozialen Ausgleich ein und fordert dies von der Politik.
funde zur Thematik »Der Wandel sozialer Gleichheit in Deutschland und
den OECD-Staaten« zusammengefasst und statistisch belegt, wel-
D&E
Heft 69 · 2015
Bricht Europa auseinander?
5
Jürgen Kalb
der Großen Koalition, die ab 1. Januar
2015 in Kraft trat, wie sich die politische Debatte diesbezüglich in den
letzten Monaten entwickelte und wie
breit der gesellschaftliche Konsens in
wirtschaftspolitischen
Diskussion
reicht.
Dr. Uwe Wenzel vom Studienhaus
Wiesneck zeigt anschließend in seinem Aufsatz: »Roma und Sinti: Europas
größte Minderheit zwischen Ausgrenzung
und Selbstorganisation«, was es für eine
Minderheit bedeuten kann, weitgehend vom ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen Partizipationsprozess abgeschnitten zu
sein.
Integration durch mehr
politische Parizipation?
Abb. 5 »Wird man durch Arbeit reich?« » … sieht ganz so aus!« 6
che Schere sich zwischen arm und reich in den letzten Dekaden
im Rahmen zunehmender Globalisierung aufgetan hat. Mit Bezug
auf die Sinus-Milieu-Forschungen zeigt Groß, wie differenziert
sich moderne Gesellschaften heute darstellen lassen.
Der Organisationssoziologe Professor erem. Dr. Michael Hartmann konzentriert sich in seinem Beitrag : »Die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums und die Einstellungen der Eliten zur sozialen
Frage.« besonders auf die Privilegierten, die Vermögenden, und
deren Einstellung zur sozialen Unwucht. Elitenrekrutierungsfragen thematisiert Hartmann ebenso wie die Diskussion um die
Steuergesetzgebung und mögliche Umverteilungsszenarien.
Hartmann bezieht sich bei seinen Studien dabei ausführlich auf
die von Thomas Piketty vorgelegten Studien zur sozialen Ungleichheit.
Die an der Universität Wien tätigen Autoren Professor Dr. Roland
Verwiebe und seine Mitarbeiterin Nina Fritsch, MA, widmen sich
vor allem der Thematik der »Armut in Europa: Trends und Risikogruppen«. Risikogruppen, so zeigen deren Studien, ähneln sich in
nahezu allen EU-Mitgliedstaaten, wenn auch die sozialstaatlichen
Steuerungsmechanismen sich durchaus unterscheiden. Die politischen Umsetzungsstrategien sind demgemäß sehr unterschiedlich.
Und die ökonomischen Zwänge?
Gibt es ökonomische oder politische Zwänge, die dies bislang verhindert haben? Wie solidarisch soll eine Gesellschaft organisiert
sein, wenn sie nicht ihre Legitimation durch ihre Bürgerinnen und
Bürger verlieren will? Professor Dr. Till van Treeck beschäftigt
sich schließlich in seinem Beitrag: »Zunehmende Ungleichheit: Folge
oder Ursache der jüngsten Wirtschaftskrisen?« mit den ökonomischen
Ursachen und Folgen zunehmender sozialer Ungleichheiten. Sind
diese sozialen Disparitäten nicht sogar hinderlich für den ökonomischen Wachstumsprozess? Kritisch geht van Treeck dabei mit
zahlreichen Unterrichtshilfen aus Wirtschaftsverbänden und
Schulbuchverlagen zu Gericht, die seiner Meinung nach die Thematik allzu verkürzt oder gar verfälschend darstellten.
Der Referent für Gemeinschaftskunde und Wirtschaft am Regierungspräsidium Stuttgart (Gymnasien), Studiendirektor Hans
Gaffal, untersucht in seinem Beitrag: »Die Mindestlohndebatte in
Deutschland« am konkreten Beispiel einer politischen Intervention
Bricht Europa auseinander?
Schließlich legt der emeritierte Professor für Politikwissenschaft (Universität Stuttgart) Dr. Oscar W. Gab© Gerhard Mester, 2012
riel in seinem Beitrag: »Politische
Partizipation und sozio-ökonomische Ressourcenausstattung in europäischen Demokratien« dar, dass gesellschaftlich weniger integrierte Gruppierungen sich nicht nur bei
Wahlen weniger beteiligen, sondern dass die Hoffnungen, Politikverdrossenheit in bildungsfernen Schichten durch vermehrte politische Partizipationsmöglichkeiten abzubauen, bislang keineswegs erfüllt haben. Eine Integration müsste also in erster Linie
über die ökonomische und gesellschaftliche Integration gelingen.
Über die Frage, ob es derzeit bereits gerechtfertigt ist, die westlichen Demokratien als »Postdemokratien« (Crouch) zu bezeichnen, lässt sich trefflich streiten. Kaum strittig dürfte allerdings
Crouchs Beobachtung sein, dass die Mehrheit der Bürgerinnen
und Bürger in der Politik bereits jetzt eine passive, schweigende,
ja sogar apathische Rolle spielt. »Im Schatten der politischen Inszenierung wird die reale Politik hinter verschlossenen Türen gemacht: von
gewählten Regierungen und Eliten, die vor allem die Interessen der Wirtschaft vertreten« (Crouch, S. 10).
Das im November 2015 als nächste Ausgabe von D&E erscheinende Heft 70 mit dem Titel: »Gerechter Welthandel? Nachhaltigkeit,
Freihandel und Protektionismus« versucht denn auch die Thematik
des Zusammenhangs ökonomischer, gesellschaftlicher und politischer Herausforderungen noch einmal in eher globaler Perspektive zu untersuchen.
Und die politische Bildung?
Aufgabe der politischen Bildung bleibt es, die Gleichzeitigkeit
ökonomischer, gesellschaftlicher und politischer Probleme zu
analysieren. In diesem Zusammenhang bemüht sich die Landeszentrale für politische Bildung in Baden-Württemberg deshalb
u.a. auch ganz besonders um handlungsorientierte Planspiele,
die mehrperspektivisch nationale und internationale Problemfelder zunächst spielerisch beleuchten. Holger-Michael Arndt und
Markus W. Behne haben dazu in ihrem Beitrag: »Die Geschichte der
europäischen Migrations- und Asylpolitik - ein Trauerspiel« einen Einblick in ihr aktuelles Planspiel angeboten. Eine Zusammenstellung gibt dann im Anschluss einen Überblick über das umfangreiche Planspielangebot der LpB Baden-Württemberg, das entweder
als Printangebot abgerufen (Bausteine-Reihe) oder auch direkt
bei den jeweils Verantwortlichen der LpB als Veranstaltung gebucht werden kann.
D&E
Heft 69 · 2015
Chancengleichheit als
Voraussetzung für
Integration
Letztlich steht und fällt aber jedes
Angebot der politischen Bildung,
wenn es dem Vergleich mit den tatsächlichen Partizipationsangeboten
unserer Gesellschaft standhält. Horrende Zahlen von Jugendarbeitslosigkeit in einigen EU-Mitgliedstaaten
bieten hier ebenso Anlass zur Sorge
wie die rapide Zunahme von sozialen
Unterschieden. Die Angebote unserer demokratischen Gesellschaft werden erst dann in erwünschtem Umfang angenommen werden, wenn das
Aufstiegsversprechen einer demokratischen, mobilen Gesellschaft z.B.
durch Bildungschancen umgesetzt
wird. Sorge bereiten hier derzeit z.B.
eine Untersuchung der BertelsmannStiftung vom Januar 2015 unter deutschen Unternehmen, die ergab, dass
fast 60 Prozent der ausbildenden BeAbb. 6 Chancengleichheit in Deutschland © Gerhard Mester, 2014
triebe in Deutschland noch nie Azubis mit Migrationshintergrund beKoch, Moritz (2015): Francis Fukuyama. Abschied vom Ende der Geschichte.
schäftigt haben. Als Gründe wurde die Sorge vor Sprachbarrieren
Handelsblatt vom 12.3.2015, S. 12f
und zu großen kulturellen Unterschieden genannt. Aktuell bilden
gerade einmal 15 Prozent der Unternehmen Jugendliche mit MigMau, Stefan / Verwiebe Roland (2009): Die Sozialstruktur Europas. Lizenzrationshintergrund aus. Über Resignation und mangelnde Integausgabe bei BpB, Band 786 der Schriftenreihe, Bonn.
ration bei diesen Teilen unserer Gesellschaft muss man sich da
Piketty, Thomas (2014): Das Kapital im 21. Jahrhundert. C.H.Beck.
nicht wundern. Erst die Lösung der drängenden ökonomischen
und sozialen Probleme könnte verhindern, dass Europa tatsächWehler, Hans Ulrich (2013): Die neue Umverteilung. Soziale Ungleichheit in
lich auseinanderbricht.
Deutschland. München.
Literaturhinweise
Internetlinks
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D&E
Heft 69 · 2015
Bricht Europa auseinander?
7
BRICHT EUROPA AUSEINANDER? REICHTUM UND ARMUT IN EUROPA.
2. D
er Wandel sozialer Gleichheit in
Deutschland und den OECD-Staaten
MARTIN GROSS
D
as Gefüge sozialer Ungleichheit hat
sich in den letzten Jahrzehnten drastisch geändert – und zwar sowohl was
seine »objektiven“, als auch was seine
„subjektiven« Komponenten betrifft. Hinsichtlich der »objektiven« Komponenten
geht es um die Frage, wie sich das Wohlstandsniveau, das Wohlstandsgefälle und
vor allem auch die Möglichkeiten und Hindernisse, einen Platz in diesem Gefälle zu
erreichen, geändert haben. Hinsichtlich
der »subjektiven« Komponenten geht es
um die Frage, wie die Menschen all dies bewerten – welche Rolle spielen die objektiven Lebensbedingungen für die Lebensweise der Menschen überhaupt noch?
Zunahme der Einkommens- und
Vermögensungleichheit
8
Weltweit lässt sich in den modernen Industrienationen eine Zunahme der sozialen Ungleichheit beobachten. Wie in vielen AngeleAbb. 1 »Moderne Gesellschaft« © Gerhard Mester 16.6.2010
genheiten nimmt auch hier die USA eine
Vorreiterrolle ein – hier begann dieser Anstieg schon in den siebziger Jahren. DeutschAber nicht nur die Einkommen sind ungleicher geworden, auch
land galt lange Zeit als Hort der Stabilität in dieser Hinsicht, mit
die Vermögensungleichheit hat deutlich zugenommen – und das
einem gewissen Hang zur Egalität, doch auch hier ist seit den
angesichts der Tatsache, dass die Vermögen grundsätzlich viel
neunziger Jahren eine deutliche Verschärfung der Ungleichheit zu
ungleicher verteilt sind als die Einkommen. Die obersten 10 % der
verzeichnen.
Vermögensbesitzer verfügten im Jahre 2002 über 57,9 % aller VerSummarisch lässt sich dies beispielsweise an den Haushaltseinmögen – nur fünf Jahre später betrug der Anteil schon 61.1 %
kommen mit Hilfe des »Gini«-Index darstellen, der zwischen 0
(Frick und Grabka 2009: 584). Seit 2007 stagniert die Vermögen(»alle verdienen das Gleiche«) und 1 («maximal mögliche Unsungleichheit auf diesem hohen Niveau (Grabka und Westermeier
gleichheit)» variiert und der für die verfügbaren Haushalts2014). Zudem lässt sich beobachten, dass die Einkünfte aus Vermarkteinkommen (also Einkommen ohne Renten, Pensionen,
mögens- und Unternehmenseinkommen seit Anfang der 2000er
sonstigen Sozialtransfers etc.) seit Beginn der neunziger Jahre
Jahre deutlich stärker gestiegen sind als die Einkünfte aus der Erbis etwa 2005 in Westdeutschland um ca. 20 % gestiegen ist, im
werbsarbeit – die Kluft zwischen Kapital und Arbeit wächst wieOsten fiel der Anstieg noch deutlicher aus (vgl. Grabka und Goebel
der.
2013, | Abb. 3 |). Ab 2005 hat sich die Lage zumindest in Westdeutschland wieder etwas entspannt: Hier ist die Ungleichheit
der Haushaltseinkommen seitdem zurückgegangen, während
Ursachen des Wandels
sie im Osten des Landes auf hohem Niveau stagniert. In jüngerer
Zeit (ab 2011) steigt die Ungleichheit aber wieder, insbesondere
Im Wesentlichen tragen zwei Gruppen von Faktoren zum Wandel
aufgrund der nach der Erholung der Finanzmärkte von der jüngsder Ungleichheit bei: Demographische und solche, die unmittelten Finanzkrise wieder angestiegenen Kapitaleinkünfte. Im
bar mit dem Arbeitsmarkt verknüpft sind – wobei letztere den
inter­nationalen Vergleich gehört Deutschland zu den OECD-Ländeutlich größeren Einfluss zeigen (Grabka und Goebel 2013, Biedern mit den höheren Anstiegsraten der Einkommensungleichwen und Juhasz 2012). Hinsichtlich der demographischen Faktoheit, wie auch Schweden, Finnland oder andere nordische Länren ist beispielsweise zu beobachten, dass Haushaltsformen mit
der. Aber ebenso wie dort startete Deutschland von einem
eher geringeren Haushaltseinkommen (Rentnerhaushalte, Einvergleichsweise niedrigen Ungleichheitsniveau – während einige
Eltern Haushalte) zunehmen. Die wichtigsten direkt arbeitsLänder mit tra­ditionell hohem Ungleichheitsniveau (wie Chile,
marktbezogenen Faktoren umfassen vor allem drei Punkte.
Mexico oder die Türkei) sogar etwas gleicher geworden sind. InsErstens die Beteiligung der Menschen am Erwerbsleben: Steigesamt lässt sich in den OECD-Ländern damit ein (wenn auch
gende Arbeitslosenquoten verschärfen die Ungleichheit der
nicht sehr aus­geprägter) Trend zur Konvergenz der EinkommenHaushaltseinkommen, während die anziehende Konjunktur und
sungleichheit auf einem hohen Niveau feststellen (OECD Publider Rückgang der Arbeitslosigkeit ab 2005 hauptsächlich dafür
shing Jan. 2012: 22).
Der Wandel sozialer Gleichheit
D&E
Heft 69 · 2015
verantwortlich sind, dass die
Ungleichheit wieder etwas
abgenommen hat bzw. zumindest nicht weiter gestiegen ist. Zweitens die Erträge,
die sich am Arbeitsmarkt erzielen lassen – die Ungleichheit der Erwerbseinkommen
steigt. Drittens die mehrfache Änderungen der Steuergesetzgebung, die vor allem
höhere Einkommen entlastete. Entgegen landläufiger
Vermutungen haben die
»Hartz IV« – Regelungen
nicht zu einer Erhöhung der
Einkommensungleichheit
beigetragen, sondern sie sogar eher verringert (Biewen
und Juhasz 2012: 638).
Was den Anstieg der Vermögensungleichheit verursacht
hat, ist weniger klar. DiskuAbb. 2 Entwicklung des Volkseinkommens in Deutschland © nach: Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2013: 44.
tiert werden vor allem zwei
Faktoren: Die Deregulierung
der Finanzmärkte, die es erLöhne boten den Arbeitnehmern die Grundlage für eine sichere,
leichtert hat, aus Vermögensanlagen Einkünfte zu erzielen und
im internationalen Vergleich auch für gering qualifizierte Arbeitdamit zu einer verstärkten Vermögensakkumulation beigetragen
nehmer gut entlohnte, Beschäftigungsverhältnisse.
habe, und Erbschaften, die eine solche Akkumulation ganz beDoch jüngere arbeitsmarktpolitische Forderungen haben diese
sonders gut ermöglichen. Gerade höher Gebildete mit guten Einstark regulierte Form des »rheinischen« Kapitalismus, der auf
künften und höherem Vermögensbesitz haben gute Chancen,
eine »Befriedung« der Konflikte zwischen Arbeitgebern und Argrößere Vermögen zu erben. Allerdings gibt es einen eher ausgleibeitnehmern zielte, ins Wanken gebracht. Immer stärkere Konchenden Lebenszykluseffekt: Die Erbschaften der Älteren fließen
kurrenz in allen Bereichen setzte die Unternehmen, und stärker
meist an die Jüngeren, die (noch) über kein Vermögen verfügen
noch die Arbeitnehmer, unter Druck und der Ruf nach mehr Flexioder sogar wegen Familiengründungen verschuldet sind, was die
bilität der Arbeitsbeziehungen wurde immer lauter. Gefordert
Vermögensungleichheit im Querschnitt etwas reduziert (Kohli et
al. 2006).
Technologischer Wandel
und Flexibilisierung des
Arbeitsmarktes
Die hauptsächlich treibende Kraft des Anstiegs der Einkommensungleichheit ist im
Wandel des Arbeitsmarktes zu sehen – vor
allem die steigende Ungleichheit der Erwerbseinkommen trägt zum Anstieg der
Haushaltseinkommen bei.
Der Wandel des Arbeitsmarktes lässt sich in
erster Linie als »Flexibilisierung« begreifen.
Im internationalen Vergleich verfügte
Deutschland über einen relativ stark regulierten Arbeitsmarkt, wobei »Regulierung«
sich einerseits auf gesetzliche Regelungen
von Arbeitsbeziehungen bezieht, zum anderen auf die Tatsache, dass Arbeitgeber und
Gewerkschaften in weiten Be­reichen des Arbeitsmarktes geltende Tarifverträgen abschließen, die stark in die Ausgestaltung von
Arbeitsbeziehungen eingreifen. Hauptgegenstand der Tarifverträge sind Lohnzahlungen, aber auch Arbeitszeiten, Beschäftigungssicherungen und andere, für die
Gestaltung von Arbeitsverhältnissen wichtige Punkte. Der gesetzliche Kündigungsschutz, die gesetzliche Rahmung von Arbeitsverträgen
und
durch
starke
Gewerkschaften ausgehandelte kollektive
D&E
Heft 69 · 2015
Abb. 3 Ungleichheit der realen Haushaltsmarkteinkommen in Deutschland © nach: Grabka et al. 2012: 7
Der Wandel sozialer Gleichheit
9
�����������
Abb. 4 Entwicklung des Anteils der Niedriglohnbeschäftigung in Deutschland © nach: Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2013: 337.
10
wird mehr Flexibilität hinsichtlich der Arbeitszeiten, um Maschinenlaufzeiten verlängern zu können, mehr Flexibilität beim Einsatz der Arbeitskraft, um sich Nachfragezyklen besser anpassen
zu können, und mehr Flexibilität bei den Löhnen, um die Entlohnung besser der individuellen Produktivität anpassen zu können.
Insbesondere erschien die in Tarifverhandlungen geforderte Entlohnung für gering qualifizierte Arbeitnehmer generell zu hoch
im internationalen Vergleich.
Der Ruf nach mehr Lohnflexibilität wird auch durch einen tiefgreifenden technologischen Wandel genährt. Im Zuge der Entwicklung der Informationstechnologie werden immer mehr berufliche Tätigkeiten von IT-basierten Produktionstechnologien
übernommen. Dies betrifft aber vor allem Routinetätigkeiten im
mittleren Bereich der beruflichen Hierarchie (Goos und Manning
2007) – manuelle Routinetätigkeiten wie Putzen oder Autofahren können ja (noch) nicht von Computern übernommen werden, und kreative Nicht-Routinetätigkeiten am oberen Ende der
Berufshierarchie auch nicht. Besonders in den USA und Großbritannien lässt sich daher (schon) eine Polarisierung der Berufsstruktur beobachten (Autor et al. 2008, Oesch und Menés Jorge
Rodriguez 2011), dergestalt, dass Berufspositionen im mittleren
Bereich der Berufshierarchie ausdünnen, während die Nachfrage
nach qualifizierten Arbeitskräften, die den Einsatz der IT-gestützten Produktionssysteme steuern, zunimmt. Hand in Hand
mit dieser Entwicklung geht dann eben eine Polarisierung der
Einkommensverteilung: Die »Bildungsreturns« (Lohnsteigerungen, die man mit höherer Bildung erreichen kann) steigen deutlich an, was die Verschärfung der Einkommensungleichheit erheblich vorangetrieben hat. In Deutschland ist weniger eine
Polarisierung der Berufsstruktur als ein »Upgrading« zu beobachten, da die immer noch bedeutsame Arbeitsmarktregulierung das Angebot an unqualifizierten Tätigkeiten begrenzt
(Oesch und Menés Jorge Rodriguez 2011), aber auch dieser Prozess treibt die Einkommensungleichheit voran. Flexible Produktionsweisen und steigende Bildungsreturns wurden in Deutschland lange Zeit durch die vergleichsweise starke Regulierung des
Arbeitsmarktes gehemmt. Doch zwei Trends sorgten dafür, dass
diese Regulierung in jüngerer Zeit stark gelockert wurde. Zum
einen wurden etliche gesetzliche Rahmenbedingungen so geändert (beispielsweise mehrfache Änderungen des Teilzeit- und
Befristungsgesetzes), dass der Einsatz so genannter »atypischen
Beschäftigungsformen« wie befristeter Beschäftigung, Teilzeitarbeit, Leiharbeit etc. erleichtert wurde – in der Folge hat der
Anteil solcher Beschäftigungsformen deutlich zugenommen.
Der Wandel sozialer Gleichheit
Zum anderen werden immer weniger Beschäftigungsverhältnisse
tarifvertraglich
geregelt. Beide Prozesse haben die Ungleichheit der Arbeitseinkommen erheblich
befördert. Eine bessere Bezahlung hochqualifizierter Arbeitnehmer in Folge des technologischen Wandels ist natürlich auch in einem regulierten Arbeitsmarkt möglich – aber
die relativ schlechtere Bezahlung gering
Qualifizierter erforderte einen solchen institutionellen Wandel. In der Tat kann man beobachten, dass die Realeinkommen am unteren Ende der beruflichen Hierarchie
gesunken sind und der Anteil des Niedriglohnsektors an der gesamten Erwerbstätigkeit gestiegen ist. Der Niedriglohnsektor
besteht wiederum zu einem großen Teil aus
den so genannten »atypischen« Beschäftigungsverhältnissen, die befristete Beschäftigung, Leiharbeit oder geringfügige Beschäftigung beinhalten, die (bei gleicher
Qualifikation und Arbeitsumfang) deutlich
schlechter bezahlt werden als hinsichtlich
der Anforderungen äquivalente «Normalarbeitsverhältnisse«.
Globalisierung und
Finanzialisierung
Warum wollen Unternehmen so dringend Arbeitskosten sparen,
indem sie auf flexible Beschäftigungsformen zurückgreifen und
dem Tarifvertragswesen den Rücken zuwenden? Hierfür werden
zwei Prozesse verantwortlich gemacht, die »Globalisierung« und
die »Finanzialisierung«. Mit »Globalisierung« ist hier vor allem
gemeint, dass weltweit die Grenzen immer durchlässiger geworden sind – für Informationen, Waren und Kapitalströme. Das hat
zu einer Internationalisierung von Produkt- und Arbeitsmärkten
geführt: Der Tausch von Waren, Geld und Arbeitskraft ist so
leicht möglich wie nie zuvor. Das bedeutet zum einen gestiegene
ökonomische Chancen – gerade für die Deutschen, die ihre Waren und Dienstleistungen immer leichter exportieren können. Es
bedeutet aber auch erhöhte Risiken: Die Konkurrenz hat zugenommen – sowohl für die Unternehmen, die nun auch auf den
heimischen Märkten mit ausländischen Anbietern konkurrieren
müssen, wie auch für die Arbeitnehmer, die mit internationaler
Konkurrenz rechnen müssen – weniger in der Form, dass ausländische Arbeitnehmer in Deutschland Arbeitskraft anbieten, als in
der Form, dass Teile der Produktion ins Ausland verlagert werden. Die exportorientierte, auf hochwertige (und damit kon­
kurrenzarme) Produkte setzende deutsche Wirtschaft weist ein
insgesamt positives »Globalisierungssaldo« auf – die gesamtwirtschaftlichen Vorteile, die sich aus der Ausweitung der Märkte
ergeben, dürften die Verluste durch industrielle Abwanderung
etc. bei weitem überwiegen, was sich u. a. am kontinuierlichen
Anstieg des allgemeinen Wohlstandsniveaus ablesen lässt und
an den hohen Exportüberschüssen. Allerdings wird das Globalisierungsplus keineswegs gleichmäßig verteilt – die oben angeführten Reaktionen auf international verschärften Wettbewerb
in Form der oben beschriebenen Änderungen gesetzlicher Rahmenbedingungen und die darauf folgende Änderungen in der
Organisationsstruktur der Unternehmen trägt zum Anstieg der
Ungleichheit in der beschriebenen Form bei. Allerdings ist bei
dieser Einschätzung zu beachten, dass die Deregulierung der
Märkte zwar durchaus deutlich die Ungleichheit der Erwerbsbezieher vergrößert, aber auch die Zahl der Erwerbstätigen erhöht
– und damit zu einer Reduktion der Haushaltseinkommensungleichheit beiträgt, indem sie für Menschen Erwerbseinkommen
überhaupt erst ermöglicht, die vorher von Transfers abhängig
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Heft 69 · 2015
waren. Der resultierende
Gesamteffekt für die Ungleichheit
ist
äußerst
schwierig
abzuschätzen
(OECD Publishing Jan. 2012:
30ff ).
Eine »Finanzialisierung« der
Ökonomie erfolgte durch
die Deregulierung des Finanzsektors und dessen immer größerer Bedeutung für
die Wirtschaft. Ein Hauptgesichtspunkt ist dabei, dass
Unternehmen Betriebskapital immer weniger über
Bankkredite
aufbringen,
sondern durch Ausgabe von
Aktien. Damit treten aber
neue Akteure auf den Plan,
die Einfluss nehmen auf die
unternehmerischen
Prozesse und Organisationsformen: Korporative Akteure
wie Investmentfonds versuchen ihr Interesse an kurzfristiger Profitmaximierung
in allen Bereichen der Unternehmen
durchzusetzen
(Windolf 2005). Die Maximierung des »shareholdervalues« lässt sich auf vielfaAbb. 5 Aktivisten des Bündnisses »Umfairteilen« warfen am 25.09.2012 vor dem Bundeskanzleramt in Berlin Muster-Bankche
Weise
erreichen:
noten in die Luft. Die Demonstranten forderten mit Aktionen in 40 Städten in Deutschland eine stärkere Vermögensbesteue»Outsourcing« von Produktirung zu Gunsten von Bildung, Pflege und Energiewende. © Ole Sparta, dpa, picture alliance
onsabläufen, die zu teuer erscheinen, Verkauf ganzer
lässt sich aus der globalen Finanzkrise, die 2007 einsetzte, ableProduktionszweige, wenn sie sich als unrentabel erweisen, und
sen. Zum einen wurde in den USA deutlich, wie die Deregulierung
vor allem auch: Minimierung von Arbeitskosten durch Rationalider Finanzmärkte als Instrument zur Steuerung von Verteilungssierung von Arbeitsabläufen und den Einsatz atypischer Beschäfprozessen verwendet werden kann. So wurde dort der erleichtigungsverhältnisse.
terte Zugang zu Immobilienkrediten zu einem wichtigen Weg geEs ist empirisch schwer zu differenzieren, ob eher »Globalisierade für ärmere Haushalte, ihren Konsum zu finanzieren – ein
rung« oder »Finanzialisierung« zum Wandel des Arbeitsmarktes
Mittel, das vor allem auch deshalb an Bedeutung gewann, weil
und damit zum Anstieg der Ungleichheit beigetragen haben, zuihnen Sozialtransfers immer weniger zur Verfügung standen. Zum
mal beide Entwicklungsprozesse Hand in Hand gehen und die
anderen zeigte sich, wie volatil Ungleichheitsstrukturen werden,
gleichen Konsequenzen zeitigen – so kann man durchaus der
wenn sie von solchen Finanzinstrumenten abhängen – als der
Meinung sein, dass die Deregulierung der Finanzmärkte durch
»privatisierte Keynesianismus« (Young 2011) zum Zusammendie Globalisierung vorangetrieben wurde, und beide Prozesse
bruch der Immobilienmärkte führte, griff diese Krise sehr schnell
befördern die Flexibilisierung von Arbeitsverhältnissen. Allerweltweit um sich. Allerdings kann man hier konstatieren, dass
dings legen sie zwei völlig verschiedene Beurteilungen des WanDeutschland die Auswirkungen der Krise im internationalen Verdels der Ungleichheit nahe: Wenn die Globalisierung die Untergleich sehr gut abgefedert hat – während in vielen Ländern Kapinehmen unter Konkurrenzdruck setzt und zur Einsparung von
tal- und Arbeitseinkommen unter der Krise litten, wurden hier die
Arbeitskosten zwingt, dann erscheint das wie ein unvermeidliVerluste – wenn auch unter Einsatz beträchtlicher staatlicher Ficher, quasi naturwüchsiger Prozess, zu dem es keine Alternative
nanzmittel – gut abgefangen, so dass der Effekt der Krise auf die
gibt – und damit den Verlierern der genannten Entwicklungen
Einkommensverteilung eher moderat ausfiel (OECD 2013).
nahelegt, die Verschlechterung ihrer Lebensverhältnisse klaglos
zu akzeptieren. Wenn der Anstieg der Ungleichheit aber vor allem dem kurzfristigen Profitmaximierungsinteresse institutioBedroht die gestiegene Ungleichheit die soziale
neller Großaktionäre geschuldet ist, dann scheint der Wandel
Integration?
der Ungleichheit steuerbar, und die Legitimität der Zunahme
der Ungleichheit äußerst fraglich. Vor allem kommt es darauf an,
Wie reagieren die Menschen auf die wachsende soziale Ungleichwas man unter »Globalisierung« genau versteht. Beschränkt man
heit? Wird diese als legitim und/oder unabänderlich akzeptiert?
diesen Begriff auf die reine Handelsintegration, lassen sich weniOder führt eine steigende Ungleichheit zu sich verschärfenden
ger Effekte auf die Einkommensungleichheit feststellen (OECD
sozialen Konflikten, wie oft befürchtet wird? Diese Frage ist nicht
Publishing Jan. 2012 28ff); nimmt man erleichterte Kapitalströme
einfach zu beantworten, da die Wahrnehmung von, die Beweroder technischen Wandel hinzu, wird der Einfluss der Globalisietung der und die Reaktion auf eine(r) ansteigenden Ungleichheit
rung schon bedeutsamer; und versteht man, wie hier, die Derevon vielen Faktoren abhängt. Drei Bereiche seien hier angesprogulierung der Arbeits- und Finanzmärkte als eine Reaktion auf
chen: Die Beurteilung der Ungleichheit als gerecht oder ungedie Globalisierung der Märkte, dann wird er ganz deutlich.
recht, der Wertewandel und die zunehmende Individualisierung
Dass Finanzinstrumente aber ein zunehmendes eigenständiges
der Gesellschaft.
Gewicht für die Strukturierung sozialer Ungleichheit bekommen,
D&E
Heft 69 · 2015
Der Wandel sozialer Gleichheit
11
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12
Auch reflektieren die Preise für bestimmte
Qualifikationen nicht immer unmittelbar individuelle Produktivität, sondern sind Ergebnisse sozialer Konflikte, in denen sich bestimmte
(Berufs-)
Gruppen
besser
durchsetzen können als andere; oft können
mit Hilfe institutionalisierter Berufszugangsregeln mögliche Konkurrenten vom Marktzugang ausgeschlossen werden, was Preise
wiederum künstlich nach oben treibt (Giesecke und Groß 2012).
Nun ist die Frage, wie unter solchen Gesichtspunkten die zunehmende soziale Ungleichheit zu bewerten ist – basiert sie auf sich verschiebenden Leistungspotentialen (weil
etwa im Zuge des technologischen Wandels
die Produktivität der Geringqualifizierten
sinkt, die der Hochqualifizierten steigt) –
oder basiert sie auf sich verschiebenden Konfliktpotentialen (beispielsweise weil die abnehmende Tarifbindung der Betriebe und die
Lockerung der Arbeitsmarktregulierung die
Verhandlungsposition der gering QualifizierAbb. 6 Entwicklung der Managereinkommen in Deutschland ten schwächen und die der Hochqualifizier
© Aus: ISJP (2009): Wie die Krise der Finanzmärkte unsere Vorstellungen von Gerechtigkeit
ten stärken)?
verändert Arbeitsbericht Nr. 180, S. 23.
Es ist schwierig, solche Beurteilungen im Einzelnen vorzunehmen, aber in der WahrnehIst die Zunahme sozialer Ungleichheit gerecht?
mung der deutschen Bevölkerung scheint eine zunehmende »Gerechtigkeitslücke« auf. Empirisch lässt sich das an der Beurteilung
Eine (zunehmende) soziale Ungleichheit muss nicht notwendigerder Entlohnungsverhältnisse (der eigenen wie der anderen) als
weise als ungerecht beurteilt werden. Wie die empirische Gerechgerecht oder ungerecht ablesen. So nehmen die Deutschen die
tigkeitsforschung zeigt, bildet die Forderung nach Gleichheit der
überproportional steigenden Gehälter am oberen Ende der EinLebensbedingungen nur eines von mehreren möglichen Gerechkommensskala durchaus wahr, ebenso wie sie bemerken, dass die
tigkeitsprinzipien – in Deutschland werden Gleichheitsideale
Entlohnungen am unteren Ende stagnieren oder gar sinken. Doch
zwar stärker vertreten als in den angelsächsisch geprägten Indusdiesem sich ändernden »Ist«-Zustand passt sich das »Soll« nicht
trienationen, doch wie in den meisten Gesellschaften findet auch
an: Schon immer denken sie, dass Manager weniger verdienen
hier das Gerechtigkeitsprinzip die höchste Zustimmung, das eine
sollten, als sie es (vermutlich) tun, und Arbeitern sprechen sie
leistungsgemäße Verteilung des gesellschaftlichen Wohlstands
eine höhere Entlohnung zu. Diese wahrgenommene Gerechtigfordert. Solange also soziale Ungleichheit unterschiedliche Leiskeitslücke geht (insbesondere was die Manager betrifft) zwischen
tungen der Gesellschaftsmitglieder widerspiegelt, erscheint sozi2000 und 2009 – deutlich auseinander (vgl. Schrenker und Wegeale Ungleichheit durchaus als legitim – wer mehr arbeitet und
ner 2009). Die Legitimierung sozialer Ungleichheit bröckelt also
produktiver ist als andere, soll auch mehr verdienen.
auch im wohlhabenden Deutschland.
Doch ist das immer der Fall? Diese Frage ist in der Wissenschaft
wie in der Politik heftig umstritten. Eine Marktwirtschaft führt
Wertewandel und Individualisierung
nur dann zu einer leistungsgerechten Entlohnung (oder allgemeiner gesprochen: zu einer leistungsgerechten Verteilung des geUngerechte Verhältnisse fordern Proteste heraus – insbesondere
sellschaftlichen Wohlstandes) wenn die Marktkräfte sich auch frei
von denen, die ungerecht behandelt werden. Ist also in
entfalten können – wenn alle über Menge und Qualität von GüDeutschland mit sich verschärfenden sozialen Konflikten, gar mit
tern und Leistungen informiert sind und wenn alle die gleichen
einem neuen »Klassenkampf« zu rechnen? Nicht unbedingt, da
Chancen haben, einen Tausch am Markt einzugehen oder sich
etliche Wandlungsprozesse solche Konflikte eher dämpfen.
eben nach Alternativen umsehen zu können (also: wenn im Markt
Zum einen hat in jüngerer Zeit ein beträchtlicher Wertewandel
freie Mobilität herrscht).
stattgefunden. Dominierten vor nicht allzu langer Zeit noch »maEs lässt sich nun an vielen Stellen zeigen, dass diese Bedingungen
terialistische« Wertvorstellungen, die aus Bedürfnissen herrühnicht oder zumindest nicht vollständig erfüllt sind. So fordert das
ren, die das unmittelbare Überleben der Menschen betreffen (wie
Marktprinzip, dass produktivere Arbeitnehmer besser entlohnt
Bedürfnisse eines minimalen Lebensstandards, von Sicherheit,
werden; die Produktivität wiederum hängt von der Ausbildung
Ruhe und Ordnung etc.), so wuchs der Anteil der Menschen, für
der Arbeitnehmer ab. Damit ist in der Theorie der Weg zu soziadie »postmaterialistische« Werte wichtig sind, die Möglichkeiten
lem Aufstieg vorgezeichnet: Wer sich besser stellen will, muss in
zur Selbstverwirklichung, politische Teilhabe etc. fordern
seine Ausbildung investieren. So lange alle den gleichen Zugang
(Klein:579ff). Dieser Wertwandel, der in allen fortgeschrittenen
zur Bildung haben, hängt dann die Stellung im System der soziaIndustrieländern zu beobachten ist, wird im Wesentlichen auf das
len Ungleichheit von der eigenen Bereitschaft ab, in seine Bildung
im Zuge der Industrialisierung gestiegene Wohlstandsniveau zuzu investieren und die erworbenen Qualifikationen dann zu eirückgeführt. Erfahrungen materiellen Mangels in der Jugend förnem angemessen »Preis« auf dem Arbeitsmarkt zu »verkaufen«.
dert entsprechenden Studien zufolge die Ausbildung materialistiDoch in der Praxis funktioniert das nicht: Die jüngeren PISA-Stuscher Wertvorstellungen, erst die Wohlstandsgesellschaft
dien haben wiederholt gezeigt, dass die Bildungserwerbschanermöglicht der jüngeren Generation die Formierung postmateriacen keineswegs für alle gleich sind, sondern gerade in Deutschlistischer Wertüberzeugungen. Und da in der Kindes- und Juland erheblich von der sozialen Herkunft abhängen – bestimmte
gendzeit erworbene Wertvorstellungen bis ins hohe Alter stabil
Bevölkerungsgruppen sind damit vom Zugang zum Markt ausgebleiben, wird eine Gesellschaft mit steigendem Wohlstand mit
schlossen resp. der Marktzugang wird behindert (OECD 2010).
Der Wandel sozialer Gleichheit
D&E
Heft 69 · 2015
jeder neuen Generation etwas postmaterialistischer.
Dieser Wertewandel hat eine hohe Bedeutung für die Beurteilung sozialer Ungleichheit. Je materialistischer eine Gesellschaft
ist, desto wichtiger sind die Erfüllung entsprechender Lebensziele für die Menschen –
und damit erhält die Frage, welchen Bildungsabschluss man erreicht, welchen Beruf
man ausübt, wie viel man verdient, eine zentrale Bedeutung für die Selbstdefinition und
für die Lebensplanung. Postmaterialisten
können ihre wichtigen Lebensziele – Selbstverwirklichung, gesellschaftliche Partizipation, soziale Integration – leichter als die Materialisten auch ohne materiellen Wohlstand
(bzw. mit mit einem geringeren Wohlstandsniveau) erreichen. Insofern mag es durchaus
sein, dass der Wertewandel soziale Konflikte
trotz sich verschärfender Ungleichheit
dämpft.
Zum anderen haben in jüngerer Zeit beträchtliche
Individualisierungsprozesse
Abb. 7 Entwicklung der Arbeitereinkommen in Deutschland stattgefunden (vgl. der »Basistext« zur Indivi
© Aus: ISJP (2009): Wie die Krise der Finanzmärkte unsere Vorstellungen von Gerechtigkeit
dualisierungsthese: Beck 1983). Die Menverändert Arbeitsbericht Nr. 180, S. 23
schen begreifen sich immer weniger als Teil
einer »Schicht«, einer »Klasse« oder einer anBundesministerium für Arbeit und Soziales (2013): Lebenslagen in Deutschderen »Großgruppe«, deren Solidarität sie benötigen, um ihre
land. Der vierte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Bonn:
Lebensbedingungen verbessern zu können. Gerade auch die VerBMAS.
breitung atypischer Beschäftigungsverhältnisse untergräbt die
Basis einer solchen Solidarisierung: In ein solches BeschäftiFrick, Joachim R., u. a. (2009): Zur Entwicklung der Vermögensungleichheit
gungsverhältnis zu geraten wird als individuelles Schicksal erfahin Deutschland. Berliner Journal für Soziologie 19: 577–600.
ren (»misslungener Einstieg in den Arbeitsmarkt«) und nicht als
Giesecke, Johannes/ Groß, Martin (2012): Soziale Schließung und die Strukein kollektives Problem. Umgekehrt liegt die Basis gewerkschaftturierung externer Arbeitsmärkte. In Arbeit als Ware, Hrsg. Krause, Alexanlicher Interessensvertretung in den Kernbereichen der Arbeitnehdra und Christoph Köhler, 91–115. Bielefeld: transcript.
merschaft, in denen die »Normalarbeitsverhältnisse« überwiegen, so dass gerade diejenigen, die hauptsächlich von den
Grabka, Markus M., und Jan Goebel (2013): Rückgang der Einkommensunnachteiligen Folgen des Arbeitsmarktwandels betroffen sind,
gleichheit stockt. DIW Wochenbericht 80: 13–23.
weder ein Interesse an kollektiven Konfliktführungen haben,
Grabka, Markus M., u. a. (2012): Höhepunkt der Einkommensungleichheit in
noch eine adäquate Vertretung finden könnten, wenn sie dieses
Deutschland überschritten? DIW Wochenbericht 43/2012: 3–15.
Interesse hätten. Schließlich bleibt anzumerken, dass Organisationsfähigkeit und politische Teilhabe gerade bei denen am geGrabka, Markus M.,u. a. (2014): Anhaltend hohe Vermögensungleichheit in
ringsten ausgeprägt ist, die es am nötigsten hätten, ihren InterDeutschland. DIW Wochenbericht 81: 151–164.
essen politisch Gehör zu verschaffen. Allerdings finden sich in
Klein, Markus. Gesellschaftliche Wertorientierungen, Wertewandel und
jüngster Zeit durchaus gewerkschaftliche und politische Ansätze,
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sich auch um die peripheren Teile des Arbeitsmarktes zu kümHarald Schoen, 563–590.
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eines Mindestlohnes zeigen. Ob das aber auf Dauer genügt, der
OECD. (2013): Crisis squeezes income and puts pressure on inequality and
Fragmentierung des Arbeitsmarktes und der Individualisierung
poverty.
der Arbeitnehmer entgegenzuwirken, bleibt abzuwarten.
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VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Der Wandel sozialer Gleichheit
13
�����������
MATERIALIEN
M 1 Der Gini-Koeffizient bei der Einkommensungleichheit in 27 OECD Staaten von 1975–2008
OECD (2011): Divided we stand. Why Inequality Keeps Rising, www.oecd.org/els/soc/49499779.pdf
»Inequality increased in most countres over a long term, but recemtly fell in some high-inequality countries«
Daten unter: http://dx.doi.org/10.1787/888932535204
14
Der Wandel sozialer Gleichheit
D&E
Heft 69 · 2015
M 2 4. Reichtums- und Armutsbericht der
Bundesregierung – S. XXII – XXVI
(11.3.2013)
(…) III. 4. Beschäftigung aufbauen, Arbeitslosigkeit abbauen
Erwerbstätigkeit ist Grundlage des allgemeinen Wohlstands in Deutschland. Sie dient
den privaten Haushalten als wichtigste
Quelle zur Finanzierung ihres Lebensunterhalts und ist damit eine wesentliche Voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe. Arbeitsplatzverlust und längerer Verbleib in
Arbeitslosigkeit sind zentrale Risikofaktoren
für ein relativ geringes Einkommen, einen
eingeschränkten Lebensstandard oder die
Abhängigkeit von staatlichen Leistungen. Arbeitslosigkeit verschlechtert den Gesundheitszustand und das subjektive Wohlergehen. Sind Eltern langfristig arbeitslos, geht
hiervon auch eine negative Signalwirkung
M 3 Entwicklung der Arbeitereinkommen in Deutschland auf die davon unmittelbar betroffenen Kin © Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2013): Lebenslagen in Deutschland. Der 4. Armuts- und Reichder und Jugendlichen aus. Dies kann auch
tumsbericht der Bundesregierung, S. XXIV, nach: Statistisches Bundesamt, Mikrozensus 2000–2011.
deren Bildungs- und Ausbildungschancen reduzieren. Eine Erwerbsaufnahme führt in der
Mehrzahl der Fälle aus diesen Situationen
Zuwachs gegeben. Dieser vollzog sich sowohl in der ersten Hälfte
heraus und stärkt auch die Kinder. (…)
der Dekade zwischen den Jahren 2000 bis 2005 (plus 0,9 Mio. PerBei der Beurteilung des Niedriglohnsektors sind (…) zwei Aspekte
sonen) als auch in der zweiten Hälfte bis 2011 (plus 1,2 Mio. Persozu beachten. Einerseits ist die unverhältnismäßige Ausbreitung
nen). Insbesondere die Reform des Arbeitnehmerüberlassungsvon niedrig produktiver Beschäftigung und dementsprechender
gesetzes (2002) und die gesetzlichen Regelungen für die
Löhne, die nicht mehr ausreichen, um den Lebensunterhalt selbst
geringfügige Beschäftigung im Nebenerwerb und die Anhebung
in Vollzeitbeschäftigung zu sichern, kritisch zu sehen. Andererder Verdienstgrenze von 325 Euro auf 400 Euro (2003) sowie die
seits wird unterstrichen, dass der Niedriglohnsektor wesentlich
trendmäßige Zunahme der Teilzeitarbeit haben die Möglichkeiten
zum Beschäftigungsaufbau der vergangenen Jahre beigetragen
für atypische Beschäftigung erweitert. Nach der Statistik der
und vielen Geringqualifizierten eine Chance gegeben hat, auf
Bundesagentur für Arbeit stieg die Zahl der Minijobber (geringfüdem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. (…)
gig entlohnte Arbeit bis 400 Euro brutto) im Nebenjob mit EinfühDie sich in den nächsten Jahren abzeichnenden Fachkräfteengrung im Jahr 2003 sprunghaft auf 1,2 Mio. und weiter auf 1,7 Mio.
pässe können die Arbeitsmarktchancen auch im Niedriglohnbeim Jahr 2004. Seitdem nahm sie bis 2011 relativ kontinuierlich auf
reich verbessern. Wenn der Arbeitsmarkt sich tendenziell von ei2,5 Mio. Personen zu.
nem Markt mit einem Überangebot an Arbeitskräften hin zu
Die Zahl der ausschließlich geringfügig entlohnt Beschäftigten
einem Nachfragemarkt entwickelt, dann dürfte sich das auch für
stieg mit der Reform von 2003 bis 2004 (Agenda 2010) ebenfalls
die Beschäftigungschancen und die Lohnentwicklung im jetzigen
deutlich um 400.000 auf 4,8 Mio. an (…). Seither ist sie relativ staNiedriglohnbereich positiv auswirken.
bil. Niedriglöhne können mit einem materiellen Armutsrisiko verDie Einkommensspreizung hat seit 2006, d. h. auch im Berichtsbunden sein. Letzteres lässt sich nur im Haushaltskontext und bei
zeitraum, nicht weiter zugenommen. Auch gehört Deutschland
der Gesamtbetrachtung der persönlichen Lebenssituation der
nach Berechnungen der OECD weiterhin zu den Staaten, in denen
Betroffenen und ihrer Familien bewerten. Nach Berechnungen
die Ungleichheit der Markteinkommen mit am stärksten durch
des IW Köln verfügen etwa 16 Prozent der Beschäftigten mit eiSteuern und Sozialtransfers reduziert wird. Betrachtet man die
nem Niedriglohn über ein Einkommen unterhalb der Armutsrisireale Lohnentwicklung im Berichtszeitraum auf der Basis der Bekoschwelle. Es kommt entscheidend auf den Umfang der Befragungsdaten des SOEP, zeigt sich, dass das mittlere monatliche
schäftigung sowie den Haushaltszusammenhang an. Auch ein
Bruttoerwerbseinkommen von Vollzeitbeschäftigten (Median)
niedriger Lohn kann zu einem ausreichendem Haushaltseinkompreisbereinigt im Jahr 2011 auf dem selben Niveau lag wie im Jahr
men beitragen, und eine Niedriglohnbeschäftigung kann der Ein2007. Dabei entwickelten sich die realen Bruttoerwerbseinkomstieg oder Wiedereinstieg in eine besser bezahlte Beschäftigung
men in diesem Zeitraum bis zum 8. Dezil rückläufig oder blieben
sein.
konstant. Hierbei handelt es sich allerdings um Querschnittsbe© Bundesministerium für Arbeit und Soziales: Der vierte Reichtums- und Armutsbericht
trachtungen, die unberücksichtigt lassen, dass zwischen 2007
der Bundesregierung www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/PDF-Publikationenund 2011 viele Arbeitslose oder in geringer Stundenzahl BeschäfDinA4/a334–4-armuts-reichtumsbericht-2013-kurzfassung.pdf?__
tigte eine Vollzeitbeschäftigung im unteren Lohnbereich neu aufblob=publicationFile, S.
genommen haben. Die im Beobachtungszeitraum sinkenden Reallöhne in den unteren Dezilsgruppen sind also auch Ausdruck
struktureller Verbesserungen.
Zwar hat sich der Anteil der atypischen Beschäftigungen zwischen
2000 und 2011 von rund 20 Prozent auf 25 Prozent erhöht. Es handelt sich dabei aber überwiegend um zusätzliche Beschäftigung.
So hat sich die Anzahl der Normalarbeitsverhältnisse seit 2000
(23,8 Mio.) – mit einem zwischenzeitlichen Rückgang auf 22,1 Mio.
im Jahr 2005 – bis zum Jahr 2011 kaum verändert (23,7 Mio.). Im
Bereich der atypisch Beschäftigten hat es hingegen − ebenso wie
bei den Normalarbeitsverhältnissen im Berichtszeitraum − einen
D&E
Heft 69 · 2015
Der Wandel sozialer Gleichheit
15
�����������
16
gehen machen die Nähe von
Milieu- und Lebensstilforschung deutlich.
(…) Gegenüber anderen Milieu- und Lebensstilanalysen
haben die Sinus-Studien einen großen Vorteil: Die Milieu-Modelle werden ständig
aktualisiert. Mit ihrem Instrumentarium werden seit fast
drei Jahrzehnten kontinuierlich Repräsentativumfragen
durchgeführt, sodass auch
quantitative und qualitative
Veränderungen der Milieustruktur empirisch sichtbar
gemacht werden.
In (| M 5 |) wird die deutsche
Bevölkerung zu zehn Milieus
gruppiert. Diese sind auf der
waagerechten Achse des
Schaubildes nach ihren
Grundorientierungen
drei
verschiedenen ModernisieM 4 Entwicklung der Arbeitereinkommen in Deutschland rungsphasen zugeteilt. Die
© Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2013): Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2014): Lebenslagen in Deutschland.
beiden ersten Phasen entDer 4. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, S. XXV, nach: Statistisches Bundesamt, Mikrozensus 2000–2011.
sprechen geläufigen Unterscheidungen der soziologischen
Werteund
M 5 Rainer Geißler (2014): Die Sozialstruktur Deutschlands.
Individualisierungsforschung. Die senkrechte Achse stellt den
Zusammenhang der Milieustruktur mit der Schichtstruktur her
Soziale Milieus: Der Milieubegriff kann auf eine lange Tradition
und zeigt, in welchen Schichten die verschiedenen Milieus veranin der klassischen ökologisch orientierten Soziologie zurückblikert sind. Dabei wird zweierlei deutlich: Zum einen haben sich im
cken (vgl. Hradil 1992a, 2006). Er wurde benutzt, um die Einoberen Bereich der Schichtungshierarchie andere Milieus herausflüsse spezifischer sozialer Umwelten auf die Einstellungen und
gebildet als in der Mitte und in der Mitte andere als in der unteren
Verhaltensweisen aufzuspüren. In der neueren deutschen SozioEbene. Zum anderen haben sich auf denselben Ebenen des
logie haben sich kultursoziologisch verkürzte Varianten des KonSchichtgefüges unterschiedliche Milieus entwickelt, wobei die
zepts durchgesetzt. Bekannt geworden sind die Milieus der »Er»kulturelle Pluralisierung« in der gesellschaftlichen Mitte deutlich
lebnisgesellschaft« (Schulze 1993) und die sogenannten
weiter vorangeschritten ist als oben und unten (…). Die Größe
Sinus-Milieus. Diese wurden vor drei Jahrzehnten in der kommerund die inhaltliche Ausprägung der Milieus sind ständigen Veränziellen Markt- und Wahlforschung entwickelt und dort seitdem
derungen unterworfen. Ein Vergleich der heutigen Situation mit
sehr erfolgreich eingesetzt. Ich werde im Folgenden die Sinusder Milieustruktur von 1982 zeigt den Bedeutungsverlust traditioMilieus etwas genauer darstellen, weil sie empirisch abgesineller zugunsten moderner Orientierungen sowie eine weitere
cherte Aussagen über die Entwicklung der Milieustruktur zulasDifferenzierung der Milieustruktur in der Mitte. Die folgenden
sen. (…)
Beispiele sollen diese Trends verdeutlichen. Die beiden traditioDie Sinus-Milieus: Das Sinus-Institut arbeitet »für die Zielgrupnellen Milieus des Kleinbürgertums und der Arbeiterschaft haben
penoptimierung« in »der Produktentwicklung, dem Marketing
sich vom Umfang her mehr als halbiert und sind heute zu den
und der Kommunikationsplanung“ (Sinus 2005, 2) mit einem ei»Traditionellen« zusammengefasst. Seit 1991 ist zu den acht Miligenständigen Forschungsansatz: Es gruppiert Menschen mit
eus der 1980er Jahre das »Neue Arbeitermilieu« als neuntes Milieu
ähnlicher Lebensauffassung und Lebensweise zu »sozialen Milihinzugekommen, heute umbenannt in »Adaptiv-pragmatische«.
eus«: »Soziale Milieus fassen, um es vereinfacht auszudrücken,
Beim Up-Date im Jahr 2000 entsteht am rechten Rand in der Mitte
Menschen zusammen, die sich in Lebensauffassung und Lebenseine zehnte Gruppierung, das »postmoderne Milieu«; heute wird
weise ähneln, die also gleichsam ‚subkulturelle‘ Einheiten innerdieses mit der Bezeichnung »Performer« den »sozial gehobenen
halb der Gesellschaft bilden« (…). Die Bevölkerung wird also
Milieus« zugeordnet.
nach »subkulturellen Einheiten« oder »Subkulturen« unterglie© Rainer Geißler (2014/ 7. Auflage): Die Sozialstruktur Deutschlands. Springer VS. Heideldert; dazu gehören Unterschiede in ihren Wertorientierungen
berg /Berlin., S. 114–117
und Lebenszielen, in ihren Einstellungen zu Arbeit, Freizeit und
Konsum, zu Familie und Partnerschaft, in ihren Zukunftsperspektiven, politischen Grundüberzeugungen und Lebensstilen.
Sinus-Milieus »rücken … den Menschen und das gesamte Bezugssystem seiner Lebenswelt ganzheitlich ins Blickfeld« (Sinus
2010, 1). Soziale Milieus lassen sich in der gesellschaftlichen Realität nicht scharf gegeneinander abgrenzen, die Übergänge zwischen ihnen sind – so wie die Übergänge zwischen den verschiedenen Klassen, Schichten, sozialen Lagen oder Lebensstiltypen
– fließend. Die empirische Grundlage der Sinus-Milieus ist repräsentatives Interviewmaterial – es wird mit Hilfe von Ähnlichkeitsmessungen, insbesondere mit Clusteranalysen, systematisch
ausgewertet. Sowohl der Begriff als auch das methodische Vor-
Der Wandel sozialer Gleichheit
D&E
Heft 69 · 2015
M 6 Die Sinus-Milieus in Deutschland, 2015 © Sinus-Institut, www.sinus-institut.de
17
Sozial gehobene Milieus
1. Konservativ-Etablierte (10 Prozent): Das klassische Establishment – Verantwortungs- und Erfolgsethik, Exklusivitäts- und Führungsansprüche versus Tendenz zu Rückzug und Abgrenzung, Statusorientierung und Standesbewusstsein.
2. Liberal-Intellektuelle (7 Prozent): Die aufgeklärte Bildungselite mit liberaler
Grundhaltung und postmateriellen Wurzeln, Wunsch nach selbstbestimmtem
Leben, vielfältige intellektuelle Interessen.
3. Performer (7 Prozent): Die multioptionale, effizienzorientierte Leistungselite
mit globalökonomischem Denken – Selbstbild als Konsum- und Stil-Avantgarde,
hohe IT- und Multimedia-Kompetenz.
4. Expeditive (7 Prozent): Die ambitionierte kreative Avantgarde – unkonventionell und individualistisch, mental und geografisch mobil, online und offline
vernetzt und immer auf der Suche nach neuen Grenzen und neuen Lösungen.
Milieus der unteren Mitte/Unterschicht
8. Traditionelle (14 Prozent): Die Sicherheit und Ordnung liebende Kriegs-/Nachkriegsgeneration – in der alten kleinbürgerlichen Welt bzw. in der traditionellen
Arbeiterkultur verhaftet.
9. Prekäre (9 Prozent): Die um Orientierung und Teilhabe bemühte Unterschicht
mit starken Zukunftsängsten und Ressentiments – Anschluss halten an die Konsumstandards der breiten Mitte als Kompensationsversuch sozialer Benachteiligungen, geringe Aufstiegsperspektiven und delegative/ reaktive Grundhaltung,
Rückzug ins eigene soziale Umfeld.
10. Hedonisten (15 Prozent): Die spaß- und erlebnisorientierte moderne Unterschicht/untere Mittelschicht – Leben im Hier und Jetzt, Verweigerung von Konventionen und Verhaltenserwartungen der Leistungsgesellschaft.
(Zusammengestellt von Rainer Geißler nach Unterlagen des Sinus-Instituts)
Milieus der Mitte
5. Bürgerliche Mitte (14 Prozent): Der leistungs- und anpassungsbereite bürgerliche Mainstream – generelle Bejahung der gesellschaftlichen Ordnung, Streben
nach beruflicher und sozialer Etablierung, nach gesicherten und harmonischen
Verhältnissen.
6. Adaptiv-Pragmatische (9 Prozent): Die moderne junge Mitte der Gesellschaft
mit ausgeprägtem Lebenspragmatismus und Nutzenkalkül – zielstrebig und
kompromissbereit, hedonistisch und konventionell, flexibel und sicherheitsorientiert, starkes Bedürfnis nach Verankerung und Zugehörigkeit.
© bpb (2014) (Hrsg.): Sozialer Wandel in Deutschland. Informationen zur politischen Bildung Heft
324. (erstellt von Rainer Geißler).
www.bpb.de/shop/zeitschriften/informationen-zur-politischen-bildung/197876/sozialer-wandel-in-deutschland
7. Sozialökologische (7 Prozent): Idealistisches, konsumkritisches/-bewusstes
Milieu mit normativen Vorstellungen vom »richtigen« Leben – ausgeprägtes
ökologisches und soziales Gewissen, Globalisierungs-Skeptiker, Bannerträger
von Political Correctness und Diversity.
D&E
Heft 69 · 2015
Der Wandel sozialer Gleichheit
BRICHT EUROPA AUSEINANDER? REICHTUM UND ARMUT IN EUROPA.
3. Die Verteilung des gesellschaftlichen
Reichtums und die Einstellungen der
Eliten zur sozialen Frage
MICHAEL HARTMANN
S
18
eit seinem Erscheinen macht das Buch von Thomas
­Piketty über die weltweite Einkommens- und Vermögensverteilung und deren Konsequenzen (Piketty 2014) weit
über die Grenzen der Wissenschaft hinaus Furore. Piketty
zeigt anhand von Daten, die eine Gruppe Wirtschaftswis­
senschaftler seit fast zwei Jahrzehnten gesammelt und
­analysiert hat, dass die Einkommen und Vermögen in den
Industrieländern immer ungleicher verteilt sind. Der im
20. Jahrhundert lange anhaltende Trend zu mehr Gleichheit
sei seit den 1980er Jahren (zunächst in den angelsächsischen
Staaten, dann auch in den anderen Ländern) gebrochen und
ins Gegenteil verkehrt worden. Das gelte für Nordamerika
ebenso wie für Europa. Der Anteil der Reichen am gesamten
Nationaleinkommen sei überall stark angestiegen, je reicher,
umso stärker. Wie stark, das hängt allerdings von der jeweiligen Ausgangslage und von den jeweiligen politischen Entscheidungen ab. Den stärksten Anstieg und die größte Einkommenskonzentration an der Spitze haben dank der unter
der konservativen britischen Premierministerin Margarete
Thatcher und dem republikanischen US_Präsidenen Ronald
Reagan begonnenen Steuerpolitik Großbritannien und (außerhalb Europas) die USA zu verzeichnen. Was die Einkommenskonzentration angeht, folgt danach schon Deutschland. Bei der Steigerungsrate liegt Italien auf dem dritten
Platz, allerdings von den niedrigsten Ausgangswerten aus.
Bei der Verteilung des nationalen Vermögens lässt sich dieselbe
Tendenz beobachten. Die Steigerungsraten fallen allerdings erheblich geringer aus, weil die Konzentration schon immer und
auch zu Beginn der 1980er Jahre auf einem deutlich höheren Niveau lag als bei den Einkommen. So hat sich der Anteil des obersten Prozents am Gesamtvermögen zwischen 1980 und 2010 nach
den offiziellen Steuerangaben, die das tatsächliche Vermögen der
Reichen deutlich zu gering veranschlagen dürften, überall erhöht,
in Frankreich von 22 auf 24,4 Prozent, in Großbritannien von 22,7
auf 28 Prozent, in Europa insgesamt von 20,4 auf 24,4 Prozent und
in den USA von 30,1 auf 33,8 Prozent (piketty.pse.ens.fr/files/capital21c/
en/xls). Piketty schätzt den wirklichen Anteil für die USA sogar auf
ca. 40 Prozent (Piketty 2014: 463). In Deutschland ist die Situation
der in den USA vergleichbar. Das oberste Prozent verfügt mittlerweile über 35,8 Prozent des Gesamt­vermögens und allein das
oberste Promille über 22,5 Prozent (Bach/Beznoska/Steiner 2011:
11). Diese Entwicklung hat, darauf weist Piketty zu Recht immer
wieder hin, eine entscheidende Ursache in der Steuerpolitik der
Industriestaaten. Warum diese sich so stark zugunsten der Reichen verändert hat, darauf bietet er aber allenfalls eine sehr begrenzte Teilantwort (Piketty 2014: 685 ff.). Hier kann ein Blick auf
die Einstellung der maßgeblichen Eliten zu Finanz- und Steuerfragen einen wichtigen Schritt weiter führen. Diese Einstellung zu
ermitteln, war ein wesentliches Ziel einer vom Verfasser und dem
Wissenschaftszentrum Berlin 2011/2012 gemeinsam durchgeführten Studie über die Inhaber der 1.000 wichtigsten Machtpositionen hierzulande (die Vorstands- und Aufsichtsratsvorsitzenden
der 212 größten deutschen Unternehmen, die Spitzen der größten
Abb. 1 » Das Kapital im 21. Jahrhundert« ist ein ökonomisches Fachbuch des
französischen Ökonomen Thomas Piketty (Titel der französischen Originalausgabe: »Le Capital au XXIe siècle«, englisch: »Capital in the Twenty-First Century«), das in vielen westlichen Ländern 2014 auf der Bestsellerliste stand. Das
Buch thematisiert grundlegende Fragen der Vermögens- und Einkommensungleichheit. Dabei untersucht es die Veränderungen in der Vermögensverteilung
und Einkommensverteilung seit dem 18. Jahrhundert. Piketty vertritt darin mit
empirischen Untersuchungen die These, dass die Vermögenskonzentration seit
Mitte des 20. Jahrhunderts in den Industrienationen deutlich gestiegen sei, dass
eine Zunahme der Ungleichheit wesentlich zum Kapitalismus gehöre und dass
eine unkontrollierte Zunahme der Ungleichheit die Demokratie und Wirtschaft
bedrohe. © C. H.Beck
Wirtschaftsverbände, Spitzenpolitiker wie Regierungsmitglieder
und parlamentarische Staatssekretäre auf Bundesebene und Ministerpräsidenten und Finanzminister auf Länderebene, die beamteten Staatssekretäre und Abteilungsleiter in den Bundesministerien, die Präsidenten, Vizepräsidenten und Vorsitzenden
Die Verteilung des gesell schaf tlichen Reicht ums
D&E
Heft 69 · 2015
Richter der Bundesgerichte, die 20 höchsten
Bundeswehrgeneräle und -admiräle, die Intendanten und Programmdirektoren von
ARD, ZDF, RTL und Pro Sieben/SAT 1 sowie die
Herausgeber und Chefredakteure der wichtigsten Printmedien, die Präsidiumsmitglieder der großen Wissenschaftsorganisationen
und die Spitzenvertreter von zivilgesellschaftlichen Organisationen, Kirchen und
Gewerkschaften).
Die Einstellung der deutschen
Eliten zur Finanz- und
Steuerpolitik
Anteil des obersten Prozent/obersten Promilles am nationalen Gesamteinkommen
Länder
Jahr
oberstes Prozent
Deutschland
1983
9,1 %
oberstes Promille
3,2 %
2010
11,2 %
4,0 %
1983
7,0 %
1,6 %
2010
8,8 %
2,6 %
Großbritannien
1983
6,8 %
1,8 %
2010
14,7 %
5,6 %
Italien
1983
6,3 %
1,5 %
2010
9,4 %
2,7 %
Spanien
1983
7,7 %
1,9 %
2010
8,5 %
2,6 %
Frankreich
1983
11,6 %
4,6 %
USA
Welche Position die deutschen Eliten in der
2010
19,8 %
9,5 %
Steuerfrage einnehmen, dazu ergab die Studie ganz eindeutige Ergebnisse. Obwohl die
Abb. 2 Anteil der Einkommenseliten am nationalen Gesamteinkommen Reichen in den vergangenen zwei Jahrzehn
© eigene Zusammenstellung anhand der Daten aus piketty.pse.ens.fr/files/capital21c/en/xls
ten durch die Steuerpolitik der verschiedenen Bundesregierungen massiv begünstigt
Einstellungen und Herkunft der Eliten
worden sind – hier sind vor allem die Abschaffung der Vermögensteuer, die deutliche Senkung des Spitzensteuersatzes und der
Schaut man genauer hin, fällt allerdings auf, dass die EinstellunKörperschaftssteuer, die Einführung der Abgeltungssteuer statt
gen der Eliteangehörigen alles andere als einheitlich sind, sondes individuellen Steuersatzes bei Kapitalerträgen und die weitdern ganz wesentlich von ihrer eigenen sozialen Herkunft geprägt
gehende Abschaffung der Erbschaftssteuer auf Betriebsvermöwerden. Die Antworten folgen dabei immer derselben Logik. Die
gen zu nennen –, wird eine Wiederanhebung dieser Steuern von
Arbeiterkinder und die Großbürgersprösslinge bilden mit ihren
den Eliten mit einer klaren Mehrheit von zwei zu eins abgelehnt.
Ansichten stets die beiden Pole, die Mittelschicht- und die BürGerade einmal ein gutes Viertel der Befragten kann sich für eine
gerkinder liegen dazwischen, jeweils dem sozial näher stehenden
solche Maßnahme erwärmen. Fast die Hälfte lehnt sie dagegen
Bevölkerungsteil zugeneigt. Dieses Verhalten zeigt sich für die
explizit ab. Dies ist umso überraschender, als gleichzeitig bei der
Eliten insgesamt, aber auch innerhalb der Teileliten.
Frage nach dem wichtigsten gesellschaftlichen Problem die
Die Meinungsunterschiede je nach sozialer Herkunft machen sich
Staatsverschuldung, verknüpft mit der Euro- und Finanzkrise,
am stärksten in der Steuerfrage bemerkbar. Die in Arbeiterfamiganz vorn liegt. Für ungefähr ein Drittel der Eliteangehörigen
lien, der unteren Hälfte der Elterngeneration, aufgewachsenen
stellt dieser Problemkomplex aktuell die wichtigste politische
Elitemitglieder befürworten Steuererhöhungen auf hohe EinkomHerausforderung dar, weit etwa vor der Bildung, die es gerade
men, Vermögen und Erbschaften im Verhältnis von fünf zu zwei,
einmal auf vier Prozent der Nennungen bringt. Nimmt man die
die aus dem Großbürgertum, den oberen fünf Promille der ElternAntwort auf die Frage, was die wichtigste Ursache der Finanzgeneration, stammenden lehnen sie dagegen im Verhältnis von
krise ist, hinzu, zeigt sich, wie zentral die Staatsverschuldung für
neun zu zwei ab. Bei den aus Bürgertum und Mittelschichten
die deutschen Eliten ist. Für knapp ein Drittel ist sie nämlich mit
kommenden Elitenangehörigen fällt die Differenz zwar nicht so
Abstand die wichtigste Ursache der Finanzkrise, während die Deklar aus, ist mit einem negativen Votum von acht zu zwei gegenregulierung der Finanzmärkte mit nicht einmal einem Fünftel der
über einem von nur drei zu zwei aber auch immer noch mehr als
Antworten deutlich abgeschlagen auf dem zweiten Platz folgt.
deutlich. Generell kann man sagen, dass die ablehnende Haltung
Berücksichtigt man außerdem, dass an dritter Stelle mit gut zehn
gegenüber Steuererhöhungen umso heftiger ausfällt, je wohlhaProzent die als verkappte Sozial­politik bewertete Immobilienpobender bzw. reicher jemand aufgewachsen ist. Die stärkste Ablitik der US-Regierungen liegt, wird deutlich, in welche Richtung
lehnung findet man deshalb bei den Kindern von reichen Freibedie meisten Vertreter der deutschen Eliten denken. In der hohen
ruflern, großen Unternehmern und Vorstands- bzw.
staatlichen Verschuldung und der staatlichen Sozialpolitik sehen
Geschäftsführungsmitgliedern mit fast 75 Prozent gegenüber nur
sie die Hauptverantwortlichen für die Finanzkrise und der Abbau
gut zehn Prozent Zustimmung. Bei dieser Ablehnungsquote muss
der Staatsverschuldung steht folgerichtig auch ganz oben auf ihman berücksichtigen, dass allein die Steuerreformen der Schrörer Agenda. Über zwei Drittel finden ihn wichtig oder sehr wichder-Regierung zwischen 2000 und 2005, also noch ohne die Abtig, nur ganze zehn Prozent unwichtig oder vollkommen unwichgeltungssteuer, für die 450 reichsten Deutschen, die oberen 0,001
tig. Der Rest ist unentschieden.
Prozent der Einkommensbezieher, eine Senkung ihrer realen
Steuerbelastung von 43,1 auf nur noch 31 Prozent zur Folge hatVergleich mit der Einstellung der Bevölkerung
ten. Bei den 45 reichsten Deutschen mit einem jährlichen Mindesteinkommen von 57 Mio. Euro sank die Quote sogar von 48,2
Vergleicht man die Einstellung der Eliten mit der der Bevölkerung,
auf 28,7 Prozent (Bach/Corneo/Steiner 2011: 14, 22).
dann zeigt sich ein ganz gravierender Unterschied. Während bei
Entsprechend sieht auch das Antwortverhalten der einzelnen
streng wissenschaftlichen wie auch bei medialen Umfragen unter
Sektoreliten aus. Dort, wo Arbeiter- und auch Mittelschichtkinder
der Bevölkerung durchweg zwei Drittel der Befragten für eine Anstark vertreten sind, dominiert die Forderung nach Steuererhöhebung des Spitzensteuersatzes plädieren und nur ein Drittel dahungen, dort, wo Bürger- und Großbürgerkinder die Elitepositiogegen ist, ist das Verhältnis von Befürwortern und Gegnern unter
nen eindeutig beherrschen, werden sie entschieden abgelehnt.
den Eliteangehörigen genau umgekehrt. Ähnliches gilt auch für
So sprechen sich die Repräsentanten der zivilgesellschaftlichen
die Erklärung der Finanzkrise. Die große Mehrheit der BevölkeOrganisationen mit einer Mehrheit von fünf zu eins für höhere
rung sieht den Hauptschuldigen in den Banken oder der DereguSteuern aus, während die Wirtschaftselite mit fast drei zu eins dalierung der Finanzmärkte, die Mehrheit der Eliten in der Staatsgegen votiert. In der politischen Elite ist das Verhältnis fast ausverschuldung bzw. im »Ausufern« des Sozialstaats.
geglichen, mit einem leichten Übergewicht der Gegner von Steu-
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Die Verteilung des gesell schaf tlichen Reicht ums
19
Michael HartMann
20
Umfrage 1: Anhebung der Steuern auf hohe Einkommen, Vermögen und Erbschaften ( Angaben in Prozent)
nen an bewusst und vor allem unbewusst als
selbstverständlich vermittelt. Diese Einstellung lässt sich kurz und knapp so charakteriBereiche
Bewertung
A
M
B
GB
Gesamt
sieren: Der Fiskus kassiert vom durch eigene
unwichtig
6,3
18,8
50,0
–
14,7
Gesellschaftliche
Leistung erwirtschafteten Geld stets einen
Organisationen
zu großen Anteil und er kann mit diesem
wichtig
87,5
63,4
50,0
–
73,5
Geld auch nicht richtig umgehen, schlechter
unwichtig
0,0
20,0
85,7
100,0
33,3
Politik
jedenfalls, als man es in der Wirtschaft selbst
vermag. Deshalb sollte man dem Staat auch
wichtig
88,9
30,0
0,0
0,0
40,7
nicht mehr Geld zukommen lassen als unbeunwichtig
25,0
52,5
54,5
73,3
57,3
Wirtschaft
dingt nötig. Das bedeutet in der Realität,
wichtig
37,5
27.9
13,6
13,3
21,4
dass eine starke Neigung besteht, steuerliunwichtig
22,9
43,0
54,4
62,0
46,4
Gesamt
che Regelungen durch Ausnutzen legaler
Schlupflöcher zu unterlaufen oder die Grauwichtig
56,3
29,6
15,5
14,0
26,8
zonen des Steuerrechts ausgiebig zu nutzen.
Abb. 3 Anteil der Einkommenseliten am nationalen Gesamteinkommen Zu einem nicht unerheblichen Teil ist man
© eigene Zusammenstellung anhand der Daten aus piketty.pse.ens.fr/files/capital21c/en/xls
sogar bereit, wie in den in den letzten Jahren
bekannt gewordenen Fällen von Steuerhinererhöhungen. Innerhalb der Sektoren gehen die Ansichten je
terziehung, auch illegale Wege zu beschreiten. Das Verständnis
nach Elternhaus, nicht überraschend, ebenfalls sehr weit auseinfür solche auch nicht legalen Handlungen ist in diesen Kreisen
ander. So findet sich unter den hoch bezahlten Spitzenmanagern
traditionell jedenfalls recht weit verbreitet.
der Großunternehmen zwar eine klare Mehrheit gegen höhere
Bei den Eliteangehörigen, die aus Arbeiterfamilien stammen, ist
steuerliche Belastungen, die wenigen Arbeiterkinder unter ihnen
all das ganz anders. Sie haben zum Staat und damit indirekt auch
sind allerdings im Verhältnis drei zu zwei anderer Meinung. Sie
zu Steuern aufgrund eigener Erfahrungen mehrheitlich eine posihalten höhere Steuersätze für wichtig, obwohl sie selbst davon
tivere Einstellung; denn ihr eigener Aufstieg war nur möglich, weil
betroffen wären. Ihre in großbürgerlichen Verhältnissen aufgedie öffentliche Hand die dafür erforderliche Infrastruktur, vor alwachsenen Kollegen sind dagegen im Verhältnis von fast sechs zu
lem in Form eines ausgebauten Bildungssystems, in dem entspreeins gegen solche Maßnahmen. Noch eindeutiger fällt das Votum
chenden Zeitraum der 1950er und 1960er Jahre zur Verfügung
unter den Spitzenpolitikern aus. Neun von zehn Arbeiterkindern
stellte. Dass das ohne eine entsprechende Finanzierung durch
sind für, kein einziger ist gegen höhere Steuern. Bei den aus bürSteuern nicht möglich gewesen wäre, ist vielen klar. Diese Einstelgerlichen oder großbürgerlichen Familien stammenden Politilung bleibt auch dann bestehen, wenn man die eigene Leistung
kern ist es genau umgekehrt. Neun von zehn sind gegen Steuererals entscheidend für den beruflichen Erfolg ansieht.
höhungen, kein einziger ist dafür. Das gilt unabhängig von der
Die soziale Herkunft prägt auch die Haltung zur Finanzkrise und
Parteizugehörigkeit. Zwar haben die Arbeiterkinder überwiegend
zur Staatsverschuldung. So sehen die aus dem Großbürgertum
ein SPD-Parteibuch und die Bürgerkinder eines von CDU/CSU
stammenden Eliteangehörigen, wenn es um die Finanzkrise geht,
oder FDP, aber die Minderheit der SPD-Politiker mit bürgerlichem
deren wichtigste Ursache mit ca. 55 Prozent ganz eindeutig in der
oder der CDU/CSU-Politiker mit Arbeiterhintergrund stimmen
Staatsverschuldung und der US-Immobilienpolitik. Die Dereguohne Ausnahme entsprechend ihrer sozialen Herkunft und nicht
lierung nennen dagegen nicht einmal zehn Prozent an erster
entlang der offiziellen Parteilinie.
Stelle. Bei den Elitemitgliedern, die aus Arbeiterfamilien komDass in der Frage von Steuererhöhungen für
hohe Einkommen, Vermögen oder ErbschafUmfrage 2: Die wichtigsten Ursachen für die Finanzkrise (Nennung an erster Stelle
ten Sympathien bzw. Antipathien so eindeuin Prozent)
tig verteilt sind, hängt damit zusammen,
Bereiche
Ursache
A
M
B
GB
Gesamt
dass hier viel stärker als bei den eher allgemeinen Fragen nach den Ursachen der Fi53,3
35,3
0,0
–
41,1
Gesellschaftliche Deregulierung
nanzkrise oder der Staatsverschuldung die
Organisationen
eigene Betroffenheit der Befragten zu Buche
Staatsver6,7
33,3
50,0
–
20,6
schlägt. Die aus bürgerlichen und, noch stärschuldung
ker, die aus großbürgerlichen Verhältnissen
US-Immobili0,0
6,7
0,9
–
2,9
stammenden Eliteangehörigen sind materiell
enpolitik
ganz anders als Mittelschicht- und vor allem
Deregulierung
44,4
44,4
28,6
0,0
38,5
Politik
Arbeiterkinder betroffen, weil sie nicht nur
Staatsver11,1
22,2
28,6
100,0
23,1
relativ hohe Einkommen beziehen, sondern
schuldung
im Unterschied zu den sozialen Aufsteigern
US-Immobili0,0
11,1
14,3
0,0
7,7
in der Regel auch über deutlich größere
enpolitik
Vermögen und vor allem potenzielle Erb­
Deregulierung
37,5
9,5
18,2
12,9
14,6
Wirtschaft
schaften verfügen. Das gilt selbst bei den
weit überdurchschnittlich gut bezahlten
Staatsver37,5
16,7
22,7
35,5
25,2
Spitzenmanagern. Dort ist der Blickwinkel
schuldung
ebenfalls ein anderer, wenn es nicht nur um
US-Immobili0,0
16,7
22,7
16,1
16,5
das Gehalt, sondern auch um Vermögen und
enpolitik
Erbe geht.
Deregulierung
35,6
20,3
14,6
9.8
19,0
Gesamt
Zur stärkeren eigenen Betroffenheit kommt
Staatsver26,7
23,9
35,0
39,2
30,0
vor allem bei in wirtschaftsnahen Kreisen
schuldung
groß gewordenen Bürger- und GroßbürgerUS-Immobili2,2
8,7
13,6
15,7
10,4
kindern noch die dort traditionell weitverenpolitik
breitete Einstellung zu »staatlichen Zwangsabgaben« hinzu. Personen, die in diesem
Abb. 4 Umfrage: Wichtigste Ursachen für die Finanzkrise © Eigene Erhebung
Milieu aufwachsen, wird sie von Kindesbei-
Die Verteilung des gesell schaf tlichen Reicht ums
D&E
Heft 69 · 2015
men, sieht es vollkommen
anders aus. Bei ihnen führt
ganz klar die Deregulierung
mit fast 36 Prozent vor der
Staatsverschuldung
mit
knapp 27 und der Immobilienpolitik mit gerade einmal
gut zwei Prozent.
Dementsprechend fällt das
Antwortver­halten in den einzelnen Sektoren aus. In
den zivilgesellschaftlichen
Organisationen herrscht die
Deregulierung als zentrale
Erklärung vor, in der Wirtschaft glaubt man in der
staatlichen Verschuldungsund Sozialpolitik den Hauptschuldigen ausmachen zu
können. Aber auch in den
einzelnen Teilsektoren antAbb. 6 Umfrage: Die sozialen Unterschiede sind gerecht. © Eigene Erhebung
worten die Spitzenvertreter
fast immer entlang der Linie
ihrer Herkunft. Wer es aus einer Arbeiterfamilie an die Spitze
eindeutig. Die einzelnen Sektoreliten antworten ebenfalls, wie es
eines Großunternehmens gebracht hat, sieht die Deregulierung
angesichts ihrer Reaktionen auf die Frage nach den Ursachen der
skeptischer als sein Kollege, der in einem großbürgerlichen AmFinanzkrise zu erwarten war. Am stärksten drängt die Wirtschaftbiente groß geworden ist. Auch wenn die generelle Prägung
selite auf eine Entschuldung, am wenigsten die Spitzenvertreter
durch den Sektor spürbar ist, gewichten Spitzenmanager aus der
der zivilgesellschaftlichen Organisationen. Auch innerhalb dieser
Arbeiterschaft Deregulierung und Staatsverschuldung immerhin
Teileliten kommen wieder die bekannten Unterschiede je nach
noch gleich stark, während die großbürgerlichen Manager letzElternhaus zum Vorschein. Für die in großbürgerlichen Verhältnistere im Verhältnis von fast drei zu eins vorn sehen. Bezieht man
sen aufgewachsenen Elitenangehörigen besitzt der Ausgabenabdie US-Immobilienpolitik noch mit ein, ändert sich bei den Arbau auf staatlicher Seite eine ganz eminente Bedeutung. Fast alle
beiterkindern nichts, bei den Großbürgersprösslingen dagegen
halten ihn für wichtig, fast niemand für unwichtig. Bei den Arbeifällt die Deregulierung noch weiter zurück, liegt nun sogar im
terkindern ist das weit umstrittener. So halten sich Befürworter
Verhältnis von eins zu vier hinten. Dasselbe Bild lässt sich bei den
und Gegner unter den Spitzenpolitikern immerhin die Waage und
Spitzenvertretern von Verbänden, Kirchen und Gewerkschaften
bei den Spitzenrepräsentanten von Verbänden, Kirchen und Gebeobachten. Bei den aus dem Bürgertum stammenden Repräwerkschaften überwiegen sogar die ablehnenden Stimmen im
sentanten – aus dem Großbürgertum kommt niemand – führt
Verhältnis fünf zu vier.
konkurrenzlos die Staatsverschuldung, bei denen aus der ArbeiDer Haltung zur Steuer- und Finanzpolitik entspricht bei den Eliteterschaft genauso überlegen die Deregulierung.
mitgliedern im Großen und Ganzen auch die Beurteilung der soziDieselben Unterschiede zeigen sich, wenn es um den Abbau der
alen Verhältnisse in der deutschen Gesellschaft in ihrer Gesamt(nicht nur als Ursache der Finanzkrise) so viel beklagten staatliheit. Die deutliche Abneigung Steuererhöhungen gegenüber geht
chen Verschuldung geht. Zwar gilt die Schuldenreduzierung quer
bei den aus bürgerlichen oder großbürgerlichen Verhältnissen
durch fast alle Sektoren und Herkunftsgruppen für eine Mehrheit
stammenden Elitenangehörigen Hand in Hand mit einer Sicht der
als wichtig – dies wohl eine spezifisch deutsche Tradition –, ihre
Gesellschaft, die diese mehrheitlich als im Grunde gerecht beurBedeutung wird von den aus großbürgerlichen Familien stamteilt. Ist es bei den Bürgerkindern noch nur eine knappe Mehrheit,
menden Elitenangehörigen aber weitaus höher eingestuft als von
die die Frage, ob die sozialen Unterschiede hierzulande gerecht
denjenigen, die aus der Arbeiterschaft stammen. Während unter
sind, bejaht, fällt die Zustimmung bei den Großbürgerkindern mit
letzteren auf die Frage, wie wichtig sie die Verringerung der
einem Verhältnis von über zwei zu eins schon ganz und gar eindeuStaatsausgaben finden, nur gut doppelt so viele mit wichtig anttig aus. Aus Mittelschichtfamilien kommende Elitenangehörige
worten wie mit unwichtig, lautet diese Relation bei ersteren viersind demgegenüber spürbar anderer, Arbeiterkinder sogar genau
zig zu eins. Die Differenz zwischen Zustimmung und Ablehnung
entgegengesetzter Meinung. Sie empfinden die Verteilung des
fällt fast zwanzigmal so groß aus. Das ist schon bemerkenswert
gesellschaftlichen Reichtums ganz überwiegend als ungerecht.
Umfrage 3: Reduzierung der öffentlichen Ausgaben ( Angaben in Prozent)
Bereiche
Bewertung
A
M
B
GB
unwichtig
31,3
50,0
0,0
–
37,5
wichtig
25,0
42,9
100
–
37,5
Politik
unwichtig
33,3
0,0
16,7
00
15,4
wichtig
33,3
70,0
66,7
100,0
57,7
Wirtschaft
unwichtig
0,0
0,0
8,7
3,2
2,8
wichtig
50,0
75,0
82,6
90,3
79,2
unwichtig
18,8
10,0
10,7
2,0
10,2
wichtig
39,6
66,4
73,8
80,4
67,0
Gesellschaftliche
Organisationen
Gesamt
Abb. 5 Umfrage: Reduzierung der öffentlichen Ausgaben D&E
Heft 69 · 2015
Gesamt
© Eigene Erhebung
Die soziale Rekrutierung der
deutschen Eliten
Die Einstellung der Eliten zur Finanz- und
Steuerpolitik wie auch ihre Einschätzung der
sozialen Lage allgemein hängt eindeutig davon ab, wie sie sich sozial rekrutieren, ob sie
mehrheitlich aus sozialen Aufsteigern bestehen, die in ihren Einstellungen zu sozialen
Fragen, vor allem wenn es sich um Arbeiterkinder handelt, der breiten Bevölkerung
noch relativ ähnlich sind, oder aus Bürgerund Großbürgerkindern. Was das Antwortverhalten der Eliten insgesamt schon andeu-
Die Verteilung des gesell schaf tlichen Reicht ums
21
Michael HartMann
22
tet, bestätigt sich bei genauerem Hinsehen.
Ihre soziale Rekrutierung ist überwiegend
exklusiv. Die Elitenmitglieder kommen mit
einer Mehrheit von fast zwei Dritteln aus bürgerlichen oder großbürgerlichen Familien.
Die größte Gruppe mit fast 40 Prozent
stammt aus dem Bürgertum, das in der Vätergeneration nur drei Prozent der Bevölkerung stellte, ein weiteres knappes Viertel aus
dem Großbürgertum. Der Nachwuchs der
oberen fünf Promille der Gesellschaft ist damit genauso stark repräsentiert wie der aus
Mittelschichtfamilien, obwohl die in der Vätergeneration einen mehr als siebzigmal so
großen Anteil an der Bevölkerung ausmachten. Am schlechtesten vertreten sind Arbeiterkinder. Sie, deren Väter noch die Hälfte
der Erwerbstätigen stellten, besetzen nicht
einmal jede achte Elitenposition. Von einer
halbwegs repräsentativen Rekrutierung der
verschiedenen Bevölkerungsteile kann also
keine Rede sein.
Allerdings gibt es große Unterschiede zwischen den einzelnen Sektoren. Am exklusivsten präsentiert sich die Wirtschaftselite.
Nicht einmal jeder Vierte ist ein sozialer Aufsteiger. Arbeiterkinder bekleiden sogar weniAbb. 7 »Staat und Gerechtigkeit« © Martin Guhl, dieKLEINERT.de, dpa, picture alliance
ger als sechs Prozent der Spitzenpositionen.
Lässt man die öffentlichen Unternehmen, die
knapp ein Fünftel der wirtschaftlichen Elitepositionen ausmaAls Faustregel für die soziale Rekrutierung der einzelnen Elitesekchen, außen vor, wird das Bild noch homogener. Während in den
toren kann man Folgendes festhalten: Je größer der Einfluss der
öffentlichen Unternehmen aufgrund politischer Einflüsse nur 46
Bevölkerung in einem Sektor ist, desto repräsentativer sind auch
Prozent der Spitzenpositionen von Bürger- oder Großbürgerkinseine Eliten zusammengesetzt. Das gilt für die Politik, vor allem
dern besetzt werden, sind es in den großen Privatunternehmen
auf Landesebene und in den Parteigremien, weil dort selbst die
über 83 Prozent. An ihrer großen Dominanz hat sich hier seit JahrSpitzenvertreter letztlich immer noch von der Bevölkerung bzw.
zehnten nichts geändert (Hartmann 2007: 144).
von der Parteibasis gewählt werden müssen. Vor allem aber trifft
Die Eliten aus Justiz und Verwaltung sowie den Medien rekrutiees auf die Kirchen und Gewerkschaften zu, die auf die aktive Unren sich immerhin auch noch zu ungefähr zwei Dritteln aus Bürterstützung ihrer Mitglieder, und sei es nur in Form von Mitgliedsger- oder Großbürgertum. Bei den Spitzen der Justiz und der Mebeiträgen, angewiesen sind, um überhaupt etwas durchsetzen zu
dien sind es ziemlich genau zwei Drittel, bei denen der hohen
können. Genau umgekehrt verhält es sich in den Bereichen, wo
Verwaltung mit gut 62 Prozent etwas weniger. Interessant ist dadas Prinzip der Kooptation dominiert, wo also die in den Spitzenbei, dass im Mediensektor ein ähnlicher Unterschied zwischen
positionen sitzenden Eliteangehörigen weitgehend oder ganz alöffentlich-rechtlichen und privaten Institutionen zu verzeichnen
lein entscheiden, wen sie in ihre Reihen aufnehmen. Das trifft vor
ist wie in der Wirtschaft. Während in den Anstalten der ARD und
allem in der Privatwirtschaft zu, wo nur wenige Personen, manchim ZDF Intendanten und Programmdirektoren »nur« zu gut der
mal sogar nur ein einziger Eigentümer, entscheidet, wer in den
Hälfte aus privilegierten Verhältnissen stammen, gilt das bei den
Vorstand oder die Geschäftsführung eines Unternehmens aufHerausgebern und Chefredakteuren der privaten Fernsehsender
rückt und wer nicht.
und Printmedien für über drei Viertel.
Die soziale Zusammensetzung der einzelnen Sektoreliten schlägt
Da auch die Wissenschaftselite zu fast 60 Prozent aus diesem
sich gleich in doppelter Hinsicht in deren Einstellungen nieder.
Milieu kommt, bleiben nur die Eliten aus Politik, Militär, Kirchen,
Zum einen sorgt das jeweilige Gewicht von sozialen Aufsteigern
Gewerkschaften und Verbänden (Sport-, Umwelt-, Wohlfahrtsauf der einen und bereits in privilegierten Verhältnissen aufgeverbände etc.), die sich überwiegend aus der breiten Bevölkewachsenen Personen auf der anderen Seite für eine vorherrrung rekrutieren. In der politischen und militärischen Elite wie
schende Grundhaltung in der gesamten Teilelite. Zum anderen
auch in den Spitzen der Verbände liegen sie allerdings nur verbeeinflusst diese Grundhaltung auch die Einstellung jener Elitegleichsweise knapp mit einem Vorsprung von gut zehn Prozent
mitglieder, die nicht der dominanten Herkunftsgruppe entstamvor den Bürger- und Großbürgerkindern. Dazu kommt, dass sie
men. Arbeiter- oder Mittelschichtskinder, die es in die Toppositiosich im einflussreichsten Teil der politischen Elite, in der Bundesnen der Wirtschaft geschafft haben, stehen den sozialen
exekutive (Bundesregierung und parlamentarische StaatsekreUnterschieden zwar kritischer gegenüber als ihre Kollegen, die
täre), mit einem Anteil von weniger als 44 Prozent sogar in der
aus bürgerlichen oder großbürgerlichen Familien kommen, aber
Minderheit befinden. Wirklich stark vertreten sind aus den Mitdoch deutlich unkritischer als die Arbeiterkinder, die in der Politik
telschichten oder der Arbeiterschaft stammende Elitenangehöoder gar in Kirchen und Gewerkschaften Spitzenstellungen berige nur in den obersten Gremien der Kirchen und der Gewerkkleiden. Soziale Herkunft wirkt insofern immer gleich zweifach.
schaften. Das gilt besonders für die Arbeiterkinder, die selbst in
Die größten Meinungsunterschiede verglichen mit der Normalden sozial eher offenen Verbandsspitzen und in der politischen
bevölkerung gibt es daher bei der Wirtschaftselite, wo diese
Bundesexekutive nur jede achte und in der politischen Elite insbeiden Wirkungsfaktoren am stärksten spürbar sind. Deshalb ist
gesamt auch nicht mehr als jede fünfte Position besetzen. Bei
dort die Einstellung gegenüber Steuerhinterziehungsvergehen,
den beiden großen Kirchen stellen sie dagegen jeden zweiten
wie in den spektakulären Fällen von Hoeneß, Würth oder ZumSpitzenrepräsentanten und in den Gewerkschaften sogar drei
winkel zu sehen, auch so anders als in der übrigen Bevölkerung.
von vier Spitzenvertretern.
Die große Mehrheit der Wirtschaftselite hat schon in ihrer Kind-
Die Verteilung des gesell schaf tlichen Reicht ums
D&E
Heft 69 · 2015
heit und Jugend, quasi mit der Muttermilch,
eine Grundhaltung gegenüber Steuern aufgesogen, die sich später nur noch weiter verfestigt.
Elitenrekrutierung, Steuerpolitik
und Reichtumsverteilung
Die Personen, die wegen ihrer Machtpositionen wesentlichen Einfluss auf die maßgeblichen Entscheidungen nehmen konnten und
können, denken vor allem aufgrund ihrer sozialen Herkunft in zentralen Fragen der Finanz- und Steuerpolitik mehrheitlich genauso oder zumindest so ähnlich wie die
Reichen. Sie sehen zum einen in der hohen
Staatsverschuldung die wichtigste Ursache
der Finanzkrise und das größte gesellschaftliche Problem unserer Tage, sie lehnen zum
anderen aber gleichzeitig Steuerhöhungen
auf hohe Einkommen, Vermögen und Erbschaften ab. Um die staatliche Verschuldung
abzubauen, etwas, was für sie ganz oben auf
der politischen Agenda steht, bleibt ihnen
daher nur noch die Kürzung öffentlicher Leistungen (speziell im Sozialbereich).
Angesichts dieser Haltung ist es nicht verwunderlich, wenn in der Finanz- und Steuerpolitik der vergangenen Jahre viel für die Entlastung hoher Einkommen und Vermögen
getan wurde, mittlere und geringe Einkommen – letztere vor allem durch eine massive
Anhebung der indirekten Steuern – aber zusätzlich belastet worden sind. Gleichzeitig ist
die Rettung der Banken in der Finanzkrise im
Wesentlichen von der Normalbevölkerung
bezahlt worden, während die Aktionäre und
die Reichen, deren Geld dort angelegt war,
weitgehend unangetastet blieben. Die als
Folge dieser Rettungsaktionen drastisch geAbb. 8 Titelbild Manager Magazin spezial, 2014/1 © manager magazin
stiegene Staatsverschuldung hat dann in der
Folge zu massiven Kürzungen in den öffentliHartmann, Michael (2002): Der Mythos von den Leistungseliten. Frankfurt
chen Haushalten geführt, in erster Linie bei den Sozialetats. Für
a. M.: Campus
die Einkommens- und Vermögensverteilung in Deutschland wie
Hartmann, Michael (2007): Eliten und Macht in Europa. Frankfurt a. M.:
auch in Europa insgesamt haben all diese Maßnahmen sichtbare
Campus
Konsequenzen gehabt. Die Kluft zwischen oben und unten hat
deutlich zugenommen. Diese Entwicklung wird sich weiter fortHartmann, Michael (2013): Soziale Ungleichheit – Kein Thema für die Eliten?
setzen, sollte sich die Steuerpolitik nicht entschieden ändern. AlFrankfurt a. M.: Campus
lein die Tatsache, dass die Erbschaften in Deutschland inzwischen
Piketty, Thomas (2014): Das Kapital im 21. Jahrhundert. München: C. H. Beck
ein Neuntel des gesamten jährlichen Nationaleinkommens ausmachen, während es 1980 gerade einmal vier Prozent waren (PiSpannagel, Dorothee/ Broschinski, Sven (2014): Reichtum in Deutschland
ketty 2014: 566), macht den Handlungsbedarf mehr als deutlich.
wächst weiter, WSI-Report 17, September 2014. www.boeckler.de/pdf/p_
wsi_report_17_2014.pdf
Literaturhinweise
Bach, Stefan/Corneo. Giacomo/Steiner, Viktor (2011): Effective taxation of
top incomes in Germany, 1992–2002. FU Berlin, School of Business & Economics, Discussion Papers 18/2011
Bach, Stefan/Beznoska, Martin/Steiner, Viktor (2011): A Wealth Tax on the
Rich to Bring down Public Debt? SOEPpapers 397, 7.7.2011. Berlin
D&E
Heft 69 · 2015
Internethinweise
Daten zur Piketti-Studie: piketty.pse.ens.fr/files/capital21c2
Daten von Eurostat, der Statistikdatenbank der Europäischen Union: http://
epp.eurostat.ec.europa.eu/statistics_explained/index.php/Income_distribution_statistics
Die Verteilung des gesell schaf tlichen Reicht ums
23
Michael HartMann
24
MATERIALIEN
M 1 Neue Studie des WSI: Reichtum in
Deutschland wächst und verfestigt
sich, 2014
Ebenso wie die Armut hat auch der private
Reichtum in Deutschland über die vergangenen zwei Jahrzehnte deutlich zugenommen.
Der Anteil der Personen, die nach dem in der
Wissenschaft verbreiteten relativen Reichtumsbegriff reich oder sehr reich sind, liegt
heute um ein gutes Drittel höher als Anfang
der 1990er Jahre: Galten 1991 noch 5,6 Prozent
aller Menschen in Deutschland wegen ihres
verfügbaren Haushaltseinkommens als reich
oder sehr reich, waren es 2011, dem jüngsten
Jahr, für das Daten vorliegen, 8,1 Prozent. Zudem haben vor allem die Einkommen der sehr
Reichen stärker zugelegt als im Durchschnitt
der Gesellschaft. Das liegt wesentlich am höheren Anteil, der reichen und insbesondere
sehr reichen Personen aus Kapitaleinkommen zufließt. Und: Wer einmal reich oder sehr
reich ist, muss zunehmend weniger fürchten,
beim Einkommen in die Mittelschicht »abzusteigen«. Zu diesen Ergebnissen kommt eine
neue Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) in der HansBöckler-Stiftung. »Die sehr Reichen setzen
sich vom Rest der Bevölkerung regelrecht
M 2 »Besserverdienende bauen ihre Stellung aus« © Böckler Impuls 15/2014, Hans-Böckler-Stiftung,
ab«, schreiben die WSI-Verteilungsexpertin
www.boeckler.de/hbs_showpicture.htm?id=51289&chunk=1
Dr. Dorothee Spannagel und ihr Ko-Autor
Sven Broschinski von der Universität Oldenburg. Die Untersuchung basiert auf Daten aus
dem sozio-ökonomischen Panel (SOEP), einer jährlichen Wiedernen. Letztere Gruppe ist zwar sehr klein, doch ist sie im Verhältnis
holungsbefragung in mehreren tausend Haushalten. Reich ist
besonders stark gewachsen – von 0,9 Prozent aller Personen 1991
nach gängiger wissenschaftlicher Definition, die zum Beispiel
auf 1,9 Prozent im Jahr 2011. Gleichzeitig haben die sehr Reichen
auch der Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung verihre mittleren Einkommen in diesem Zeitraum auch besonders
wendet, wer in einem Haushalt lebt, der das Doppelte und mehr
deutlich steigern können: Preisbereinigt um rund 20 Prozent. Dades mittleren verfügbaren Jahreseinkommens hat. Dieses beträgt
gegen erzielten die Reichen einen realen Zuwachs von 5 Prozent
rund 18.000 Euro pro Person. Für Alleinstehende gilt demnach:
(siehe auch die Abbildungen 1 und 2 in der Studie). Das mittlere
Eine Person, die netto, nach Abzug von Steuern und Sozialabgaben
Einkommen der Menschen unterhalb der Reichtumsgrenze stieg
und nach Anrechnung von staatlichen oder privaten Transfers,
lediglich um 4 Prozent. Die Wirtschafts- und Finanzkrise brachte
mindestens knapp 36.000 Euro im Jahr als verfügbares Einkomzwar einen kurzzeitigen Rückschlag, sie habe aber weder die Zahl
men hat, gehört zur Gruppe der Reichen. Als sehr reich wird beder Reichen noch deren Einkommenshöhe »nachhaltig verrinzeichnet, wer mindestens dreimal so viel wie üblich hat. Die Untergert«, beobachten Spannagel und Broschinski.
grenze für einen Alleinstehenden liegt hier also bei knapp 54.000
© Pressemitteilung des Hans-Böckler-Stiftung vom 8.10.2014, www.boeckler.
Euro. In Mehrpersonenhaushalten werden die Grenzen nach Erde/45167_51265.htm
wachsenen und Kindern gewichtet und sind entsprechend höher.
Gemessen an den Einkommen von Konzernvorständen, Investmentbankern oder Spitzensportlern scheint die Schwelle recht
M 3 Stephan Kaufmann: Die Reichen sind noch reicher als
niedrig gezogen zu sein. Tatsächlich gebe es ein Problem bei der
gedacht, Frankfurter Rundschau vom 17.7.2014
wissenschaftlichen Erfassung von Millionären und Milliardären,
sagt WSI-Forscherin Spannagel: Superreiche sind relativ selten
Angesichts von Finanz- und Schuldenkrise wächst die Kritik an der
und auf Diskretion bedacht, deshalb sind sie bei allen BefragunVerteilung der Vermögen. Eine neue Untersuchung zeigt jetzt: Die
gen unterrepräsentiert. Doch von einer »gehobenen Lebenslage,
Reichen sind noch viel reicher als gedacht. Auch in Deutschland. Wer
mit der zahlreiche privilegierte Lebensbedingungen verbunden
viel Geld hat, der genießt – und schweigt. Superreiche sind meist
sind«, lasse sich durchaus schon bei Personen sprechen, die jeden
zurückhaltend, wenn es um die Größe ihres Vermögens geht. Das
Monat mindestens doppelt so viel ausgeben können wie der
Problem dabei: Statistiken zu Vermögen und ihrer Verteilung beruhen
Durchschnitt, betont die Wissenschaftlerin. »Unsere Studie anaauf Umfragen. Und da Reiche in dieser Hinsicht eher dezent sind,
lysiert gewissermaßen den unteren Bereich des Reichtums in
wird die Ungleichverteilung unterschätzt. Die Europäische ZentralDeutschland. Darüber erfährt man schon eine Menge. Und die
bank (EZB) hat nun den Versuch unternommen, die Geld-Elite durch
Ergebnisse legen nahe, dass die Superreichen sich noch deutlich
einen Trick in die Statistik einzubeziehen. Das Ergebnis: Die Reichen
stärker und schneller von der Mitte der Gesellschaft entfernen als
sind nicht nur reich, sondern noch reicher als bisher angenommen.
die Personen, die in der Studie untersucht wurden.«
Um die Vermögenslage von Haushalten zu erheben, nutzen StatisSehr Reiche werden reicher. Das zeigt sich nach Analyse der Fortiker Umfragen bei den Haushalten – in der Euro-Zone ist dies der
scher schon beim Vergleich von reichen und sehr reichen Perso-
Die Verteilung des gesell schaf tlichen Reicht ums
D&E
Heft 69 · 2015
Household Finance and Consumption Survey
(HFCS). Die Teilnahme an solchen Umfragen ist
freiwillig. Wer nicht will, muss nicht antworten.
In diese Kategorie fallen überproportional viele
Superreiche. Das sieht man laut Philip Vermeulen, Autor des EZB-Papiers, wenn man die Umfragen mit der Forbes-Liste der Superreichen
vergleicht. Jedes Jahr gibt das US-amerikanische Wirtschaftsmagazin »Forbes« diese Liste
heraus. Zwar beruht sie auf Schätzungen, Vermeulen hält sie aber für halbwegs verlässlich.
Laut offizieller HFCS-Umfrage gab es 2010 in
Deutschland nur 85 Haushalte mit einem verfügbaren Netto-Vermögen von über zwei Millionen Euro. Gleichzeitig standen 52 Deutsche
auf der Forbes-Liste der Milliardäre. Der reichste
deutsche Haushalt verfügte laut HFCS nur über
76 Millionen Euro, Haushalte mit mehr Vermögen existierten in dieser Statistik nicht. In der
Realität aber schon: Der ärmste der 52 Deutschen in der Forbes-Liste hatte über 818 MillioM 5 »Der Sieger am Buffet« © Heiko Sakurai, 20.1.2015
nen Euro, der reichste, Aldi-Gründer Karl Albrecht, sogar noch 17.000 Millionen mehr.
Derartige Differenzen zwischen Statistik und
ten buchstäblich Hunger. Heute bezieht er Hartz IV und kann
Forbes-Liste gebe es in allen Euro-Ländern, so Vermeulen. Das zeigt,
damit zumindest seine Existenz sichern. (…) Mit der beginnenden
dass die Superreichen in den offiziellen Berechnungen nicht auftauIndustrialisierung wurde die ökonomische Vorherrschaft der
chen. Und das bedeutet: Die Ungleichverteilung der Vermögen in
Großgrundbesitzer aufgebrochen – zahlreiche Unternehmer
den bislang verfügbaren Statistiken wird unterschätzt. Der Ökonom
stellten Industriearbeiter ein, ihre Einkommen wuchsen relativ zu
hat nun die Forbes-Liste mit den Umfrageergebnissen kombiniert
denen der Landbesitzer. »Während der Industrialisierung konnten
und errechnet, wie groß der Anteil am gesamten Vermögen ist, der
breitere Teile der Bevölkerung über Bildung und Ausbildung erstdem reichsten Prozent der Haushalte gehört. (...) Den reichsten fünf
mals erhebliche Einkommenszuwächse erreichen«, sagt Baten.
Prozent der Haushalte gehören in den USA rund 60 Prozent des VerGleichwohl gab es regelmäßig Rückschläge. (…) Während der NSmögens, in Deutschland ist es immer noch über die Hälfte. HierzuZeit (…) gab es gezielte Umverteilungsmaßnahmen zugunsten
lande ist der Reichtum also wesentlich konzentrierter als in Frankder Großunternehmer. »Um die Industriellen bei der Stange zu
reich und Italien, wo die reichsten fünf Prozent 37 bis 38 Prozent des
halten, verteilten die Nationalsozialisten die Einkommen von den
Gesamt-vermögens auf sich vereinen. Hierzulande ist der Reichtum
unteren Schichten zu Gunsten der Oberschicht um«, erklärt Baalso wesentlich konzentrierter als in Frankreich und Italien, wo die
ten. Die NS-Politik zielte auf Kriegsproduktion, für die die Koopereichsten fünf Prozent 37 bis 38 Prozent des Gesamtvermögens auf
ration der Großunternehmen unverzichtbar war. »Die Nationalsosich vereinen. Die Verteilung in Europa ist also noch ungleicher als
zialisten lockten Unternehmen mit deutlich höheren Gewinnen in
gedacht. Das ist vor dem Hintergrund stark gestiegener Staatsschuldie Kriegswirtschaft, und drohten zusätzlich mit Repressalien.«
den politisch brisant. Vermeulens Ergebnisse, so betont die EZB
In den Fünfzigerjahren machte sich in Europa Hoffnung breit. »Im
allerdings, »repräsentieren die Ansichten des Autors und nicht notsogenannten goldenen Zeitalter nahm die Ungleichheit stark
wendiger weise die der EZB«.
ab«, sagt Baten. Steigende Wachstumsraten waren ein gesamteu© Stephan Kaufmann, Die Reichen sind noch reicher als gedacht, FR vom 17.7.2014, www.
ropäisches Phänomen. »Insgesamt gab es eine Überschussnachfr-online.de/wirtschaft/reichtum-in-deutschland-die-reichen-sind-noch-reicher-alsfrage nach Arbeit. Von daher wurde der Faktor Arbeit auch gut
gedacht,1472780,27874966.html
entlohnt.» Zudem verabschiedete sich die Wirtschaft endgültig
von der NS-Zeit und schwenkte wieder auf ihren traditionellen
Pfad um: »Die vielen kleinen und mittelgroßen Unternehmen
M 4 Niklas Dummer: Bildung ist kein Aufstiegsgarant mehrsenkten die Ungleichheit.« Mit der großen Bildungsexpansion in
Amtliche OECD-Studie zur Einkommensverteilung. Wirtden Siebzigerjahren erreichte die Ungleichheit in den Achtzigern
schaftswoche, 16.10. 2014,
ihren tiefsten Punkt in den vergangenen 200 Jahren. So gleich waren die Einkommen der Deutschen nie wieder verteilt.
Ist die Gesellschaft heute gerechter als im 19. Jahrhundert – und geht es
Seit der Globalisierungswelle nimmt die Ungleichheit bis heute unden Menschen besser? Diese Fragen wollten Wirtschaftshistoriker in einer
gebrochen zu. »Der Trend geht wieder hin zu größeren Unternehumfangreichen Studie beantworten. Mit ernüchterndem Ergebnis.
men, und die Löhne von weniger qualifizierten Arbeitnehmern steDie Einkommen in Deutschland waren im Jahr 2000 genauso unhen weiterhin unter Abwärtsdruck«, sagt Baten. (…) Zudem führe
gleich verteilt wie 1820. Zu diesem Schluss kommt die Anfang Okdie Globalisierung nicht per se zu einer ungerechteren Einkomtober 2014 veröffentlichte OECD-Studie »How Was Life? Global
mensverteilung, wie das skandinavische Beispiel zeigt. Der gestieWell-Being Since 1820« – zumindest auf den ersten Blick
gene Wettbewerbsdruck durch die Öffnung der Arbeits- und KapiRückblick. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war Deutschland getalmärkte sei nur ein Faktor, der zu einer höheren Ungleichheit
prägt von der Agrarwirtschaft. Auf großen landwirtschaftlichen
führe. Baten: »Sehr viel entscheidender für Deutschland ist, dass der
Besitztümern ließen Lehnsherren ländliche Arbeiter und KleinLeistungsgedanke im Bildungssystem in den Siebzigern und Achtbauern ihren Wohlstand erwirtschaften, vor allem in den östlizigern phasenweise abhanden kam.« Besonders schädlich sei das
chen Landesteilen. De facto hat die Ungleichheit seit dem
für die Schüler aus weniger bildungsnahen Elternhäusern gewesen.
19. Jahrhundert jedoch abgenommen. »Der Grund dafür ist die
© Niklas Dummer: Bildung ist kein Aufstiegsgarant mehr, Wirtschaftswoche, 18.10.2014,
heute weitaus höhere Staatsquote«, sagt Jörg Baten, Wirtschaftswww.wiwo.de/politik/deutschland/oecd-studie-zur-einkommensverteilung-bildung-isthistoriker der Universität Tübingen und einer der Autoren der Stukein-aufstiegsgarant-mehr/10840568.html
die. Wer im 19. Jahrhundert arm war, der litt nach schlechten Ern-
D&E
Heft 69 · 2015
Die Verteilung des gesell schaf tlichen Reicht ums
25
Michael HartMann
M 7 Das Vermögen der Deutschen M 6 Philip Plickert: Wer wird Millionär?, FAZ vom 25.7.2012
26
Der Armuts- und Reichtumsbericht hat eine neue Umver­
teilungsdebatte angefacht. Sozialer Aufstieg ist schwieriger geworden. Richtig reich werden vor allem Unternehmer. Vom Tellerwäscher zum Millionär – dies klischeehafte Bild vom sozialen
Aufstieg stand Generationen von Amerikanern vor Augen, auch
wenn der Traum für viele mittlerweile verblasst. In Deutschland
waren die Aufbaujahre nach dem Krieg eine goldene Zeit. Tatkräftige Unternehmer legten im »Wirtschaftswunder« den Grundstein für große Vermögen. In den sechziger und siebziger Jahren
gab die Bildungsexpansion, der erleichterte Zugang zum Studium, nochmals einen Schub zu mehr sozialer Mobilität. Doch seit
einigen Jahren schwindet der Optimismus. Mehr und mehr wird
eine wachsende, unüberwindliche Kluft zwischen Arm und Reich
beklagt. Parteien und Organisationen von links fordern mehr
Umverteilung, Vermögenssteuern und – abgaben, um Geld der
Reichen abzuschöpfen. Doch wer sind eigentlich die Millionäre,
wie sind sie zu ihren Vermögen gekommen? Rund 920.000 Deutsche besitzen derzeit mehr als eine Million Euro Vermögen. Wolfgang Lauterbach, Soziologieprofessor an der Universität Potsdam, hat eine repräsentative Umfrage unter Wohlhabenden mit
Kapitalvermögen von mehr als 200.000 Euro gemacht – die obersten 3 Prozent der Vermögenspyramide. Es sind nicht die Superreichen, eher »millionaires next door«, wie Lauterbach sagt. Das Ergebnis der Umfrage: Rund zwei Drittel sind als Unternehmer
tätig. 30 Prozent hatten eine Erbschaft gemacht, 7 Prozent hatten
einen reichen Mann oder eine reiche Frau geheiratet. Aber das
war selten der einzige Grund für ihr Vermögen. Mehr als 55 Prozent der Befragten gab an, »in erster Linie durch Arbeit reich geworden« zu sein. Wichtig ist vor allem der unternehmerische Wagemut, sagt Lauterbach. »Die das Risiko eingehen, ein
Unternehmen aufzubauen, das sind diejenigen, die wirklich zu
den ganz Reichen aufsteigen können.« Auf rund 12 Billionen Euro
schätzt die Bundesbank das Gesamtvermögen der Deutschen.
Trotz der Krise ist es von 2007 bis 2010 um 1,4 Billionen Euro gestiegen. Das Vermögen setzt sich aus Immobilien und Grundstücken sowie Sachkapital in Unternehmen und zu kleineren Teilen
aus Finanzvermögen sowie Lebensversicherungen und anderem
zusammen. Die Verteilung ist ungleich: Wenigen Haushalten gehört sehr viel; vielen gehört wenig. Westdeutsche Haushalte haben mehr Vermögen als die im Osten, Männer mehr als Frauen,
die Älteren mehr als die Jüngeren. Der Anteil des Gesamtvermögens, den das oberste Zehntel besitzt, stieg innerhalb eines Jahrzehnts von 45 auf 53 Prozent. Die reichere Hälfte der Bevölkerung
© FAZ – Infografk vom 25.7.2012 zum Artikel von Plickert: Wer wird Millionär?
hat sogar 99 Prozent des Gesamtvermögens, die andere Hälfte
besitzt dagegen kein nennenswertes Vermögen.
Die Zahlen, die das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung
(DIW) aus der Haushaltsbefragung des Sozioökonomischen Panels (Soep) errechnet hat, finden sich im neuen Armuts- und
Reichtumsbericht der Bundesregierung. Schon der Entwurf, der
bekannt wurde, hat eine heftige Verteilungsdebatte ausgelöst.
Die gespreizte Einkommensentwicklung »verletzt das Gerechtigkeitsempfinden der Bevölkerung und kann den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährden«, heißt es im Vorwort des Berichts. Weiter hinten fügten die Beamten des Sozialministeriums
den brisanten Satz ein: Die Bundesregierung prüfe »ob und wie
über die Progression in der Einkommensteuer hinaus privater
Reichtum für die nachhaltige Finanzierung öffentlicher Aufgaben
herangezogen werden kann«. Das war Wasser auf die Mühlen von
SPD, Grünen und Linkspartei, die schon seit längerem eine höhere Belastung der Reichen fordern. Die obersten 10 Prozent der
Bestverdiener zahlen mehr als die Hälfte der Einkommensteuer,
doch das reicht diesen Parteien nicht. Sie fordern höhere Spitzensätze und Substanzabgaben. (…)
Zunehmend gerät auch die Masse des zu vererbenden Reichtums
in den Blick: In diesem Jahrzehnt werden Vermögen für rund 2,6
Billionen Euro vererbt, errechnete eine Studie des Deutschen Instituts für Altersvorsorge, ein Fünftel mehr als im vergangenen
Jahrzehnt. »Wir erleben jetzt die Weitergabe der Vermögen der
Wirtschaftswunder-Generation an die Erben«, sagt Reichtumsforscher Lauterbach. Im Durchschnitt geht es je Erbfall um gut
300.000 Euro. Die Verteilung ist aber ähnlich ungleich wie bei den
Vermögen: Nur 0,2 Prozent der Erbschaften sollen mehr als
250.000 Euro ausmachen, darunter auch Vermögen von zig- oder
gar hundert Millionen.
© www.faz.net/aktuell/wirtschaft/wirtschaftspolitik/umverteilungsdebatte-wer-wirdmillionaer-11914941.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2
Die Verteilung des gesell schaf tlichen Reicht ums
D&E
Heft 69 · 2015
M 8 »Wir lassen unser ganzes Geld in der
Firma«. Interview mit Nicola LeibingerKammüller, Chefin des Werkzeugmaschienherstellers Trumpf in Ditzingen
bei Stuttgart. Manager Magazin spezial
2014
Manager Magazin (mm): Frau Leibinger-Kammüller, Sie gehören zu den 10 Prozent Reichen, die mehr als
die Hälfte des gesamten Vermögens in diesem Land besitzen. Können Sie nachvollziehen, dass viele Menschen
dieses Ungleichgewicht als ungerecht empfinden?
Leibinger-Kammüller: Ich habe den Eindruck,
dass Gerechtigkeit in unserem Land oft mit
Gleichheit gleichgesetzt wird. Wir Menschen sind
aber nicht alle gleich. Es gibt Begabte und weniger Begabte, es gibt Fleißige und Faule, manche
haben mehr, manche weniger Glück.
mm: Und es gibt diejenigen, denen alles in den Schoß
gefallen ist. 56 Prozent der Vermögenden in Deutschland haben ihren Reichtum geerbt. Ist das noch zu vermitteln?
Leibinger-Kammüller: Ich halte es für eine wesentliche Antriebsfeder menschlichen Handelns,
Vermögen zu bilden und es an die Kinder weiterM 9 Nicola Leibinger-Kammüller, Vorsitzende der Geschäftsführung der Trumpf GmbH + Co. KG.
geben zu wollen. Außerdem wäre es gefährlich,
Trumpf gehört zu den weltweit größten Anbietern von Werkzeugmaschinen, Firmensitz: Ditdas Vermögen der Erben rigoros zu besteuern.
zingen bei Stuttgart, © dpa. picture alliance
Dann werden jene, die die Wirtschaft antreiben,
das Land verlassen.
mm: Sie tun so, als gäbe es unter den Vermögenden nur
Leibinger-Kammüller: … und die Armen immer ärmer, wollen Sie
arbeitsplatzschaffende Gutmenschen. Dabei sehen Sie über den Jetset
jetzt wahrscheinlich ergänzen?
hinweg, der sein Erbe verjuxt.
mm: So lässt es sich aus der Statistik ablesen.
Leibinger-Kammüller: Erstens: Wenn Sie anfangen, überall dort
Leibinger-Kammüller: Ich bezweifle diese These. Schauen Sie
die Steuern zu erhöhen, wo Sie Geldausgeben für unvernünftig
sich doch um: Soweit ich weiß, hatten noch nie so viele Menschen
halten – oje, ein weites Feld! Wir haben nun mal ein Recht auf EiArbeit wie jetzt. Es geht vielen Menschen hierzulande sehr gut,
gentum. Zweitens: Sie sprechen die Minderzahl der Fälle an. Wir
nicht nur den Vermögenden.
und auch viele andere Familienunternehmen lassen praktisch ihr
mm: Fakt ist, dass die Zuwächse bei den Vermögenden höher ausfallen.
gesamtes Geld in der Firma. Wir entnehmen so gut wie keine GeAuch die Familie Leibinger mehrt von Jahr zu Jahr mit den Gewinnen ihres
winne, sondern nutzen unser Kapital, um das Unternehmen weiUnternehmens ihren Besitz. In welcher Form geben Sie der Gesellschaft
terzuentwickeln, um Wachstum zu schaffen – und übrigens auch,
etwas zurück?
um sehr viel Steuern zu zahlen.
Leibinger-Kammüller: Ich habe es eben gesagt: Unser Vermögen
mm: Beim Betriebsübergang auf die nächste Generation wird in der Resteckt in der Firma, und wir schaffen damit Arbeitsplätze. Trumpf
gel keine Erbschaftssteuer fällig. Wer sich aber mit Arbeit etwas Wohlbeschäftigt 11.000 Menschen, das ist das höchste gesellschaftlistand schafft, wird in der Spitze mit fast 50 Prozent besteuert. Wäre es
che Engagement, das man eingehen kann. Im Übrigen engagienicht ein Leistungsanreiz, wenn der Staat das Einkommen niedriger und
ren wir uns als Familie, als Unternehmen und auch über unsere
Erbschaften höher besteuern würde?
Stiftung kulturell, wissenschaftlich und sozial.
Leibinger-Kammüller: Was die Erbschaftssteuer angeht: Da wird
mm: Die Trumpf-Gruppe gehört zu 100 Prozent den Leibingers – also Ihsicherlich eine Veränderung kommen, das haben die Richter am
ren Eltern und den drei Geschwistern, die insgesamt zehn Kinder haben,
Bundesverfassungsgericht ja schon angedeutet. Es wäre aber für
und der Bertold-Leibinger-Stiftung. Wie stellen Sie sicher, dass die Firma
Wirtschaft und Arbeitsplätze am besten, wenn die Änderungen
auch in der nächsten Generation, wenn der Gesellschafterkreis deutlich
möglichst gering ausfielen. Nur fürchte ich, dass auch die Erbangewachsen ist, im Eigentum der Familie bleibt?
schaftssteuer wieder so ein Thema wird, bei dem man uns UnterLeibinger-Kammüller: Für jeden ist grundsätzlich ein Rückzug
nehmen immer mehr auferlegt, so nach der Devise: Das schaffen
aus dem Gesellschafterkreis möglich: es könnte ja sein, dass eines
die schon. Mir fällt dazu die Geschichte mit der Ziege auf der
der Kinder keine Bindung zur Firma spürt. (…) Wer Gesellschafter
Schwäbischen Alb ein: Kennen Sie die?
werden will, muss fachlich und charakterlich geeignet sein. Das
mm: Noch nicht.
haben wir in unserem Familienkodex festgeschrieben. (…)
Leibinger-Kammüller: Also, ein Bäuerle muss sparen und gibt damm: Haben Sie auch geregelt, wie der Nachwuchs in die Firma einsteigen
her seiner Ziege immer weniger Futter. Und gerade, als er der
kann?
Ziege das Fressen ganz abgewöhnt hat, stirbt sie. Zu blöd. Wie die
Leibinger-Kammüller: Wir verlangen ein abgeschlossenes StuZiege kommen wir Unternehmer uns manchmal vor.
dium, vorzugsweise mit Promotion. Er oder sie muss sich in einem
mm: Ein bisschen Futter müssen Sie dem Staat schon auch zugestehen. Er
anderen Unternehmen bewährt haben, sollte Erfahrungen im
braucht dringend Geld für den Infrastrukturausbau und das Bildungssystem.
Ausland gemacht haben und erkennen lassen, dass da wirkliche
Leibinger-Kammüller: Natürlich muss der Staat in diesen BereiFähigkeiten sind, um Verantwortung in der Firma zu übernehmen.
chen mehr tun. Aber er hat doch aktuell unwahrscheinlich hohe
Wobei wir mit Fähigkeiten nicht nur Managementwissen meinen,
Steuereinnahmen. Ich habe gelegentlich Zweifel, ob er sie effizisondern auch moralische Integrität.
ent oder auch nur effektiv einsetzt – wenn ich etwa an den Berli© Manager Magazin spezial: »Die reichsten Deutschen«, 2014, darin: »Wir lassen unser
ner Flughafen denke. (…)
ganzes Geld in der Firma«, Interview mit Nicola Leibinger-Kammüller.
mm: Wir sprachen über die Vermögensverteilung in Deutschland: Seit den
90er Jahren werden die Reichen immer reicher …
D&E
Heft 69 · 2015
Die Verteilung des gesell schaf tlichen Reicht ums
27
BRICHT EUROPA AUSEINANDER? REICHTUM UND ARMUT IN EUROPA.
4. A
rmut in Europa:
Trends und Risikogruppen
ROLAND VERWIEBE/ NINA-SOPHIE FRITSCH
I
28
n der sozialwissenschaftlichen Armutsforschung wird vielfach die Position vertreten, dass die Vermeidung von Elend und
Armut ein zivilisatorisches Minimum ist,
welches für entwickelte Gesellschaften
verbindlich sein sollte. Armut ist ein Seismograf für den sozialen Zustand einer Gesellschaft: inmitten einer Wohlstandsgesellschaft stellt sie das Wirtschafts- und
Sozialsystem in Frage, gefährdet die politische und soziale Legitimation eines Sozialstaats und weist auf Verwerfungen in der
weiteren Gesellschaft hin (Bäcker et al.
2008: 356). Trotz dieser gesellschaftlichen
Brisanz liegt der Schwerpunkt europäischer Analysen traditionell vor allem auf
der Schichtung der erwerbstätigen Kernbevölkerung (Arbeiter, Angestellte, Selbstständige, Manager). Die Lebenssituation
der unteren Bevölkerungsschichten und
Menschen am Rand der Gesellschaft wurden viele Jahrzehnte kaum thematisiert.
Die Erforschung von Armut war daher
lange nur ein Thema der RandgruppenforAbb. 1 In der Stuttgarter Leonhardskirche, der ältesten Vesperkirche Deutschlands, werden täglich rund
schung. Die sozialwissenschaftliche Litera600 bis 800 Mahlzeiten angeboten. © Thomas Niedermüller, dpa, picture alliance, 14.1.2013
tur ist bisher davon ausgegangen, dass in
erster Linie jene Personen von Armut bewürde danach derjenige leben, »dessen Mittel zu seinen Zwecken
troffen sind, die nicht oder nicht ausreichend in den Arbeitsnicht zureichen. Dieser rein individualistische Begriff verengt sich für
markt integriert sind. Im Wesentlichen zählen hierzu Arbeitsseine praktische Anwendung dahin, dass bestimmte Zwecke als der willlose, Obdachlose, Pensionäre und Alleinerziehende.
kürlichen und bloß persönlichen Setzung enthoben gelten. (…) Vielmehr
Allerdings zeigen aktuelle Forschungen auch, dass Armut
jedes allgemeine Milieu und jede besondere soziale Schicht besitzt typiheute nicht mehr ausschließlich ein Problem am unteren Rand
sche Bedürfnisse, denen nicht genügen zu können Armut bedeutet« (Simder Gesellschaft, sondern sich durch die »Entgrenzung soziamel 1908: 369).
ler Risiken« (Groh-Samberg/Hertel 2010) zu einem Phänomen entWeiter bedeutet Armut nach Simmel ein Herausfallen aus traditiwickelt, mit dem auch Bevölkerungsgruppen konfrontiert
onellen Bindungen, Schichten und Milieus. Armut wird erst sichtwerden, die traditionell nicht von Armut betroffen waren.
bar für den Betroffenen und die Gesellschaft, wenn symbolische
Damit ist Armut erst in den letzten zwei Jahrzehnten auch zu
Zuschreibungen erfolgen. Dies geschieht durch die Zuweisung
einem Kernthema der Sozialstruktur- und Ungleichheitsforvon wohlfahrtsstaatlichen Leistungen und den damit einhergeschung geworden, was eine Fülle nationaler und internationahenden Klassifikationsprozessen:
ler Publikationen belegt.
»Das Annehmen einer Unterstützung rückt also den Unterstützten aus
den Voraussetzungen des Standes heraus, sie bringt den anschaulichen
Beweis, dass der formal deklassiert ist. (.…) deshalb ist er im sozialen
Sinne erst arm, wenn er unterstützt wird. Und dies wird wohl allgemein
Historische und theoretische Betrachtungen
gelten: soziologisch angesehen ist nicht die Armut zuerst gegeben und daraufhin erfolgt Unterstützung (…), sondern derjenigen, der UnterstütDie Beschäftigung mit Armut und sozialer Ausgrenzung gehört
zung genießt, bzw. sie nach seiner soziologischen Konstellation genießen
seit der Gründungsphase der Disziplin zu den Kernthemen der
sollte – auch wenn sie zufällig ausbliebt –, dieser heißt der Arme. (…) Der
Soziologie. Bereits im 19. Jahrhundert findet sich bei sozialwisArme als soziologische Kategorie entsteht nicht durch ein bestimmtes
senschaftlichen Klassikern ein Bezug auf das Thema Armut, etwa
Maß von Mangel und Entbehrung, sondern dadurch, dass er Unterstütbei Marx (»Lumpenproletariat«) oder bei Toqueville (»Pauperiszung erhält oder sie nach sozialen Normen erhalten sollte.« (Simmel
mus«). Eine erste allgemeinere theoretische Betrachtung von Ar1908: 371).
mut, auf die auch heute noch Bezug genommen wird, legte im
Es ist wichtig festzuhalten, dass Simmel mit dieser ArmutskonJahr 1906 Georg Simmel vor. Die zentrale Frage in Simmels bahnzeption die Basis für fast alle späteren Studien gelegt hat. Auch in
brechenden Arbeiten war, wie Armut definiert werden kann (Simden aktuellen Armutsstudien wird in der Regel ein relativer Bemel 1906, 1908). In diesen Arbeiten unterscheidet Simmel zwei
griff von Armut verwendet. Was heute als Armut gilt, wird in der
Armutsbegriffe: »Arm sein« und »Armut«. Simmel spricht von eiForschung jedoch nicht einheitlich gehandhabt. Es existiert eine
nem »relativistischen Charakter des Armutsbegriffs«. In Armut
Vielzahl von Armutsbegriffen und Verwendungskontexten. Die
Armut in Europa
D&E
Heft 69 · 2015
wichtigste definitorische Unterscheidung ist
die zwischen absoluter Armut und relativer
Armut:
(1) Von absoluter Armut redet man, wenn
Menschen nicht über die zur physischen Existenzsicherung notwendigen Güter wie Nahrung, Kleidung und Wohnung verfügen.
Diese Form der Armut dominiert nach wie vor
in vielen Ländern des globalen Südens, ist
aber in Deutschland und den anderen westlichen Industriestaaten weitestgehend überwunden.
(2) Relative Armut bemisst sich am allgemeinen Lebensstandard einer konkreten Referenzgesellschaft. Das durchschnittliche Einkommensniveau oder die durchschnittliche
Ausstattung mit Wohnraum, eine durchschnittliche sozial-kulturelle Integration dienen hier unter anderem als Vergleichsmaßstab. Das relative Armutskonzept geht
prinzipiell über rein monetäre Gesichtspunkte bei der Bemessung von Armut hinaus.
»Armut liegt nach diesem Verständnis dann vor,
Abb. 2 »Armut hat immer Konjunktur!« © Heiko Sakurai, 29.10.2014
wenn Menschen das sozialkulturelle Existenzminimum einer Gesellschaft unterschreiten« (Bäcker
Unterschiedliche Messkonzepte zur Bestimmung
et al. 2008: 357).
von Armut
Auch die Europäische Union verwendet seit Anfang der 1980erJahre einen relativen Armutsbegriff: »The poor shall be taken to mean
Beim Ressourcenansatz steht die Ausstattung von Personen oder
persons, families and groups of persons whose resources (material, cultuHaushalten mit Einkommen im Mittelpunkt. Das Einkommen eiral and social) are so limited as to exclude them from the minimum accepner Person oder eines Haushaltes gilt dabei als ein für die Armutstable way of life in the member state in which they live.« (European
bestimmung passender Indikator, da Einkommen einen univerCommission 1984) Dieser Armutsbegriff der EU ist auch leitend
sellen Charakter hat und zur Kompensation von Defiziten in
für die Armutsberichterstattung der Bundesregierung – beivielen Lebensbereichen herangezogen werden kann. Verwendet
spielsweise im Armuts- und Reichtumsbericht (BMAS 2012).
werden unterschiedliche Grenzwerte zur Bestimmung von ArUm die bislang vorgestellten Überlegungen zusammenzufassen,
mutspopulationen. In Armut leben diejenigen, deren Einkommen
können die folgenden Punkte hervorgehoben werden: Armut wird
nicht ausreicht, um die Güter und Dienstleistungen zu erwerben,
in der Regel als relatives Phänomen bezeichnet bzw. wird mit redie zur Abdeckung eines sozialkulturellen Existenzminimums erlativen Messkonzepten erfasst und bezieht sich auf einen gesellforderlich sind. Es ist dabei üblich, einen Grenzwert von 50 % des
schaftlich etablierten Lebensstandard einer konkreten Referenznationalen Median-Einkommens zu verwenden. Bei einem
gesellschaft. In Armut lebende Personen haben als Mitglieder
Schwellenwert von 40 % spricht man von einer strengen Armutseiner Gemeinschaft einen Anspruch auf Unterstützung. Durch die
grenze. Einen Schwellenwert von 60 % nutzt man in der Regel,
Gewährung von sozialpolitischen Leistungen vollziehen sich symwenn Armutsgefährdung dargestellt werden soll. Die meisten Pubolische Klassifikationen, Zuschreibungen und Abwertungen.
blikationen der Armutsforschung beruhen noch immer auf dem
Armuts- und Sozialpolitik hat damit zwei Funktionen: VerbesseRessourcenansatz. Die Anwendung des Ressourcenansatzes ist
rung von Integration und Teilhabe sowie Exklusion und Deklassieallerdings nach Ansicht von Bäcker et al. (2008: 357) nicht unprorung. Kronauer (Kronauer 2002: 151) schlägt im Rahmen der Exblematisch, »da der Handlungsspielraum eines Haushalts nicht nur
klusionsdebatte drei grundlegende Ausgrenzungsdimensionen
durch die Ressource Einkommen, sondern auch durch weitere Ressourcen
für eine umfassende Analyse von Armut vor: Marginalisierung am
wie Vermögen (zum Beispiel Wohneigentum), schulische und berufliche
Arbeitsmarkt, Einschränkung der sozialen Beziehungen (bis hin
Qualifikation (Humankapital), soziale Einbindung (Sozialkapital) und
zur sozialen Isolation) sowie Reduzierung von Lebenschancen und
Verfügung über Zeit bestimmt wird.«
Lebensstandard.
In der europäischen Sozialforschung ist ab Mitte/Ende der 1980erAusgehend von diesen theoretischen Argumenten belegen zahlJahre die mehrdimensionale Armutsforschung wichtig geworden:
reiche wissenschaftliche Analysen die steigende Relevanz von
»A strong case can be made for the notion that poverty and social excluArmut- und Armutsrisiken in modernen Wissensgesellschaften
sion are inherently multidimensional concepts (…) even if income were the
und deren Beeinflussung von unterschiedlichen Lebensbereikey determinant. (…) The factors affecting income at the household level
chen, z. B. in Hinblick auf eine möglicherweise verminderte soziand its distribution at the societal level are extremely complex, encomale Teilhabe und die Einschränkung sozialer Beziehungen (Kropassing most obviously the way the labour market, education and (…)
nauer 2002). Dabei stellt sich auch die Frage, mit welchen
transfer systems are structured. Poverty in the highly complex societies of
besonderen persönlichen Konsequenzen und Einschnitten arthe industrialised world (…) can only be understood by taking a variety of
mutsgefährdete oder in Armut lebende Personen konfrontiert
causal factors and channels into account.« (Nolan/Whelan 2007: 147f.)
sind. Wie stabil sind deren familiäre Situation und partnerschaftDer multiple Lebenslagenansatz hat in dieser Spielart der Arlichen Beziehungen? Und was bedeutet es für Kinder und Jugendmutsforschung einen großen Stellenwert erlangt. In diesem
liche, in einem von Armut betroffenen Haushalt aufzuwachsen?
Ansatz wird Armut nicht nur mit einer Analyse des verfügbaren
Diese wissenschaftlichen Analysen arbeiten teilweise mit sehr
Einkommens erfasst, sondern zusätzlich im Hinblick auf die
unterschiedlichen Messkonzepten. Diese sollen im Folgenden
Ausstattung auf weitere wichtige Ressourcen und Güter der Levorgestellt werden.
bensführung. Der Lebenslagenansatz fragt danach, ob bei der
Versorgung der Menschen mit Nahrung, Bekleidung, Wohnraum, oder Leistungen des Gesundheits- und Sozialwesens Min-
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Heft 69 · 2015
Armut in Europa
29
Roland Verwiebe/ Nina-Sophie Fritsch
Abb. 3 Armutsgefährdungsquote in der EU vor und nach sozialstaatlichen Transfers (Tabelle 1)
Typologie
Konservative
Wohlfahrtsstaaten
Sozialdemokratische Wohlfahrtsstaaten
Mediterrane Wohlfahrtsstaaten
Liberale Wohlfahrtsstaaten
liberal orientierte, postsozialistische
Wohlfahrtsstaaten
30
Länder
vor Sozialtransfers
nach Sozialtransfers
1995
2005
2011
2013
1995
2005
2011
EU-15
26,0
25,5
26,1
26,2
17,0
15,7
16,2
2013
–
Belgien
27,0
28,3
27,8
26,3
16,0
14,8
15,3
15,1
Deutschland
22,0
23,1
2,1
24,4
15,0
12,2
15,8
16,1
Österreich
24,0
25,5
27,1
25,9
13,0
12,6
14,5
14,4
Frankreich
26,0
26,0
24,7
24,2
15,0
13,0
14,0
13,7
Luxemburg
25,0
23,8
27,2
29,4
12,0
13,7
13,6
15,9
Dänemark
–
29,9
28,4
28,1
10,0
11,8
13,0
12,3
Finnland
23,0
28,0
27,4
26,4
8,0
11,7
13,7
11,8
Schweden
–
28,7
27,9
27,1
–
9,5
14,0
14,8
10,4
Niederlande
24,0
21,7
20,9
20,8
11,0
10,7
11,0
Griechenland
23,0
22,6
24,8
28,0
22,0
19,6
21,4
23,1
Spanien
27,0
24,5
30,0
30,0
19,0
20,1
22,2
20,4
Italien
23,0
23,4
24,4
24,6
20,0
18,9
19,6
19,1
Portugal
27,0
25,7
25,4
25,5
23,0
19,4
18,0
18,7
Zypern
–
21,7
23,5
24,3
–
16,1
14,8
15,3
15,7
Malta
–
20,1
23,2
23,3
–
14,3
15,6
Irland
34,0
32,3
39,6
–
19,0
19,7
15,2
–
UK
32,0
30,6
30,5
30,1
20,0
29,0
16,2
15,9
2013
2000
2005
2011
2013
2000
2005
2011
Estland
26,0
24,2
24,9
25,4
18,0
18,3
17,5
18,6
Lettland
22,0
25,8
26,8
26,0
16,0
19,4
19,0
19,4
Litauen
23,2
26,1
30,2
30,3
17,0
20,5
19,2
20,6
Tschechien
18,0
21,2
18,0
16,6
8,0
10,4
9,8
8,6
Slowakei
–
21,9
19,5
20,1
–
13,3
13,0
12,8
Slowenien
18,0
25,9
24,2
25,3
11,0
12,2
13,6
14,5
Ungarn
17,0
29,4
28,9
26,3
11,0
13,5
13,8
14,3
Polen
30,0
29,8
24,1
23,0
16,0
20,5
17,7
17,3
Bulgarien
18,0
17,0
27,4
26,7
14,0
14,0
22,2
21,0
Rumänien
21,0
–
29,1
27,8
17,0
–
22,2
22,4
EU-27
–
26,0
26,3
25,8
–
16,4
16,9
16,6
© Daten nach Eurostat (2015); Angabe von Armutsquoten in %; Armutsgefährdungsquote vor sozialstaatlichen Transfers: Anteil von Personen mit einem
verfügbaren Einkommen unter 60% des nationalen Median-Äquivalenzeinkommens; Grundlage ist das verfügbare Haushaltsäquivalenzeinkommen nach
Abzug von Einkommens-, Vermögenssteuern und Sozialabgaben sowie unter Berücksichtigung von Transfers zwischen Haushalten. Renten/Pensionen
werden als Einkommen vor Sozialtransfers gezählt. Armutsgefährdungsquote nach sozialstaatlichen Transfers: Anteil von Personen mit einem verfügbaren Einkommen unter 60% des nationalen Median-Äquivalenzeinkommens unter Berücksichtigung von Sozialtransfers (z.B. Wohngeld, Kindergeld). Anmerkung: die Angaben für 1995 beruhen auf ECHP-Daten, ab 2004 auf EU-SILC-Daten. Die Unterteilung in die Wohlfahrtsstaatstypen orientiert sich an
Esping-Andersen (1990), Ferrera (1996) sowie Mau/Verwiebe (2009, 2010).
deststandards erreicht werden. Der Lebenslagenansatz berücksichtigt darüber hinaus, ob die Menschen ausreichend am
gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben partizipieren. Dies betrifft so zentrale Bereiche wie Arbeit, Bildung, Freizeitgestaltung, soziale Beziehungen und Information (Bäcker et
al. 2008: 357). Im Lebenslagenansatz werden ebenfalls Grenzwerte zur Festlegung von Armut verwendet. Armut wird in der
Regel als eine Unterversorgung in mindestens zwei zentralen
Lebensbereichen definiert.
Auch der sogenannte Deprivationsansatz enthält ein mehrdimensionales Konzept von Armut. Armut wird hier als mangelnde Teilhabe und Ausgrenzung konzeptualisiert. Das Konzept der relativen Deprivation wurde von Peter Townsend entwickelt und
erstmals in seiner Studie über »Poverty in the United Kingdom«
(1979) umgesetzt. Er definiert relative Deprivation als:
» … the absence or inadequacy of those diets, amenities, standards, services and activities which are common or customary in society. People are
deprived of the conditions of life which ordinarily define membership of
society. If they lack or are denied resources to obtain access to these con-
Armut in Europa
ditions of life and so fulfill membership of society, they are in poverty.«
(Townsend 1979: 915) Der Deprivationsansatz bündelt demnach
Vorstellungen von der Versorgungslage eines Haushaltes (mit
Versorgungsgütern, Gebrauchsgütern und Dienstleistungen),
von soziokulturellen Mindeststandards und dem allgemeinen
Wohlfahrtsniveau einer Gesellschaft. Diese allgemein anerkannten Standards werden nicht durch von Sozialwissenschaftlern
oder Sozialpolitikern festgelegte Grenzen definiert. Es wird vielmehr mit Hilfe von großen Bevölkerungsumfragen ermittelt, welche Elemente der Lebensführung aus Sicht der Bevölkerung tatsächlich zu einem notwendigen Lebensstandard dazuzählen.
Allen Abgrenzungsvorschlägen in der Armutsforschung ist gemeinsam, dass sie von Werturteilen abhängig sind: »Jede Armutsdefinition ist damit letztlich politisch-normativer Natur.« (Boeckh et al.
2006: 265) Dieser Umstand hat zur Folge, dass die wissenschaftliche und politische Diskussion um die Existenz und das Ausmaß
von Armut in modernen Gesellschaften immer kontrovers verlaufen wird. »Je nach der Definition von Armut und der Bestimmung der
Armutsgrenzen kann dabei der Kreis der Armutsbevölkerung enger oder
D&E
Heft 69 · 2015
weiter gesteckt werden. Eine bewusste Eingrenzung des Kreises relativiert die Armutsproblematik
und kann dazu dienen, die tatsächlichen sozialen
Verhältnisse zu verdecken, während eine bewusst
weite Fassung des Kreises den Blick auf die eigentlich Betroffenen verstellen kann.« (Bäcker et al.
2008: 359)
Stabilität und Dynamik von
Risikogruppen
Unabhängig von den unterschiedlichen
Messkonzepten sind bestimmte Personengruppen häufiger von Armut betroffen als
andere. Die Forschung zeigt, dass die Risiken
in Armut zu geraten, nicht gleich verteilt
sind. Unterschiede in der Armutsgefährdung
bestehen zum Beispiel zwischen Männern
und Frauen. Von zentraler Bedeutung sind
hier die jüngsten Veränderungsprozesse in
der ökonomischen Sphäre: Die Erwerbsbeteiligung von Frauen in Österreich hat in den
Abb. 4 Obdachlose in Athen mit Schildern »Wir haben keine Slogans, wir haben Forderungen!« letzten Jahren deutlich zugenommen (Euro
© dpa. picture alliance, 14.4.2013
stat 2015). Dieser Anstieg ist in erheblichem
Maße mit einer Ausweitung von gering enterhöhten und potentiell ansteigenden Risiken zu rechnen, unter
lohnter (Teilzeit-) Arbeit im Dienstleistungssektor verbunden. Die
die Armutsgefährdungsschwelle zu fallen.
ohnehin bestehende geschlechtsspezifisch ungleiche Verteilung
Die Weiterentwicklung der Armutsforschung von der Randgrupvon Löhnen und Gehältern verstärkt sich dadurch und lässt auf
penforschung hin zu einem Kernbereich der Sozialstruktur- und
eine erhöhte Armutsgefährdung bei erwerbstätigen Frauen
Ungleichheitsforschung ging auch mit methodischen Fortschritschließen.
ten einher. Die Armutsforschung der 1970er- und 1980er-Jahre beZudem sind jüngere und ältere Personen verstärkt mit Armutsrisischrieb Armut mit Querschnittsanalysen in der Regel als dauerhafken konfrontiert. Diese Arbeitsmarktkohorten gehören zu denjeten Zustand. In der neueren Armutsforschung wird inzwischen, auf
nigen, »die nicht fest im Erwerbsleben verankert sind bzw. sich an den
der Grundlage von Trend- und Längsschnittstudien, zunehmend
Rändern des Arbeitsmarktes oder in unsicheren Beschäftigungsverhältnachgewiesen, dass Armut für viele Menschen »nur« eine Episode
nissen befinden und besonders durch Verlagerungen von Marktrisiken zu
im Lebenslauf ist und von Betroffenen auch aktiv bewältigt werihren Ungunsten betroffen« sind (Blossfeld et al. 2008: 36). So lassen
den kann. Zugleich reicht Armut als (vorübergehende) Lebenslage
sich Teilzeittätigkeiten, befristete Beschäftigung und unterund latentes Risiko bis in mittlere soziale Schichten hinein und ist
schiedliche Spielarten der »Neuen Selbstständigkeit« (Scheinnicht mehr ausschließlich auf traditionelle Randgruppen beselbstständige, Werkvertragsbeschäftigte, Freie Dienstnehmer)
grenzt. Damit ist das Phänomen der Armut zunehmend verzeithäufig in diesem Arbeitsmarktsegment finden. Personen ohne
licht, individualisiert und in einem gewissen Maße auch sozial entoder mit nur geringen beruflichen Qualifikationen zählen ebengrenzt. Armutserfahrungen haben einen Anfang, eine Dauer,
falls zu den besonders gefährdeten Gruppen am Arbeitsmarkt.
einen bestimmten Verlauf und in den meisten Fällen auch ein
Sie sind stärker im Niedriglohnsegment vertreten und eher von
Ende. Das ist keine Entwarnung, so Leibfried und Kollegen (1995:
Arbeitslosigkeit betroffen. Eine erhöhte Armutsgefährdung von
14f.), die sozialpolitische Aufgabe Armutsbekämpfung hat nichts
niedrigqualifizierten Personen resultiert in Teilen auch aus den
an Aktualität verloren. Dadurch, dass Armut temporalisiert ist und
sich rasch ändernden Anforderungen einer technologie-basierten
auch mittlere soziale Schichten betrifft, sind mehr Menschen von
Informations- und Wissensgesellschaft. So zeigt eine Reihe von
Armut betroffen, als man dies mit den Studien der 1980er-Jahre geinternationalen Studien, dass sich durch den technologischen
zeigt hat. Zugleich hat sich an der schicht- und klassenspezifiWandel die Nachfrage nach hoch qualifizierten Arbeitskräften erschen Risikostruktur der Armutsgefährdung in den letzten Jahren
höht hat, während die nach weniger qualifizierten Arbeitskräften
wenig geändert (Groh-Samberg 2004, 2009).
gesunken ist, was in der Arbeitsmarktforschung unter der Überschrift »skill biased technological change« (SBTC) diskutiert wird.
Aus Studien ist weiterhin bekannt, dass Armutsrisiken bei ErEmpirische Betrachtungen: Armut und
werbstätigen, die nicht im Inland geboren wurden, besonders
Sozialpolitik in Europa
hoch sind. Durch eine schwierige Integration in den Arbeitsmarkt,
teilweise mangelnde Sprachkenntnisse und Diskriminierungen
Vor dem Hintergrund dieser konzeptionellen Erörterungen sollen
seitens der Arbeitgeber ist ein potentiell wachsender Zusammenin den folgenden Abschnitten die Armutsrisiken in Deutschland
hang von Migrationshintergrund und Armutsrisiko zu erwarten.
mit denen in den anderen Mitgliedsländern der Europäischen
Von den Veränderungen am Arbeitsmarkt sind Migranten und MiUnion verglichen werden. Dabei wird auf Indikatoren zurückgegrantinnen viel stärker betroffen als Personen ohne Migrationsgriffen, die sich am Ressourcenansatz der Armutsforschung orihintergrund. Für die Untersuchung von Armutsrisiken ist schließentieren. Daten, die entsprechend dem Lebenslagenansatz oder
lich auch die Ebene des Haushaltes zu berücksichtigen. Denn der
dem Deprivationsansatz erhoben wurden, liegen als europäische
strukturelle Wandel und die Pluralisierung von Familien- und Levergleichende Statistiken für einen längeren Untersuchungszeitbensformen stehen in einem engen Wechselverhältnis mit den
raum nicht vor. In (| Abb. 3 |) werden Armutsgefährdungsquoten
ökonomischen Restrukturierungen. Viele Familien mit Kindern
vor und nach sozialstaatlichen Transfers aufgeführt.
geraten durch die Veränderungen am Arbeitsmarkt zunehmend
Der empirische Vergleich stützt sich dabei auf etablierte Klassifiunter Druck. Besondere Risikogruppen stellen daher Alleinerziekationskonzepte. Die Untersuchung von Armutsquoten auf eurohende und kinderreiche Familien dar. Für beide Gruppen ist mit
D&E
Heft 69 · 2015
Armut in Europa
31
Roland Verwiebe/ Nina-Sophie Fritsch
Abb. 5 »Ach ja, das sind unsere Armutsrisikogruppen!« 32
päischer Ebene legt aus zwei Gründen nahe, sich mit Konzepten
zur Klassifikation von unterschiedlich verfassten Gesellschaften
auseinander zu setzen: Zum einen bietet die Verwendung von Typologien die Möglichkeit, durch Abstrahierung analytische und
heuristische Klarheit zu erzeugen. Zum anderen verlangt insbesondere die vergleichende Perspektive eine intensive Beschäftigung mit der Wirkung, die institutionelle Rahmenbedingungen
(z. B. die unterschiedliche Ausgestaltung sozialer Sicherungssysteme) auf die Lebensbedingungen von Personen und Haushalten
haben (Lohmann 2007). Gerade in den bekannten sozialwissenschaftlichen Gesellschaftskonzepten wird diesem Aspekt ein besonderer Stellenwert eingeräumt.
Einen interessanten ersten Anknüpfungspunkt bietet in diesem
Kontext die Literatur der vergleichenden Wohlfahrtsstaatenforschung, in der in den letzten zwei Jahrzehnten zunächst vor allem
die Typologie von Gøsta Esping-Andersen (1990; 1999) zentrale
Bedeutung erlangt hat. Mit der Einteilung in liberale, sozial­
demokratische und konservative Wohlfahrtsregimes hebt er die
Unterschiedlichkeit der institutionellen Arrangements mit differierenden Wohlfahrtszielen und Ausmaßen an öffentlichen Unterstützungsleistungen der einzelnen Länder hervor. Die Klassifikation erfolgt entlang der Dimensionen Dekommodifizierung,
Stratifizierung durch Sozialpolitik und dem Verhältnis von Familie, Staat und Markt (Esping-Andersen 1990: 21ff.). Ausdifferenzierungen, Adaptierungen und Ergänzungen bilden sich im Zuge der
Transformationen zunehmend stärker heraus. Aktuell verfügen
mehr als ein Viertel der europäischen Bevölkerung über ein Einkommen (vor Sozialtransfers), welches nur ein Leben unterhalb
der Armutsgrenze ermöglicht. In einigen osteuropäischen Staaten (u. a. Litauen, Lettland, Ungarn, Bulgarien, Rumänien) ist die
Armutsgefährdung besonders stark sichtbar. Innerhalb Westeuropas ist sie vor allem in Irland, Großbritannien und Spanien
hoch. Deutschland weist, ähnlich wie Österreich, Slowenien oder
Frankreich, eine mittlere bis leicht unterdurchschnittliche Armutsgefährdungsquote auf. Eine vergleichsweise niedrige Armutsgefährdung vor sozialstaatlichen Transfers findet sich z. B. in
den Niederlanden und in Tschechien.
Im Hinblick auf die Armutsrisiken nach sozialstaatlichen Transfers findet sich auf der einen Seite eine Gruppe von Ländern, die
einen relativ geringen Bevölkerungsanteil aufweisen, der nach
sozialstaatlichen Transfers ein verfügbares Einkommen unterhalb der Armutsgefährdungsschwelle aufweist. Das sind Länder,
in denen durch Sozialpolitik Armutsrisiken deutlich reduziert
werden. Zu dieser Ländergruppe gehören die sozialdemokratisch geprägten Länder Skandinaviens, Österreich und Luxem-
Armut in Europa
burg mit einem eher konservativ geprägten
Wohlfahrtsstaat, aber auch Ungarn und
Tschechien. Auf der anderen Seite stehen
Länder, bei denen nach sozialstaatlichen
Transfers etwa ein Fünftel der Bevölkerung
von Armut bedroht ist. Zu dieser Gruppe gehören Staaten mit einem liberalen-postsozialistischen oder mediterranen Wohlfahrtssystem (Lettland, Litauen, Spanien,
Griechenland, Rumänien und Bulgarien).
Eine geringe Wirkung sozialpolitischer Interventionen lässt sich in Bulgarien und Rumänien sowie in dem mediterranen Krisenstaat
Griechenland
beobachten.
Deutschland weist, nach sozialstaatlichen
Transfers, eine im europäischen Vergleich
durchschnittliche Armutsgefährdung auf:
etwas mehr als 16 % der Bevölkerung galten
im Jahr 2013 als armutsgefährdet. Dies ist in
der Gruppe der konservativen Wohlfahrtsstaaten der höchste Wert. Die Zeitreihen in
(| Abb. 3 |, | Tabelle 1 |) zeigen, dass sich die
© Gerhard Mester, 2014
Armutsrisiken nach sozialstaatlichen Transfers in den EU-Mitgliedsländern unterschiedlich entwickelt haben. In den meisten osteuropäischen
Staaten ist das Armutsrisiko in den letzten Jahren zum Teil deutlich angestiegen. Für Osteuropa kann dies als die Kehrseite der
gesellschaftlichen Transformations- und Modernisierungsprozesse und als ein Ausdruck eines weit verbreiteten liberalen
Wohfahrtsverständnis verstanden werden. Auch in Dänemark,
Schweden und Finnland stieg der Bevölkerungsanteil, der nach
sozialstaatlichen Transfers ein verfügbares Einkommen unterhalb der Armutsgefährdungsschwelle aufweist, was möglicherweise mit einem Rückgang der Sozialausgaben in den Jahren
zwischen 2000 und circa 2005/06 (Mau/Verwiebe 2010: 56ff.) und
der Reduktion von Wohlfahrtsprogrammen in einem Zusammenhang steht. Im Fall von Deutschland bestätigt sich mit den
aktuellsten verfügbaren Zahlen ein langfristiger Trend des
Wachstums der Bevölkerungsgruppen, die von Armut bedroht
sind. Die Zeitreihen, die Geißler (2006: 203ff.) verwendet, legen
einen kontinuierlichen Anstieg von Armutsrisiken seit Mitte der
1970er-Jahre nahe. In den 1990ern und ersten 2000er Jahren hat
sich dieser Anstieg noch einmal verstärkt (BMAS 2005, 2008,
2012). In einigen europäischen Staaten ist die Armutsgefährdung
nach sozialstaatlichen Transfers, entgegen dem allgemeinen
Trend, zwischen 1995 und 2013 sogar gesunken. Zu diesen Ländern gehören z. B. Großbritannien, Portugal und Frankreich.
Risikogruppen: Struktur der Armut in Europa
Die Armutsforschung hat in der Vergangenheit immer wieder gezeigt, dass ein Blick auf die spezifische Risikostruktur der Armutsgefährdung wichtig ist (u. a. Groh-Samberg 2004; Lohmann 2007;
Verwiebe 2011a). Dazu werden in der Regel Armutsrisiken verschiedener sozialer Gruppen betrachtet. Solche Daten sind seit
einigen Jahren auch für den innereuropäischen Vergleich verfügbar. Einige der hier wichtigsten Gruppen sind in (| Abb. 6 |, | Tabelle 2 |) dargestellt. Aufgeführt sind die Armutsquoten nach Sozialtransfers für Alleinerziehende, kinderreiche Familien,
Arbeitslose, ältere Menschen (+65 Jahre) und unterschiedliche
Bildungsschichten.
Welche Befunde und Trends sind hier besonders erwähnenswert?
Zunächst deuten die Zahlen in Tabelle 2 auf ein besonderes Armutsrisiko von Alleinerziehenden hin (vgl. Eggen/Rupp 2006;
Grabka/Frick 2010). Dieses ist mehr als doppelt so hoch (EU-27,
2011: 36,6 %) wie für den Durchschnitt der EU-Bevölkerung (vgl.
| Tabelle 1 |). Besonders stark sind Alleinerziehende im Baltikum,
in Rumänien sowie in Luxemburg und Malta von Armut bedroht
D&E
Heft 69 · 2015
Abb. 6 Hauptsächlich von Armut betroffene Gruppen nach Sozialtransfers (Tabelle 2)
Konservative
Wohlfahrtsstaaten
Sozialdemokratische Wohlfahrtsstaaten
Mediterrane Wohlfahrtsstaaten
Alleinerziehende mit
Kindern
Familien mit drei
oder mehr Kindern
1995
2005
2011
1995
über 65-Jährige
2005
2011
1995
2005
2011
Arbeitslose
1995
2005
Bildungsniveau
(ISCED, 2011)
2011
0–2
3–4
5–6
EU-15
37,0
30,4
36,9
26,0
22,1
23,9
19,0
19,8
16,3
40,0
37,4
45,1
23,5
13,7
7,6
Belgien
31,0
33,2
38,5
13,0
19,6
16,7
21,0
21,4
20,2
34,0
30,9
38,1
22,5
11,5
6,0
Deutschland
48,0
25,8
37,1
23,0
11,6
16,2
18,0
13,4
14,2
38,0
40,9
67,7
27,9
15,2
8,0
Österreich
28,0
27,0
26,2
24,0
20,0
23,0
15,0
14,3
16,0
32,0
46,9
40,5
21,0
9,5
6,1
Frankreich
30,0
25,6
33,9
23,0
20,1
22,1
17,0
16,4
9,7
34,0
29,5
36,7
21,7
12,9
7,1
Luxemburg
25,0
33,1
45,5
20,0
20,7
25,7
12,0
7,8
4,7
–
48,8
42,4
21,2
10,9
4,9
Dänemark
–
20,9
20,8
–
13,8
11,7
–
17,6
16,0
–
26,8
29,0
13,8
14,1
10,1
Finnland
7,0
20,3
21,9
7,0
11,1
15,2
10,0
18,7
18,9
19,0
35,6
43,4
19,0
15,9
4,7
Schweden
–
20,4
35,9
–
9,7
15,4
–
10,1
18,2
–
26,9
38,5
19,9
12,5
9,2
Niederlande
40,0
26,8
33,9
17,0
19,9
19,1
6,0
5,4
6,5
18,0
27,9
33,4
14,2
11,1
6,9
Griechenland
23,0
43,5
33,4
22,0
32,7
26,7
34,0
27,9
21,3
35,0
32,6
44,3
29,3
19,4
5,9
Spanien
29,0
37,3
38,9
31,0
36,0
41,6
13,0
29,3
20,8
37,0
34,8
40,6
28,8
17,3
10,4
6,3
Italien
28,0
35,4
37,3
31,0
34,5
37,2
16,0
22,6
16,6
48,0
44,2
43,9
23,9
13,2
Portugal
44,0
31,5
27,9
46,0
42,0
34,5
34,0
27,6
20,0
30,0
28,6
35,9
19,9
10,9
2,5
Zypern
41,0
35,2
24,8
16,0
14,1
16,1
–
50,3
41,2
–
37,1
39,7
19,7
10,8
5,6
Malta
–
36,1
47,2
–
26,1
32,2
–
23,4
18,1
–
44,3
43,3
17,5
7,6
3,2
Liberale
Wohlfahrtsstaaten
Irland
46,0
45,2
30,2
32,0
25,9
20,4
17,0
32,8
10,6
37,0
47,1
26,7
22,9
15,9
9,0
UK
55,0
37,9
36,4
36,0
28,0
27,4
30,0
24,8
21,4
52,0
53,9
47,7
26,4
15,5
7,9
2000
2005
2011
2000
2005
2011
2000
2005
2011
2000
2005
2011
0–2
3–4
5–6
liberal orientierte,
postsozialistische
Wohlfahrtsstaaten
Estland
37,0
39,8
34,2
23,0
25,1
25,4
16,0
20,3
33,9
50,0
60,0
52,1
31,2
20,8
7,9
Lettland
31,0
31,2
38,8
26,9
38,7
37,4
6,0
21,2
47,5
41,0
58,5
49,8
36,0
21,1
6,2
Litauen
20,0
48,4
42,4
25,0
44,4
33,1
14,0
17,0
25,2
36,0
62,8
53,1
42,8
22,1
9,0
Tschechien
26,0
41,0
35,6
18,0
24,7
23,9
6,0
5,3
6,6
30,0
51,1
46,4
22,0
8,5
3,1
Slowakei
–
31,8
25,0
–
24,2
29,8
–
7,1
7,7
–
39,2
41,2
26,8
10,8
4,6
Slowenien
21,0
22,0
30,8
10,0
16,6
18,2
21,0
20,3
20,9
42,0
25,1
44,6
21,3
11,5
3,5
Ungarn
28,0
27,1
29,9
27,0
26,0
33,0
8,0
6,5
4,5
32,0
49,7
46,7
32,0
10,9
3,0
Polen
26,0
40,1
29,8
30,0
44,8
34,6
8,0
7,3
14,7
38,0
45,6
43,7
33,4
17,8
4,7
Bulgarien
31,0
30,6
37,7
51,0
64,9
71,1
15,0
18,0
33,4
31,0
46,7
47,8
45,1
11,9
2,7
Rumänien
26,0
42,5
40,0
34,0
54,8
54,7
17,0
–
21,0
30,0
34,0
51,7
44,9
15,6
2,1
–
31,4
36,6
–
25,9
25,8
–
18,9
16,0
–
39,7
45,2
25,0
13,7
7,0
EU-27
© nach: Eurostat (2015); Angabe von Armutsquoten in %; *2006, +2009, die aktuellsten verfügbaren Angaben für EU-15, EU-27, Irland, Griechenland, Italien, Großbritannien, Zypern, Slowakei
stammen aus 2010, restliche Länder aus 2011.
(Quoten von circa 40 %). Das sind insofern hohe Werte, als sozialstaatliche Transfers bei den Angaben bereits berücksichtigt wurden. Wesentlich günstiger ist die Situation von Alleinstehenden
mit Kindern zum Beispiel in Finnland, Dänemark oder Österreich.
Deutschland liegt mit einer Armutsquote von 37 % knapp über
den EU-Durchschnitt. Ferner verweisen die Eurostat-Daten für
den Zeitraum zwischen 1995 und 2011 auf recht unterschiedliche
Trendentwicklungen. In Ländern wie Deutschland, Frankreich
oder auch den Niederlanden steigt das Armutsrisiko für Alleinerziehende seit dem Jahr 2000 wieder an, nachdem es zuvor deutlich gesunken war. In anderen westeuropäischen Ländern nimmt
die Armutsgefährdung der Alleinerziehenden hingegen kontinuierlich ab, Beispiele hierfür sind Großbritannien und Irland, Ländern die noch 1995 das mit höchste Armutsniveau aufwiesen. In
den osteuropäischen Staaten sehen wir eine andere Dynamik: die
Armutsgefährdung von Alleinerziehenden hat in den letzten zehn
Jahren substantiell zugenommen. Familien mit drei oder mehr
Kindern sind ebenfalls erhöhten Armutsrisiken ausgesetzt. Im
EU-27-Durchschnitt weist diese Bevölkerungsgruppe im Jahr 2011
eine Armutsgefährdungsquote nach Sozialtransfers von 26 % auf.
Besonders problematisch ist die Situation von kinderreichen Fa-
D&E
Heft 69 · 2015
milien in Ländern mit einem mediterranen und post-sozialistischen Wohlfahrtsstaat: In Portugal, Italien, Spanien, Litauen,
Lettland, Polen und Ungarn sind drei bis vier von zehn kinderreichen Familien von Armut bedroht. Geradezu dramatisch ist die
Lage dieser Familien in Bulgarien und Rumänien (71 % bzw. 55 %
Armutsquote). Vergleichsweise günstig ist die Situation in den
skandinavischen Wohlfahrtsstaaten und in Deutschland, wo zwischen 12 % und 16 % der kinderreichen Familien ein erhöhtes Armutsrisiko tragen. Dies entspricht im Prinzip dem Armutsrisiko
des Bevölkerungsdurchschnitts in diesen Ländern (vgl.
| Abb. 3 |, | Tabelle li |). Ein Blick auf zeitliche Trends zeigt ferner:
zwischen 1995 und 2011 nahmen die Armutsrisiken kinderreicher
Familien im europäischen Durchschnitt ab. Die Entwicklung innerhalb der Länder verläuft dabei nicht gleich. In Ländern wie
Deutschland, Österreich, Großbritannien oder Irland beobachten
wir in diesem Zeitraum eine Verringerung des Armutsrisikos von
kinderreichen Familien. Eine teilweise massenhafte Verarmung
von kinderreichen Familien findet in den letzten zehn Jahren in
Spanien, Bulgarien und Rumänien statt. Ältere Menschen gehören traditionell zu den besonders mit Armut konfrontierten Gruppen in modernen Gesellschaften (Geißler 2006). Die vorliegenden
Armut in Europa
33
Roland Verwiebe/ Nina-Sophie Fritsch
34
27 bei sieben Prozent in
Deutschland bei acht Prozent. Personen mit mittleren
Bildungsabschlüssen (ISCED
3–4) weisen demgegenüber
höhere Armutsrisiken auf. Sie
liegen jedoch in den meisten
EU-Staaten unter den jeweiligen nationalen Armutsrisikoquoten. Überdurchschnittlich hohe Armutsquoten sind
für Personen mit geringen
Qualifikationen beziehungsweise für Personen ohne formale Bildungsabschlüsse (ISCED 0–2) zu beobachten.
Dies zeigt sich in einigen liberalen und mediterranen
Wohlfahrtsstaaten sowie im
Baltikum, Bulgarien und Rumänien. Auch für Deutschland ist mit einer Quote von
28 Prozent ein relativ hohes
Armutsrisiko für gering Qualifizierte zu beobachten. In
den sozialdemokratischen
Wohlfahrtsstaaten ist die ArAbb. 7 Knapp ein Viertel der Bevölkerung in der Europäischen Union war im Jahr 2013 von Armut oder sozialer
mutsgefährdung von MenAusgrenzung bedroht. Das geht aus den Daten der Statistikbehörde Eurostat hervor. schen mit geringer Bildung
© Grafik: Sven Stein, Dr. Raimar Heber; dpa, Globus-Infografik
sehr viel schwächer ausgeZahlen machen allerdings deutlich, dass in den meisten westeuprägt: In Dänemark besitzt diese Bevölkerungsgruppe Armutsriropäischen Staaten die Armutsrisiken der über 65-jährigen in den
siken, die so hoch sind wie im Bevölkerungsdurchschnitt.
letzten Jahren gesunken sind. Deutschland ist beispielhaft in dieser Hinsicht: Das Armutsrisiko von Senioren lag im Jahr 2011 bei
Fazit
14 %, 1995 war noch knapp jeder Fünfte über 65-jährige von Armut
betroffen. Die Gründe für diesen Rückgang sind vielfältig. GeDer vorliegende Beitrag zeichnet insgesamt ein sehr facettenreinannt werden können u. a. die Einführung/Erhöhung von Minches Bild von Armut und Ausgrenzung in Deutschland und Eudesteinkommen, die Erhöhung von Renten sowie die Verlängeropa. Wie ließe sich nun eine Kontextualisierung der deutschen
rung der Lebensarbeitszeit/spätere Renteneintritte (European
Armutstrends vor dem Hintergrund der europäischen EntwickCommission 2007: 21). Sehr viel problematischer ist die Lage der
lung der letzten Jahre abschließend vornehmen? Die aktuell verälteren Menschen in einigen osteuropäischen Ländern. Vor allem
fügbaren Statistiken zeigen, dass die deutschen Armutsgefährin Bulgarien und im Baltikum ist die Altersarmut in den letzten
dungsquoten im europäischen Mittelfeld liegen. Im Vergleich zu
zehn Jahren drastisch gestiegen (Fuchs/Offe 2009; Zaidi et al.
anderen Ländern sorgt ein immer noch gut funktionierender
2006). Beispiele für eine gute Absicherung von Senioren gegen
Wohlfahrtsstaat für einen Ausgleich sozialer Schieflagen. Die
Altersarmut sind Ungarn, Tschechien und die Slowakei.
Trendanalysen belegen allerdings auch, dass die abfedernde WirArbeitslose haben das höchste Armutsrisiko aller betrachteten
kung der sozialstaatlichen Transferleistungen in den letzten Jahsozialen Gruppen. Im Durchschnitt der bisherigen Kernunion verren abnimmt und damit jene Bevölkerungsgruppe wieder größer
fügen vier bis fünf von zehn Arbeitslosen über ein Einkommen unwird, die mit ihrem Einkommen unter die Armutsgrenze fallen.
terhalb der Armutsgefährdungsschwelle. Besonders hoch ist das
Armut ist damit für einen nicht unwesentlichen Teil der deutschen
Armutsrisiko für Arbeitslose in Deutschland sowie in GroßbritanBevölkerung ein ernstzunehmendes Problem.
nien, den baltischen Staaten, Bulgarien und Rumänien. Als SpitAuf der Ebene der Binnenstrukturen kann folgendes Bild gezeichzenreiter in dieser Kategorie sind in Deutschland 68 % der Arnet werden: Die überdurchschnittliche Armutsgefährdung von
beitslosen stark armutsgefährdet, im Jahr 2010 lag dieser Wert
kinderreichen Familien und von Senioren – wie sie in vielen südsogar bei über 70 %, gegenüber dem Zeitraum der Mitte der
und osteuropäischen Staaten virulent ist – ist in Deutschland in
1990er Jahre (Quote von 38 %) ist dies eine deutliche Zunahme.
den letzten Jahren etwas zurückgegangen. Bei den spezifischen
Die Armutsrisiken sind in Deutschland aktuell für Arbeitslose
Armutsrisiken unterschiedlicher Bildungsschichten liegt
mehr als viermal so hoch wie für den Durchschnitt der BevölkeDeutschland ebenfalls im Bereich des europäischen Durchrung. Was sich hier an sozialen Risiken zeigt, ist ein Ergebnis der
schnitts. Bei den Alleinerziehenden ist zunächst zwischen 1995
wohlfahrtsstaatlichen De-Regulierungen der letzten Jahre (Stichund 2005 eine positive Entwicklung zu beobachten, die sich allerwort Hartz-Reformen). Dänemark und die Niederlanden sind wiedings in den letzten fünf bis sechs Jahren wieder in sein Gegenteil
derum Beispiele für eine im europäischen Maßstab vergleichsverkehrt hat. Eklatant ist die sich deutlich verschlechternde Situweise niedrige Armutsgefährdung von Arbeitslosen. In Hinblick
ation der Arbeitslosen in der Bundesrepublik. Es gibt nicht annäauf die Armutsrisiken unterschiedlicher Bildungsschichten bestähernd ein anderes europäisches Land, in dem die Situation der
tigen die Zahlen in (| Abb. 6 |, | Tabelle 2 |) etablierte Befunde aus
Erwerbslosen so schlecht ist wie in Deutschland. In diesem Zuder Sozialstrukturforschung, nach denen es einen engen Zusamsammenhang sind Politik und Öffentlichkeit gut beraten, sich
menhang zwischen Bildungskapital und sozialer Lage gibt (Alldiesem Problem wieder mehr zu stellen und Auswirkungen der
mendinger 1999; Geißler 2006). Konkret zeigt sich, dass Europäer
Arbeitsmarktreformen der letzten Dekade ein Stück weit stärker
mit tertiären Bildungsabschlüssen (ISCED 5–6) sehr geringe Arin den Blick zu nehmen. Es drohen sonst weitergehende soziale
mutsrisiken haben. Sie lagen im Jahr 2011 im Durchschnitt der EU-
Armut in Europa
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Verwerfungen, spätestens dann, wenn die
derzeit sehr geringe Arbeitslosigkeit bei konjunktureller Abkühlung wieder auf ein Niveau
steigt, wie es für eine lange Phase um die
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Abb. 8 Rund 6,7 Millionen Menschen leben nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit von Hartz IV,
mehr als 1,7 Millionen von ihnen sind Kinder. Seit 2005 hat sich an dieser Zahl kaum etwas geändert. Nur
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Armut in Europa
BRICHT EUROPA AUSEINANDER? REICHTUM UND ARMUT IN EUROPA
5. R
oma und Sinti: Europas größte Minderheit zwischen Ausgrenzung und
Selbstorganisation
UWE WENZEL
M
36
it dem Schlagwort der »Armutszuwanderung« und
der populistischen Parole »Wer betrügt, der fliegt« reagierte die CSU im Wahljahr 2014 auf die wachsende Zuwanderung aus Südosteuropa. Die seit dem 1. Januar 2014 geltende Freizügigkeitsregelung auch für Rumänen und Bulgaren
beschere der Bundesrepublik – so der Tenor – eine massive
Zuwanderung in die Sozialsysteme inklusive deutlicher Wohlstandsverluste. Damit trieben Politik wie zahlreiche Medien
eine Diskussion um den Zuzug von »Armutsmigranten« in
städtische Ballungszentren auf die Spitze, die der Deutsche
Städtetag bereits im Frühjahr 2013 begonnen hatte. Wenn
auch unterschwellig, so knüpften CSU, Städtetag und viele
Medien in ihrer Darstellung der Zuwanderer dabei auch an die
tradierten Klischees und Negativbilder über Roma und Sinti
an. Bilder von heruntergekommenen Romasiedlungen in
Skopje oder Bukarest bestimmten die Berichterstattung
ebenso wie die Müllberge vor dem »Roma-Haus« in DuisburgRheinhausen oder dem Mannheimer Jungbusch. Dabei hat
diese Art der öffentlichen Debatte eine lange Tradition: Bereits 1990 dokumentierte Der Spiegel die negativen Reaktionen der Mehrheitsgesellschaft und die Probleme im kommunalen Raum rund um die »Asyl- und Armutszuwanderung« der
südosteuropäischen »Zigeuner«.
Klischees und Fakten über Roma und Sinti in
Deutschland
Dass solche Darstellungen zu keinem Zeitpunkt die Realität der
Zuwanderung wiedergaben, hatte das Institut für Arbeitsmarktund Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit (IAB) bereits
frühzeitig deutlich gemacht. Die Experten des IAB konstatierten
eine im Rahmen der EU-Freizügigkeit steigende Nettozuwanderung aus Bulgarien und Rumänien auf gut 180.000 Personen,
zeichneten aber gleichzeitig ein sehr differenziertes Bild. Trotz
teilweise geringer beruflicher Qualifikationen sei die Quote der
Leistungsbezieher unterdurchschnittlich. Unter den rumänischen
und bulgarischen Beziehern von Arbeitslosengeld-II (Hartz IV)
befänden sich überdies überwiegend sogenannte »Aufstocker«,
deren Arbeitseinkommen die Lebenshaltungskosten nicht decke.
Aufgrund der Datenlage könne der Anteil der Roma und Sinti unter den Zuwanderern nicht präzisiert werden, entspreche aber
vermutlich dem Bevölkerungsanteil in den Heimatländern und
falle damit nur in wenigen großstädtischen Regionen ins Gewicht
(Brücker, Hauptmann, Vallizadeh 2013).
Die Debatte des Jahres 2014 wirft ein Schlaglicht auf die Wirkmächtigkeit von Negativvorstellungen über Europas größte Minderheit und blieb keineswegs auf Deutschland beschränkt. Ähnlich gelagerte Diskurse konnten wir zum selben Zeitpunkt
beispielsweise auch in Großbritannien oder Frankreich beobachten. Hier zeigt sich eine verbreitete Ablehnung gegenüber Angehörigen der Minderheit, die zuletzt in mehreren repräsentativen
Studien bestätigt worden ist. So belegen die Ergebnisse der bisher umfangreisten Erhebung zur Haltung der bundesdeutschen
Roma und Sinti
Abb. 1 »Asyl in Deutschland? Die Zigeuner« © www.spiegel.de/spiegel/print/index-1990–36.html
Gesellschaft gegenüber Roma und Sinti, die im Jahr 2013 im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle des Bundes durchgeführt
wurde, die Aktualität altbekannter Feindbilder und ein hohes Maß
individueller Ablehnung gegenüber Angehörigen der Minderheit
(Antidiskriminierungsstelle 2014). In vergleichbarer Weise offenbaren die Ergebnisse der aktuellen Rechtsextremismus-Studie (»Die
stabilisierte Mitte«) der Universität Leipzig einen wachsenden Antiziganismus im Zeitraum zwischen 2011 und 2014 bei gleichzeitiger
Abnahme der Zahl an manifest rechtsextrem eingestellten Personen. Dabei gaben 56 % der Befragten an, Roma und Sinti neigten
zur Kriminalität und bestätigten damit eines der nachhaltigsten
Zerrbilder über die sogenannten »Zigeuner« (Decker, Kiess, Brähler
2014, 49f.). Vergleichbar umfangreiche Studien für andere europäische Länder liegen nicht vor. Allerdings konnte eine Umfrage der
Europäischen Kommission aus dem Jahr 2012 zeigen, dass es 34 %
aller Europäer und Europäerinnen unangenehm wäre, wenn ihre
Kinder im schulischen Kontext Umgang mit Roma hätten. Dabei
schwankt die Ablehnung der schulischen Integration zwischen relativ bescheidenen Werten in Nordeuropa oder in Spanien und
deutlichen Mehrheiten in der Tschechischen Republik oder in der
Slowakei (European Commission 2012).
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© Der Spiegel, http://cdn3.spiegel.de/images/image-126052-galleryV9-etlq.jpg
Abb. 2 »Roma in Europa« Die Konstruktion von Fremdheitsvorstellungen
Stereotype und pauschalisierende Vorstellungen der Mehrheitsbevölkerung gegenüber Roma und Sinti haben selten etwas mit der
Lebensrealität der Minderheitsangehörigen zu tun. Dies zeigt sich
bereits in der Vielzahl der verwendeten Eigenbezeichnungen. Die
unter dem Oberbegriff »Roma« zusammengefassten Bevölkerungsgruppen umfassen die im deutschen Sprachraum ansässigen »Sinti«,
die spanischen »Calé«, die französischen »Manouches« oder die
Rumänischen beheimateten »Kalderasch«, insgesamt eine Gruppe
von 9 bis 12 Millionen Menschen. Die Vielzahl der verwendeten Bezeichnungen spiegelt dabei die Heterogenität der einzelnen Gruppen in Hinsicht auf ihre Kultur, Religion oder Lebensweise wieder.
Gemeinsam ist den Angehörigen der Minderheit zumeist allein die
Sprache und eine Geschichte der Verfolgung und Ausgrenzung bis
hin zur systematischen Erfassung und Ermordung im nationalsozialistischen Deutschland, der ca. 500.000 Roma und Sinti zum Opfer
fielen. Der in weiten Teilen der europäischen Mehrheitsbevölkerungen benutzte Begriff »Zigeuner« wird von der Minderheit mehrheitlich als Fremdbezeichnung und gesellschaftliches Konstrukt abgelehnt, das die negativen Bilder über die Minderheit vermittelt.
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Tradierte Fremdheitsvorstellungen wie das Stereotyp vom umherreisenden Nomaden bestimmen auch heute noch die gesellschaftliche Wahrnehmung von Roma und Sinti. Dabei ist die überwiegende Mehrheit der deutschen Sinti schon in der ersten Hälfte
des 20. Jahrhunderts sesshaft geworden, für Osteuropa gilt dies
spätestens seit den 1960er Jahren. Die Prägekraft solcher Fehlwahrnehmungen lässt sich zum einen auf ihre jahrhundertelange
Tradition zurückführen, wie dies vor kurzem Klaus-Michael Bogdal in einer umfangreichen Untersuchung zur Darstellung der
Minderheit in Literatur und Kunst gezeigt hat. Mit der »Erfindung
der Zigeuner« – so Bogdal – erschufen die sich modernisierenden
Gesellschaften einen antimodernen Gegenpart und eine Projektionsfläche für eigene Ängste und Unsicherheiten (Bogdal 2011).
Markus End hat auf der Grundlage seiner umfangreichen Analysen zur Genese von stereotypen Zuschreibungen darauf hingewiesen, dass selbst positive Bilder wie das des fähigen Musikers
antiziganistisch wirken können, indem sie ein undifferenziertes,
verklärtes und pauschales Bild der Minderheit reproduzieren, das
mit den individuellen Fähigkeiten einer Person nichts zu tun haben muss (vgl. dazu End 2011: 15 ff).
Roma und Sinti
Uwe Wenzel
38
Einen wesentlichen Beitrag bei der Verfestigung und Fortschreibung von Klischees und
Fremdbildern spielt die mediale Berichterstattung. In bemerkenswertem Gleichklang
verbreiten Print- wie Bildmedien auch im
Kontext der aktuellen Zuwanderung aus Südosteuropa kulturrassistische Vorstellungen
über Roma und Sinti. Beispielhaft sei auf die
Schweizer Zeitschrift »Die Weltwoche« verwiesen, die im April 2012 unter dem Titel »Die
Roma kommen: Raubzüge in die Schweiz« das
Foto eines mit einer Spielzeugpistole »bewaffneten« Romajungen veröffentlichte. Gezielt wird damit ein Bedrohungsszenario entworfen, das mit dem Klischee des Diebes und
Gauners spielt. Aber auch jenseits der Sensationspresse werden Differenz und Fremdheit
fortgeschrieben. So konstatiert beispielsweise der Literaturwissenschaftler und Kolumnist Hans Ulrich Gumbrecht in einem Essay in der Online-Ausgabe der Frankfurter
Allgemeinen Zeitung eine grundlegende Differenz zwischen »den Existenz- und Identitätsformen der Roma« und den »globalen
westlichen Kulturen« (Gumbrecht 2013). Problematisch sind solche vermeintlich kulturell
Abb. 3 »Schätzungen zur Roma-Bevölkerung« gefestigten Gegenüberstellungen insbeson
© nach Zahlen von OSI, Unicef, Weltbank, www.berlin-institut.org/newsletter/
dere auch deshalb, da sie ein gesellschaftliNewsletter_106_26_Oktober_2010.html.html
ches Miteinander unmöglich erscheinen lasheit leben unbemerkt mit und unter uns, in der gesellschaftlichen
sen und die Angehörigen der Minderheit
Wahrnehmung spielen sie aber kaum eine Rolle. Im Mittelpunkt
letztlich selbst für ihre gesellschaftliche Randstellung verantwortstehen dagegen die Bettler oder Straßenmusiker in unseren Fußlich machen.
gängerzonen, also diejenigen, deren Leben durch mannigfaltige
In besonderer Weise tragen heute die neuen Medien zur VerbreiFormen gesellschaftlicher Ausgrenzung und Armut gekennzeichtung von negativen Klischees und Hassparolen gegenüber Roma
net ist. Erst nach der politischen Wende in Mittel- und Osteuropa
und Sinti bei. Auf den etablierten »Hass-Seiten« wie »Politically
und der EU-Osterweiterung 2004/2007 gerieten die Millionen
Incorrect« finden sich zahlreiche Belege für diffamierende Artikel
Roma und Sinti in den Blick der europäischen Öffentlichkeit. Wie
über die Minderheit (z. B. über den Besuch des Bundespräsidenkeine andere Minderheit in Europa sind viele von ihnen dort von
ten bei einer Selbstorganisation der Roma und Sinti in Mannheim
absoluter Armut, Arbeitslosigkeit und Analphabetismus betrofunter dem Titel »Zigeuneronkel Gauck in Mannheim«). In den anfen. In den Zeiten der planwirtschaftlichen Organisation des Arschließenden Kommentarseiten rufen Rechtsextremisten explizit
beitslebens vor dem Jahr 1989 waren Roma nicht selten zwangszur Gewalt gegenüber Angehörigen der Minderheit auf. Das Interweise in Bildungssystem und Arbeitsmarkt integriert. Nach dem
net dient zudem vermehrt zur Verbreitung von rassistischem ProEnde der kommunistischen Regime führten ihr geringer Bildungspagandamaterial wie dem Songmaterial der verbotenen Rechtsstand und der zunehmende Rassismus dazu, dass sie als erste
rockband »Landser«. Deren Song »Zigeunerpack« agitiert in
ihre Arbeitsplätze in Industrie und Landwirtschaft verloren (Koch
maßloser Weise gegen Roma und Sinti und ist – obwohl indiziert
2010: 270ff.).
– über Internetserver in Russland und der Tschechischen RepubDie Ursachen gesellschaftlicher Randstellung sind dabei viellik im Netz jederzeit zugänglich.
schichtig: Oftmals verstärken die skizzierten Zerrbilder über die
Zeigt sich die Ablehnung von Roma und Sinti auf den »Hass-SeiMinderheit und Diskriminierungen sich wechselseitig und sind für
ten« offen und direkt, so agitieren Rechtsextremisten auf den mildie soziale Ausgrenzung verantwortlich. Ausgrenzende Praktiken
lionenfach gebrauchten sozialen Plattformen wie Facebook weitkönnen sich aber ebenso auch unabhängig von individuellen Voraus subtiler. Nicht selten erreichen sie eine breite Öffentlichkeit
urteilsstrukturen in Form von organisatorischen Routinen instituin den speziellen Diskursforen unter dem Deckmantel legitimen
tionell verfestigen (Hormel 2007: 60, 113ff.). Albert Scherr plädiert
Bürgerprotests. Beispielhaft ist die Facebookseite »In Den
zudem dafür, die Ursachen von Ausgrenzungsprozessen nicht losPeschen 3–5«, auf der sich Besorgnisse über soziale Problemlagen
gelöst von den politischen, rechtlichen und sozioökonomischen
rund um einen Schwerpunkt der Roma-Zuwanderung in Duisburg
Grundstrukturen einer Gesellschaft zu analysieren (Scherr: 36). Aus
mit rassistischen Kommentaren vermischen. Nach Hinweisen von
dieser Perspektive müssen die ungleichen Zugangschancen von
antirassistischen Initiativen wie jugendschutz.net entfernen die
Roma und Sinti zu den gesellschaftlichen Statuspositionen immer
Seitenbetreiber zwar oftmals diskriminierende Videos oder Artiauch als Ergebnis ihrer sozialen Lage verstanden werden.
kel auf solchen Seiten, die rassistischen Kommentare bleiben
Ein prägnantes Beispiel für die institutionelle Diskriminierung
aber in der Regel online.
von Roma und Sinti stellt deren systematische Einweisung in Sonderschulen für Lernschwache durch die zuständigen SchulbehörIndividuelle und institutionelle Formen der
den dar. Die »Europäische Agentur für Grundrechte« (FRA) dokuAusgrenzung: Lebensbedingungen von Roma
mentierte die überproportional hohen Quoten von Roma-Kindern
und Sinti in Deutschland und Europa
an Sonderschulen jüngst in einer Studie zu 11 Mitgliedstaaten der
EU und führte dies wesentlich auf solche Formen organisatoriDie Vitalität von Stereotypen kann Diskriminierungen befördern,
scher Routinen zurück, die auf negativen kulturbezogenen Zubehindert aber häufig auch einen objektiven Blick auf die Lebensschreibungen beruhen. (EU Agency 2014, Koch 2010: 272). Grundrealitäten von Roma und Sinti. Zahlreiche Angehörige der Minderlage solcher Routinen sind negative kulturelle Zuschreibungen
Roma und Sinti
D&E
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wie die angeblich mangelhaften Bildungsanstrengungen, die pauschal auf alle RomaSchülerinnen und -Schüler angewandt werden. So werden z. B. in der Tschechischen
Republik 23 % und in der Slowakei 58 % aller
Roma-Schüler in solchen Sonderschulen unterrichtet. Auch in Deutschland haben laut
einer jüngeren Erhebung zur Bildungssituation der deutschen Sinti mehr als 10 % der
Minderheitenangehörigen eine Förderschule
besucht, womit die Quote mehr als doppelt
so hoch liegt wie im Rest der Bevölkerung
(Strauß 2011: 53). Anzunehmen ist, dass zumindest in der Vergangenheit institutionelle
Formen der Diskriminierung den Bildungserfolg von Sinti behindert haben (Brüggemann,
Hornberg, Jonusz: 102). Charakteristisch für die
Schulsysteme zahlreicher Staaten Ost- und
Südosteuropas ist zudem die Segregation
der Roma-Schüler in homogenen Klassen
Abb. 4 Spielende Kinder im Roma-Viertel Fakulteta in Sofia (Bulgarien) neben einer Müllhalde. oder Schulen, in denen die Kinder nicht sel
© Britta Pedersen, 10.4.2013, dpa. picture alliance
ten nach einem eigenen Lehrplan und von
gering qualifizierten Lehrkräften unterrichzunehmend gewaltbereiten Rechtsextremismus bedroht.
tet werden.
Europaweite Aufmerksamkeit fand in den Jahren 2008 und 2009
Die statistisch erfassbare Ungleichheit von Roma und Sinti, die zu
eine Mordserie, bei der ungarische Rechtsterroristen sechs Angeeinem guten Teil auch Resultat solcher Ausgrenzungsprozesse ist,
hörige der Roma-Minderheit töteten und weitere 55 zum Teil
zeigt sich in ganz Europa anhand ihrer geringen Bildungserfolge.
schwer verletzten. Die juristische Aufarbeitung dieser AnschlagsVerschiedene Untersuchungen der Weltbank, dem Open Society
serie wird bis heute durch die Unwilligkeit der politisch VerantInstitute oder von UNICEF zeigen auf, dass in den bevölkerungswortlichen behindert. Amnesty International stellte im April 2014
starken EU-Mitgliedstaaten Rumänien und Bulgarien nicht eineinen Bericht zur rassistischen Gewalt und den Anti-Roma-Promal ein Fünftel bzw. ein Drittel der Roma und Sinti eine Primärbiltesten in Frankreich, der Tschechischen Republik und in Griedung abschließen. Noch dramatischer stellt sich die Situation mit
chenland vor. Gemeinsam ist allen drei untersuchten Ländern die
Blick auf qualifizierende Abschlüsse dar, die eine angemessene
Normalität der Gewalt, die in wachsendem Maße gegen AngehöBeschäftigung ermöglichen: Nach Umfragen der Europäischen
rige der Minderheit ausgeübt wird. Polizei und StrafverfolgungsGrundrechteagentur in 11 Mitgliedsstaaten der EU erreichen nur
behörden fallen dabei sehr häufig durch Untätigkeit auf oder wer15 % der jungen Erwachsenen unter den Roma und Sinti einen
den selbst zu Tätern (Amnesty International 2014).
Schulabschluss der Sekundarstufe II oder schließen eine Berufsausbildung ab. In Rumänien, Spanien oder Frankreich erreicht
nicht einmal jeder zehnte Angehörige der Minderheit einen solDie Politik der europäischen Institutionen
chen berufsqualifizierenden Abschluss (EU Agency 2013: 16). Die
gegenüber Roma und Sinti
Geringqualifizierung trägt erheblich zur hohen Arbeitslosigkeit
unter Roma und Sinti bei (zwischen 20 % in Frankreich und 53 % in
Die Europäische Union sowie der Europarat und zahlreiche weiBulgarien). Nicht einmal jeder dritte der befragten Roma und
tere internationale Organisationen haben in den vergangenen
Sinti gab an, einer bezahlten Beschäftigung nachzugehen. BeJahrzehnten ein umfassendes, aber wenig koordiniertes System
sorgniserregend ist dabei insbesondere, dass sich die Perspektivon Schutzrechten und Fördermaßnahmen zugunsten von Euroven für junge Roma und Sinti im Alter zwischen 15 und 24 Jahren
pas größter Minderheitengruppe etabliert. Minderheitenschutz
zunehmend verschlechtern. Zwischen 58 % in Ungarn und 77 % in
für Roma und Sinti bewegt sich dabei bisher in einem Spannungsder Tschechischen Republik haben bisher noch keine Erfahrungen
feld zwischen hochgesteckten Ansprüchen und sehr bescheideam Arbeitsmarkt sammeln können. Darüber hinaus machen die
nen Resultaten.
Berichte der befragten Roma und Sinti über ihre DiskriminieNach dem Ende der politischen Teilung in Europa initiierte
rungserfahrungen bei der Arbeitssuche deutlich, dass diskrimi­zunächst der Europarat mit der »Europäischen Charta für Reginierende Einstellungen und Praktiken in der Mehrheitsbevölkeonal- oder Minderheitensprachen« (1992) und dem »Rah­men­
rung die Arbeitsaufnahme in hohem Maße behindern (ebd.: 17ff.).
über­ein­kommen zum Schutz nationaler Minderheiten« (1995)
Arbeitslosigkeit und Geringqualifizierung haben erheblich dazu
grundlegende internationale Abkommen. Roma und Sinti sind in
beigetragen, dass Roma und Sinti weit stärker als die jeweiligen
der Folge in nahezu allen Mitgliedstaaten als nationale MinderMehrheitsgesellschaften von Armut und schlechter Gesundheitsheit anerkannt worden, woraus sich konkrete Ansprüche auf beversorgung betroffen sind. So leben in den von der FRA untersonderen Schutz und Förderung ihrer Sprache und Kultur ableisuchten Staaten mehr als 90 % der Minderheitsangehörigen in
ten. Der Europarat richtete in der Folge eine Reihe von
Haushalten, deren Äquivalenzeinkommen unterhalb der ArmutsExpertenkommissionen ein, die sich mit der Beobachtung der
grenze des jeweiligen Landes liegt. In Bulgarien, Rumänien und
Lage der Roma und Sinti befassen. Darüber hinaus ist der vom
der Slowakei lebt eine Mehrheit der Roma und Sinti in separierten
Europarat im Jahr 1998 geschaffene Europäische Gerichtshof für
Wohnsiedlungen am Rande größerer Städte oder in isolierten
Menschenrechte in kurzer Zeit zu einer bedeutenden Anlaufdörflichen Gemeinschaften ohne Zugang zu einer grundlegenden
stelle für individuelle Klagen gegen Diskriminierungen geworInfrastruktur (z. B. Strom oder Bad).
den und entscheidet heute oft auch zugunsten der Rechte von
Die oft katastrophalen Lebensbedingungen und die wohnräumliRoma und Sinti, die den nationalen Klageweg erfolglos ausgeche Segregation tragen dazu bei, die negative Wahrnehmung der
schöpft haben. Die Probleme der genannten RahmenvereinbaMinderheit in ihren jeweiligen Heimatländern weiter zu verstärrungen offenbaren sich allerdings regelmäßig in der konkreten
ken. Roma und Sinti sehen sich darüber hinaus nicht allein in den
Umsetzung auf nationaler Ebene oder, wie im Fall Deutschlands,
postkommunistischen Gesellschaften durch einen offenen und
D&E
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Roma und Sinti
39
Uwe Wenzel
nander und nicht integriert
wirken und strukturelle Ungleichheiten kaum in Frage
stellen (vgl. dazu kritisch Heuss
2011: 25f.).
Selbstorganisationen
von Roma und Sinti
40
Roma und Sinti verfügen
trotz vielfacher Ansätze weder auf nationalstaatlicher
noch auf internationaler
Ebene über eine einheitliche
politische Vertretung. Unterhalb dieser Ebenen allerdings
formieren sich aktuell eine
Vielzahl innovativer Selbstorganisationen insbesondere
von jungen Roma und Sinti.
Die Erfahrungen mit Ausgrenzung und Paternalismus
durch Organisationen der
Mehrheitsgesellschaft haben
im westlichen Nachkriegs­
Abb. 5 »Gemeinsam Antiziganismus bekämpfen!« Am 25.10.2013 protestierte eine Roma-Gruppe gegen die Politik der
europa und später dann auch
Bundesregierung vor dem Mahnmal für Sinti und Roma in Berlin Die Demonstration stand unter dem Motto »Schluss mit der
in den postkommunistischen
rassistischen Hetze gegen Menschen aus Rumänien, Bulgarien und Asylsuchende!«. Gesellschaften die Bildung
© Florian Schuh, 25.10.2013, dpa. picture alliance
von Eigenorganisationen der
Roma und Sinti befördert.
in der unterschiedlichen Ausgestaltung der Maßnahmen auf der
Die Vielfalt unterschiedlicher Kulturen und Interessen spiegelt
Ebene der Bundesländer.
sich dabei auch in der Vielfalt der Selbstorganisationen, die sich
Die verstärkte Kooperation der EU-Mitgliedsstaaten beim Minnicht selten in Konkurrenz zueinander entwickelt haben. Auf euderheitenschutz zeigte sich erstmals bei der Vereinbarung der
ropäischer Ebene haben bereits anfangs der 1970er Jahre Roma
Union zur Aufnahme neuer Mitgliedstaaten (Kopenhagener Kriteund Sinti aus ganz Europa im Rahmen der »Internationalen Rorien, 1990). Gemäß diesen Vorgaben haben die ost- und südosteumani Union« erste Aufmerksamkeit für die Belange der Minderropäischen Beitrittsstaaten ein umfangreiches System des Minheit geschaffen, beispielsweise durch ihr Engagement für die Einderheitenschutzes geschaffen, das formal oftmals ein höheres
führung eines internationalen Roma-Tages (8. April) und einer
Schutzniveau festlegt als in vielen »alten« Mitgliedstaaten. In der
eigenen Flagge. Mit dem »European Roma and Traveller Forum«
juristischen wie auch in der gesellschaftlichen Praxis wird dies
beim Europarat oder dem »European Roma Information Office«
aber nur sehr unzureichend realisiert und umgesetzt. Beispielhaft
bei der EU existieren heute erste professionalisierte Interessenzeigt sich dies in der Anwendung der Antidiskriminierungsrichtlivertretungen, die allerdings über begrenzte finanzielle Mittel vernie 2000/43/EG der Europäischen Union, mit deren Hilfe Minderfügen und nur unzureichend in der Minderheit verankert sind.
heitenangehörige vor Diskriminierungen am Arbeitsmarkt, im
Erfolgreicher gestaltet sich heute oft der juristische Kampf für die
Bildungsbereich oder bei der Wohnungsvergabe geschützt werDurchsetzung von Antidiskriminierungsgesetzen. So gelang dem
den sollen. Dagegen geben befragte Roma und Sinti in Umfragen
»European Roma Rights Centre« bereits 2007 vor dem Europäiauch heute noch an, aufgrund ihres ethnischen Hintergrunds disschen Menschenrechtsgerichtshof ein Erfolg bei der Desegregakriminiert worden zu sein (EU Agency 2013: 26). Amnesty Internatition des Schulwesens in der Tschechischen Republik. In ihrem
onal beklagt in diesem Zusammenhang die mangelhafte Bereitwegweisenden Urteil erklärten die Obersten Richter die Einweischaft der Europäischen Kommission, die Nichtbeachtung der
sung von Roma-Kindern in Sonderschulen für Lernbehinderte für
Richtlinie auch gegen Widerstand der Mitgliedstaaten durchzuungesetzlich.
setzen (Amnesty International 2014: 29).
In Deutschland hat sich aus dem Engagement der Sinti-BürgerJenseits einiger gesetzlicher Vorgaben stellt die EU ihren Mitrechtsbewegung in den 1970er Jahren 1982 der »Zentralrat Deutgliedstaaten im Rahmen ihrer gängigen Programmlinien wie dem
scher Sinti und Roma« als Interessenvertretungen der deutschen
Europäischen Sozialfonds finanzielle Mittel für die Integration
Sinti formiert. Schwerpunkt der Arbeit war zunächst die Anerkenvon Minderheiten zur Verfügung. Zudem hat die EU in einer Vielnung der Sinti als Opfer des NS-Völkermordes durch die Bundeszahl ambitionierte Resolutionen und auf verschiedenen »Romaregierung und die damit verbundene Entschädigungsarbeit zuGipfeln« rein deklamatorische Politik betrieben, die neben einer
gunsten der Betroffenen. Die Zuwanderung durch Roma aus den
notwendigen öffentlichen Aufmerksamkeit für die Belange der
Bürgerkriegsregionen Jugoslawiens, aus Rumänien oder BulgaMinderheit wenig konkrete Resultate produziert hat. Erfolgverrien zu Beginn der 1990er Jahre hat zur Formierung eigener Selbsprechender können internationale Initiativen wie die 2005 auf
storganisationen der Roma mit Migrationshintergrund geführt.
Anregung der Soros-Stiftung unter Beteiligung von 12 EU-Staaten
Eine weitere Pluralisierung des Spektrums ist mit der Gründung
lancierte »Dekade der Roma-Integration« agieren, die sich auf
eigenständiger Jugendorganisationen von Roma und Sinti in der
Maßnahmen in den Schlüsselbereichen Bildung, Wohnen, Gevergangenen Dekade eingetreten. Ausgehend von lokalen und
sundheit, und Beschäftigung konzentriert. Die finanzielle Unterregionalen Initiativen engagieren sich Angehörige der Minderheit
stützung durch die EU und andere internationale Organisationen
oft gemeinsam mit Nicht-Roma in Integrations- oder Kulturprohat zahlreiche erfolgreiche Projekte zur sozialen Inklusion von
jekten sowie beim Abbau von Vorurteilen und SelbststigmatisieRoma und Sinti auf den Weg gebracht, die allerdings oft nebeneirungen. Erklärtes Ziel der engagierten Jugendlichen ist die Stär-
Roma und Sinti
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kung der Eigeninitiative und damit die
Verbesserung der individuellen und kollektiven Teilhabechancen (Brüggemann, Hornberg,
Jonusz: 111ff.).
Die Förderung und Einbindung von Selbstorganisationen ist eine wesentliche Voraussetzung für die Gleichstellung von Roma und
Sinti in Europa. Kurz- und mittelfristig geht
es dabei zunächst um die Verbesserung der
teils katastrophalen Lebensbedingungen.
Die jahrelange Projektpraxis macht deutlich,
dass dazu integrierte sozialräumliche Strategien notwendig sind, die die vielfältigen
Problemlagen berücksichtigen und wohl zunächst im kommunalen Kontext entwickelt
werden sollten. Unabdingbar bleibt daneben
eine Antidiskriminierungspolitik, bei der bestehende rechtliche Instrumente von den
Verantwortlichen in Politik, Verwaltung oder
Justiz konsequent angewandt werden. Der
Abbau der jahrhundertealten Klischeebilder
der Minderheit kann nur eine langfristige,
aber absolut notwendige Aufgabe vor allem
der schulischen und der außerschulischen
Bildungsarbeit sein.
Abb. 6 Sinti und Roma demonstrierten am 13.09.2014 auf dem Schlossplatz in Stuttgart mit
Transparenten. Die Bundesregierung erklärte zuvor Serbien, Mazedonien und Bosnien-Herzegowina als
»sichere Herkunftsstaaten«. Antragsteller von dort können nunmehr schneller abgewiesen werden. © Bernd Weißbrot, dpa. picture alliance
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Roma und Sinti
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Uwe Wenzel
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MATERIALIEN
M 1 Focus Online: »Die Armut kommt«,
4.3.2013
Placuta Moise ist aufgebracht. Sie gestikuliert wild, redet ohne Punkt und Komma. Soeben haben die Geldeintreiber ihre Wohnung
verlassen. Von Hausbesitzer Boris B., einer
berüchtigten Rotlichtgröße, hatten die Männer eine klare Forderung mitgebracht: Ab sofort seien mehr als die 400 Euro Miete fällig
– und zwar bar. Andernfalls müsse die zwölfköpfige Familie raus. Einen Mietvertrag hat
Placuta Moise nicht. Deutsch versteht sie
nicht. Sie ist eine Roma. Seit wenigen Monaten lebt sie in einem Block im Duisburger
Stadtteil Bergheim. 30 Familien, meist Roma
aus Rumänien, wohnen dort. Im Treppenhaus
stinkt es nach Fäkalien. Vor dem Großbau
spielen halbnackte Kinder im Dreck – Tristesse pur im Pott.
Ein Flüchtlingstreck hat sich gen Westen aufM 2 Roma-Siedlung in der slowakischen Stadt Presov, aufgenommen im September 2010. Hier blockiert
gemacht. Seit die Europäische Union (EU) bis
eine Mauer eine schon zuvor unerlaubte Abkürzung von einer Roma-Siedlung durch ein Viertel von
ans Schwarze Meer reicht, sind Millionen
Einfamilienhäusern ins Stadtzentrum. «Schutz vor Kleinkriminalität» oder «Rassismus»?: Die zwei
Roma EU-Bürger. Sie haben das Recht, sich
Meter hohe und knapp acht Meter lange Mauer entzweit nicht nur die slowakische Stadt Presov,
überall innerhalb der Union niederzulassen.
sondern in der Folge die Medien in ganz Europa. © Christoph Thanei, 24.9.2010, dpa. picture alliance
Die Mär vom goldenen Westen lockt Menschen wie Placuta Moise zu Zehntausenden
aus den Elendsvierteln Bulgariens oder Rumäniens nach Berlin, Frankfurt, Mannheim oder eben in die
Prozent hatten keinen Beruf gelernt. Auf dem deutschen ArbeitsStädte an Rhein und Ruhr. 184 Euro Kindergeld zahlt der deutsche
markt bleiben Menschen wie Daniela Baba chancenlos.
Staat für jeden Sprössling der kinderreichen Neuankömmlinge –
© Focus online, 04.03.2013, Axel Spilcker u.a, www.focus.de/politik/deutschland/tidfür Migranten wie Placuta Moise ist das ein kleines Vermögen. In
30010/report-die-armut-kommt_aid_931446.html
Rumänien liegt der Monatssatz bei knapp acht Euro. Nach FOCUS-Recherchen bezogen im Januar 2013 insgesamt 12 326 Bulgaren und 15 808 Rumänen in Deutschland Kindergeld. Bei den bulM 3 Die Tageszeitung (TAZ): »Roma, aber glücklich«,
garischen Staatsangehörigen kletterte die Rate im Vergleich zu
4.3.2013
2010 um 138 Prozent. Laut der Bundesagentur für Arbeit stieg die
Zahl rumänischer Empfänger zwischen April 2012 und Januar 2013
Als ich neulich Roma-Dörfer in der Ostslowakei besuchen wollte,
von 11 736 auf 15 808 Personen. (…) Eine Arbeitserlaubnis in
war mir schon vor Beginn der Reise fast klar, dass es unmöglich
Deutschland besitzen die Zuwanderer nicht. Oft leben sie von
sein würde, über Roma in Mitteleuropa zu schreiben. Jetzt, nach
Schwarzarbeit und Sozialleistungen. Etliche auch von Gaunemeiner Rückkehr, bin ich mir sicher: Es ist unmöglich.
reien, Diebstählen, Einbrüchen – in Metropolen wie Duisburg,
Zum einen ist das Thema wie ein Minenfeld. Es ist höllisch schwieDortmund oder Köln steigen gerade die Delikte der Massenkrimirig, Stereotype und Klischees zu umgehen. Zwar wusste ich das
nalität. Politiker in Bund und Ländern reagieren meist ratlos. (…)
schon, bevor ich mit Kristina Magdolenova vom Roma Media CenSchließlich ist die Not mancher NRW-Städte besonders groß. Im
ter in Kosice, Slowakei, gesprochen habe. Trotzdem bestätigte sie
Duisburger Roma-Quartier in Bergheim sind die Fenster teils einmeinen Verdacht nachdrücklich. Dass Roma in einem Teufelskreis
geschlagen, ein kaputter Fernseher liegt im Hausflur. Der Fußboaus Arbeitslosigkeit und Verelendung gefangen seien, ist das
den im Treppenhaus ist klebrig, man tritt auf Kippen und Nusserste und wirkungsvollste Klischee. Ausländische Journalisten
Schalen. »Fuck Zigeuner« hat jemand an die Wand gesprayt. Die
tappen leicht in diese Falle, weil sie explizit nur die notleidenden
städtische Abfallaufsicht patrouilliert täglich, seit ein Müllhaufen
Roma aufsuchen – sei es in den Plattenbauten in Kosice, in der
in Flammen aufging. Bei der Polizei ist das Roma-Haus als UnterGemeinde Shutka in Skopje oder in den Tausenden anderen Arschlupf von Kriminellen berüchtigt. Knapp 400 Strafverfahren
mutsvierteln, die es in Mitteleuropa gibt.
laufen gegen seine Bewohner. Meist geht es um Einbrüche, TaWer allerdings über die Not hinausschaut, findet viele integrierte
schen- oder Ladendiebstähle. Erst vor einigen Wochen stürmte
Roma aus der Unter- und Mittelschicht, die es aus dem Getto hedie Polizei den Wohntrakt. Eine Tür musste aufgehebelt werden.
rausgeschafft haben. Wer schreibt über sie? Niemand. Es wäre
256 Bewohner zählte die Polizei im Haus, zum Teil bis zu 17 in einer
schließlich nicht fesselnd genug. Das ist nicht alles: Es gibt eine
Wohnung. Autos, die vor dem Gebäude parkten, waren auch an
nicht unerhebliche Anzahl von Slowaken, Rumänen, Ungarn und
Tatorten von Einbrüchen im Ruhrgebiet gesehen worden.
anderen, die genauso arm sind. Ihre Abitur- und ArbeitslosenraMit Placuta Moise teilen sich sechs Erwachsene und fünf Kinder
ten und ihre Lebensbedingungen unterscheiden sich nicht wedrei Zimmer. Derzeit sitzt eine ihrer Töchter im Gefängnis. Wasentlich von denen der sehr armen Roma.
rum, weiß die Mutter nicht, oder sie will es nicht sagen. Ihre
Journalisten haben den Auftrag, über die Missstände in Europa zu
zweite Tochter Daniela Baba ist gerade 16. Sie hält ihre einjährige
berichten. Dass viele Roma in extremer Armut leben müssen, ist
Tochter im Arm. Daniela versteht kein Deutsch, sie hat auch keine
natürlich ein Missstand. Wer allerdings ausschließlich über die
Schule besucht. 2011 gab es eine Umfrage unter Roma in Deutschbesitzlosen Roma schreibt, erhält die Stereotype aufrecht und
land. Repräsentativ sind die Zahlen nicht. Aber sie liefern einen
vermittelt, dass Roma grundsätzlich notleidend und nicht mehr
Hinweis: 13 Prozent der 275 Befragten waren Analphabeten, 69
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als »ein Problem« und hilflose »Opfer« seien, sagt Magdolenova. Werden immer
wieder die gleichen Armutsgeschichten publiziert, verstärkt das nur das Vorurteil,
dass es keine Lösung für die
Not der Roma gebe; vielmehr
sieht es so aus, als sei sie ein
charakteristisches Merkmal
ihrer Ethnizität. (…)
Einige Journalisten ahnen
das, tappen dafür aber in
eine andere Falle: das glänzende NGO-Projekt. Sie reißen sich ein Bein aus, damit
ihre Roma-Geschichte kein
Schreckensszenario wird –
wer würde das lesen wollen?
– und mildern sie stattdessen mit einer erfreulichen
Nachricht über eine lokale
oder internationale Initiative: ein Jugendzentrum, ein
Computerkurs oder eine
Frauen-Kooperative. Indem
M 4 Bundespräsident Joachim Gauck hörte am 7.11.2013 in Mannheim Schülern der Neckarschule beim Singen der Schulder Journalist die enthusiashymne zu. Gauck besuchte Mannheim, um sich über die Situation der Sinti und Roma und die Zuwanderung aus Bulgatischen Mitarbeiter des Prorien und Rumänien zu informieren. © Uwe Anspach, dpa. picture alliance
jekts und einige teilnehmende Roma zitiert, wird die
Geschichte natürlich überwältigend positiv. Bisher seien viele dieser Projekte gefloppt,
tschechische Roma vor ein paar Jahren geschrieben habe? Hat
sagt Magdolenova. Tatsächlich führen sie nicht dazu, dass sich
sich die Situation verschlimmert? Sich irgendetwas verändert?
die Lebensbedingungen der Roma in irgendeiner Weise verbesOder ist es nur eine neue Version des Altbekannten? Ich könnte
sern. »Am Ende gibt es viele begeisterte Artikel über Projekte,
ehrlich sagen, dass es praktisch das Gleiche ist; oder lügen und
die niemandem helfen«, sagt sie. Sie erwecken den Eindruck,
über einen glücklichen Roma-Musiker oder eine erfreuliche NGOdass sich das Schicksal der Roma zum Guten wende. Tut es aber
Geschichte schreiben.
nicht. Wäre das Gegenteil besser – zu berichten, wie ein Projekt
Gibt es eine Lösung? Wenn wir nicht über Roma berichten, verfür Roma nach dem anderen scheitert? Kaum. Es würde auch
schwindet das Thema – so, wie es die nationalen Machthaber
niemand ehrlich zugeben, dass selbst die funktionierenden Prowollen: die besitzlosen Roma in abseits gelegene Slums abschiejekte nicht mehr sind als ein Tropfen auf dem heißen Stein. Sie
ben und die ganze Sauerei dann so gut es geht ignorieren. Magerzeugen ein gutes Gefühl, aber ändern nichts an den Missständolenova versteht, dass Journalisten eingeschränkt sind, was
den. Daneben gibt es noch das Bild der glücklichen Roma, die
Zeit und Stil angeht, und dass es ihr Job ist, mitreißende Artikel
singen und tanzen. Sie sind ein weiteres Klischee, nach dem der
zu schreiben und keine soziologischen Abhandlungen über die
Journalist greift, wenn er über etwas Positives berichten möchte.
Komplexität und Feinheiten des Themas. Gerade deshalb müsse
Dieses Bild hat der Serbe Emir Kusturica in Filmen wie »Schwarze
es Medien von den Minderheiten selbst geben, sagt sie. So wie
Katze, weißer Kater« vervollkommnet. Das Fazit dieses Klischees
das im Jahr 2000 gegründete Roma Media Center. Das ist natürist, dass Roma so oder so glücklich seien, selbst wenn sie unter
lich keine angemessene Antwort für alle, die sich außerhalb der
erbärmlichen Bedingungen leben: So sind die Roma nun mal, als
Slowakei befinden. Aber gibt es eine Antwort? Ich glaube nicht.
sei es in ihre DNA eingeschrieben.
Leider.
Es gibt natürlich noch weitere Bereiche, die mit Stereotypen be© Paul Hockenhos, Die Tageszeitung, 11.06.2012, www.taz.de/1/archiv/digitaz/
haftet sind, wie Kriminalität, Hygiene, Familiengröße, Erziehung,
artikel/?ressort=tz&dig=2012 %2F06 %2F11 %2Fa0147&cHash=21a075703c5cbcbd66553a
Prostitution, Menschenhandel, Arbeitsmigration und Zwangshei8c63a0cb62 rat. Als Journalist kann man einfach nicht alles richtig machen –
egal, was man tut. Wer darüber schreibt, verfestigt die Stereotype. Wer es ignoriert, beschönigt die Tatsachen und gibt vor, der
Missstand existiere nicht. Einige Stereotype beinhalten mehr als
nur einen Funken Wahrheit. Sie sind aber das Ergebnis von sozialen und historischen Prozessen, nicht Merkmale von Roma als
solchen. »Wenn alles auf die ,Ethnizität‘ zurückgeführt wird, wird
auch die gesamte Gruppe als schuldig stigmatisiert«, so Magdolenova. (…)
Eine weitere wichtige Hürde ist, die Redaktion von der Roma-Geschichte zu überzeugen. Zwanzig Jahre nach dem Zusammenbruch des Kommunismus haben wir alle immer wieder die gleichen Artikel über Roma gelesen. »Was ist daran neu?«, würde
mich die Redaktion fragen. Inwiefern hebt sich diese Geschichte
über slowakische Roma von denen ab, die ich über Roma in Transsylvanien 1991 oder über ungarische Roma vor zehn Jahren oder
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bloß in Pappverschlägen
hausen – und der italienische
Staat verzichtete konsequent
auf jegliche Integrationspolitik. Lieber errichten die Gemeinden bisweilen ganz »offizielle« Lager, wo die
Menschen dann in Containern hausen, hinter hohen
Zäunen, weit draußen in den
Peripherien der Großstädte.
Diese Politik der Segregation
lässt sich zum Beispiel die
Stadt Rom 24 Millionen Euro
pro Jahr kosten. Und zugleich
gelten die Camps dann der
öffentlichen Meinung als Beweis, dass die »Nomadi«, die
»Nomaden«, sich eben nicht
integrieren wollen.
Von rechts bis links schlägt
den Roma und Sinti nichts als
Abscheu entgegen: 85 Prozent der Italiener bekennen
M 5 Protestmarsch von Sinti und Roma am 21.2. 2014 in Athen, Griechenland, zum griechischen Parlamentsgebäude. Die
sich zu einer negativen MeiDemonstranten aus verschiedenen Teilen Griechenlands forderten bessere Lebensbedingungen, kostenfreien Zugang
nung ihnen gegenüber, das
zum griechischen Gesundheitssystem und die Verwirklichung der Bürgerrechte als EU-Bürger.
ist europäische Spitze. Mit
© Tzamaros, dpa. picture alliance
der Abwertung und dem Hass
geht ein völlig verzerrtes Bild
einher: So glauben tatsächlich 84 Prozent der Italiener,
M 6 Die Tageszeitung (taz): »B für die Braven, R für die
die »Zingari« seien »fahrendes Volk« ohne Wohnsitz. Über 80 ProRoma«, vom 29.10.2014
zent sind überzeugt, dass sie freiwillig separiert in Elendslagern
wohnen, weil sie »für sich« sein wollen.
13.000 Einwohner hat das Städtchen Borgaro Torinese, gleich
Da überrascht es nicht, dass selbst das Klischee von den Kinder
nördlich von Turin, und dank der Buslinie 69 ist man auch schnell
stehlenden Zigeunern in Italien noch lebendig ist. 2008 kam es in
in der Metropole nebenan. Jetzt aber möchte der Bürgermeister
Neapel zu einem wahren Pogrom gegen ein Roma-Lager, weil eine
von Borgaro den Service weiter verbessern: Die Linie soll »verdopjunge Romi angeblich versucht hatte, ein Kleinkind zu rauben.
pelt« werden. Gemeint sind keineswegs häufigere Fahrten, sonUnd so hatte auch in Borgaro vor vier Wochen ein Vater von einer
dern das Angebot soll diversifiziert werden – man könnte auch
durch Roma versuchten Kindesentführung schwadroniert. Dasagen: die Rassentrennung im Bus. Da wäre zunächst die Linie 69
mals rückten sofort reichlich TV-Teams an. Jetzt dagegen, angefür die braven Bürger, nennen wir sie 69 B; und dann soll es noch
sichts des realen bürgermeisterlichen Vorstoßes zur Einrichtung
eine neue Linie geben, für die wohl die Bezeichnung 69 R passen
der Sonderbusse, reist kein einziger Reporter an.
würde – R wie Roma. Die 69 B soll, wenn es nach Bürgermeister
© Michael Braun, Die Tageszeitung, 29.10.2014, www.taz.de/!148508 Claudio Gambino geht, ohne Halt am großen, außerhalb des
Ortskerns gelegenen Roma-Camp mit seinen 600 Bewohnern
vorbeirauschen.
M 7 Michael Martens, Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ):
Doch auch für die Roma ist gesorgt: Sie sollen ja die Extralinie 69
»Illusion vom Reißbrett«
R bekommen, die bloß ihr Lager anfährt. »Ein Niemandsland« sei
der 69er Bus geworden, erregt sich Gambino in einem Brief an
Für die Integration der Roma in Bulgarien und Rumänien reicht
den Präfekten von Turin, und deshalb bedürfe es jetzt »radikaler
der Besuch einer Schule nicht aus. Oft scheitern die Kinder schon
Lösungen«; gerade erst hätten Roma-Mädels auf der Fahrt wieder
an Hürden, die für andere gar keine sind.
versucht, ein 13-jähriges Mädchen zu bestehlen. »Toleranz und
Tzwetana Eugeniewa, Leiterin eines Projekts zur Integration von
Geduld« hätten Borgaros Bürger dem Roma-Lager vor ihrer Tür
Roma-Kindern aus der Region Widin in der bulgarischen Grenzseit nunmehr 20 Jahren entgegengebracht, jetzt sei Schluss.
stadt Widin an der Donau hat sich das Wohlstandsversprechen
Das Pikante an der hochoffiziellen Stellungnahme: Sie kommt
der Europäischen Union noch nicht erfüllt. Die imposante neue
keineswegs aus den Reihen der üblichen Verdächtigen von der
Donaubrücke, gebaut mit Brüsseler Strukturfördermitteln, lenkt
rechtspopulistisch-fremdenfeindlichen Lega Nord. Der da
zwar seit ihrer Eröffnung im April mehr Fernverkehr in die Geschreibt, ist ein Bürgermeister aus den Reihen der gemäßigt lingend, aber die Sattelschlepper transportieren den Reichtum nur
ken Partito Democratico (PD) – und sein Verkehrsdezernent gedurch Widin hindurch, nicht hinein. Die Lastwagen wirken wie
hört gar zur stramm linken Kleinpartei Sinistra Ecologia Libertà
eine Reklame für eine ferne, unerreichbare Welt. Für die Stadt an
(SEL – Linke, Ökologie, Freiheit).
der rumänischen Grenze mit ihren annähernd 50.000 Einwohnern
(…) Dennoch wurde kein Skandal aus der Geschichte. Kurz meldefällt wenig ab. Sie liegt in der ärmsten Region des ärmsten EUten die Medien den Apartheidvorstoß und niemand regte sich auf.
Mitgliedstaates. Ganz unten in Widin, am Fuße der europäischen
Stellungnahmen der PD, vor Ort oder gar von der nationalen ParWohlstandspyramide, leben die Roma. Wer das Pech bat, in einer
teileitung? Fehlanzeige. Roma-Bashing nämlich ist in keinem
Roma-Elendssiedlung von Widin geboren zu werden, hat kaum
westeuropäischen Land so gesellschaftsfähig wie in Italien. Seit
eine Chance, je aus eigener Kraft der Not zu entfliehen. Viele
den 60er Jahren entstanden Favelas, in denen Tausende Roma
Roma sind Analphabeten. Sie können die Welt nicht lesen. Sie leund Sinti, oft aus Osteuropa, in Wellblechhütten, manchmal gar
Roma und Sinti
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ben in ihrer eigenen Welt, die mit jener der
Gadjos, der Weißen, wenig zu tun hat. Bildung, heißt es oft, sei der einzige Ausweg aus
dieser Misere. »Die Investition in die Ausbildung von Roma ist eine Investition in die Zukunft. Nur wenn diese Menschen Arbeit haben, können sie zur wirtschaftlichen
Entwicklung beitragen, Steuern und Sozialbeiträge zahlen, Renten finanzieren«, sagt
zum Beispiel Viviane Reding, (damalige) EUKommissarin für Justiz und Grundrechte. Es
sei eine zentrale Aufgabe der EU, allen Roma
ungehinderten Zugang zu Bildung zu verschaffen. Bildung für Roma-Kinder. Die Juristin Tzwetana Eugeniewa aus Widin widerspricht dieser Einschätzung nicht. Aber wie
alle, denen die Schwierigkeiten dieser »größten Minderheit Europas« nicht nur theoretisch bekannt sind, weiß sie, dass die Dinge
komplizierter sind. Die Vorstellung, es geM 8 Bundestagspräsident Norbert Lammert (M, CDU) unterhielt sich am 1.6.2011 in Heidelberg wähnüge, einen regelmäßigen Schulbesuch der
rend eines Rundgangs durch die Ausstellungsräume des Dokumentationszentrums Deutscher Sinti
Romakinder sicherzustellen, um deren
und Roma mit Romani Rose (r), Vorsitzender des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, und mit
Schwierigkeiten zu lösen, sei naiv. Am Reißdem Holocaust-Überlebenden Franz Rosenbach. Informationen zum Dokumentationszentrum
brett erscheine die Lösung oft darin, den
unter: www.sintiundroma.de © Uwe Anspach, dpa, picture alliance
Transport der Kinder von ihren Elendssiedlungen zur Schule sicherzustellen, also ihre
physische Anwesenheit dort zu gewährleisunlängst bei einer in Bonn von der Deutschen Welle und der Südten. Doch damit allein sei wenig gewonnen, sagt Frau Eugeniewa,
osteuropa-Gesellschaft ausgerichteten Konferenz zur Bildungssidie seit Jahren ein Projekt zur Integration von Romakindern aus
tuation der Roma vorstellte. Arbeitsplätze sind rar Die meisten
der Region Widin leitet. »Viele Romakinder in Bulgarien lernen
Teilnehmer hatten aber weniger Glück als jene 50 Roma, die heuimmer noch an separaten Schulen. Dort werden sie von wenig
te eine Hochschule besuchen. »Viele versuchen vergeblich, einen
motivierten Lehrern in einer abgesonderten Umgebung unterArbeitsplatz zu finden. Und die meisten gehen am Ende doch
richtet.« Die Qualität der Bildung, die sie dort erhalten – wenn sie
nach Deutschland«, sagt Frau Eugeniewa. Denn auch jenen Roma,
überhaupt zum Unterricht erscheinen –, sei mangelhaft. An einer
die lesen und schreiben können, hat Widin wenig zu bieten. Schon
Romaschule lehren zu müssen, wird von manchen als Strafversetdie ethnischen Bulgaren haben es schwer, einen Arbeitsplatz zu
zung empfunden. Die Roma würden von Lehrern unterrichtet, die
finden, sie wandern nach Sofia oder gleich ins EU-Aus- land ab.
nicht gut genug seien für eine »normale« Schule, glauben auch
»Arbeitsplätze sind in Bulgarien ein rares Gut, dessen Verteilung
viele Bulgaren. (…)
hart umkämpft ist«, sagt die bulgarische BevölkerungswissenGanz anders sei die Lage für die Kinder an »Nichtroma-Schulen«,
schaftlerin Ilona Tomowa. »Normalerweise funktioniert die Verwie Frau Eugeniewa das nennt. Hier hätten Schüler die Aussicht
teilung über Netzwerke. Ein Roma mit geringer Bildung und ohne
auf einen regulären Abschluss. Um den Kindern aus der RomaZugang zu solchen Netzwerken, also ohne Freunde, die bereits
Elendssiedlung den Besuch einer solchen Schule zu ermöglichen,
einen Job haben, hat kaum eine Chance, eine reguläre Arbeitswurde in Widin vor 13 Jahren unter anderem ein Schulbusprojekt
stelle zu finden.« Weil das so ist, können viele Roma auch keinen
gestartet. Der Romaslum der Stadt liegt weit außerhalb des ZenVorteil darin erkennen, ihre Kinder in die Schute zu schicken.
trums. Vor allem für Erstklässler wäre der Fußmarsch zur Schule
Wozu lesen und scheiben lernen, wenn danach doch die Arbeitszu weit. Als das Schulbusprojekt vor 13 Jahren begann, stießen die
losigkeit wartet? Dass eine solche Sichtweise weit verbreitet ist,
Initiatoren auf viele Widerstände. Sie mussten den ungebildeten
bestätigt auch Stefan Zell, der ehrenamtlich ein SchulimegratiEltern in den Slums erklären, warum es wichtiger sei, ihre Kinder
onsprojekt für Romakinder in Rumänien leitet: »Das Schulsystem
zur Schule zu schicken, als sie mit zum Müllsammeln zu nehmen.
wird nur dann glaubhaft bei den Roma ankommen, wenn sie seSie mussten Sprachkurse organisieren, um die Kinder, die zu
hen, dass Ausbildung Essen auf den Tisch bringt.«
Hause nur Romanes gesprochen hatten, an die bulgarische Spra© Michael Martens: Illusion vom Reißbrett, Faz vom 12. 10. 2013
che heranzuführen.
Schließlich mussten sie auch die Eltern und Schulleiter davon
überzeugen, die Kinder der Roma in die Klassengemeinschaft
aufzunehmen. Anfangs wollten viele Bildungsanstalten lieber gesonderte Klassen für Roma einrichten. »Wichtig war es für uns,
am Anfang nur zwei oder drei Romakinder in jede Klasse zu schicken, damit sie sich integrieren können«, sagt Tzwetana Eugeniewa. Außerdem musste eine Hürde überwunden werden, die
den Koordinatoren des Projekts anfangs nicht bewusst war. Viele
Romakinder kannten nur ihre Viertel, für sie war es ein Abenteuer,
ins Stadtzentrum zu gehen. »Manche hatten Angst«, erinnert sich
Frau Eugeniewa. »Heute ist es für Romakinder in Widin normal,
Teil der Gesellschaft zu sein, sich im Stadtzentrum aufzuhalten
und eine Schule dort zu besuchen.«
Etwa 1.300 Romakinder haben bisher an dem Projekt teilgenommen. Mehr als 50 von ihnen studieren inzwischen an Hochschulen. »Diese Initiative war erfolgreich und sollte auf andere Städte
ausgeweitet werden«, sagte Frau Eugeniewa, als sie das Projekt
D&E
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Roma und Sinti
45
BRICHT EUROPA AUSEINANDER? REICHTUM UND ARMUT IN EUROPA.
6. Z
unehmende Ungleichheit:
Folge oder Ursache der
jüngsten Wirtschaftskrisen?
TILL VAN TREECK
S
46
eit nunmehr fünf Jahren beherrscht die
Krise der Europäischen Währungsunion
die Schlagzeilen. In fast allen Mitgliedstaaten und vor allem in den unmittelbar betroffenen Krisenländern ist es seither zu
einem Anstieg der Arbeitslosigkeit gekommen, Einkommensungleichheit und Armut
haben zugenommen. Die junge Generation
ist von dieser Entwicklung besonders stark
betroffen. Die Gefahr einer »verlorenen
Generation« verbunden mit zunehmender
Hoffnungslosigkeit, vermehrten gesellschaftlichen Spannungen und politischer
Radikalisierung ist damit sehr real. Überdies droht eine zunehmende Entfremdung
zwischen den Mitgliedsländern der Europäischen Währungsunion, da je nach Land die
Krisenursachen und Maßnahmen zur Krisenbewältigung in Politik, Wissenschaft
und Zivilgesellschaft teilweise sehr unterschiedlich bewertet werden. In Deutschland etwa ist die Auffassung verbreitet, die
Abb. 1 »Modernisierung des Standorts Deutschland« © Gerhard Mester, 2013
Krise sei im Wesentlichen durch die hohe
Staatsverschuldung und die geringe Wettbewerbsfähigkeit der Krisenländer entniserregend hoch ist. In Deutschland hingegen liegt die Arbeitsstanden, weswegen eine harte Sparpolitik und schmerzhafte
losenquote heute unterhalb des Vorkrisenwerts etwas oberhalb
strukturelle Reformen in diesen Ländern notwendig seien. In
von 5 Prozent. Auch in den USA und Japan, zwei große Volkswirtder internationalen Debatte hingegen ist Deutschland selbst
schaften außerhalb des Euroraums, ist im Zuge der Krise die Arwegen seiner staatlichen Sparpolitik, der schwachen Lohnentbeitslosigkeit angestiegen. Anders als in den Euro-Krisenländern
wicklung und der steigenden Ungleichheit und seinen dauerist dort aber seit 2010 eine leicht rückläufige Tendenz bei der Enthaft hohen Exportüberschüssen in die Kritik geraten. Doch
wicklung der Arbeitslosigkeit festzustellen. Das Wirtschaftsdie Krise des Euro muss auch im größeren Kontext der globawachstum hat sich dort schneller erholt als im Euroraum, wo das
len Finanz- und Wirtschaftskrise gesehen werden, die im SomBruttoinlandsprodukt 2014 noch immer unterhalb des Vorkrisenmer 2007 am US-amerikanischen Immobilienmarkt begann
niveaus von 2008 lag.
und von der sich die Weltwirtschaft bis heute noch längst
Warum sind Länder des Euroraums wie Griechenland, Irland, Pornicht erholt hat. Eine zentrale strukturelle Ursache dieser
tugal und Spanien und zunehmend auch Italien und Frankreich
Krise war meines Erachtens die starke Zunahme der Einkomseit Jahren in einer schweren Krise, während sich andere Länder
mensungleichheit in vielen Ländern. Dieser Zusammenhang,
innerhalb und außerhalb des Euroraums makroökonomisch besder zunehmend von renommierten Ökonomen und internatioser entwickelt haben? Welche wirtschaftspolitischen Schlussfolnalen Organisationen hervorgehoben wird, sollte stärker in
gerungen sollten aus der Krise gezogen werden? Im Folgenden
den Fokus der Debatte um die Ursachen und mögliche Auswird zunächst die internationale Kritik an der deutschen Wirtwege aus der aktuellen Krisensituation gerückt werden.
schaftspolitik und am »Modell Deutschland« referiert. Danach
werden diese Positionen mit den in Deutschland vorherrschenden Interpretationen konfrontiert. Letztere finden sich in oft verDie Debatte über die Ursachen der »Euro-Krise«
kürzter und einseitiger Form in zahlreichen Unterrichtsmaterialen, die gerade den Schulen angeboten werden.
(| Abb. 2 |) zeigt die Entwicklung der Arbeitslosigkeit in sechs ausgewählten Ländern: In den Euro-Krisenstaaten Griechenland, IrKritik am »deutschen Modell« der
land und Spanien ist die Arbeitslosenquote seit Ausbruch der inWrtschaftspolitik in der internationalen Debatte
ternationalen Finanz- und Wirtschaftskrise 2007 drastisch
angestiegen. Hierunter leidet besonders die junge Generation. In
Interessant ist ein Vergleich der in Deutschland verbreiteten
Spanien und Griechenland etwa liegt die Jugendarbeitslosigkeit
­Deutungen der Krise mit der internationalen Debatte. Während
seit Jahren oberhalb von 50 Prozent, während die Arbeitslosigkeit
insbesondere zu Beginn der Euro-Krise die deutsche Bundesrein der Gesamtbevölkerung mit etwa 25 Prozent ebenfalls besorg-
Zunehmende Ungleichheit
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Heft 69 · 2015
gierung und andere »Nordländer« in Reaktion auf die
Verstöße gegen die im »Europäischen Stabilitäts- und
Wachstumspakt« (SWP) festgeschriebene
3-ProzentObergrenze bei den staatlichen Haushaltsdefiziten und
die 60-Prozent-Obergrenze
bei der Staatsverschuldung
staatliche Sparprogramme in
den »Südländern« durchsetzten, kamen viele internationale Ökonomen und Institutionen zu gänzlich anderen
Einschätzungen. Beispielsweise begründete die USamerikanische Rating-Agentur Standard & Poors die
Herabstufung der Bonität
von europäischen Staatsanleihen Ende 2011 folgendermaßen: »Wir glauben auch, dass
die Vereinbarung (der europäiAbb. 2 Arbeitslosenquote in ausgewählten Ländern, 1991–2014, in % © AMECO (EU-Kommission), eigene Berechnungen
schen Staats- und Regierungschefs vom 9. Dezember 2011) die
Ursache der Krise in Teilen verkennt. Sie basiert auf der Annahme, dass
bestätigt: Ohne eine hinreichend voluntaristische Industriepolitik bleibt
sich die aktuelle Finanzkrise in erster Linie durch unverantwortliche Fisder gemeinsame Währungsraum durch eine Polarisierung der wirtschaftkalpolitik der Peripherie ergibt. Aus unserer Sicht sind jedoch die finanzilichen Aktivität gekennzeichnet, welche in hohem Maße die Ungleichgeellen Probleme der Euro-Zone eine Folge steigender außenwirtschaftliwichte der Leistungsbilanzsalden innerhalb der Eurozone erklären. Einem
cher Ungleichgewichte und Unterschiede in der Wettbewerbsfähigkeit
Nordeuropa, das Exportgüter und –dienstleistungen produziert, steht ein
zwischen dem Euro-Zonen-Kern und der sogenannten Peripherie.« (StanSüdeuropa gegenüber, dessen Leistungsbilanzsalden defizitär sind. Zu den
dard & Poors, zitiert nach Münchau, 2011).
Ungleichgewichten, die sich aus der Logik des Marktes heraus ergeben
Zwar hat in der Folge das Thema Wettbewerbsfähigkeit auch in
haben, kommen die Effekte nationaler Politik: Die Entscheidung Deutschder deutschen Debatte zunehmend an Bedeutung gewonnen,
lands zu einer Lohndeflation bedeutet, dass das ‚deutsche Modell‘ nicht
nachdem hier zunächst die Höhe der Staatsverschuldung in vielen
verallgemeinerbar ist.« Daher wird unter anderem die »Etablierung
Ländern im Mittelpunkt stand. Jedoch wird regelmäßig ein alleieiner gemeinsamen Budgetsouveränität auf Ebene der Eurozone«
niger oder zumindest vorwiegender Anpassungsbedarf bei den
als notwendig erachtet (Ministère de l’éducation nationale, 2013, S. 5,
Krisenländern gesehen, und nicht oder zumindest in deutlich gemeine Übersetzung, TvT)
ringerem Maße bei Deutschland selbst. In der internationalen
Diese Darstellung weicht sowohl in der Frage nach den Ursachen
Debatte hingegen gibt es sehr gewichtige Stimmen, die eine weder Euro-Krise als auch hinsichtlich der wirtschaftspolitischen
sentliche Verantwortung für die makroökonomischen UngleichSchlussfolgerungen deutlich von der seit einigen Jahren nicht zugewichte im Euroraum beim größten Mitgliedsland, Deutschland,
letzt auf Druck Deutschlands in den Krisenländern durchgesetzsehen. Der frühere luxemburgische Ministerpräsident und heuten Politik ab. Die deutsche Bundesregierung lehnte bislang eine
tige Präsident der Europäischen Kommission Jean-Claude Juncker
gemeinsame Budgetsouveränität auf Ebene der Eurozone (z. B.
sprach in diesem Zusammenhang sogar von »Lohn- und SozialdEurobonds) strikt ab. Stattdessen setzte sie nicht nur verschärfte
umping« in Deutschland. Er warf Deutschland vor, mit niedrigen
Sanktionsmöglichkeiten bei Verstößen gegen die Defizit- bzw.
Löhnen Profit auf Kosten anderer Länder zu machen, indem er
Schuldenkriterien des SWP durch, sondern erreichte auch, dass
eine »Fehlentwicklung der deutschen Gesamtwirtschaft und der
die Mitgliedstaaten des Euroraums im Zuge eines völkerrechtliTariflandschaft« feststellte (Luxemburger Wort, 2010). Die damachen Vertrages (»Fiskalpakts«) sogenannte Schuldenbremsen
lige französische Finanzministerin und heutige Direktorin des Innach deutschem Vorbild einführen müssen. Die Verantwortung
ternationalen Währungsfonds (IWF) Christine Lagarde wies in eifür die Finanzierung der Staatshaushalte soll also in nationaler
nem Aufsehen erregenden Interview in der Financial Times im
Verantwortung bleiben. Gleichzeitig setzte die deutsche BundesMärz 2010 darauf hin, dass nicht nur Länder mit Leistungsbilanzregierung durch, dass die seit Ende 2011 im SWP verankerten
defiziten ihre Politik anpassen sollten, sondern auch Länder mit
neuen Regeln zur Überwachung von makroökonomischen UnÜberschüssen (»It takes two to tango.«) Außerdem identifizierte
gleichgewichten asymmetrisch ausgelegt werden. Während Leissie den »sehr hohen Druck auf die Lohnkosten« als eine wichtige
tungsbilanzdefizite bereits ab 4 Prozent des nationalen BIP sankUrsache für die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit Deutschtioniert werden können, werden Leistungsbilanzüberschüsse erst
lands zu Lasten der anderen Länder (Financial Times, 2010). Eine
ab 6 Prozent als problematisch angesehen. Überdies sind in letzin Teilen ähnliche Kritik äußerten das US-amerikanische Finanzterem Fall keinerlei Sanktionen zu erwarten. Die neuen Kriterien
ministerium, die französische Regierung und zuletzt die EU-Komfür die nationale Wettbewerbsfähigkeit sind ebenfalls asymmetmission.
risch. Insbesondere sollen die nominalen Lohnstückkosten im
Es ist nicht überraschend, dass die Darstellung der Ursachen der
Dreijahresvergleich um maximal 9 Prozent ansteigen, eine UnterEurokrise auch im Schulunterricht international stark von dem in
grenze gibt es hingegen nicht, d. h. konstante oder sogar falDeutschland vorherrschenden Diskurs abweicht. In dem vom
lende nominale Lohnstückkosten werden nicht als problematisch
französischen Bildungsministerium herausgegebenen Lehrerbeangesehen. Entgegen der oben zitierten Darstellung des franzögleitmaterial für den sozialwissenschaftlichen Unterricht etwa
sischen Bildungsministeriums wird also das deutsche Modell der
wird das folgende Lernziel für französische Schüler beschrieben:
Lohndeflation offenbar durchaus als verallgemeinerbar angese»Die Krise der Staatsschulden hat die Mehrheitsmeinung der Ökonomen
hen.
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Zunehmende Ungleichheit
47
Till van Treeck
Abb. 3 Staatliche Haushaltssalden, in Prozent des BIP © AMECO (EU-Kommission), eigene Berechnungen
48
Abb. 4 Staatliche Schuldenstandquoten, in Prozent des BIP © AMECO (EU-Kommission), eigene Berechnungen
Abb. 5 Zinsen auf 10-jährige Staatanleihen, in Prozent © AMECO (EU-Kommission), eigene Berechnungen
Zunehmende Ungleichheit
Meines Erachtens ist es wichtig, dass im sozialwissenschaftlichen Schulunterricht die verschiedenen Sichtweisen zur Euro-Krise kontrovers dargestellt werden. Dies gilt umso
mehr, als die didaktisch reduzierten Krisenanalysen, die in deutschen Schulmaterialien
verbreitet werden, vielfach inhaltlich zu stark
verkürzt bzw. sogar irreführend sind. Dies
soll mit Hilfe von Abbildungen 3 und 8 kurz
illustriert werden. Abbildungen 3-5 fassen
wichtige Entwicklungen im Bereich der
Staatsfinanzen zusammen, Abbildungen 6-8
verdeutlichen die Ungleichgewichte im Bereich der internationalen Wettbewerbsfähigkeit und der außenwirtschaftlichen Entwicklung.
(| Abb. 3 |) zeigt, dass die heutigen Krisenländer wie Irland oder Spanien das 3-ProzentKriterium des SWP zwischen 1999 und 2007
nicht ein einziges Mal verletzt haben. Der
Staat erzielte in den Jahren unmittelbar vor
Ausbruch der Weltwirtschaftskrise sogar
Haushaltsüberschüsse. Die staatliche Schuldenstandquote (Staatsverschuldung in Prozent des BIP) sank im gleichen Zeitraum von
49 Prozent auf 25 Prozent in Irland und von
62 % auf 36 % in Spanien. Die 60 ProzentObergrenze des SWP wurde also fast durchgehend eingehalten (| Abb. 4 |). Dennoch
stürzten Irland und Spanien neben Griechenland und Portugal schnell in die Krise, und
für die Staatsanleihen dieser Länder wurden
auf den Finanzmärkten nun hohe Risikoaufschläge verlangt, was eine Refinanzierung
zunehmend schwierig machte (| Abb. 5 |).
Dabei waren die Staatshaushalte dieser Länder noch unmittelbar zuvor von der Europäischen Kommission und vom Rat der EU als
vorbildlich gelobt worden.
Auf den ersten Blick erstaunlich, gilt Deutschland heute als Land mit soliden Staatsfinanzen, obwohl die staatliche Schuldenstandquote in Deutschland unmittelbar vor
der Krise (2007: 65 Prozent) deutlich höher
lag als etwa in Irland oder Spanien, und etwa
auf gleichem Niveau wie in Portugal. Die Zinsen auf Staatsanleihen sind in Deutschland
seit Jahren sehr niedrig, und die Arbeitslosigkeit ist ebenfalls niedrig. Auch die Zahlungsfähigkeit von Ländern außerhalb des Euroraums wie den USA oder Japan ist trotz
hoher Staatsverschuldung nicht in Frage gestellt. In den USA und Japan war die Rendite
für 10-jährige Staatsanleihen deutlich niedriger als etwa in Spanien oder Griechenland
(| Abb. 5 |), obwohl die staatliche Schuldenstandquote in den USA und Japan höher ist
als in Spanien und in Japan höher als zumindest in Griechenland (| Abb. 4 |). Die Arbeitslosigkeit ist in den USA und Japan deutlich
niedriger als in Spanien oder Irland
(| Abb. 2 |).
Die Behauptung, dass die Staatsverschuldung in den europäischen Krisenländern zu
hoch sei, ist somit zumindest fragwürdig. Ein
entscheidender Unterschied zwischen Ländern wie den USA und Japan einerseits und
den europäischen Krisenländern andererseits ist, dass in den USA und Japan Wäh-
D&E
Heft 69 · 2015
rungsraum und staatliche Budgetsouveränität zusammen fallen. Die Mitgliedsländer des
Euroraums hingegen verfügen weder über
eine eigene Zentralbank noch können sie ihre
Finanzierung über einen Gesamtstaat auf
Ebene der Eurozone sicherstellen. In den USA
ist die Zahlungsfähigkeit der Einzelstaaten
durch den Bundesstaat und im Notfall durch
die nationale Zentralbank, das Federal Reserve System, gesichert. Dass diese institutionellen Unterschiede, und nicht die Höhe der
nationalen Staatsverschuldung, die Finanzierungsmöglichkeiten der Staaten maßgeblich
beeinflussen, zeigt auch der Rückgang der
Zinsen auf Staatsanleihen in den Ländern des
Euroraums seit dem Sommer 2012 (| Abb. 5 |),
als die Europäische Zentralbank (EZB) erklärte, nunmehr wie international üblich
­Spekulationen gegen Staatsanleihen durch
Stützungskäufe am Sekundärmarkt für
Staatsanleihen zu unterbinden. Gegen solche Maßnahmen hatten sich bis dahin insbesondere deutsche Zentralbanker gewehrt.
Dies erklärt zu einem großen Teil, warum sich
die spekulativen Angriffe auf den Finanzmärkten in Folge der weltweiten Wirtschaftsund Finanzkrise nach 2007 gegen europäische Staaten richteten, und nicht etwa gegen
die USA oder Japan.
Wie die oben zitierte Erklärung der Ratingagentur Standard & Poors zeigt, war überdies
die außenwirtschaftliche Situation maßgeblich für die Anfälligkeit einzelner Länder gegenüber Spekulationsattacken auf dem
Markt für Staatsanleihen. In allen heutigen
Krisenländern (insbesondere Griechenland,
Irland, Portugal, Spanien) waren vor 2010 beträchtliche Leistungsbilanzdefizite entstanden (| Abb. 6 |). Diese waren in manchen Ländern Ausdruck von Finanzierungsdefiziten
des Staates, vor allem aber wiesen die privaten Sektoren dieser Länder hohe Finanzierungsdefizite auf. Die Ursachen der Leistungsbilanzdefizite sind komplex und von
Land zu Land verschieden. Klar ist aber, dass
sie nicht unabhängig von den Leistungsbilanzüberschüssen anderer Länder gesehen
werden können. Denn die Leistungsbilanz
der gesamten Welt ist immer ausgeglichen,
weil die Exporte eines Landes immer die Importe eines anderen Landes sein müssen.
Und weil die Leistungsbilanz des Euroraums
insgesamt gegenüber dem Rest der Welt bis
zur Krise nahezu ausgeglichen war, standen
den Leistungsbilanzdefiziten der jetzigen
Krisenländer in etwa gleicher Höhe Leistungsbilanzüberschüsse in anderen Mitgliedsländern des Euroraums gegenüber.
Das mit großem Abstand wichtigste Überschussland ist Deutschland, dessen Leistungsbilanz bei Einführung des Euro im Jahr
1999 noch leicht im Minus gewesen war, seit
2002 aber stark angestiegen ist. Der deutsche Überschuss hält sich seit 2007 auf einem
hohen Niveau von zeitweise über 7 Prozent
des BIP (| Abb. 6 |).
Häufig wird – gerade im Zuge von didaktischer Reduktion in Unterrichtsmaterialien –
auf die unterschiedliche Entwicklung der
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Abb. 6 Leistungsbilanzsalden, in Prozent des BIP © AMECO (EU-Kommission), eigene Berechnungen
49
Abb. 7 Nominale Lohnstückkosten, 1999 = 100 (Basisjahr) © AMECO (EU-Kommission), eigene Berechnungen
Abb. 8 Reale Lohnstückkosten, inflationsbereinigt, 1999 = 100 (Basisjahr) © AMECO (EU-Kommission), eigene Berechnungen
Zunehmende Ungleichheit
Till van Treeck
50
Länder. Wenn hingegen überall die Lohnstückkosten wie in Deutschland vor der Krise
stagnieren oder sogar fallen, droht entweder
eine Deflation (Rückgang der Preise) oder die
Gewinnmargen der Unternehmen steigen
dauerhaft an mit dem Ergebnis steigender
Einkommensungleichheit.
Wie in (| Abb. 7 | und | Abb. 8 |) zu sehen ist,
sind in den Krisenländern in den vergangenen Jahren sowohl die nominalen Lohnstückkosten als auch die realen Lohnstückkosten,
welche auf den Anteil der Löhne an den gesamtwirtschaftlichen Einkommen schließen
lassen, deutlich gefallen. Ziel der Lohnsenkungen ist es, Wettbewerbsfähigkeit insbesondere gegenüber Deutschland zurückzugewinnen. Zur Durchsetzung dieses Ziels
werden schmerzhafte Strukturreformen wie
die Deregulierung des Arbeitsmarktes, die
Schwächung der Verhandlungsmacht der ArAbb. 9 »Eckpunkte des Sanierungskonzepts nicht-konkurrenzfähiger Volkswirtschaften« beitnehmer und die Reduzierung von sozial
© Gerhard Mester, 2013
staatlichen Ausgaben durchgesetzt. Die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit und die
Lohnstückkosten als Erklärung der außenwirtschaftlichen Situaschwelende Gefahr eines Staatsbankrotts im Zuge von Finanztion der einzelnen Länder abgestellt. Die nominalen Lohnstückmarktspekulationen auf Staatsanleihen werden dabei geradezu
kosten setzen den durchschnittlichen nominalen Stundenlohn in
als Voraussetzung für die politische Durchsetzbarkeit der Reforeinem Land ins Verhältnis zur durchschnittlichen realen Arbeitsmen angesehen. Denn ohne die Bedrohung durch Arbeitslosigkeit
produktivität pro Stunde. Wie (| Abb. 7 |) zeigt, sind die nominawären die Arbeitnehmer und Wähler vermutlich nicht zu entsprelen Lohnstückkosten in Deutschland zwischen Einführung des
chenden Entbehrungen bereit. Dabei stellt sich die Frage, ob
Euro und Ausbruch der Krise gar nicht gestiegen, während sie in
diese sozialen Belastungen in den Krisenländern zumindest in
den heutigen Krisenländern erheblich angestiegen sind. Weil es
solch extremem Ausmaß überhaupt notwendig wären, wenn nicht
im Euroraum keine nationalen Währungen mehr gibt, besteht
Deutschland durch »Lohn- und Sozialdumping« (Jean-Claude Junauch nicht mehr die Möglichkeit von Wechselkursanpassungen,
cker) zur Verschlechterung der Wettbewerbsfähigkeit in den Kriso dass die preisliche Wettbewerbsfähigkeit unmittelbarer als
senländern beigetragen hätte. Mit anderen Worten: Hat nicht
früher von der Entwicklung der nationalen Preisniveaus abhängt.
Deutschland mit seiner schwachen Entwicklung bei StaatsausgaDiese wiederum hängt eng mit der Entwicklung der Lohnstückben und Lohneinkommen im Jahrzehnt vor der Krise mindestens
kosten zusammen: Denn die Unternehmen halten ihre Gewinnebenso sehr unter seinen Verhältnissen gelebt, wie die heutigen
margen genau dann konstant, wenn sie ihre Preise prozentual
Krisenländern über ihren Verhältnissen gelebt haben? In diesem
genauso stark anheben, wie die nominalen Lohnstückkosten anZusammenhang mit diesen Fragen ist die internationale Kritik an
steigen. Hieraus folgt aber keineswegs, wie häufig in UnterrichtsDeutschlands Verweigerung gegenüber einer »gemeinsamen
materialien behauptet wird, dass jeder Anstieg der ProduktionsBudgetsouveränität auf Ebene der Eurozone« (Ministère de
kosten zu einer Verschlechterung der internationalen
l‘‘éducation nationale) zur Eindämmung der Staatsschuldenkrise
Wettbewerbsfähigkeit führt. Denn wenn in allen Ländern Lohnund am Beharren auf schmerzhaften Sparmaßnahmen zu sehen.
stückkosten und Preise gleichermaßen steigen, bleibt die preisliIn den vergangenen Jahren ist in der internationalen Debatte zuche Wettbewerbsfähigkeit unverändert.
nehmend die Position vertreten worden, dass eine steigende EinEin naheliegendes Maß für die Angemessenheit der Lohnstückkostenentwicklung in einem Land ist das Inflationsziel der EZB. Dieses liegt bei unter, aber nahe 2 Prozent. In
(| Abb. 7 |) ist erkennbar, wie stark die nationalen Lohnstückkosten hätten steigen können, wenn eine Inflation (Preisanstieg) von
1,9 Prozent pro Jahr und konstante Gewinnmargen der Unternehmen angestrebt worden wären. In einigen Krisenländern sind die
nominalen Lohnstückkosten deutlich stärker
gestiegen, als laut Inflationsziel der EZB angemessen gewesen wäre. Jedoch wich die
Lohnstückkostenentwicklung in Deutschland stärker nach unten vom EZB-Inflationsziel ab, als sie in den meisten Krisenländern nach oben abwich. Dass diese wie in der
Lehrerhandreichung der französischen Bildungsministeriums als »nicht verallgemeinerbar« angesehen wird, liegt daran, dass es
logisch ausgeschlossen ist, dass alle Länder
ihre Wettbewerbsfähigkeit dadurch erhöhen,
dass die Lohnstückkosten und Preise überall
Abb. 10 »Noch ne Runde, Mario¡« © Gerhard Mester, 2014
weniger steigen als im Durchschnitt aller
Zunehmende Ungleichheit
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kommensungleichheit nicht
nur eine Folge der staatlichen
Spar- und Deregulierungspolitik in Reaktion auf die Krise
ist, sondern überdies auch
eine zentrale Ursache für gesamtwirtschaftliche Instabilität sein kann. Die zugrunde
liegende wirtschaftswissenschaftliche Forschung wurde
unter anderem vom IWF
(Kumhof/ Rancière, 2010;
Ostry et al., 2014) und der
OECD (2014) betrieben. Besonderen Auftrieb hat die
Debatte über die mit
­
der ­steigenden Ungleichheit
verbundenen ökonomischen
Probleme durch den internationalen Bestseller »Das
Kapital im 21. Jahrhundert«
­
des französischen Ökonomen
Thomas Piketty erhalten. In
einer makroökonomischen
Untersuchung von Behringer
et al. (2013) wird der Zusammenhang zwischen steigenAbb. 11 »Sparpolitik im Härtetest« der Ungleichheit und makroökonomischer Instabilität auf
der Nachfrageseite der Volkswirtschaft verortet.
Der Zusammenhang zwischen der Einkommensverteilung und
der gesamtwirtschaftlichen (Nachfrage-) Entwicklung ist ein
klassisches Thema der Makroökonomik. Ein zentrales Problem
liegt in der Frage, wie bei hoher bzw. stark steigender Einkommensungleichheit eine hinreichend große Nachfrage generiert
werden kann, um das gesamtwirtschaftliche Angebot auszulasten und eine hohe Arbeitslosigkeit zu verhindern. Von besonderer
Bedeutung ist dabei die Entwicklung des privaten Konsums, der
in den entwickelten Volkswirtschaften in der Regel zwischen 60
und 70 % des Bruttoinlandsprodukts ausmacht: Wenn sich im
Zuge steigender Ungleichheit die Einkommen der breiten Masse
der Bevölkerung, und damit die wichtigste Finanzierungsgrundlage für den privaten Konsum, nur schwach entwickeln, droht ein
Nachfrageausfall.
In der Zeit vor der weltweiten Finanzkrise 2007ff., als die Ungleichheit vielerorts stark anstieg, ist dieses latente Nachfrageproblem in verschiedenen Ländern im Wesentlichen auf zwei Arten zeitweise verdeckt worden: In den USA reduzierten die
Haushalte unterhalb der Spitzenverdiener seit Beginn der 1980er
ihre Sparquote und verschuldeten sich stark. Dies stabilisierte zunächst den privaten Konsum, dessen Anteil am Bruttoinlandsprodukt sogar anstieg, führte jedoch schließlich in die private Überschuldungskrise ab 2007. Außerdem ging diese Entwicklung mit
hohen Leistungsbilanzdefiziten einher.
Ein weiteres Beispiel für ein solches kreditbasiertes Entwicklungsmodell vor der Krise ist Großbritannien. In diesen Ländern
sind die Topeinkommensanteile stark gestiegen, der private Konsum hat sich relativ kräftig entwickelt, und die Leistungsbilanz
befand sich strukturell im Defizit. Erklärt werden kann die zunehmende Verschuldung der privaten Haushalte in den angelsächsischen Ländern mit sozialen Normen und Institutionen (überwiegend private Finanzierung von Bildung, Gesundheit, Wohnraum,
leichter Zugang zu Krediten).
In Deutschland hat sich dagegen in den letzten eineinhalb Jahrzehnten vor allem die Verteilung zwischen Unternehmens- und
Haushaltseinkommen verschoben. Weil sich die privaten Haushalte auf Grund anderer sozialer Normen und Institutionen nicht
vermehrt verschulden wollten bzw. konnten, entstand eine zähe
Konsumnachfrageschwäche. Da gleichzeitig die stark steigenden
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© Gerhard Mester, 2013
Unternehmensgewinne nicht in entsprechend höhere Investitionen mündeten, erzielte der private Unternehmenssektor seit
2002 systematisch Finanzierungsüberschüsse. Diese sind ein
wichtiger Grund für die strukturelle Schwäche der Binnennachfrage und die damit verbundenen Leistungsbilanzüberschüsse
und somit für die Abhängigkeit von der Verschuldung des Auslands.
Dass die Leistungsbilanzüberschüsse Deutschlands die Stabilität
der europäischen und internationalen Wirtschaft gefährden und
auch aus rein nationaler Perspektive kein Erfolgsmodell sind,
wird zunehmend anerkannt. Die Hoffnung, dass angesichts der
geringen Arbeitslosigkeit der private Konsum zum dauerhaften
Wachstumsmotor mit dem Ergebnis höherer Importe und geringerer Exportüberschüsse wird, ist in der Vergangenheit stets enttäuscht worden. Zugleich wird gefordert, Deutschland müsse
seine Binnennachfrage in erster Linie durch eine Stärkung der Investitionen erhöhen (DIW, 2013). Allerdings stellt sich die Frage,
wie dies erreicht werden soll. Bisweilen wird eine (weitere) Deregulierung von Arbeits- und Produktmärkten angeraten, um das
Innovations- und Investitionspotenzial angebotsseitig zu verbessern (OECD, 2012). Hans-Werner Sinn (2009) argumentiert sogar,
die in Deutschland zu geringe Ungleichheit und Deutschlands
geringe Attraktivität als Unternehmensstandort habe zu einer
»Flucht von Kapital und Talenten« geführt. Eine verstärkt unternehmensfreundliche Politik sei daher notwendig. Diese Empfehlungen gehen meines Erachtens aber am eigentlichen Problem
vorbei. Die Investitionsschwäche in Deutschland lag vor der Krise
in erster Linie in geringen staatlichen und Bauinvestitionen begründet, was kaum mit übermäßigen Regulierungen erklärt werden kann. Die privaten Ausrüstungsinvestitionen hingegen entwickelten sich im zeitlichen und internationalen Vergleich eher
unauffällig (van Treeck/Sturn 2012).
Vielmehr liegt das Haupthemmnis für die Binnennachfrage – neben der strukturell restriktiv ausgerichteten Fiskalpolitik – in der
seit langem deutlich zu schwachen Entwicklung der Lohneinkommen bzw. der verfügbaren Haushaltseinkommen. Ohne eine entsprechende Entwicklung der Masseneinkommen, und damit der
Konsumnachfrage, fehlen auch für die Unternehmen auf Dauer
die Anreize, ihre Investitionen mit Blick auf den binnenwirtschaftlichen Absatzmarkt auszuweiten. Eine gleichmäßigere Einkom-
Zunehmende Ungleichheit
51
Till van Treeck
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nen Grenzen überschritten haben, nicht entsprechend sanktioniert worden seien. Denn:
»Bereits vor Ausbruch der Wirtschaftskrise
im Jahr 2008 lag die Verschuldung mehrerer
Eurostaaten über der vereinbarten Grenze
von 60 Prozent.« (S. 3) Erhöhte »Verschuldungsanreize« hätten sich für die heutigen
Krisenländer dadurch ergeben, dass die Verzinsung für Staatsanleihen mit der Euro-Einführung stark gefallen war: »Kapital war aus
der Perspektive dieser Länder so kostengünstig wie nie zuvor« (S. 3). In keinem Satz
wird auf die internationale Kritik am deutschen Exportüberschussmodell eingegangen.
Ähnliche Einschätzungen finden sich beispielsweise in den Online-Materialien »Schroedel aktuell« des Schroedel-Verlags. Im ArAbb. 12 Im Rahmen der Zusammenarbeit des Handelsblatts mit dem Institut für Ökonomische Bildung
beitsblatt »Europa leidet und Deutschland
an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg sind bislang die Unterrichtseinheiten »Unsere
boomt« (Schroedel aktuell, 2013) etwa werWirtschaftsordnung«, »Finanzielle Allgemeinbildung«, »Unternehmen und Strukturwandel«, »Innovation«
den in der Lehrerhandreichung die folgenden
und »Globalisierung« sowie »Wirtschaft und Recht« erschienen. © Handelsblatt 2015
Ursachen für die »schlechte wirtschaftliche
Lage in den südlichen Ländern der Eurozone«
mensverteilung hingegen würde die wirtschaftliche Entwicklung
angeführt: »zu hohe Zinsen in Südeuropa«, »zu billige Konsumgüstabilisieren.
ter bei gleichzeitig zu hohen direkten Steuern«, »zu geringe Sparmaßnahmen in Südeuropa, v. a. bei Ausgaben«, »fehlende Entschuldungsmaßnahmen (Schuldenschnitte)«, »Arbeitslosigkeit«,
Einseitige Darstellung in vielen deutschen
»zu geringe Flexibilität des Arbeitsmarktes (Bsp. Sozialpläne, Bsp.
Schulmaterialien zur ökonomischen Bildung
Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen)«, »keine duale Berufsausbildung«, »Lohnanstieg ohne Anstieg der Effektivität«,
Insbesondere in Deutschland werden die zentralen Krisenursa»Verteuerung der Produktion und damit zurückgehende Konkurchen häufig in der Verantwortung der Krisenländer selbst geserenzfähigkeit«, »Schieflage der Leistungsbilanz«, »überhöhte
hen. Dabei wird in erster Linie auf die hohe Staatsverschuldung
Kreditaufnahme«, »Anstieg der Kreditzinsen«, »Überschuldung
und den Mangel an Wettbewerbsfähigkeit der Krisenländer hindes Staates«, »Verarmung der Bevölkerung«. In diesem und vielen
gewiesen. Dies lässt sich nicht zuletzt anhand von Lehrmateriaanderen Arbeitsblättern von »Schroedel aktuell« zur Krise wird es
lien im Bereich der ökonomischen Bildung verdeutlichen. So heißt
offenbar nicht für notwendig gehalten, dass Schülerinnen und
es etwa in einer Ausgabe von »Info aktuell« der Bundeszentrale
Schüler sich kritisch mit der möglichen Verantwortung Deutschfür politische Bildung aus dem Jahr 2012, dass die derzeitige Krise
lands auseinandersetzen.
erst dann auch Chancen biete, »wenn es gelingt, die StaatsverAuch Unterrichtsmaterialien von arbeitgebernahen Projekten wie
schuldung nachhaltig einzudämmen, die Wettbewerbsfähigkeit
das Internetportal »Wirtschaft und Schule« der Initiative Neue
der Krisenländer zu steigern und die richtige Balance zwischen
Soziale Marktwirtschaft (INSM) legen einen Schwerpunkt auf die
Solidarität und Eigenverantwortlichkeit zu finden.« (Heinemann/
Staatsverschuldung und die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit
Schmuck, 2012, S. 1) Immer wieder hätten Ökonomen im Vorfeld
der Krisenländer. Als Krisenursachen werden hier (INSM 2014) geder Krise davor gewarnt, »Länder aufzunehmen, die Probleme mit
nannt: »Zu hohe Staatsverschuldung, unterschiedliche Lohnihrer Wettbewerbsfähigkeit haben« (S. 3). Ebenso seien Glaubstückkostenentwicklung und Ungleichgewichte in den Leistungswürdigkeit und Wirksamkeit des Europäischen Stabilitäts- und
bilanzen.« Eine Abbildung zur Entwicklung der Lohnstückkosten
Wachstumspakts (SWP) dadurch beschädigt worden, dass Staaseit dem Jahr 2000 wird wie folgt kommentiert: »Ein Anstieg der
ten, deren Haushaltsdefizite die durch den Parkt vorgeschriebeProduktionskosten geht in der Regel mit einem Anstieg des Verkaufspreises einher. Dadurch verschlechtert
sich die internationale Wettbewerbsfähigkeit der betroffenen Firmen oder auch einer
ganzen Volkswirtschaft: Ihre Erzeugnisse
können preislich nicht mehr mit der günstigeren internationalen Konkurrenz mithalten.«
Ein weiteres Beispiel für einen einseitigen Fokus auf die Verschuldung des Staates als Ursache von Krisen ist die im Rahmen des Projekts
»Handelsblatt
macht
Schule«
veröffentlichte Unterrichtsreihe »Unsere
Wirtschaftsordnung« (Kaminski et al., 2011).
Verfasst wurde die Unterrichtsreihe von Wissenschaftlern des Instituts für Ökonomische
Bildung an der Universität Oldenburg, das in
fachdidaktischen und bildungspolitischen
Kreisen sehr einflussreich ist. Bereits im Vorwort des Präsidenten des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK) heißt
Abb. 13 »Jeder kann sich nach seinen Möglichkeiten entwickeln« © Gerhard Mester, 2012
es: »Und wie im ‚kleinen‘ Familienhaushalt
Zunehmende Ungleichheit
D&E
Heft 69 · 2015
können wir an den hochverschuldeten
Staatshaushalten beobachten, was passieren
kann, wenn man über seine Verhältnisse
lebt.« In der gesamten Unterrichtsreihe
bleibt unerwähnt, dass die Analogie von privaten und staatlichen Haushalten aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht überaus umstritten ist und dass neben der Verschuldung
des Staates auch ganz andere Faktoren als
Krisenursachen in Frage kommen (van
Treeck, 2014a). Natürlich gibt es auch Beispiele für Unterrichtsmaterialien, die alternativen Erklärungsansätzen Raum bieten.
Dies gilt insbesondere für staatlich zugelassene Schulbücher für den soziawissenschaftlichen Unterricht, welche prinzipiell den für
die politische Bildung grundlegenden Beutelsbacher Konsens und insbesondere das
Kontroversitätsgebot berücksichtigen müssen. Doch auch im Internet verfügbare Materialien zur Euro-Krise berücksichtigen teilweise vielfältigere Erklärungsansätze als die
oben beispielhaft zitierten Materialien. Zu
Abb. 14 »Neuer Sponsor gefunden!« © Freimut Wössner, dieKLEINERT.de, 2.12.2013dpa, picture alliance
nennen sind hier zum Beispiel ein neues Online-Dossier der Bundeszentrale für politiKumhof, M., Ranciere, R. (2010), Inequality, Leverage and Crises, IMF Worsche Bildung zur Schuldenkrise (BpB, 2014) oder Materialien der
king Papers (268), International Monetary Fund www.imf.org/external/
gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung (Böckler Schule,
pubs/ft/wp/2010/wp10268.pdf
2012). Gerade bei Online-Materialien, welche keiner staatlichen
Prüfung unterliegen, muss aber ein klares Übergewicht an MateMinistère de l’éducation nationale (2013): Quelle est la place de l’Union
rialien, die einseitig auf die Verantwortung der Krisenländer im
européenne dans l’économie globale?, Ressources pour le lycée général
Bereich der Staatsverschuldung und der Wettbewerbsfähigkeit
et technologique http://cache.media.eduscol.education.fr/file/SES_
abzielen, festgestellt werden.
terminale_allegements/32/6/2.2_UE_ds_l_eco_-_cor_264326.pdf
Literaturhinweise
Behringer, J., Belabed, C., Theobald, T., van Treeck, T. (2013): Einkommensverteilung, Finanzialisierung und makroökonomische Ungleichgewichte, in:
Vierteljahreshefte zur Wirtschaftsforschung, Nachhaltige europäische Konsolidierungspolitik – Chancen und Herausforderungen, 82 (4) 203–
221 http://ejournals.duncker-humblot.de/doi/abs/10.3790/
vjh.82.4.203?journalCode=vjh
Böckler Schule (2012): Europas Sparpolitik – Teufelskreis oder Befreiungsschlag? www.boeckler.de/pdf/schule_ue_eurokrise_2012.pdf
BpB (Bundeszentrale für politische Bildung) (2014): Debatte Europäische
Schuldenkrise www.bpb.de/politik/wirtschaft/schuldenkrise/
BpB (2015): Ökonomie und Gesellschaft. Zwölf Bausteine für die schulische
und außerschulische politische Bildung. Bonn.
DIW (Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung, 2013): Investitionen für
mehr Wachstum – Eine Zukunftsagenda für Deutschland, DIW Wochenbericht, Nr. 26 www.diw.de/documents/publikationen/73/diw_01.c.423458.
de/13–26.pdf
Heinemann, F., Schmuck, O. (2012): Euro am Scheideweg, Informationen zur
politischen Bildung, Info aktuell, Bundeszentrale für politische Bildung www.bpb.de/shop/zeitschriften/info-aktuell/133098/euro-amscheideweg
INSM (Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft) (2014): Schuldenkrise der EuroLänder www.wirtschaftundschule.de/aktuelle-themen/globalisierungeuropa/schuldenkrise-der-euro-laender/
Kaminski, H., Koch, M., Eggert, K. (2011): Unterrichtseinheit »Unsere Wirtschaftsordnung«, Handelsblatt macht Schule www.handelsblattmachtschule.de/unterrichtsmaterial/unterrichtseinheiten/unsere-wirtschaftsordnung.html
D&E
Heft 69 · 2015
Münchau, W. (2011): Wir bekämpfen die falsche Krise, Spiegel
Online www.spiegel.de/wirtschaft unternehmen/s-p-o-n-die-spurdes-geldes-wir-bekaempfen-die-falsche-krise-a-809769.html
OECD (Organisation for Economic Co-operation and Development, (2012):
Economic Survey of Germany.
Ostry, J., Berg, A., Tsangarides, C. (2014): Redistribution, Inequality,
and Growth, IMF Staff Discussion Note, International Monetary
Fund www.imf.org/external/pubs/ft/sdn/2014/sdn1402.pdf
Sinn, H.-W. (2009): Falsches Geschäftsmodell, Wirtschaftswoche,
22.06.2009, Nr. 26, S. 38 www.cesifo-group.de/de/ifoHome/policy/
Staff-Comments-in-the-Media/Press-articles-by-staff/Archive/
Eigene-Artikel-2009/medienecho_10191744_ifostimme-wiwo-22–06–09.
html
van Treeck, T. (2013): Globale Ungleichgewichte im Außenhandel und der
deutsche Exportüberschuss, in: Politik und Zeitgeschichte (APUZ
1–3/2014) www.bpb.de/apuz/175492/globale-ungleichgewichte-imaussenhandel-und-der-deutsche-exportueberschuss?p=all
van Treeck, T. (2014a): Kurzgutachten zur Unterrichtseinheit Handelsblatt
macht Schule: »Unsere Wirtschaftsordnung«, CIVES Praxistest Nr. 1 http://
cives-school.de/wp-content/uploads/2014/12/CIVES-Praxistest1.pdf
van Treeck, T. (2014b): Wirtschaftsweise im Klassenzimmer. Gastkommentar
in Capital (08.12.2014). http://m.capital.de/meinungen/
wirtschaftsweise-im-klassenzimmer-3122.html
van Treeck, T., Sturn, S. (2012): Income inequality as a cause of the Great
Recession? A survey of current debates, Conditions of work and employment
series No. 39, International Labour Organization http://www.ilo.org/
wcmsp5/groups/public/---ed_protect/---protrav/---travail/documents/
publication/wcms_187497.pdf
Zunehmende Ungleichheit
53
Till van Treeck
54
MATERIALIEN
M 1 Peter Bofinger: »Deutschland lebt unter seinen Verhältnissen«, Süddeutsche Zeitung, 2010
Die Spekulanten sind schuld an der Eurokrise, und die Bundesrepublik ist ein Opfer? Alles Märchen! Aus der Wahrnehmung der
deutschen Politik wie des deutschen Stammtischs sind die Schuldigen der Eurokrise schnell ausgemacht. Zum einen sind es die
bösartigen Spekulanten, die es sich zum Ziel gesetzt haben, den
Euro zu zerstören. Zum anderen sind es die Mitgliedsländer in
Südeuropa, die nicht nur bei der Haushaltspolitik geschlampt,
sondern zugleich ihre Löhne viel zu stark erhöht haben. Deutschland ist bei alledem das unschuldige Opfer, das seit Beginn der
Währungsunion alles richtig gemacht hat und jetzt riesige Milliardenbeträge zur Stützung der anderen Länder aufwenden muss.
Bei dieser Sichtweise ist klar, wie der Euroraum wieder genesen
kann: Alle Länder müssen so tugendhaft werden wie wir. Das Problem müsse an der Wurzel angepackt werden, sagte die Kanzlerin, die Länder müssten ihre Staatsfinanzen in Ordnung bringen
und sich um eine bessere Wettbewerbsfähigkeit bemühen.
Doch wie würde ein Euroraum mit 16 Deutschländern aussehen?
In den vergangenen zehn Jahren war die deutsche Wirtschaftspolitik darauf fixiert, die Lohnkosten möglichst gering zu halten.
Dies führte dazu, dass die Arbeitnehmer nicht mehr am Anstieg
des Wohlstandes teilhaben konnten und die Ausgaben im Inland
– preisbereinigt – nicht mehr zunahmen. Natürlich schlug sich
das in einem enormen Exportboom nieder, die Ausfuhren stiegen
real um bis zu 70 Prozent. Im finanziellen Sektor führte die Kombination aus Knauserei und Exportweltmeistertum zu einer riesigen Geldersparnis, die zwangsläufig im Ausland angelegt wurden
musste. Seit Beginn der Währungsunion gab Deutschland – ausweislich seines Leistungsbilanzsaldos – 895 Milliarden Euro weniger aus, als es einnahm. Wir lebten als Volkswirtschaft also nicht
über, sondern wie kaum ein anderes Land unter unseren Verhältnissen.
Eine Währungsunion mit 16 Deutschländern wäre ein Albtraum.
Gingen alle Mitgliedsländer dazu über, ihre Löhne nicht mehr zu
erhöhen oder sie sogar zu senken, um so wettbewerbsfähig wie
wir zu werden, würde der Euroraum geradewegs in die Deflation
steuern. Diese Tendenz würde noch verstärkt, wenn alle auch
noch versuchen würden, weniger auszugeben, als sie einnehmen,
um genauso viel Geld zu sparen wie Deutschland. Das kann in der
Summe nicht aufgehen, der Euroraum würde durch ein kollektives Gürtelenger-Schnallen so in die Knie gehen, dass am Ende
überhaupt keine nennenswerte Geldersparnis mehr möglich
würde. Das heißt allerdings nicht, dass sich alle Länder nun an
den Beispielen Griechenlands, Irlands oder Spaniens orientieren
sollten. Für den finanzpolitischen Schlendrian Griechenlands
kann es keine Entschuldigung geben. Und in den südeuropäischen Mitgliedsländern sind – ebenso wie in Irland – die Löhne
stärker gestiegen, als es von der Produktivität und dem Inflationsziel der Europäischen Zentralbank her angemessen gewesen
wäre. Das hat der Wettbewerbsfähigkeit geschadet und zu einer
überzogenen Verschuldung geführt. Der Euroraum wird nur dann
ins Gleichgewicht kommen, wenn sich seine Mitgliedsländer
überwiegend so verhalten, dass sie mittelfristig in etwa das ausgeben, was sie einnehmen. (…) Bundeskanzlerin Angela Merkel
hat sich in überzeugender Weise für den Euro ausgesprochen.
Doch die Währungsunion wird nur Zukunft haben, wenn die deutsche Wirtschaftspolitik erkennt, dass wir selbst ein Teil des Problems wie auch der Lösung sind. Das bedeutet nicht, dass wir nicht
mehr exportieren oder in unseren Anstrengungen um Produktivitätssteigerungen und Innovationen nachlassen sollen. Es bedeutet aber, dafür sorgen müssen, dass unsere Binnennachfrage
endlich in Schwung bekommen. Ein zentraler Ansatzpunkt für
mehr Eigendynamik sind die hohen Ersparnisse der deutschen
Wirtschaft, die seit Jahren überwiegend in ausländischen Geld-
Zunehmende Ungleichheit
M 2 Peter Bofinger, deutscher Ökonom und Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Würzburg. Seit März 2004 ist er Mitglied im
Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. © Erwin Elsner, 27.11.2013, dpa, picture alliance
anlagen investiert werden. Wenn es gelingen würde, diese Mittel
verstärkt für Investitionen im Inland einzusetzen, würde das
nicht nur die Inlandsnachfrage steigern. Es würde zugleich dazu
beitragen, dass wir nicht länger unsere Altersvorsorge auf spanischen oder US-amerikanischen Schrottimmobilien aufbauen. Im
Mittelpunkt der Wirtschaftspolitik muss deshalb die Förderung
der Investitionstätigkeit stehen. Dazu sollte zu allererst die Abgeltungsteuer auf Zinseinnahmen abgeschafft werden. Damit
würde ein Instrument beseitigt, das die Anlageentscheidungen
verzerrt, und zwar zu Lasten von Sachinvestitionen. Zugleich
käme nebenbei auch noch mehr Geld in die Staatskasse. Eine degressive Abschreibung auf Neubauten und eine Eigenheimzulage
würden viele Private wieder in die Lage versetzen, ihre Ersparnis
in Immobilien zu lenken. Damit würde die Bildung von Sachvermögen endlich genauso gefördert wie die Vermögensanlage in
Versicherungsverträgen. Sinnvoll wären außerdem Investitionsprämien für Unternehmen, die in energiesparende Produktionsanlagen investieren. Aber die Privaten werden es allein nicht
stemmen. Nach den bisherigen Planungen werden die öffentlichen Investitionen in den nächsten Jahren so gering ausfallen,
dass sie nicht einmal die Abschreibungen ausgleichen. Der Staat
sollte deshalb ein umfangreiches öffentliches Investitionsprogramm auflegen, auch wenn er sich dafür zusätzlich verschulden
muss. Das Ersparte der Bürger ist momentan sicherer und ertragreicher in der deutschen Infrastruktur investiert als in ausländischen Staats- oder Unternehmensanleihen. Auf den ersten Blick
würde ein solches Vorgehen mit den Bestimmungen der Schuldenbremse in Konflikt geraten. Aber man kann diese Bremse
zeitweise außer Kraft setzen, wenn man es mit außergewöhnlichen Notsituationen zu tun hat, die sich der Kontrolle des Staates
entziehen. Wenn die Eurokrise keine solche „außergewöhnliche
Notlage“ ist, was dann? Deutschland hat ein vitales ökonomisches wie politisches Interesse am Euro. Doch ohne energische
Anstrengungen der deutschen Wirtschaftspolitik für mehr Balance innerhalb des Systems wird die Europäische Währungsunion dieses Jahrzehnt nicht überleben.
© Süddeutsche Zeitung, 17.05.2010, www.sueddeutsche.de/wirtschaft/wirtschaftspolitik-deutschland-lebt-unter-seinen-verhaeltnissen-1.942761
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M 3 Hans-Werner Sinn: »Falsches
Geschäftsmodell«, Wirtschaftswoche 2009
In der globalen Krise wird die Exportfixierung der deutschen Wirtschaft zur Last. Jetzt
rächt sich, dass wir arbeitsintensive Binnensektoren vernichtet haben, sagt Hans-­
Werner Sinn. Wenn es eine Zahl gibt, die das
Ausmaß der Wirtschaftskrise besonders eindringlich symbolisiert, dann ist es diese: Die
deutschen Warenexporte sind im April im
Vorjahresvergleich um 29 Prozent eingebrochen – so viel wie nie zuvor seit Beginn der
statistischen Aufzeichnungen 1950. Die bislang höchsten Einbrüche wurden im ersten
Halbjahr 1993 mit etwa 16 Prozent verzeichnet. Nachdem die Auslandsaufträge im verarbeitenden Gewerbe im Januar und Februar
um 42 Prozent zurückgegangen waren, kam
der Einbruch zwar nicht überraschend. Aber
M 4 Hans Werner Sinn, Präsident des IFO Instituts München bei der Vorstellung der IFO Konjunkturprobeängstigend ist er allemal. Deutschland
gnose 2014/2015, Pressekonferenz am 11.12.2014. © dpa, picture alliance
wird von den Schockwellen der US-Finanzkrise in besonderem Maße erschüttert.
Durch unsere Exportlastigkeit sind wir unfreiwillig in die Rolle des Stoßdämpfers der Welt geraten.
Die Deutschen sparen wie die Weltmeister, aber sie investieren
Während die USA im ersten Quartal im Jahresvergleich ihre
­
nicht. Deutschland hatte zuletzt eine gesamtwirtschaftliche
­annualisierten Warenimporte um 361 Milliarden Dollar stärker
Sparquote von 13,1 Prozent des Nationaleinkommens, doch lag
schrumpfen ließen als die Exporte und China seinen Handelsseine Investitionsquote nur bei 5,4 Prozent. Wie in den Vorjahren
überschuss um 71 Milliarden Dollar vergrößern konnte, hat sich
war das vermutlich wieder der niedrigste Wert aller OECD-Länder.
Deutschlands annualisierter Handelsüberschuss um 168 Mil­
Der Überschuss der Ersparnisse über die Investitionen – 2008 imliarden Dollar verringert. Von der Sache her ist das ungefähr
merhin 166 Milliarden Euro oder 7,7 Prozent des Nationaleinkom­dasselbe, als hätte unser Land zugunsten der Welt ein gigantimens – floss ins Ausland und verschaffte den Ausländern die Fisches Konjunkturprogramm dieser Größenordnung verabschienanzmittel, mit denen sie dann deutsche Güter kaufen konnten.
det.
Ein anderer Teil des Kapitals floh in die Exportindustrien, wo er,
Das ist schön für die anderen Länder, aber nicht für uns, zumal
insbesondere auf den Endstufen der Produktion, die Wertschöpwir dafür keine Lorbeeren bekommen, sondern im Gegenteil
fung im Export im Übermaß aufblähte (Basar-Effekt). Deutschfortgesetzten Anschuldigungen ausgesetzt sind, wir täten filand durchlebte einen pathologischen Exportboom. Zwar war der
nanzpolitisch nicht genug für die Weltkonjunktur. Kein anderes
Zuwachs der Wertschöpfung bei den Ausfuhren für sich genomgroßes Land wird derzeit von außen so stark gebeutelt wie
men eine feine Sache, er reichte aber nicht aus, den Verlust an
Deutschland. Auch bei den Abschreibungsverlusten auf die
Wertschöpfung bei den Binnensektoren auszugleichen, durch
strukturierten Wertpapiere sind wir dank unserer gewaltigen Kaden er erkauft worden war. Das Kapital nahm nämlich nur die
pitalexporte voll dabei. Deutschland hat zwar ein besseres Gequalifizierten Arbeitnehmer zur Gänze in die Exportindustrien mit
schäftsmodell als Großbritannien, wo man sich von der realen
– und überließ einen Teil der ungelernten Arbeitskräfte mitsamt
Exportwirtschaft weitgehend verabschiedet hat, aber es zeigen
ihrer potenziellen Wertschöpfung dem Sozialstaat. Kein Wunder,
sich auch Risse im deutschen Modell. Dass es keinen Sinn gedass Deutschland – trotz einer passablen Performance im letzten
macht hat, Porsches gegen Lehman-Brothers-Zertifikate zu verBoom – in der Zeitspanne von 1995 bis 2009 beim Wirtschaftskaufen und sich dann der Exportweltmeisterschaft zu rühmen,
wachstum ganz hinten gelandet ist. Während die alten EU-Länder
dürfte inzwischen hinreichend klar sein. Das Grundproblem aber
in dieser Zeitspanne um 27,1 Prozent wuchsen, legte Deutschland
hat mit der aktuellen Krise nichts zu tun: Über Jahre hinweg hat
gerade mal um 14,3 Prozent zu. Nur Italien hatte eine noch
Deutschland mit seiner nivellierenden Lohnpolitik, durch die es
schlechtere Performance.
zum Weltmeister bei der Arbeitslosenquote der gering QualifiImmerhin: Der Wandel zu einem besseren Geschäftsmodell ist
zierten wurde, seine arbeitsintensiven Binnensektoren vernichmit der Agenda 2010 angelegt worden. Die Agenda wird helfen,
tet. Das Dienstleistungsgewerbe wurde dezimiert. Die arbeitsinden Binnensektor weiter zu entwickeln und die verzerrten Wirttensiven Sektoren des verarbeitenden Gewerbes, von der
schaftsstrukturen unseres Landes allmählich wieder ins Lot zu
Textilindustrie bis zur Feinmechanik, gab man übermäßig rasch
bringen. Auch hilft sie jetzt bei der Bewältigung der Krise. Umso
der internationalen Niedriglohnkonkurrenz preis. Der Strukturgefährlicher sind die nicht enden wollenden Attacken der Politik
wandel war zwar nicht prinzipiell falsch. Doch was in Deutschauf Kernelemente der Reformen. Mit den jüngsten Mindestlohnland geschah, kam einer Massenflucht aus den Binnensektoren
gesetzen etwa hat eine schleichende Konterrevolution stattgegleich, die jedes Maß vermissen ließ. Das Kapital und die Talente
funden, die das alte Geschäftsmodell wieder zu verfestigen und
flohen aus den arbeitsintensiven Binnensektoren, weil sie Angst
das deutsche Phlegma zu verlängern droht.
vor den Fesseln einer fehlgeleiteten Sozialpolitik hatten, die der
internationalen Niedriglohnkonkurrenz mit einer Hochlohnkon© Wirtschaftswoche, 22.06.2009, Nr. 26, S. 38, www.cesifo-group.de/de/ifoHome/policy/
kurrenz auf heimischen Arbeitsmärkten entgegentrat. Ein Teil
Staff-Comments-in-the-Media/Press-articles-by-staff/Archive/Eigene-Artikel-2009/medes Kapitals floh ins Ausland; das erklärt den hohen deutschen
dienecho_10191744_ifostimme-wiwo-22–06–09.html
Exportüberschuss. Anstatt in Deutschland zu investieren, haben
viele Unternehmen lieber Maschinen ins Ausland exportiert und
dort die Arbeitsplätze geschaffen, deren Verlust man nun in
Deutschland beklagt.
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Zunehmende Ungleichheit
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Till van Treeck
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Fakt ist: In den vergangenen Jahrzehnten hat
vor allem in den USA die Einkommensungleichheit drastisch zugenommen. Längst ist
es nicht mehr nur eine Kluft zwischen Arm
und Reich, sondern eine zwischen den SuperSuper-Reichen und dem großen Rest der Gesellschaft. Wenn Volkswirte über die Reichen
sprechen, dann reden sie nicht über die »oberen Zehntausend«, sondern über die »TopEin-Prozent« der Einkommensverteilung. Sie
meinen damit die Gruppe von Menschen, die
reicher sind als 99 Prozent aller anderen Einwohner eines Landes. In den USA gilt dies
derzeit für alle, die mehr als 368 000 Dollar
im Jahr verdienen.
Statistiken des Berkeley-Ökonomen Emmanuel Saez (…) zeigen: Fast nur die Superreichen, die ganz oben in der Einkommenspyramide stehen, haben in den vergangenen
Jahrzehnten kräftig dazugewonnen. (…)
Schon die Gruppe der Topverdiener, die die
reichsten zwei bis fünf Prozent der Gesellschaft bildet, ist in den vergangenen Jahrzehnten mehr oder weniger auf der Stelle getreten. Menschen, die unterdurchschnittlich
gut verdienen, mussten zum Teil sogar herbe
M 5 Diagramm zur ungleichen Verteilung des weltweiten Vermögens (Vergleich reichstes ein Prozent,
Einbußen hinnehmen. (…) Die britischen Epirestliche 99 Prozent der Weltbevölkerung) © dpa, picture alliance, Januar 2015, Grafik: Bökelmann
demiologen Richard Wilkinson und Kate Pickett argumentieren in ihrem 2009 erschienenen Buch »The Spirit Level«, dass quasi alle
M 6 Olaf Storbeck: »Das Problem der Schere zwischen Arm
sozialen und gesellschaftlichen Übel in einem engen Zusammenund Reich«, Handelsblatt 2011
hang mit der Einkommensverteilung in einem Land stünden. So
seien Kriminalität und Drogenkonsum in einem Land umso höher,
(…) Die Reise dauert gerade mal 50 Minuten. So lange braucht
je größer die Kluft zwischen Arm und Reich sei.
man mit dem Auto vom piekfeinen Montgomery County im ameMöglicherweise war die enorme Einkommensungleichheit in den
rikanischen Bundesstaat Maryland in die südöstlichen StadtvierUSA auch ein Grund für die Finanz- und Wirtschaftskrise der vertel der Hauptstadt Washington. Es ist eine Reise von einer der
gangenen Jahre. Diese These vertritt Raghuram Rajan, ehemalireichsten Regionen der USA in eine der ärmsten. Und das wirkt
ger Chefvolkswirt des Internationalen Währungsfonds (IWF) und
sich nicht nur auf den Bankkonten aus: Mit jedem Kilometer sinkt
heute Ökonomieprofessor in Chicago. »Es gab einem enormen
die Lebenserwartung der Menschen um sieben Monate – von 81
politischen Druck, etwas dagegen zu tun«, argumentiert Rajan.
auf 60 Jahre. Die große Mehrheit der Wirtschaftswissenschaftler
Die traditionellen Instrumente der Wirtschaftspolitik – höhere
hat solche Unterschiede lange Zeit kaltgelassen. EinkommensunSteuern für Gutverdiener und direkte Transfers an die ärmeren
gleichheit war in der modernen Volkswirtschaftslehre nur ein NiSchichten – seien jedoch seit den 80er-Jahren unpopulär geworschenthema. Die meisten Ökonomen sahen in der deutlichen
den. Daher habe die US-Wirtschaftspolitik gezielt versucht, das
Kluft zwischen Arm und Reich nicht nur eine Folge von hohem
Problem mit billigem Geld und einfach verfügbaren Krediten zu
Wirtschaftswachstum. Sie hielten solch ein Gefälle gar für eine
lösen. »Das hat lange scheinbar wunderbar funktioniert«, so Rawichtige Voraussetzung dafür, dass die Marktwirtschaft gut funkjan. »Die Leute konnten sich mit geliehenem Geld Häuser kaufen,
tionieren kann. Zudem waren nicht nur liberale Ökonomen überdie im Wert stiegen und als Sicherheit für neue Kredite dienten –
zeugt: Wenn die Reichen noch reicher werden, wird das nach und
dieses Geld konnten sie dann in den Konsum stecken.« Das Probnach auch zu den unteren Einkommensschichten durchsickern.
lem der wachsenden Ungleichheit sei so lange zugedeckt worden.
(…) Inzwischen denken viele Volkswirte um. Denn es mehren sich
Die IWF-Volkswirte Michael Kumhof und Romain Rancière haben
die Belege dafür, dass krasse Gegensätze zwischen Arm und
diese Argumentation mit einem theoretischen Modell untermauReich nicht nur eine moralische Dimension haben, sondern handert. Darin zeigen sie: Steigende Einkommensungleichheit kann
festen ökonomischen Schaden anrichten. Einige Forscher sehen
dazu führen, dass ärmere Schichten versuchen, ihren Lebensstanin der drastisch gestiegenen Einkommensungleichheit gar eine
dard immer stärker über Kredite aufrechterhalten zu wollen – und
Ursache für die Finanzkrise der Jahre 2007 bis 2009.
dass sie sich zumindest eine Zeit lang immer leichter Geld leihen
Das neue ökonomische Bewusstsein für Verteilungsfragen hat
können. Auf Dauer mache dies das Finanzsystem instabil und anhandfeste Konsequenzen für die Wirtschaftspolitik. Höhere Steufälliger für Krisen. Mehr traditionelle Sozialpolitik könne das Proern für Reiche – liberalen Ökonomen traditionell ein Graus – erblem lösen, schreiben die IWF-Ökonomen. Wenn der Staat Einscheinen in einem neuen Licht, staatliche Transfers an ärmere
kommen umverteile, könne er die Wirtschaft damit womöglich
Schichten ebenso. »Große Einkommensungleichheit verursacht
stabiler machen.
in reichen, hochentwickelten Volkswirtschaften zahlreiche Prob© Handelsblatt, 31.01.2011, http://www.handelsblatt.com/politik/oekonomie/nachrichleme«, ist zum Beispiel Adair Turner, Chef der britischen Finanzten/oekonomie-das-problem-der-schere-zwischen-arm-und-reich-seite-all/3820264-all.
marktaufsicht FSA, überzeugt. Die Ignoranz für Einkommensunhtml
gleichheit sei einer der entscheidenden Fehler, den das Fach in
den vergangenen Jahrzehnten gemacht habe. »Ungleichheit«,
betont auch der Mannheimer Ökonom Hans Peter Grüner, »ist
eine ganz zentrale volkswirtschaftliche Größe. Über die dürfen
wir nicht einfach hinwegsehen.«
Zunehmende Ungleichheit
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M 7 Till van Treeck: »Ungleichheit – das
neue Mega-Thema«, In: Capital, 2014
Der Piketty-Bestseller »Das Kapital im
21. Jahrhundert« erschüttert die Ökonomie,
die sich zu lange um Fragen der Einkommensund Vermögensverteilung gedrückt hat. In
diesen Tagen erscheint er endlich auch auf
Deutsch: Thomas Pikettys internationaler
Bestseller mit dem monumentalen Titel »Das
Kapital im 21. Jahrhundert«. Die im April veröffentlichte englische Übersetzung des ursprünglich auf Französisch geschriebenen,
beinahe 1000 Seiten starken Wälzers hat erstaunliche Wellen geschlagen. Beinahe alles,
was in der internationalen Ökonomen-Szene
Rang und Namen hat, hat mittlerweile Position bezogen zu den von Piketty erarbeiteten
Thesen. Zeitweise führte das Buch sogar die
Verkaufslisten von Amazon an, höchst ungeM 8 Finanzierungssalden (Einnahmen minus Ausgaben) der privaten und staatlichen Wirtschaftssektowöhnlich für einen wissenschaftlichen Fachren in Deutschland, in Prozent des Bruttoinlandsprodukts. © Eigene Darstellung, nach Daten
titel. (…)
des Statistischen Bundesamtes
Der Beginn dieses kreditfinanzierten Konsummodells der US-amerikanischen Mittelschicht fällt genau zusammen mit dem rasanten Anstieg der Einkommensungleichheit am oberen Ende der
Die anhaltend hohen Finanzierungsüberschüsse des UnternehVerteilung seit den frühen 1980er Jahren, den Pikettys Top-Einmenssektors bedeuten aber nicht nur, dass sich die Ersparnisbilkommens-Daten so eindrucksvoll zeigen. Eine Zeit lang sah es so
dung von reich und arm auseinanderentwickelt, sondern sie sind
aus, als könnte auch die Mittelschicht selbst ohne laufende Erauch ein schwerwiegendes makroökonomisches Problem. Die
sparnis Vermögen bilden, weil die Häuserpreise stetig zu steigen
privaten Haushalte waren in der Geschichte der Bundesrepublik
schienen. Doch diese Illusion ist spätestens seit dem Platzen der
Deutschland immer Nettosparer. Der Staat darf sich wegen der
Immobilienblasen nach 2007 vorbei. Was bleibt, ist eine bei den
sogenannten Schuldenbremse nicht mehr neu verschulden. Wenn
reichen Haushalten und im Ausland verschuldete Mittelschicht
nun auch noch die Unternehmen angesichts hoher Gewinne nicht
und eine gestiegene Vermögensungleichheit, die nach und nach
mehr auf eine für diesen Sektor eigentlich übliche Nettokreditverstärkend auch auf die Einkommensungleichheit zurückwirken
aufnahme angewiesen sind, bedeutet dies, dass die deutsche
wird.
Volkswirtschaft strukturell weniger ausgibt, als sie einnimmt,
Gleichzeitig ist die Überschuldung der Privathaushalte eine
also Leistungsbilanzüberschüsse realisiert. Damit trägt Deutschschwere Hypothek für die künftige Wachstumsentwicklung in
land maßgeblich zur Nachfrageschwäche in Europa und weltweit
den USA. Nachdem jahrzehntelang fehlende Einkommenssteigebei, welche sich zu der besagten säkularen Stagnation zu verfestirungen der Mittelschicht durch Kredite ersetzt wurden und so der
gen droht.
Konsum hochgehalten wurde, droht nun die säkulare Stagnation
Das sollte die zentrale Lehre sein, die die Volkswirtschaftslehre
nicht zuletzt deswegen, weil bei sich weiter verschärfender Unund die Wirtschaftspolitik aus der Weltwirtschaftskrise 2007ff.
gleichheit aber erschöpften Verschuldungsmöglichkeiten die
ziehen sollte: Der Kapitalismus kann auf Dauer nur stabil sein,
Konsumnachfrage nicht in Gang kommt.
wenn die Einkommen der großen Masse der Bevölkerung im
In Deutschland reduzierte die Mittelschicht nicht ihre ErsparnisGleichschritt mit der Güterproduktion steigen. Wenn dies nicht
bildung und sie verschuldete sich auch nicht zunehmend, als zu
der Fall ist, droht längerfristig Instabilität: entweder weil die MitBeginn der 2000er-Jahre die Einkommensungleichheit rasant antelschicht wie in den USA nur noch kreditfinanziert konsumieren
zusteigen begann. Dies dürfte mit anderen sozialen Normen zukann und früher oder später überschuldet ist; oder weil wie in
sammenhängen und mit der weniger laxen Kreditvergabe der
Deutschland die Binnennachfrage schwächelt und Wachstum und
Banken im Vergleich etwa mit den USA. Dennoch entwickelte sich
Beschäftigung nur noch über die kreditfinanzierte Nachfrage des
die relative Ersparnisbildung von arm und reich auseinander:
Auslands erzeugt werden können. Die zunehmende Ungleichheit,
Hierzulande waren es die Unternehmen, die in den frühen 2000er
die Piketty in »Das Kapital im 21. Jahrhundert« so faktenreich anaJahren begannen, im Zuge stark steigender Gewinne vermehrt
lysiert, und die schwere Krise des Kapitalismus im frühen 21. JahrGeldvermögen zu bilden. Weil die Unternehmen ihre Einnahmen
hundert sind untrennbar miteinander verbunden.
nicht an den privaten Haushaltssektor weitergaben, stiegen zwar
© Till van Treeck, Capital, 7.10.2014, www.capital.de/meinungen/ungleichheit-das-neuedie Top-Haushaltseinkommen viel weniger stark an als etwa in
mega-thema-2273.html
den USA, wo die Unternehmen viel aggressiver auf Gewinnausschüttungen für die Aktionäre und Bonuszahlungen für die Spitzenmanager setzten. Die einbehaltenen Unternehmensgewinne
bleiben zwar in Pikettys Top Income Shares unberücksichtigt, ihr
Anstieg bedeutet aber eine Zunahme der Ungleichheit, weil die
Letzteigentümer der Unternehmen in erster Linie reiche Haushalte sind. Und spätestens mit dem Ableben der Baby-Boomer,
die nach dem Zweiten Weltkrieg geboren wurden, wird die Vererbung von in Unternehmen angehäuften Vermögen zum ernsthaften Verteilungsproblem werden, vor allem wenn die angemessene
Besteuerung dieser Vermögen weiterhin ein politisches Tabu
bleibt.(…)
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Heft 69 · 2015
Zunehmende Ungleichheit
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BRICHT EUROPA AUSEINANDER? REICHTUM UND ARMUT IN EUROPA
7. Mindestlohndebatte in Deutschland
HANS GAFFAL
S
58
eit dem 1. Januar 2015 gilt in Deutschland ein flächendeckender gesetzlicher
Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro brutto
pro Stunde. Damit gesellt sich die Bundesrepublik zu den 21 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, in denen bereits Lohnuntergrenzen
gelten.
Nach
einer
repräsentativen Umfrage des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales vom
April 2014 begrüßt eine große Mehrheit von
86 Prozent der Bundesbürger die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns. Vorausgegangen war eine mehr als zehnjährige Debatte über das Für und Wider eines
allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns.
Langzeitlich stagnierende Löhne, ein im
Vergleich zu anderen OECD-Ländern überdurchschnittlicher Anstiegs der Ungleichheit und ein fragmentierter Arbeitsmarkt,
der Risiken zunehmend individualisiert,
bildeten den Hintergrund und Stoff für
diese Diskussion. Ist das »Gesetz zur StärAbb. 1 »Der Arbeitsmarkt im Wandel« © Gerhard Mester, 2010
kung der Tarifautonomie« von 2014, dessen
Artikel 1 das »Gesetz zur Regelung eines
entstandene Niedriglohnsektor resultierte zum einen aus signiallgemeinen Mindestlohns« enthält, eine angemessene Antfikanten Veränderungen im Tarifvertragssystem. Durch den
wort auf die aktuellen Herausforderungen eines gespaltenen
kontinuierlichen Rückgang der Tarifbindung und des gewerkArbeitsmarktes? Ist es sozialpolitisch gesehen sogar eine hisschaftlichen Organisationsgrads kam es in vielen Bereichen zu
torische Entscheidung und damit ein später Sieg der Gewerkkeinen Tarifvereinbarungen bzw. zu tariflichen Regelungen auf
schaften und Agenda-2010-Kritiker? Oder ist es als eine politieinem nicht zwingend existenzsicherndem Niedriglohnniveau.
sche Fehlentscheidung mit negativen Folgen für den
Besonders häufig anzutreffen waren und sind solche VerhältArbeitsmarkt zu bewerten?
nisse in bestimmten Handwerksberufen und in Branchen wie
Gastgewerbe, dem Einzelhandel und bei Dienstleistungen für
Unternehmen. Dieser Trend zu mehr Lohnungleichheit wurde
»Sozial ist, was Arbeit schafft.«: Die Agenda 2010
durch die Arbeitsmarkt-Reformen (Hartz-Reformen) zwischen
und das »deutsche Jobwunder«
2002 und 2005 noch verstärkt. Der entstandene Niedriglohnsektor war politisch gewollt und wurde durch verschiedene
In der deutschen Arbeitsmarktstatistik jagt seit Jahren eine BestMaßnahmen wie z. B. durch die Anhebung der Geringfügigkeitsmarke die nächste: Am Jahresende 2014 waren erstmals mehr als
grenze in der Sozialversicherung und verschärfte Zumutbar43 Millionen erwerbstätig, die Zahl der sozialpflichtigen Arbeitskeitskriterien gefördert.
plätze stieg auf 30,7 Millionen und 2,76 Millionen wurden als arTrotz der Erfolgsmeldungen vom Arbeitsmarkt sah sich die Bunbeitslos Gemeldete registriert, was einer Arbeitslosenquote von
desregierung 2014 veranlasst, ein Mindestlohngesetz auf den
6,4 Prozent entspricht.
Weg zu bringen. Erklärungen für diesen staatlichen Eingriff in
Anders als in den meisten europäischen Staaten konnte die Weltdie Lohnfindung auf dem Arbeitsmarkt findet man beim Blick
finanzmarktkrise die Weltfinanzmarktkrise und deren Folgen
hinter die Kulissen des deutschen »Jobwunders«. Die hohe Bevom deutschen Arbeitsmarkt mittels flexibler Arbeitszeiten und
schäftigungsquote wurde mit einer starken Lohnspreizung und
gespreizter Löhne sowie Kurzarbeit relativ gut aufgefangen und
einem seit 1995 expandierenden und zwischen 2002 und 2007
abgefedert werden. Selbst wenn man die Unzulänglichkeiten der
stark anwachsender Niedriglohnsektor mit relativ geringer AufArbeitsmarktstatistik, die fast 2 Millionen Arbeitslose nicht erwärtsmobilität erkauft. Heute besitzt Deutschland innerhalb
fasst, und die Stille Reserve mit einrechnet, steht Deutschland im
der großen Industriestaaten den größten Niedriglohnsektor,
europäischen und internationalen Vergleich gut da. Die Arbeitsloauf dem fast ein Viertel der Beschäftigten arbeitet, v. a. in Bransigkeit ist um zwei Millionen gesunken, die Beschäftigung stark
chen mit geringer Tarifbindung. In einigen Branchen ist es zum
angewachsen und eine noch nie da gewesene Vielfalt unterBilliglohnland geworden. Eine erstaunliche Entwicklung, die
schiedlichster Arbeitsverhältnisse entstanden. Vom »deutschen
verteilungspolitisch durch ein weiteres Merkmal gekennzeichJobwunder« ist die Rede.
net ist: Obwohl die Arbeitsproduktivität in den letzten 15 Jahren
Wie konnte aus dem in den 90-er Jahren noch als »kranker Mann
um fast 18 Prozent gestiegen ist, lagen die Reallöhne 2013 niedvom Rhein« verspotteten Land das »Modell Deutschland« entriger als 1999.
stehen? Es waren v. a. zwei Entwicklungen, die den strukturellen
Die Zuwächse in der Beschäftigung gingen also vorwiegend
Wandel zur Dienstleistungsgesellschaft begleiteten und zu marauf das Konto sogenannter atypischer Beschäftigungsformen
kanten Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt führten. Der neu
wie Teilzeitarbeit, befristete und geringfügige Beschäftigung,
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© sozialpolitik-aktuell
Abb. 2 Sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse 1993–2013 Leiharbeit und neue Selbständigkeit. Solche atypischen
­Beschäftigungsverhältnisse sind meist mit deutlich niedrigeren
Einkommen und höheren Arbeitslosigkeits- und Armutsrisiken
verbunden. 2010 arbeitete zum Beispiel die Hälfte der Beschäftigten in diesem Bereich für einen Niedriglohn, darunter vier
Fünftel der Minijobber und zwei Drittel der Leiharbeiter, bei
denen sich deutlich die Insider-Outsider-Problematik zeigt. Vor
allem Frauen landen so in einer Niedriglohnfalle, die eine eigenständige Existenzsicherung kaum ermöglicht. Zudem sind ein
Drittel der Hartz-IV-Empfänger sogenannte Aufstocker, die zusätzlich zu ­ihrem Erwerbseinkommen Transferleistungen beziehen und damit staatliche Lohnsubventionen erhalten.
Der deutsche Arbeitsmarkt präsentiert sich
heute als ein gespaltener Markt: Neben gut
geschützten »Normalarbeitsverhältnissen«
der Stammbelegschaften findet man in den
Betrieben eine Gruppe von Arbeitnehmern,
die zu schlechteren Bedingungen arbeiten:
befristet Beschäftigte, Leiharbeiter mit eigenem Tarifvertrag, Stammbeschäftigte der
Dienstleister, die im Rahmen eines Werkvertrags tätig sind, sowie Solo-Selbstständige
oder Scheinselbstständige, die mittels Werkverträgen Arbeiten übernehmen. Letztlich
hat also der Abbau der Arbeitslosigkeit von
Geringqualifizierten dazu geführt, dass Beschäftigungsverhältnissen mit vergleichsweise niedrigen und teils nicht einmal die
Existenz sichernden Löhnen zugenommen
haben.
Gewerkschaftsbundes erfüllt. Parteipolitisch standen sich die
SPD, Grüne und Linke als Befürworter einer Mindestlohnregelung
der CDU und FDP gegenüber, die einen solchen Eingriff ablehnten. Nach der Bundestagswahl 2013 rückte die CDU in den Koalitionsverhandlungen mit der SPD von ihrer ablehnenden Haltung
ab. Dagegen kritisieren Arbeitgeberverbände und die CDU/CSUMittelstandsvereinigung den ihrer Meinung nach überflüssigen
und nicht zielführenden staatlichen Eingriff in die Lohnfindung.
Sie werden dabei von großen Teilen der deutschen ÖkonomenZunft – einschließlich des »Sachverständigenrats« zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung – unterstützt.
Positionen in der Debatte
um den Mindestlohn
Mit dem gesetzlichen Mindestlohn wurde
eine langjährige Forderung des Deutschen
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Abb. 3 Plakat der DGB-Mindestlohnkampagne © Deutscher Gewerkschaftsbund
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Kritiker wenden ein, dass die Realität auf den
Arbeitsmärkten wenig mit diesem Marktmodell zu tun habe: Auf Arbeitsmärkten finden
sich meist Informationsdefizite und keine
vollständige Transparenz, statt vollkommenen Wettbewerb findet man vielfach oligopolistische Strukturen mit marktbeherrschenden Unternehmen. Neben Marktmacht
und ungleichen Verhandlungspartnern zeigen sich Zugangsbarrieren und hohe Transaktionskosten sowohl für Unternehmen als
auch für Beschäftigte, deren Arbeitsplatzwechsel durch diverse Faktoren beschränkt
wird. Einer seriösen volkswirtschaftlichen
Betrachtung halte diese ökonomische Sicht
auch deshalb nicht stand, weil sie Löhne nur
als betriebliche Kosten abbildet und ihre
Wirkungen auf die gesamtwirtschaftliche
Nachfrage unterschlägt.
Die Befürworter verfolgen mit dem Mindestlohn gleich mehrere Ziele: Er soll die
Abb. 4 Soziale Absicherung und Mindestlohn © Klaus Stuttmann, 3.7.2014
Einkommenssituation von Niedriglohnbeziehern verbessern, drohender Altersarmut
Die Gegner argumentieren, dass Mindestlöhne den Faktor Arbeit
entgegenwirken, die marktverzerrende Subventionierung von
so verteuern werden, dass Wettbewerbsnachteile entstehen und
Niedriglöhnen beenden und damit die sozialen Sicherungssysein massiver Beschäftigungsabbau – v. a. im Niedriglohnbereich
teme entlasten. Zudem erhofft man sich, dass der Einkommens– drohe. Damit würden Lohnuntergrenzen gerade denen schazuwachs bei Geringverdienern infolge ihrer hohen Konsumden, denen sie helfen sollen. Selbst wenn es gelänge, die höheren
quote zu einer Stärkung der Binnennachfrage führt. Im
Arbeitskosten großenteils auf die Preise über zu wälzen, hätte
Mindestlohn wird demnach ein verteilungs- und sozialpolitidies eine sinkende Nachfrage zur Folge. Gelingt die Einpreisung
sches Instrument gesehen, das normativ gefordert und damit
nicht, könnten die Unternehmen mit Rationalisierung oder mit
überfällig sei. Hierbei wird u. a. auf die Europäische Sozialcharta
der Verlagerung von Produktionsstätten reagieren und Haushalte
und die Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der ArDienstleistungen durch Waren oder Schwarzarbeit ersetzen.
beitnehmer verwiesen: Mit einer Vollzeitbeschäftigung müsse
Sozialpolitisch sei ein Mindestlohn weder erforderlich noch efohne staatliche Transferleistungen bzw. »Kombilöhnen« der Lefizient, weil mit dem Arbeitslosengeld II bereits ein Instrument
bensstandard einer Familie gesichert werden können. Dies sei
besteh, dass ein Absinken unter das soziale Existenzminimum
im Zuge einer abnehmenden Tarifbindung und zunehmender
verhindere. Das bessere sozialpolitische Instrument sei die
Verbreitung von Niedriglöhnen jedoch immer weniger gewährstaatliche Lohnsubvention durch Aufstockung der Niedriglöhne
leistet.
oder andere Kombilohnmodelle. Weil ein erheblicher Teil der
Bezieher gar nicht in Haushalten mit geringem Einkommen
Das Mindestlohngesetz – Wirkungen
wohne und Alleinverdiener in mehrköpfigen Familien auch mit
und Wertungen
Mindestlohn arm bleiben werden, sei der Mindestlohn auch kein
geeignetes Umverteilungsinstrument. Und schließlich müsse
Mit dem gesetzlichen Mindestlohn, der im »Tarifautonomiestärder Mindestlohn als ein rechtswidriger Eingriff in die Autonomie
kungsgesetz« von 2014 in ein Maßnahmenbündel zur Stärkung
der Tarifvertragsparteien betrachtet werden.
der Tarifautonomie eingebettet ist, betritt die Bundesregierung
Die Gegner berufen sich dabei auf das neoklassische Marktmokein Neuland. Bereits seit 2007 konnten Mindestlohntarifverdell, nach dem Mindestpreise, die über dem Marktpreis liegen,
träge nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz per Allgemeinvergrundsätzlich zu einer geringeren Nachfrage führen. Dieses Stanbindlichkeitserklärung auf ganze Branchen ausgedehnt werden.
dardmodell setzt einen funktionierenden Markt voraus, der beIn achtzehn Wirtschaftszeigen wurde diese Möglichkeit für Niedstimmte Modellvoraussetzungen erfüllt. Sind diese gegeben,
riglohngrenzen genutzt. Daneben existieren auf Länderebene redann reguliere sich der Preis von selbst. Vom Güter- auf den Argionale Mindestlöhne, die in landesspezifischen Vergabe- und
beitsmarkt übertragen heißt das: Bei zu hohen Löhnen sinkt die
Mindestlohngesetzen festgeschrieben wurden und für öffentliNachfrage nach Arbeit und steigt die Arbeitslosigkeit. In der Folge
chen Aufträgen und Zuwendungen gelten.
akzeptieren Arbeitslose niedrigere Löhne und so stellt sich auf
Das Bundesarbeitsministerium schätzt, dass ca. 3,7 Millionen Bedem Arbeitsmarkt ein neuer Gleichgewichtslohn her, der dann
schäftigten ab 2015 bzw. 2017 vom Mindestlohn profitieren werder Produktivität der Arbeitnehmer entspricht.
den. Für zwei Millionen davon gelten bis 2017 Übergangsregelungen. Diese Ausnahmeregelung gilt für Zeitungszusteller,
Garten- und Landschaftsbau, Friseurhandwerk, GroßwäscheNIEDRIGLOHN
reien, Fleischindustrie und Leiharbeit. Hier liegen die bestehenDie OECD definiert den Niedriglohn im Verhältnis zu dem so geden branchenspezifischen Mindestlöhne unterhalb von 8,50 Euro.
nannten Median (mittleres Bruttoarbeitsentgelt). Der Median
Vorhandene Branchenmindestlöhne, die über der neuen Mindestteilt die Löhne in zwei gleich große Gruppen: Die eine Hälfte
lohngrenze von 8,50 Euro liegen, werden durch die neue Mindestliegt unter diesem Wert, die andere Hälfte darüber. Geringverlohnregelung nicht verdrängt. Ganz ausgenommen von der neuen
diener ist, wer ein Arbeitsentgelt von weniger als zwei Drittel
Regelung sind Personen- und Beschäftigtengruppen wie Jugenddes mittleren Lohns bekommt.
liche, Auszubildende, Praktikanten, ehrenamtlich Tätige und
Die Beschäftigungsstatistik der Bundesagentur für Arbeit weist
Langarbeitslose in den ersten sechs Monaten. Zukünftig soll eine
für das Jahr 2010 die Niedriglohnschwelle 2011 bundesweit bei
Kommission, die sich zu gleichen Teilen aus Vertretern der Geeinem Stundenlohn von 9,54 € brutto aus.
werkschaften und der Arbeitgeberverbände zusammensetzt, alle
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zwei Jahre über die Höhe des
gesetzlichen Mindestlohns
entscheiden.
Über die möglichen Folgen
des Mindestlohns gibt es
­unter Wirtschaftsexperten
einen heftigen Streit. Die
Einschätzung der Beschäfti­
gungs- und Verteilungswirkungen sowie der gesamtwirtschaftlicher Effekte auf
Kaufkraft, Wachstum, Produktivität und öffentliche
Haushalte variiert je nach
wirtschaftspolitischer Schule
und verteilungspolitischer
Perspektive.
Die Zahl der potenziellen
Mindestlohnbezieher wurde
im Gesetz durch den Ausschluss bestimmter Personengruppen um ein Viertel
reduziert. Diese gruppenund branchenspezifischen
Ausnahmen vom Mindestlohn werden ebenso wie die
Verschiebung des Mindestlohnstarts auf 2015, die Möglichkeit tariflicher Abweichungen und das Einfrieren
der Mindestlohnhöhe bis
2018 als Zugeständnis an die
Arbeitgeber bewertet. Sie
könnten sich, so wird befürchtet, als Einladung zum
Missbrauch und damit als
Hindernis für eine effiziente
Begrenzung von Niedriglöhnen erweisen. Zudem bleibt
abzuwarten, ob die AusnahAbb. 5 Mindestlohn in Europa und den USA © www.mindestlohn.de
meregelung für Langzeitarbeitslose deren Beschäftigungschancen erhöhen oder eher ihre Chancen auf einen
Preissteigerungen Nachfrageinschränkungen mit BeschäftiÜbergang in dauerhaft reguläre Beschäftigung verhindern wird.
gungseinbußen bedeuten werden.
Obwohl Untersuchungen zu den Beschäftigungseffekten der in
Voraussichtlich werden sich lediglich leichte Verbesserungen in
Deutschland gültigen Branchenmindestlöhne keine nennenswerder Einkommenssituation im Niedriglohnbereich – v. a. in Ostten Beschäftigungseffekte ergeben haben, prognostizieren viele
Wirtschaftsforschungsinstitute Arbeitsplatzverluste in MillionenRechtliche Normen zur MINDESTLOHNDISKUSSION
höhe als Folge der Mindestlohnregelung. Die dabei angewandten
Simulationsmodelle, so Kritiker, unterstellen NachfrageelastiziVereinte Nationen (UNO): Allgemeine Erklärung der Mentäten bei Lohnerhöhungen, die einer empirischen Überprüfung
schenrechte (1948):
auf den realen Arbeitsmärkten nicht standhielten. Die als Droh»Jeder, der arbeitet, hat das Recht auf gerechte und befriedigende Entkulisse aufgebaute Gefahr von Aus- bzw. Verlagerung arbeitsinlohnung, die ihm und seiner Familie eine der menschlichen Würde enttensiver Produktionsschritte hält ebenso wenig einem Faktensprechende Existenz sichert, gegebenenfalls ergänzt durch andere sozicheck stand wie die Behauptung, der Gesetzgeber füge mit dem
ale Schutzmaßnahmen.«(Artikel 23, Abs. 3)
»Tarifautonomiestärkungsgesetz« der Tarifautonomie schweren
Schaden zu: Zum einen wird in typischen Niedriglohnsektoren
Europäische Sozialcharta 1961:
wie Pflegeheime, Bäckereien, Restaurants und Friseurgeschäfte
»Alle Arbeitnehmer haben das Recht auf ein gerechtes Arbeitsentgelt,
auch zukünftig Arbeit in Deutschland nachgefragt werden. Zum
das ihnen und ihren Familien einen angemessenen Lebensstandard sianderen hat der Mindestlohn schon vor Inkrafttreten Wirkung gechert.« (Teil I, Artikel 4)
zeigt und vor allem im weitgehend tariflosen Ostdeutschland
zum Abschluss vieler neuer Tarifvereinbarungen im NiedriglohnEU-Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbereich geführt.
beitnehmer (1989):
Die Verteilungswirkungen des gesetzlichen Mindestlohns hängen
»Für jede Beschäftigung ist ein gerechtes Entgelt zu zahlen. Zu diesem
letztlich vom jeweiligen Haushalttyp und -einkommen und FaktoZweck empfiehlt es sich, dass entsprechend den Gegebenheiten eines
ren wie zukünftiges Konsumentenverhalten und Höhe staatlicher
jeden Landes den Arbeitnehmern ein gerechtes Arbeitsentgelt garantiert
Transferzahlungen ab. Entscheidend wird sein, ob höhere Löhne
wird, das heißt ein Arbeitsentgelt, das ausreicht, um ihnen eine angeim unteren Einkommensbereich erhebliche Nachfrageeffekte bemessenen Lebensstandard zu erlauben« (Titel 5, Abs. 1)
wirken können oder ob die durch den Mindestlohn ausgelösten
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Abb. 6 »Wirtschaftskreislauf« 62
deutschland – ergeben. Ein gesetzlicher Mindestlohn in Höhe von
8,50 Euro ist auf alle Fälle zu niedrig, um einen effektiven Beitrag
zur Armutsvermeidung leisten zu können. Bei den meisten Betroffenen wird er weder das Nettohaushaltseinkommen über das
ALG- II-Niveau anheben noch das drohende Armutsrisiko im Alter
senken. Meldungen über höhere Wertschätzung und mehr Anerkennung aus Bereichen mit Branchenmindestlöhne lassen immerhin erwarten, dass sich die Arbeitszufriedenheit besser bezahlter Mitarbeiter erhöhen dürfte.
Die Arbeitgeber werden letztlich darüber entscheiden, ob die
Umsetzung des gesetzlichen Mindestlohns gelingt. Im Bereich
der außertariflichen Sonderzahlungen könnten sich aufgrund
der vagen Bestimmungen im Mindestlohngesetz einige Gestaltungsmöglichkeiten für Umgehungsstrategien eröffnen. Zeitungsberichten zufolge planen bereits einzelne Großbetriebe
der Systemgastronomie den Mindestlohn auf diesem Wege zu
unterlaufen. Ebenso könnten verschärfte Leistungsvorgaben
den Mindestlohn de facto aushebeln. Solche Möglichkeiten bieten sich vor allem an bei Arbeitsverhältnissen mit Stücklöhnen
wie sie sich z. B. bei Zeitungsausträgern, Saisonarbeitern im
Agrarsektor, Taxifahrern und in Call-Centern finden. Nicht bezahlte Mehrarbeit etwa bei Minijobbern, Ausweichen in Schwarzarbeit, Anstieg der Scheinselbstständigkeit – in Form von Werkverträgen – oder Umwandlung von Vollzeit- in Teilzeitstellen mit
Überstunden ohne Vergütung könnten weitere Anpassungsreaktionen sein, um den Mindestlohn zu umgehen. Die Durchsetzung und Kontrolle dürfte auch dadurch erschwert werden, dass
ein Drittel der Betroffenen in Betrieben ohne gewerkschaftliche
Vertretung arbeitet.
»Sozial ist, was existenzsichernde Arbeit
schafft.«
In der Debatte um den Mindestlohn zeigt sich ein gesellschaftliches Grundproblem, das die um sich greifende »Ökonomisierung
der Gesellschaft« begleitet: Wird das ökonomische – in der Regel
eher betriebs- als volkswirtschaftlich verstandene – Effizienzkriterium alleiniger Bewertungsmaßstab für zukünftige politische
Entscheidungen? Welches Gewicht messen wir z. B. bei der Beurteilung beschäftigungspolitischer Maßnahmen Aspekten wie
Leistungs- und Bedarfsgerechtigkeit bei und inwieweit fragen wir
dabei auch nach der Effizienz von Erwerbsarbeit für den arbeitenden Menschen? Spielt die grundsätzliche Frage nach dem Wert
der Arbeit für den Menschen in einer »marktkonformen« Demokratie noch eine Rolle?
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An die Adresse der Politik wäre in diesem Zusammenhang zu fragen: Kann sich eine
Marktwirtschaft noch sozial nennen, wenn
Erwerbsarbeit keine gesellschaftliche Teilhabe mehr ermöglicht weder materiell in
Form existenzsichernder Einkommen noch
sozialversicherungsrechtlich in Form gesetzlicher und tariflicher Schutzbestimmungen?
Was ist das Versprechen von Chancengleichheit noch wert, wenn die Voraussetzungen
dafür nicht geschaffen werden und sich Ungleichheit zunehmend vererbt? An die Ökonomen gerichtet wäre zu fragen: Welchen
Erklärungswert haben ökonomische Modelle, die einen Markt als effizient deklarieren, der massenhaft prekäre Beschäftigungsverhältnisse
hervorbringt,
die
den
Betroffenen kein existenzsicherndes Einkommen sichern? Ist es Marktversagen oder ein
Ausdruck von Marktmacht, wenn auf Geschäftsmodelle gesetzt wird, die mit staatli© Thomas Plaßmann, 2013
chen Markteingriffen in Form von Aufstockungsbeiträgen
für
Geringverdiener
kalkulieren? Und: Warum schlägt sich der Facharbeitermangel
nicht in höheren Löhnen nieder und werden Ingenieure als (billige) Leiharbeiter eingestellt?
Der mit dem gesetzlichen Mindestlohn erfolgte staatliche Eingriff
in die Lohnfindung ist Ausdruck einer Krise des Tarifvertragssystems, das auf einem Arbeitsmarkt mit zunehmender struktureller
Ungleichheit nicht mehr vor Unterbietungskonkurrenz zu schützen vermag. Der Mindestlohn kann den Niedriglohnsektor nach
unten begrenzen, aber – so lassen die Erfahrungen in Ländern mit
Lohnuntergrenzen vermuten – wohl kaum ein auskömmliches
Einkommen sichern.
Wenn bei einer wachsender Kluft zwischen Arm und Reich die
Zahl der Verlierer zu groß wird, dann werden immer mehr Menschen die Ergebnisse des Marktes als unfair empfinden und nicht
mehr akzeptieren. Mittlerweile haben die wirtschaftlichen und
sozialen Ungleichgewichte in Europa schon so stark zugenommen, dass die Konturen eines europäischen Sozialmodells nicht
mehr erkennbar sind. In den Krisenländern des Südens hat die
europäische Wirtschaftsordnung längst ein Legitimationsproblem.
Zukünftig werden daher auch in der ökonomischen Diskussion
Verteilungsfragen eine wichtigere Rolle spielen. So wird zu fragen
sein, ob Volkswirtschaften zukünftig noch ein angemessenes
Wirtschaftswachstum generieren können, wenn die ungleiche
Verteilung des Produktivitätszuwachses weiter anhält. Für ein
Viertel der Beschäftigten schwindet schon heute die Hoffnung
auf existenzsichernde Renten und wächst die Gefahr der Altersarmut, vor allem für die im Niedriglohn überrepräsentierten Frauen.
Geringverdiener und Arbeitslose haben kaum eine Chance, das
von der Politik abgesenkte Rentenniveau durch kapitalgedeckte
Altersvorsorge zu kompensieren. Durch die Sozialabgabenprivilegierung der geringfügigen Beschäftigung wird dieses Problem
zusätzlich verschärft und durch den Ausstieg aus der paritätischen Finanzierung der gesetzlichen Rentenversicherung zudem
sozialunverträglich gestaltet.
Die bisherigen Entwicklungen auf zunehmend liberalisierten
Weltmärkten lassen erwarten, dass die Markt- und Wettbewerbslogik der Globalisierung mittelfristig noch mehr oligopolistische
Markt- und Machtstrukturen hervorbringen wird. Global agierende Unternehmen werden dann auf zunehmend gesättigten
Märkten den Kostendruck auf mittlere und kleine Unternehmen
noch mehr verstärken. Vor diesem Hintergrund könnte sich der
Mindestlohn als ein vergeblicher Versuch erweisen, Fairness bei
der Entlohnung einzufordern.
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Frankreich
62
Slowenien
60
Portugal
58
Ungarn
54
Belgien
51
Lettland
51
Deutschland*
51
Litauen
48
Irland
48
Slowakei
47
Polen
47
Niederlande
47
Großbritannien
47
Rumänien
45
Spanien
44
Griechenland
43
Luxemburg
42
Tschechien
36
36
Estland
0 10203040506070
* Geplante Mindestlohnhöhe ab Januar 2015
Abb. 8 Orientierungsmaßstäbe für den Mindestlohn in Deutschland D&E
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© Hans-Böckler-Stiftung
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MATERIALIEN
M 1 DGB: »10 Argumente für Mindestlöhne«
Warum braucht auch Deutschland welche?
10 schlagende Argumente auf einen Blick:
1. Mindestlöhne verhindern Lohnarmut.
Mindestlöhne stellen sicher, dass Menschen von ihrer Arbeit leben können und
keine weitere Unterstützung vom Staat
benötigen.
2. Mindestlöhne sorgen vor. Niedriglöhne
heute heißt Altersarmut morgen.
3. Mindestlöhne entlasten den Staatshaushalt. Es ist Aufgabe der Unternehmen und
nicht des Staates, für Existenz sichernde
Einkommen zu sorgen.
4. Mindestlöhne schaffen würdigere ArM 3 Der Niedriglohnsektor in Deutschland © www.sozialpolitik-aktuell.de
beitsbedingungen. Existenz sichernde
Einkommen sind ein Zeichen des Respekts für getane Arbeit.
Warum hat ein Praktikant im Rahmen seines Studiums die Chance
5. Mindestlöhne schaffen fairen Wettbewerb. Durch Lohndumauf ein Praktikum, Menschen ohne Studium aber wird eine solche
ping verschaffen Unternehmen sich unfaire WettbewerbsvorChance verwehrt? Und wie gerecht ist es, wenn ein 18-Jähriger am
teile zulasten ihrer eigenen Beschäftigten.
Tag seines Geburtstags seinen Austräger-Job an einen 17-Jährigen
6. Mindestlöhne sorgen für Gerechtigkeit. Mindestlöhne stopverliert, weil dieser für weniger als 8,50 Euro arbeiten darf? (…)
pen die Abwärtsspirale der Löhne, unter der immer häufiger
Mythos 3: »Der gesetzliche Mindestlohn ist gerecht.«
auch Beschäftigte mit Berufsausbildung oder Studium leiden.
Die Bezahlung von weniger als 8,50 Euro pro Stunde sei per se un7. Mindestlöhne fördern Gleichberechtigung. Mindestlöhne
fair, sagen Mindestlohn-Befürworter. Aber kann man eine geschützen Frauen, die besonders oft von Niedriglöhnen betrofrechte Bezahlung wirklich an einer bestimmen Höhe festmachen?
fen sind, vor Lohnarmut und Abhängigkeit.
Zahlt der Gastronom einer Servicekraft sieben Euro Stundenlohn,
8. Mindestlöhne kurbeln die Binnenwirtschaft an. Mindestlöhne
weil er für das gleiche Geld eine andere Servicekraft finden würde
sorgen für mehr Nachfrage und wirken sich somit positiv auf
oder weil bei einem höheren Stundenlohn die Rentabilität des Bedie Konjunktur aus.
triebs in Gefahr wäre? Der Staat jedenfalls kennt die Motivation
9. 21 von 28 EU-Staaten verfügen bereits über Mindestlöhne.
nicht. Er tut aber so, als würde er sie kennen, wenn er verkündet,
Europaweit ist die Notwendigkeit von Mindestlöhnen unumdass ein Mindestlohn von 8,50 Euro gerecht sei. Gerecht könnte
stritten. Deutschland aber hinkt dem europäischen Standard
ein solches Gesetz allenfalls sein, wenn jeder Gastronom in der
hinterher.
Lage ist, 8,50 Euro zu zahlen. (…)
10. Mindestlöhne schaffen Klarheit. Mit Mindestlöhnen wissen ArMythos 4: »Ein Mindestlohn hilft vor allem den Menschen in den ostbeitnehmer, was ihnen an Lohn zusteht. Sie werden nicht gedeutschen Bundesländern.«
zwungen, aus Unwissenheit Jobs anzunehmen, deren BezahVor der geplanten Einführung des Mindestlohns am 1. Januar 2015
lung unterhalb des Branchenstandards oder gar unterhalb des
werden 4,6 Millionen Deutsche weniger als 8,50 Euro verdienen
Existenzminimums liegt.
und damit von der Einführung eines Mindestlohns betroffen sein.
Während in Westdeutschland 14,6 Prozent aller Arbeitnehmer we© www.mindestlohn.de/hintergrund/argumente/
niger als 8,50 Euro je Stunde verdienen, sind es in den ostdeutschen Bundesländern mit 26,5 Prozent fast doppelt so viele.
»Der Mindestlohn gefährdet deshalb vor allem Arbeitsplätze in
M 2 Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft: »Mythen zum
den neuen Bundesländern. Um die sogenannte Eingriffsintensität
Mindestlohn«
auf das westdeutsche Niveau zu senken, dürfte der Mindestlohn
im Osten lediglich 7,00 Euro je Stunde betragen«, rechnet das InMythos 1: »Der Mindestlohn kostet keine Arbeitsplätze.«
stitut der deutschen Wirtschaft Köln vor.
Arbeitsministerin Andrea Nahles etwa behauptet, der MindestMythos 5: »Der Mindestlohn erleichtert Einstieg in Arbeit.«
lohn gefährdet keine Arbeitsplätze. Dem widerspricht die ökonoWer mindestens 8,50 Euro die Stunde verdient, dem fällt es leichmische Theorie: Durch die Einführung eines Mindestlohns, egal in
ter, eine Arbeit anzunehmen, so das Argument der Mindestlohnwelcher Höhe, gehen all jene Jobs verloren, die sich nicht mehr
befürworter. Das Problem: Den Einstieg in Arbeit suchen vor allohnen. Und ein Job lohnt sich dann nicht, wenn wer Arbeit beauflem junge Menschen sowie Menschen aus Arbeitslosigkeit. Beide
tragt, davon weniger hat, als er dem Arbeitenden zahlt. Damit
Gruppen haben häufig geringe Qualifikationen und damit eine
steht auch fest: Je höher der Mindestlohn, desto größer der Jobgeringe Produktivität. Der Mindestlohn raubt Berufseinsteigern
verlust. Die Empirie folgt der Theorie: Experten gehen davon aus,
und wenig Qualifizierten die Chance auf den Einstieg in Arbeit.
dass ein flächendeckender Mindestlohn von 8,50 Euro 570.000 bis
(…)
900.000 Arbeitsplätze gefährdet.
Mythos 6: »Der Mindestlohn hilft gegen Armut.«
Mythos 2: »Ausnahmen lösen das Problem des Mindestlohns.«
Die Debatte um die Einführung des Mindestlohns wird in DeutschRichtig ist: Je größer die Zahl der Ausnahmen ist, desto geringer
land als Armutsdebatte geführt. Mit einem Mindestlohn könne
die Gefahr flächendeckender Jobverluste. Die negativen Folgen
man dem Problem der »working poor« begegnen, so die Mindestwerden also durch Ausnahmen reduziert, ohne sie zu eliminieren.
lohnbefürworter. Richtig ist: Ein Mindestlohn hilft nicht gegen
(…) Hinzu kommt: Die Ausnahmen offenbaren die Absurdität des
Armut. Denn schon heute gilt: Wer durch seine Arbeit nicht genügesamten Vorhabens. Warum erst langzeitarbeitslos werden, um
gend Lohn erhält, um damit das Existenzminimum zu erreichen,
wieder für weniger als 8,50 Euro den Einstieg in Arbeit zu finden?
fällt nicht in Armut, denn jede Person kann ihr Einkommen erfor-
Minde s tlohndebat te in Deu tschl and
D&E
Heft 69 · 2015
M 4 Warum der Mindestlohn schon vor der Einführung wirkt
© FAZ-Grafik, Brocker, www.faz.net/aktuell/beruf-chance/arbeitswelt/gesetzlicher-mindestlohn-beeinflusst-deutschlands-wirtschaft-13266527.html
derlichenfalls durch Sozialtransfers aufstocken lassen. Stattdessen erhöht ein Mindestlohn die Arbeitskosten der Unternehmen
und gefährdet damit Arbeitsplätze. (…)
Mythos 7: »Lohnsteigerungen infolge des Mindestlohns werden ausschließlich von Arbeitgebern bezahlt.«
Nach Schätzungen des Sachverständigenrates werden die Lohnsteigerungen nur etwa zur Hälfte durch niedrigere Gewinne von
Unternehmenseigentümern finanziert werden. Die andere Hälfte
wird in Form steigender Preise von den Konsumenten bezahlt
werden. (…) Die Erfahrung bei der Einführung des Mindestlohns
in anderen Ländern lehrt zudem: Werden die negativen Auswirkungen des Mindestlohns spürbar – zum Beispiel in Form des Anstiegs der Jugendarbeitslosigkeit –, wird der Ruf nach Subventionen laut. Subventionen, die in erster Linie zu den Unternehmen
fließen werden. In Frankreich etwa unterstützt der Staat den Mindestlohn mittlerweile in Höhe von rund zwei Prozent des Bruttoinlandprodukts.
Mythos 8: »Der Mindestlohn erhöht die Nachfrage und belebt somit die
Konjunktur.«
Wer mehr verdient, der kann auch mehr ausgeben. Die Einführung eines Mindestlohns steigert die Nachfrage und kurbelt so
die Wirtschaft an, so ein Argument der Mindestlohnbefürworter.
Dabei werden regelmäßig zwei gegenläufige Effekte vergessen.
Erstens erhöht der Mindestlohn die Arbeitskosten, was sich auf
die Produktpreise negativ niederschlägt, was wiederum die reale
Nachfrage senkt. Zweitens senkt auch der negative Beschäftigungseffekt eines Mindestlohns die Nachfrage.
© www.insm.de/insm/kampagne/mindestlohn/8-fakten-zum-mindestlohn.html
M Colin Crouch: »Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus«. Berlin 2011
liche Eingriffe – selbst wenn sie von den Preis- und Marketingstrategien oligopolistischer, also marktbeherrschen der Konzerne
beeinflusst werden. (…) Denn wenn die Nachfrage sinke und die
Arbeitslosigkeit steige, könnten die Beschäftigten keine weiteren
Lohn-forderungen verlangen, weil die Arbeitslosen niedrigere
Löhne akzeptieren würden, um wieder einen Job zu bekommen.
Auf diese Weise werde der Markt das Gleichgewicht selbst wieder
herstellen.
Die Verhinderung von Arbeitslosigkeit war ein großes Ziel der
keynesianischen Wirtschaftspolitik der Nachkriegszeit gewesen.
Die Theoretiker des Neoliberalismus argumentieren nun, dass
der Versuch, dies durch direkte Eingriffe in den Markt zu bewirken, mittelfristig scheitern müsse, da er auf einer künstlichen Anregung der Nachfrage beruhe, die zu einer Inflation führen werde.
(…). Wenn der Staat jedoch von Eingriffen absehe, würden sich die
Preise und Löhne schließlich auf einem Niveau einspielen, das auf
lange Sicht höhere Beschäftigtenzahlen sichern werde.
In der Folge blieb die neoliberale Kritik an der Regulierung des
Arbeitsmarktes nicht auf die volkswirtschaftliche Ebene der
Nachfragesteuerung beschränkt, sondern erfasste sämtliche Bestrebungen von Wirtschaftspolitikern oder Gewerkschaften, Vorgaben für die Arbeitszeit, Arbeitsbedingungen oder die betriebliche Altersversorgung festzuschreiben. So lange solche
Regelungen nicht aus dem Wettbewerb hervorgingen, so das Argument, würden die daraus resultierenden Kosten die Preise
hochtrieben, die Nachfrage bremsen und auf diese Weise zu mehr
Arbeitslosigkeit führen. (…) Wie oben angedeutet, steht der Neoliberalismus Gewerkschaften grundsätzlich ablehnend gegenüber, da sie aus seiner Sicht das reibungslose Funktionieren des
Arbeitsmarktes verhindern. Deshalb müssten ihre Aktivitäten
kurzfristig zu Ineffizienz, langfristig zu Arbeitslosigkeit führen.
© Colin Crouch: Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2011, S. 39, 40/41
Das oberste Credo des Neoliberalismus lautet, dass optimale Ergebnisse immer dann erzielt werden, wenn sich Angebot und
Nachfrage auf dem Markt für Waren und Dienstleistungen durch
den Mechanismus der Preisbildung selbst regulieren, ohne staat-
D&E
Heft 69 · 2015
Minde s tlohndebat te in Deu tschl and
65
Hans Gaffal
M 6 Mindestlohn und Lohnfindungsprozess in Deutschland M 7 Finanztest 1/2014. 17. Dezember 2013
66
Der zwischen SPD und CDU/CSU im Koalitionsvertrag vereinbarte
Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde reicht nicht, um im Alter
eine gesetzliche Rente oberhalb der Grundsicherung zu bekommen. Dies geht aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine
parlamentarische Anfrage der Linkspartei hervor. Ein Arbeitnehmer, der 45 Jahre lang 38,5 Stunden in der Woche arbeitet, müsste mindestens 10 Euro in der Stunde verdienen, um nach derzeitigem Stand im Alter mehr als rund 688 Euro im Monat gesetzliche
Rente zu bekommen. Der Betrag entspricht der Grundsicherung
im Alter. Die Leistung bekommen alle, die zu wenig Alterseinkommen haben und nicht von einem Partner versorgt werden.
© www.test.de/Grundsicherung-im-Alter-850-Euro-Mindestlohn-bringen-kaumRente-4641909–0/
M 8 Rede des Bundestagsabgeordneten Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU) am 3. Juli 2014 im Deutschen Bundestag
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn es richtig ist,
dass es Aufgabe des Staates ist, in der sozialen Marktwirtschaft
Schiedsrichter des Wettbewerbs, Hüter des Gemeinwohls und vor
allem Anwalt für die Schwachen zu sein, dann ist der Mindestlohn,
wie wir ihn heute beschließen, ordnungspolitisch richtig und normativ geboten. Und doch ist es richtig, auf einige kritische Argumente einzugehen. Die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft
hat durchaus recht, wenn sie sagt: Die Mindestlohndebatte ist
geprägt von Halbwissen und Mythen. Leider stammen viele der
aus Halbwissen vorgetragenen Mythen von dieser Initiative
selbst. So behauptet die Initiative, der Mindestlohn gefährde Arbeitsplätze, und sie begründen das mit den ökonomischen Theorien. Nun kann man aus schiefen Annahmen in der ökonomischen
Theorie immer die passenden Schlüsse ziehen. Deswegen lohnt
ein Blick in die empirische Wirklichkeit.
In Großbritannien ist der Mindestlohn 1998 eingeführt worden.
Wir haben die zuständige Mindestlohn-Kommission dort besucht
und gefragt: Hat der Mindestlohn Arbeitsplätze gekostet? Die
eindeutige Antwort war: Nein, auch nicht in strukturschwachen
Gebieten. Das ist alles sehr genau untersucht worden, und es ent-
Minde s tlohndebat te in Deu tschl and
spricht auch den Ergebnissen
der internationalen Forschung. Nun wird man einwenden: Na ja, der Mindestlohn ist in Großbritannien
doch viel niedriger. Das ist
richtig. Aber man muss die
Zahlen vergleichbar machen.
Der Mindestlohn liegt in
Großbritannien bei etwa 53
Prozent des Medianlohnes, in
Deutschland wären es 2015
weniger als 52 Prozent des
Medianlohnes; das ist also
durchaus vergleichbar. Nein,
hier drängt sich der Verdacht
auf, meine Damen und Herren, dass es der Initiative
Neue Soziale Marktwirtschaft nicht um das Erbe von
Ludwig Erhard geht. Sie halten Verwerfungen und Verzerrungen der Wettbewerbsordnung in der sozialen
Marktwirtschaft für normal,
© Bundesministerium für Arbeit und Soziales
weil der Markt nun einmal so
ist, wie er ist. Nein, hier – der
Verdacht drängt sich auf –
will jemand das Soziale neu denken, während es doch darauf ankommt, das Neue sozial zu denken. Das Neue ist: Die Tarifbindung hat deutlich abgenommen. Die Tarifpartner erreichen heute
viele Arbeitsverhältnisse nicht mehr. Dadurch kommt es zu einem
Niedriglohnsektor, den viele für ungerecht halten. (…) Wenn die
gesellschaftlichen Kräfte wie Arbeitgeber und Arbeitnehmer etwas nicht mehr regeln können, wird subsidiär der Staat tätig. Das
ist eine der wunderbaren Ideen aus der katholischen Soziallehre,
die auch den Geist der sozialen Marktwirtschaft durchdrungen
haben. (…) Die Ordnung der Lohnfindung in unserer sozialen
Marktwirtschaft ist aus den Fugen geraten. Gewerkschaften und
Arbeitgeber alleine können es nicht richten. Deswegen ist der gesetzliche Mindestlohn, wie wir ihn heute verabschieden, eine subsidiäre Maßnahme. Er ist eine Weiterentwicklung der sozialen
Marktwirtschaft aus dem System der sozialen Marktwirtschaft
heraus. Er entspricht der Denklogik, indem er der sozialen Marktwirtschaft ein Ordnungsgefüge einzieht und Lohnspiralen nach
unten verhindert.
Wir anerkennen damit auch, dass der Arbeitsmarkt ein besonderer Markt ist, nicht einer, auf dem Pfeffer und Käse, Gurken und
Wein gehandelt werden und lediglich das Spiel von Angebot und
Nachfrage gilt. Nein, der Arbeitsmarkt ist ein abgeleiteter Markt,
und er hat etwas mit Wertvorstellungen zu tun, die jenseits der
Preise angesiedelt sind. Aus unserem Selbstverständnis als christliche Demokraten gehört nämlich die Arbeit zur Identität des
Menschen und darf deswegen nicht vollständig dem Markt unterworfen sein. Meine Damen und Herren, sozial ist nicht, was Arbeit
schafft – das war schon immer eine gedankenlose und falsche
Aussage, sondern sozial ist, was gute Arbeit schafft. So denken
wir als christliche Demokraten das Neue sozial in der Tradition
von Ludwig Erhard und in der Tradition der Sozialphilosophie der
Kirchen. (…) Von diesem Gesetz werden viele Menschen profitieren, denn sie haben ab dem 1. Januar 2015 einen gesetzlichen Anspruch auf den Mindestlohn. Von dem Gesetz werden viele Betriebe
profitieren,
denn
Wettbewerbsvorteile
durch
Lohndrückerei werden nicht mehr möglich sein. Von dem Gesetz
können auch die Sozialversicherungen profitieren, denn es wird
mehr einbezahlt. (…)
© Matthia Zimmer, CDU/CSU, www.bundestag.de
D&E
Heft 69 · 2015
M 9 Sven Astheimer: »Der Mythos vom
prekären Arbeitsmarkt«
Während über die Null im Bundeshaushaltsplan noch gestritten wird, inwieweit sie angesichts von Schattenhaushalten und Konjunkturrisiken
überhaupt
für
die
Geschichtsbücher taugen mag, ist eine andere Zahl über solche prinzipiellen Zweifel
erhaben: Im Oktober übertraf die Zahl der
Erwerbstätigen in Deutschland erstmals die
Marke von 43 Millionen.
Auch wenn die (…) vorläufigen Berechnungen des Statistischen Bundesamtes später
einmal auf den Nachkommastellen korrigiert
werden sollten, ändert sich doch nichts an
der fast wundersam zu nennenden Erfolgsgeschichte, die sich am deutschen Arbeitsmarkt in den vergangenen Jahren zugetragen
hat. Und die sich sogar im aktuell schwierigen politischen und konjunkturellen Umfeld
fortsetzt. Innerhalb nicht einmal eines JahrM 10 »Die Gefahr der Entsolidarisierung im Betrieb« © Klaus Stuttmann, 6.11.2014
zehnts hat sich die Arbeitslosenzahl von fünf
Millionen somit fast halbiert.
Ein solcher Moment ist auch geeignet, um
endlich mit einem Mythos am Arbeitsmarkt aufzuräumen, der von
ausforderungen. Eines der Probleme ist allerdings nicht, dass
interessierten Stellen seit Jahren erfolgreich am Leben gehalten
Deutschland einen Niedriglohnsektor hat, sondern dass es ihn
wird. Es geht um die Behauptung, dass das »German Jobwunder«
womöglich bald nicht mehr haben wird. Mindestlöhne auf der eivor allem unsichere Billigjobs und Hungerlöhne hervorgebracht
nen und wirtschaftlicher Strukturwandel auf der anderen Seite
habe. Dass die Legende vom dynamischen prekären Arbeitsmarkt
drängen diesen Einstiegsarbeitsmarkt für viele Geringqualifieben eine solche ist, belegen die Daten klar. Doch was scheren
zierte und (Langzeit-) Arbeitslose vehement zurück. Gerade diese
schon die Fakten, wenn die steile These eigene politische FordeGruppen dürften in Zukunft jedoch die größten Probleme haben.
rungen nach mehr Regulierung und Gesetzen über Mindestlöhne
Denn während sich Unternehmen um Akademiker und Facharbeiso schön stützt? Gerade erst haben es neue Statistiken eindruckster einen zunehmend härteren Wettbewerb liefern werden, droht
voll belegt: Der Aufschwung am Arbeitsmarkt bringt Deutschland
gleichzeitig ein Szenario von verfestigter Langzeitarbeitslosigkeit
vor allem sogenannte Normalarbeitsverhältnisse: sozialversiunter Schlecht- und Geringqualifizierten.
chert und unbefristet. Die viel kritisierte »atypische BeschäftiDeshalb gilt es erstens, die Gruppe von Schulabgängern ohne Abgung« ist sogar auf dem Rückzug. Schon die Begrifflichkeit in
schluss zu verkleinern. Die Zahl liegt mit fast 50 000 noch immer
schönstem Beamtendeutsch spricht Bände: Sie sammelt einfach
viel zu hoch. Da es aber wohl immer auch Abgänger ohne formelle
alles ein, was nicht mehr in das Denkschema des zwanzigsten
Abschlüsse geben wird, müssen zweitens Wege existieren, damit
Jahrhunderts passt. Warum etwa ist eine Mutter, die nach der Basie ihre Fähigkeiten Arbeitgebern trotzdem präsentieren und sich
bypause mit 20 Wochenstunden in ihren Beruf zurückkehrt, atyim Job weiterentwickeln können. So können nicht nur Hartz-IVpisch? Oder der Zeitarbeiter, der Vollzeit und unbefristet angeKarrieren verhindert, sondern auch Fachkräfte für die Wirtschaft
stellt ist und zum ausgehandelten Tariflohn eingesetzt wird?
gewonnen werden. Für diese Personen wird eine BeschäftigungsWer permanent die These vom wachsenden Arbeitsprekariat in
form jenseits des klassischen Normalarbeitsverhältnisses oft die
Deutschland vertritt, der spielt auch leichtfertig mit den Ängsten
einzige Eintrittsmöglichkeit in den Arbeitsmarkt sein. Typisch
der Menschen. Natürlich verändern sich die Bedingungen in der
atypisch eben.
Arbeitswelt permanent, wer wollte das schon leugnen. Dazu ge© Sven Astheimer: Der Mythos vom prekären Arbeitsmarkt, Frankfurter Allgemeine Zeihört etwa, dass die Zahl der Befristungen gestiegen ist. Während
tung vom 28.11.2014, S. 17
ein großer Teil schon durch Vertretungen etwa für Elternzeiten
seine logische Begründung findet, steigen heute auch junge
Leute häufiger als früher in den Arbeitsmarkt zunächst nur auf
Zeit ein. Zur Wahrheit gehört aber genauso, dass jede zweite Befristung anschließend entfristet wird. Die teilweise hysterisch geführte Debatte über eine taumelnde »Generation Praktikum« vor
einigen Jahren fiel vor allem mangels Substanz rasch in sich zusammen. Denn die große Mehrheit der Jungakademiker mutiert
im Verlauf ihrer Karriere weder zu unentgeltlichen Dauerpraktikanten noch zu Taxifahrern, sondern ist ausbildungsadäquat beschäftigt.
Dasselbe gilt auch für das andere Ende des Beschäftigungsspektrums. Wer genau hinschaut, sieht, dass der große Anstieg von
Minijobs und Co. auf die erste Hälfte des vergangenen Jahrzehnts
fiel, also in die Zeit nach dem Platzen der Dotcom-Blase und die
großen Restrukturierungen in der deutschen Wirtschaft. Seit den
Anfängen des ersten Aufschwungs im Jahr 2006 stagniert die atypische Beschäftigung dagegen.
In einem Punkt haben die Dauernörgler allerdings recht: Der Arbeitsmarkt steht trotz der Erfolge auch künftig vor großen Her-
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Heft 69 · 2015
Minde s tlohndebat te in Deu tschl and
67
BRICHT EUROPA AUSEINANDER? REICHTUM UND ARMUT IN EUROPA
8. P
olitische Partizipation und sozio-ökonomische Ressourcenausstattung in
europäischen Demokratien
OSCAR W. GABRIEL
S
68
eit den 1970er Jahren änderte sich die
Infrastruktur des politischen Lebens in
den demokratisch regierten Staaten der
Welt. Neben das Engagement innerhalb
der Institutionen und Prozesse der repräsentativen Demokratie traten zahlreiche
neue Beteiligungsformen. Zunächst entwickelten sich legale Protestaktivitäten zu
einem festen Bestandteil des Aktionsrepertoires vieler Bürger (vgl. z. B. Barnes u. a.
1979). Dem folgte eine verstärkte Mitwirkung an der Entscheidung über politische
Sachfragen durch Volksbegehren und
Volksentscheide (Altmann 2011). Neuerdings
initiieren Entscheidungsträger in Politik
und Verwaltung zunehmend Experimente
mit neuen Beteiligungsformaten unterschiedlicher Art, von Planungszellen über
Zukunftskonferenzen und Mediationsverfahren bis hin zu Bürgerhaushalten. Alle
diese Verfahren zielen darauf, ein möglichst breites Spektrum von Präferenzen
und Kompetenzen für die Lösung gesellAbb. 1 »Mehr Demokratie wagen?« © C hristiane Pfohlmann, 2010
schaftlicher und politischer Probleme
nutzbar zu machen, den Austausch zwischen Bürgern und politischen Entscheidungsträgern zu intensivieren und auf
Dauer zu stellen, die Responsivität des politischen Systems zu
möglichkeiten für bestimmte Teile des Elektorats.« (Schäfer und
erhöhen und auf diese Weise die Qualität der Demokratie zu
Schoen 2013: 114f).
verbessern (Geissel und Newton 2012). Bedeuten mehr PartizipaDie Erkenntnisse über den Einfluss der sozialen Position von
tionsmöglichkeiten gleichzeitig auch mehr Demokratie?
Menschen für Art und Ausmaß ihrer politischen Aktivität sind
nicht neu (vgl. bereits: Nie, Powell und Prewitt 1969). Sie haben aber
in den vergangenen Jahren an Aktualität gewonnen, weil die
empirische Forschung Hinweise auf eine Verschärfung sozialer
Auf den ersten Blick erscheint die hinter diesen demokratischen
Ungleichheit in den modernen Demokratien liefert. Diese BeInnovationen stehende Annahme, breitere bürgerschaftliche Parfunde widersprechen nicht allein der Hoffnung, die fortschreitizipationsmöglichkeiten verbesserten die Qualität der Demokratende Modernisierung der europäischen Gesellschaften führe
tie, stichhaltig. Die Demokratie findet ihre Legitimationsgrundlangfristig zu einem Abbau sozioökonomischer Ungleichheit.
lage im Prinzip der Volkssouveränität, und dieses bildet die
Sie fordern darüber hinaus das Selbstverständnis der DemokraGrundlage der Forderung nach einer umfassenden Mitwirkung
tie heraus, weil eine fortbestehende oder gar wachsende soziale
aller Bürger an der Gestaltung des politischen Zusammenlebens.
Ungleichheit möglicherweise die Idee einer gleichberechtigten
Auf der anderen Seite liefert die empirische Forschung zahllose
Teilnahme aller Bürger an der Gestaltung der politischen GeBelege dafür, dass sich jenseits der Stimmabgabe bei Wahlen nur
meinschaft untergräbt.
eine Minderheit der Bürger politisch engagiert, dass die WahlbeDie Untersuchung des Zusammenhanges zwischen der sozioökoteiligung in den letzten Dekaden gesunken ist und dass die polinomischen Ressourcenlage und dem Ausmaß politischer Beteilitisch Aktiven keineswegs einen repräsentativen Ausschnitt der
gung in europäischen Demokratien bildet das Thema dieses BeiBevölkerung darstellen. Unter den politisch Aktiven sind ressourtrages. Als Datengrundlage dient der seit dem Jahr 2002 im
censtarke und sozial gut integrierte Menschen überdurchschnittZweijahresrhythmus in zahlreichen europäischen Ländern durchlich stark vertreten. Aus diesem Grunde führt ein Ausbau politigeführte European Social Survey. In sämtlichen sechs Wellen wurscher Beteiligungsrechte nicht notwendigerweise zu einer
den in 16 Ländern zufällig ausgewählte Personen über verschieVerbesserung der Qualität der Demokratie, denn:
dene Themen befragt. Bei diesen Ländern handelt es sich um
»Demokratische Innovationen eröffnen Bürgern neue PartizipaNorwegen, Schweden, Dänemark, Finnland, Irland, Großbritantions- und Einflussmöglichkeiten, doch können diese nicht von
nien, Frankreich, Belgien, die Niederlande, Deutschland, die
allen gleichermaßen (gut) genutzt werden. Zusätzliche EinflussSchweiz, Portugal, Spanien, Slowenien, Polen und Ungarn. Diese
kanäle für die Bürger erweisen sich empirisch häufig als Einfluss-
P o l i t i s c he Pa r t i z ip at i o n u n d s o z i o - ö k o n o mi s c he R e s s o u r c e n a u s s tat t u n g
D&E
Heft 69 · 2015
Auswahl bildet die Vielfältigkeit Europas sehr
gut ab. Sie umfasst Mitglieds- und Nichtmitgliedstaaten der EU, Länder mit einer langen
demokratischen Tradition und junge Demokratien, bevölkerungsreiche Gesellschaften
und solche mit einer kleinen Bevölkerungszahl, wohlhabende und weniger wohlhabende Länder sowie Staaten in verschiedenen europäischen Regionen. Durch die
Kumulation der Daten aus sechs Befragungswellen ergeben sich für die einzelnen Länder
ungewöhnlich hohe Fallzahlen (zwischen 8.385
in Slowenien und 17. 523 in Deutschland). Zudem
liefert die Verwendung über einen längeren
Zeitraum kumulierter Daten strukturelle Erkenntnisse über die langfristig bestehende
Beziehung zwischen sozialen Merkmalen und
der politischen Partizipation und geht damit
über die üblicherweise von der empirischen
Forschung erstellten Momentaufnahmen hinaus.
Politische Partizipation in
europäischen Demokratien
Abb. 2 Durchschnittliche politische Partizipation in 16 europäischen Demokratien, 2002–2012. Fragen: Es gibt verschiedene Möglichkeiten, mit denen man versuchen kann, etwas (in Deutschland) zu
verbessern oder zu verhindern, dass sich etwas verschlechtert. Haben Sie im Verlauf der letzten 12 Monate
irgendetwas davon unternommen? Haben Sie Kontakt zu einem Politiker oder einer Amtsperson auf Bundes-, Landes- oder Kommunalebene aufgenommen, in einer politischen Partei oder Gruppierung mitgearbeitet, in einer anderen Organisation oder in einem anderen Verband oder Verein mitgearbeitet, ein Abzeichen oder einen Aufkleber einer politischen Kampagne getragen oder irgendwo befestigt, sich an einer
Unterschriftensammlung beteiligt, an einer genehmigten öffentlichen Demonstration teilgenommen,
bestimmte Produkte boykottiert? Sind Sie Mitglied einer politischen Partei? Ja (1)/ Nein (0). In Tabelle 1 ist
der Anteil der Befragten wiedergegeben, der mindestens eine dieser Aktivitäten ausgeführt hat. Manche
Menschen gehen heutzutage aus verschiedenen Gründen nicht zur Wahl. Wie ist das bei Ihnen? Haben Sie
(bei der letzten Bundestagswahl im September 2002) gewählt? Ja (1)/ Nein(0). In Abbildung 1 ist der Anteil
der Wähler wiedergegeben. © Oscar W. Gabriel, nach: European Social Survey, Wellen 1 (2002) bis 6 (2012).
Die Qualität von Demokratien hängt unter
anderem davon ab, dass möglichst viele Bürger aktiv am gesellschaftlichen und politischen Leben teilnehmen. Diese Teilnahme
vollzieht sich in unterschiedlichen Formen,
von der Beteiligung an Spendenaktion über
das Verfolgen politischer Ereignisse in den
Massenmedien bis hin zur aktiven Einflussnahme auf politische Entscheidungen. Diejenigen freiwilligen Aktivitäten, mittels derer Privatpersonen versuchen, Einfluss auf politische Entscheidungen zu nehmen,
bezeichnet man als politische Partizipation. Wie die empirische
Forschung dokumentiert, haben sich zu diesem Zweck zahlreiche
politische Aktivitäten entwickelt, die von unterschiedlichen Bürgern in unterschiedlichem Maße und mit unterschiedlichen Zielen eingesetzt werden (van Deth 2009). In diesem Beitrag geht es
allerdings nicht darum, den Formenreichtum des Beteiligungssystems europäischer Demokratien nachzuzeichnen, sondern die
Frage zu beantworten, wie groß der Anteil der Bürger europäischer Demokratien ist, die sich – in welcher Form auch immer –
aktiv am politischen Leben beteiligen und wie dies mit ihrer Ressourcenausstattung zusammenhängt.
Im European Social Survey wurden neun Formen des politischen
Engagements erhoben, von der Teilnahme an einer nationalen
Parlamentswahl bis hin zur Beteiligung an einer genehmigten Demonstration (| Abb. 1 |). Da Parlamentswahlen in einem festen
zeitlichen Rhythmus stattfinden, besteht nicht in allen Ländern
jederzeit die Möglichkeit, durch die Ausübung des Wahlrechts politischen Einfluss auszuüben. Auch im Hinblick auf ihren Institutionalisierungsgrad, ihre Funktion, den mit ihr verbundenen Aufwand und ihre Verbreitung spielt die Stimmabgabe bei Wahlen
eine besondere Rolle im Partizipationssystem moderner Demokratien. Insofern spricht einiges dafür, sie gesondert von den übrigen Beteiligungsformen zu betrachten.
(| Abb. 2 |) enthält einen Überblick über das durchschnittliche politische Engagement der Bürger von 16 europäischen Demokratien im Zeitraum 2002 bis 2012. Wie die Daten belegen, fiel die
Stimmabgabe bei Wahlen in den einzelnen Nationen sehr unterschiedlich aus. Die Spitzengruppe umfasst Dänemark, Schweden,
Belgien und die Niederlande. Knapp dahinter liegen Norwegen,
Finnland, Spanien, Deutschland und Ungarn. Slowenien, Irland,
Portugal, Frankreich, Großbritannien und Polen nehmen die folgenden Positionen ein. Einen Sonderfall bildet die Schweiz, in der
D&E
Heft 69 · 2015
die Wahlbeteiligung traditionell deutlich geringer ausfällt als in
fast allen anderen Demokratien. Am anderen Pol nimmt Belgien
wegen der gesetzlichen Wahlpflicht eine besondere Position unter den hier untersuchten Demokratien ein.
Die über die Wahlbeteiligung hinausgehenden Aktivitäten waren
im untersuchten Zeitraum in Schweden, Norwegen und Finnland
besonders weit verbreitet. In diesen Ländern beteiligten sich
durchschnittlich mehr als zwei Drittel der Befragten an nichtelektoralen Aktivitäten wie Politikerkontakten oder Demonstrationen. In Dänemark, der Schweiz, Deutschland, Frankreich und
Großbritannien war mehr als die Hälfte der Bürger in solche Aktivitäten involviert. In Belgien, den Niederlanden, Spanien und Irland lag die Beteiligungsquote zwischen 40 und 49,9 Prozent.
Dagegen nutzte in den drei mittelosteuropäischen Ländern und
in Portugal nicht einmal ein Drittel diese Möglichkeiten zur politischen Einflussnahme.
Dem normativen Ideal einer aktiven Bürgerschaft werden die
Menschen im nordwestlichen Teil Europas besser gerecht als in
den postkommunistischen Staaten sowie in Portugal. Dieses
Muster erweist sich im Zeitverlauf als stabil. In keinem der untersuchten Länder war im gesamten Beobachtungszeitraum ein stetiger Rückgang oder ein stetiger Anstieg der politischen Aktivität
zu verzeichnen. Soweit überhaupt nennenswerte Schwankungen
auftraten, waren sie kurzfristiger Natur und wiesen zudem nicht
in eine einheitliche Richtung (nicht ausgewiesen).
Sozioökonomische Bedingungen und politische
Partizipation
Für die Qualität einer Demokratie ist es nicht nur wichtig, dass
sich viele Bürger aktiv am politischen Geschehen beteiligen. Da
die gleichberechtigte Mitwirkung aller Mitglieder der politischen
Gemeinschaft zu den wichtigsten Idealen der Demokratie gehört,
P o l i t i s c he Pa r t i z ip at i o n u n d s o z i o - ö k o n o mi s c he R e s s o u r c e n a u s s tat t u n g
69
Oscar W. Gabriel
70
sonen oder in sozialen Gruppen häufen,
desto stärker sinkt die Wahrscheinlichkeit einer aktiven Beteiligung am politischen LeNorwegen
ben. Diese Erkenntnis bestätigte sich in zahlreichen, seither veröffentlichten empirischen
Slowenien
Studien (Brady, Verba und Schlozman 2005;
Deutschland
Hooghe und Quintelier 2013; Schäfer und Schoen
2013; Schlozman, Verba und Brady 2012; Verba und
Irland
Nie 1972; Verba, Nie und Kim 1978)
Auch wenn das Interesse dieser UntersuGroßbritannien
chung sich auf den Zusammenhang zwischen
sozioökonomischer Ressourcenlage und poFrankreich
litischer Beteiligung richtet, spielen weitere
Faktoren eine Rolle dafür, ob Menschen eine
Ungarn
aktive Rolle im politischen Leben übernehmen. Hierzu gehören nach Verba, Schlozman
Portugal
und Brady (1995) partizipationsfördernde
0 20 40 60 80 100120
Motive (Interesse, Kompetenzbewusstsein,
Parteiidentifikation usw.) und die Einbin Kein Merkmal
Ein Merkmal
Zwei Merkmale
> Drei Merkmale
dung in soziale Netzwerke (Vereinsmitgliedschaft und -engagement, informelle SozialAbb. 3 Ressourcenschwäche in 16 europäischen Demokratien, 2002–2012. kontakte usw.). Für den folgenden Beitrag ist
Fragen: – Beschäftigungssituation: »Bitte sehen Sie Liste 54 einmal durch, und sagen Sie mir alles, was
die Untersuchung ihres Einflusses jedoch von
davon in den letzten sieben Tagen auf Sie zutraf: Bezahlte Tätigkeit (auch bei vorübergehender
nachrangiger Bedeutung.
Abwesenheit) (abhängig Beschäftigter, Selbstständiger, mithelfender Familienangehöriger), Schule/
Entsprechend seiner Zielsetzung, eine diffeAusbildung (nicht vom Arbeitgeber bezahlt; auch während der Ferien oder im Urlaub), im Vorruhestand/
renzierte Analyse der Struktur der europäiRuhestand/Frührente/Rente, Wehr- oder Zivildienst, Hausarbeit, Betreuung von Kindern oder anderen
schen Gesellschaften zu ermöglichen, entPersonen (1: nicht arbeitslos); arbeitslos und auf aktiver Suche nach einem Arbeitsplatz, arbeitslos, Wunsch
hält der European Social Survey zahlreiche
nach einem Arbeitsplatz, aber keine aktive Suche, chronisch krank oder behindert (0: arbeitslos).“
Indikatoren der sozialen Lage der BevölkeEinkommensquelle: „Bitte denken Sie einmal an das Einkommen aller Haushaltsmitglieder und an alle
rung europäischer Demokratien. Um die
Einkommensarten, die der Haushalt bezieht. Was ist die wichtigste Einkommensquelle Ihres Haushaltes?
Ideen der sozioökonomischen RessourcenLöhne oder Gehälter, Einkommen aus Selbständigkeit oder landwirtschaftlicher Tätigkeit, Renten oder
Pensionen, Einkommen aus Vermögensanlagen, Ersparnissen, Versicherungen oder Grundbesitz (0: kein
schwäche abzubilden, finden in diesem Beistaatliches Transfereinkommen), Arbeitslosengeld/-hilfe oder Abfindungen, andere Sozialleistungen
trag fünf Indikatoren Verwendung. Von sozio(Sozialhilfe, Bafög usw.) oder Stipendien (1: staatliches Transfereinkommen).“
ökonomischer Ressourcenschwäche ist dann
Subjektive Einkommenssituation: Was auf Liste 57 beschreibt am besten, wie Sie Ihr gegenwärtiges
die Rede, wenn eine Person (1) keiner bezahlHaushaltseinkommen beurteilen? Mit dem gegenwärtigen Einkommen kann ich/können wir … bequem
ten beruflichen Tätigkeit nachgeht, (2) ein
leben (oder) zurechtkommen (0: keine subjektive Einkommensschwäche), nur schwer zurechtkommen (oder)
staatliches Transfereinkommen (außer Rente
nur sehr schwer zurechtkommen(1: subjektive Einkommensschwäche).“
oder Pension) bezieht, (3) nach eigener EinFormaler Bildungsabschluss: „Was ist der höchste allgemeinbildende Schulabschluss, den Sie haben?
schätzung mit ihrem Einkommen nicht gut
Schule beendet ohne Abschluss und Volks-/Hauptschulabschluss bzw. Polytechnische Schule Oberschule
zurecht kommt, (4) über keine abgeschlosmit Abschluss 8. oder 9. Klasse (1: niedriges Bildungsniveau); Mittlere Reife/Realschulabschluss bzw.
Polytechnische Oberschule mit Abschluss 10. Klasse, Fachhochschulreife (Abschluss einer Fachoberschule
sene oder eine nur elementare Schulbildung
etc.), Abitur bzw. Erweiterte Oberschule mit Abschluss 12. Klasse (Hochschulreife) (0: kein niedriges
verfügt und wenn diese (5) niedriger ist als
Bildungsniveau).“
die des Vaters. Statt die Effekte aller dieser
Bildungsmobilität: „Was ist der höchste allgemeinbildende Schulabschluss, den Ihr Vater hat (hatte)?
fünf Einzelgrößen auf die politische BeteiliSchule beendet ohne Abschluss und Volks-/Hauptschulabschluss bzw. Polytechnische Schule Oberschule
gung zu analysieren, findet in den folgenden
mit Abschluss 8. oder 9. Klasse (1: niedriges Bildungsniveau); Mittlere Reife/Realschulabschluss bzw.
Teilen dieses Beitrages ein Index zur Messung
Polytechnische Oberschule mit Abschluss 10. Klasse, Fachhochschulreife (Abschluss einer Fachoberschule
der Kumulation dieser Eigenschaften Veretc.), Abitur bzw. Erweiterte Oberschule mit Abschluss 12. Klasse (Hochschulreife) (0: kein niedriges
wendung ( vgl. | Abb. 3 |).
Bildungsniveau).“ Niedriger eigener Bildungsabschluss als Vater (1: Abstieg), (gleicher oder höherer
Das Phänomen der Ressourcenschwäche ist
Bildungsabschluss als Vater (0: kein Bildungsabstieg).
in den 16 europäischen Demokratien unterFür die Berechnung des Indexwertes „Ressourcenschwäche“ wurden diese fünf Merkmale addiert, so dass
dieser Index Werte von 0 (keine Ressourcenschwäche) bis 5 (große Ressourcenschwäche) annehmen kann.
schiedlich weit verbreitet. Im Durchschnitt
Wegen der niedrigen Fallzahlen wurden die Werte 3, 4 und 5 zusammengefasst). der 16 Gesellschaften insgesamt weist die
© Oscar W. Gabriel, nach: European Social Survey, Wellen 1 (2002) bis 6 (2012).
Hälfte der Bevölkerung keines der fünf Merkmale von Ressourcenschwäche auf, bei einem
Drittel ist ein Merkmal anzutreffen, bei zwölf
bemisst sich die Qualität von Demokratien auch daran, dass resProzent finden wir zwei Merkmale. Vier Prozent der Befragten gesourcenschwache Personen ihre demokratischen Rechte annähören insoweit zu den sozioökonomisch benachteiligten Gruppen,
hernd im gleichen Maße wahrnehmen wie dies ressourcenstarke
als sich bei ihnen mindestens drei der einschlägigen Merkmale von
Bürger tun. Dies ist nach den Erkenntnissen der empirischen ForRessourcenschwäche häufen. Die Menschen in europäischen Geschung allerdings nicht der Fall.
sellschaften sind somit ungleich mit Ressourcen ausgestattet, jeBereits die ersten Arbeiten auf dem Gebiet der empirischen Partidoch streuen die entsprechenden Merkmale innerhalb der Gesellzipationsforschung belegten einen deutlichen Einfluss der soziaschaften mehr oder weniger stark und nur bei einer vergleichsweise
len Lage von Menschen auf ihr politisches Engagement (vgl.
kleinen Gruppe kumulieren sie.
Milbrath 1965): Je besser Personen mit sozioökonomischen ResWie (| Abb. 2 |) zeigt, verdecken diese Durchschnittswerte große
sourcen (Bildung, Einkommen, qualifizierte Berufstätigkeit) ausnationale Unterschiede in der Ressourcenverteilung. Während
gestattet sind, desto stärker beteiligen sie sich an politischen Ak74,3 Prozent der Schweizer kein Merkmal von sozioökonomischer
tivitäten. Als politisch schwer mobilisierbar erweisen sich dagegen
Ressourcenschwäche aufweisen, trifft dies nur für 27,3 Prozent
Personen mit einer schlechten Ressourcenausstattung. Je stärker
der Portugiesen zu. Umgekehrt umfasst die am schlechtesten mit
sich die Attribute von Ressourcenschwäche bei bestimmten Persozioökonomischen Ressourcen ausgestattete Gruppe in der
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Heft 69 · 2015
Schweiz nur 0,9 Prozent der Bevölkerung, in Portugal aber neun
Prozent. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, konzentrieren sich
die ressourcenstarken Gruppen in Nord- und Mitteleuropa, die
ressourcenschwachen hingegen im Süden und Osten des europäischen Kontinents.
Die Tatsache, dass die Ausstattung mit sozioökonomischen Ressourcen das politische Engagement der Bürger beeinflusst, wurde
durch die empirische Forschung mehrfach belegt. Zahlreiche Studien stützen die Annahme, dass Menschen umso weniger an Wahlen und anderen politischen Aktivitäten teilnehmen, je schlechter
sie mit sozioökonomischen Ressourcen ausgestattet sind. Diese
Erkenntnis bestätigt sich in unserer Untersuchung einmal mehr.
Im Durchschnitt aller 16 Gesellschaften zeigt sich ein schwacher
statistischer Zusammenhang zwischen der Ressourcenausstattung und der politischen Aktivität der Menschen. Für die Wahlbeteiligung stellt sich dieser Sachverhalt wie folgt dar: In der Bevölkerungsgruppe, die keines der hier untersuchten Merkmale von
Ressourcenschwäche aufweist, beteiligen sich 84 Prozent der
Befragten an Wahlen. In der am schlechtesten gestellten Gruppe
liegt der betreffende Anteil jedoch nur bei 64 Prozent. Die Wahlbeteiligung nimmt mit dem Grad der Ressourcenschwäche kontinuierlich ab. Das über die Wahlbeteiligung hinausgehende politische Engagement unterliegt ebenfalls dem Einfluss der
Ressourcenstärke. In der ressourcenstärksten Gruppe beteiligen
sich 54 Prozent der Befragten an diesen Aktivitäten, in der stark
benachteiligten Vergleichsgruppe dagegen nur 41 Prozent. Allerdings geht die nichtelektorale Partizipation mit zunehmender
Ressourcenschwäche nicht kontinuierlich zurück. Sie sinkt zunächst relativ deutlich, bleibt aber stabil, sobald zwei Merkmale
von Ressourcenschwäche vorliegen (vgl. | Abb. 2 |).
Die Untersuchung der 16 Einzelstaaten bestätigt dieses Bild. In
allen Ländern nimmt die politische Beteiligung mit der Ressourcenschwäche ab. Zwar liegen in den meisten Nationen schwache
Zusammenhänge vor, deren Stärke variiert jedoch von Land zu
Land. Zudem bestehen in dieser Hinsicht Unterschiede zwischen
der Wahlbeteiligung und den nicht-elektoralen Aktivitäten. Die
Differenz zwischen der Wahlbeteiligung der ressourcenstärksten
und der am schwächsten mit sozioökonomischen Ressourcen
ausgestatten Gruppe (vgl. | Abb. 4 |) beträgt im Durchschnitt der
16 Länder 22 Prozentpunkte. Die Extremwerte weichen jedoch
stark von diesem Durchschnittswert ab. Insbesondere in Deutschland (33 %), in der Schweiz (35 %) und – mit Abstrichen – in Finnland (26 %) nehmen ressourcenschwache Menschen sehr viel weniger an Wahlen teil als Angehörige von Gruppen, die sich in einer
günstigeren sozioökonomischen Lage befinden. In einigen Ländern (Irland, Norwegen, Niederlande, Frankreich, Polen, Schweden, Ungarn, Großbritannien) differiert die Wahlbeteiligung zwischen der ressourcenstarken und ressourcenschwachen Gruppe
ca. um zwanzig Prozentpunkte. In Portugal, Dänemark und Slowenien beträgt dieser Wert zwischen zehn und zwanzig Prozentpunkten. Die geringste Differenz im politischen Verhalten der
ressourcenstärksten und ressourcenschwächsten Gruppe besteht in Belgien und Spanien (weniger als 10 %).
Ungeachtet der mehr oder weniger großen Lücke zwischen der
Wahlbeteiligung des ressourcenstärksten und des ressourcenschwächsten Teils der Bevölkerung geben in allen Ländern – außer in der Schweiz – selbst die Mitglieder der sozioökonomisch
am schlechtesten gestellten Gruppe bei Wahlen mehrheitlich ihre
Stimme ab. Der Anteil der Wähler in dieser Gruppe schwankt zwischen 83 Prozent in Belgien und 37 Prozent in der Schweiz. In vier
Ländern liegt er über 70 Prozent, in sieben zwischen 60 und 69,9
Prozent, in vieren zwischen 50 und 59,9 Prozent, nur in der
Schweiz befindet er sich unterhalb dieser Marke. Die vier Ländergruppen weisen auf den ersten Blick keine Gemeinsamkeiten auf.
In der ersten Gruppe befinden sich zwei nordische Staaten, aber
auch Spanien und Belgien (das einzige Land mit gesetzlicher
Wahlpflicht). Ein ähnliches Ausmaß an Heterogenität zeichnet
auch die übrigen Gruppen aus. Unsere Daten liefern somit keine
Hinweise auf gesellschaftliche oder politische Bedingungen, un-
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Abb. 4: Sozioökonomische Ressourcenschwäche und politische Partizipation in europäischen Demokratien, 2002 – 2012 (Angaben: Prozentanteile Aktiver).
Merkmale
Wahlbeteiligung
andere Formen politischer Partizipation
kein Merkmal
83,5
54,0
ein Merkmal
77,3
45,4
zwei Merkmale
69,6
39,6
drei oder mehr Merkmale
61,9
40,5
149.210
164.986
N
Cramér’s V
,15***
,12***
Kendalls tau c
,12***
,12***
nach: European Social Survey, Wellen 1 (2002) bis 6 (2012).
Fragen: wie Abbildung 2 und 3
Erläuterung: *** die Beziehung ist auf dem 99,9 Prozentniveau statis© Oscar W. Gabriel
tisch signifikant. ter denen die politische Mobilisierung ressourcenschwacher
Gruppen besonders gut oder besonders schlecht gelingt. Zudem
muss man bei der Interpretation der Befunde über die Wahlbeteiligung den vorhandenen Effekt sozialer Erwünschtheit in Rechnung stellen. In den meisten Demokratien betrachtet die Mehrheit der Bürger die Stimmabgabe bei Wahlen als Pflicht eines
guten Staatsbürgers (van Deth 2007). Dies führt in Umfragen regelmäßig zu überhöhten Angaben über die Teilnahme an Wahlen
und verzerrt entsprechend das Bild der Wirklichkeit.
Wie die Wahlbeteiligung hängt auch die nicht-elektorale Aktivität
mit der sozioökonomischen Ressourcenlage von Menschen zusammen. Allerdings fällt die Beziehung zwischen diesen beiden
Größen geringfügig schwächer aus als es in der Analyse der Wahlbeteiligung festgestellt wurde. Erneut manifestiert sich die Ressourcenlage am stärksten im politischen Engagement der deutschen Bevölkerung. Hier beläuft sich die Differenz zwischen der
ressourcenstärksten und der ressourcenschwächsten Gruppe auf
18 Prozentpunkte. Dahinter rangieren Portugal, Belgien, Großbritannien, Finnland, Spanien, die Niederlande, die Schweiz, Schweden und Polen mit Werten zwischen 10 und 14 Prozentpunkten.
Nochmals schwächer fällt der Einfluss der Ressourcenausstattung auf die nicht-elektorale Partizipation in weiteren fünf Ländern aus, während in Dänemark die ressourcenschwächste
Gruppe etwas aktiver ist als die Gruppe mit dem besten Ressourcenzugang (| Abb. 4 |).
Trotz des nachweisbaren Einflusses der Ressourcenlage auf das
politische Engagement partizipieren die ressourcenschwachen
Gruppen in den meisten der 16 Gesellschaften überraschend
stark am politischen Leben. In den nordischen Demokratien und
in Frankreich beteiligt sich mehr als die Hälfte der Angehörigen
dieser Gruppe aktiv an nichtelektoralen Aktivitäten. In den übrigen mittel- und nordwesteuropäischen Ländern mit Ausnahme
der Niederlande liegt dieser Anteil immerhin zwischen 40 und
49,9 Prozent. Spanien und Niederlande weisen mit Werten von
knapp unter 40 Prozent eine nur geringfügig niedrigere Teilnahmequote der Ressourcenschwächsten auf. Dem stehen vier Ländern gegenüber, in denen sich nur eine sehr kleine Minderheit der
ressourcenschwachen Bürger (zwischen 12 % in Portugal und
22 % in Slowenien) jenseits der Stimmabgabe bei Wahlen aktiv in
das politische Leben einschaltet.
Anders als bei der Analyse der Wahlbeteiligung lassen sich bei
der Untersuchung der politischen Mobilisierung ressourcenschwacher Bürger zu nicht-elektoralen Aktivitäten fördernde
und hemmende Rahmenbedingungen ausmachen. Besonders
gut gelingt die Einbeziehung ressourcenschwacher Bürger in
den politischen Prozess in Ländern mit einer langen demokratischen Tradition, einem hohen sozioökonomischen Entwicklungsgrad und einem starken Wohlfahrtsstaat. Die Zugehörig-
P o l i t i s c he Pa r t i z ip at i o n u n d s o z i o - ö k o n o mi s c he R e s s o u r c e n a u s s tat t u n g
71
Oscar W. Gabriel
keit Frankreichs zu dieser Ländergruppe
lässt sich nicht durch die genannten Faktoren, sondern durch die traditionelle Protestkultur Frankreichs erklären. In diesem Land
ist die Beteiligung an Protestaktivitäten
nicht nur stark ausgeprägt, sondern anders
als etwa in Deutschland fungiert der Protest
in Frankreich auch als Mittel des Klassenkampfes (vgl. Schild 2000). Die Ländergruppe, in der sich die ressourcenschwache
Bevölkerung nur schwer politisch mobilisieren lässt, zeichnet sich ebenfalls durch eine
Reihe gemeinsamer Merkmale, insbesondere durch eine autoritäre Vergangenheit
aus. Slowenien, Ungarn und Polen gehören
zu den postkommunistischen Ländern, Portugal wurde bis zur Mitte der 1970er Jahre
auto­r itär regiert. Im europäischen Vergleich
­weisen diese vier Länder zudem ein geringes
sozioökonomisches
Entwicklungsniveau
auf. Dass die Kombination dieser Merkmale
nicht zwangsläufig zu einer geringen Partizipation ressourcenschwacher Gruppen
führt, zeigt das Beispiel Spaniens, das in
dieser Hinsicht den mittel- und nordwesteuropäischen Ländern ähnlicher ist als den
postautoritären Gesellschaften.
Zusammenfassung und
Diskussion
72
Abb. 5 Sozioökonomische Ressourcenschwäche und politische Partizipation in 16 europäischen
Demokratien, 2002–2012. Fragen: wie Abbildungen 1 und 2.
Lesehilfe: Die Grafik gibt die Prozentpunktdifferenz in der politischen Beteiligung der ressourcenstärksten
und der ressourcenschwächsten Befragtengruppe wieder. Je größer diese Differenz ausfällt, desto größer
ist der Einfluss der Ressourcenschwäche auf die politische Beteiligung. Die statistischen Zusammenhänge
vermitteln ein ähnliches Bild. Das Maß für die Stärke der Beziehung (Kendall’s tau c) bewegt sich für den
Zusammenhang zwischen der Wahlbeteiligung und der Ressourcenschwäche zwischen –,17 (Deutschland)
und –,05 (Spanien), für die anderen Beteiligungsformen zwischen –,13 (Großbritannien9 und ,00 (n. s,
Dänemark). Nahezu alle Beziehungen sind auf dem 99,9 %-Niveau statistisch signifikant © Oscar W. Gabriel, nach: European Social Survey, Wellen 1 (2002) bis 6 (2012).
Obgleich die empirische Partizipationsforschung zu den am besten entwickelten
Zweigen der modernen Politikwissenschaft gehört, liegen nicht
sehr viele international vergleichende Untersuchungen des Zusammenhangs zwischen der Ressourcenausstattung von Menschen und der Art und dem Ausmaß ihres politischen Engagements vor. In dieser Studie über 16 europäische Demokratien
wurde gezeigt, dass die sozioökonomische Ressourcenausstattung allen 16 Ländern wichtig dafür ist, ob Menschen bei Wahlen
ihre Stimme abgeben. In 14 der Länder – Dänemark und Norwegen bilden die Ausnahmen– wird auch die Beteiligung an anderen politischen Aktivitäten von der individuellen Ressourcenlage beeinflusst. Weitgehend unabhängig von der Einwohnerzahl
des Staaten, vom Alter der Demokratie, vom Wohlstandsniveau
und vom Grad der sozialen Sicherung in einem Lande gehen
Menschen, umso weniger zur Wahl, je schlechter sie mit sozioökonomischen Ressourcen ausgestattet sind. Bei der Beteiligung an nicht-elektoralen Aktivitäten macht sich die Ressourcenausstattung etwas weniger stark bemerkbar, einen Einfluss
auf das politische Verhalten übt sie aber dennoch aus. Die Tatsache, dass sich die sozioökonomischen Ressourcen von Bürgern etwas stärker in der Wahlbeteiligung niederschlagen als in
anderen Beteiligungsformen stellt eine Überraschung dar. Die
Stimmabgabe bei Wahlen verursacht einen geringen Aufwand,
sie wird durch soziale Verhaltensnormen abgestützt, sie findet
nur in größeren Zeitabständen und ist in den meisten Demokratien die am weitesten verbreitete Form politischer Beteiligung.
Dennoch lassen sich ressourcenschwache Menschen schlechter
zur Stimmabgabe mobilisieren als ressourcenstarke, und dennoch schlägt sich die soziale Position stärker in der Stimmabgabe bei Wahlen nieder als in anderen Be­tei­li­gungsformen.
Gesellschaftliche und politische Bedingungen, die dazu beitragen könnten, diese Form politischer Ungleichheit abzubauen,
sind auf den ersten Blick nicht erkennbar. Dagegen ist das bei
anderen Beteiligungsformen sehr wohl der Fall. Die Beteiligung
an nicht-elektoralen Aktivitäten ist in sozioökonomisch hoch
entwickelten, wohlhabenden Ländern mit einer langen demokratischen Tradition und einem gut entwickelten System sozia-
ler Sicherung weniger stark von der individuellen Ressourcenausstattung abhängig als in Ländern, in denen diese Merkmale
nicht vorhanden sind.
Was ergibt sich aus diesen Erkenntnissen für die Qualität europäischer Demokratien? Im Hinblick auf das Niveau und die gesellschaftliche Verteilung des politischen Engagements stellt sich die
Qualität der Demokratie in den 16 untersuchten europäischen
Demokratien unterschiedlich dar. In keinem der 16 Länder nehmen alle Bürger aktiv am politischen Geschehen teil und in keinem ist die politische Beteiligung völlig unabhängig von der Ressourcenlage. Dennoch entsprechen die Verhältnisse in den
nordischen Demokratien unter beiden Gesichtspunkten besser
demokratischen Idealen als in den postautoritären Gesellschaften Süd- und Osteuropas. Was die gleiche Wahrnehmung von Beteiligungsrechten durch die ressourcenstarken und die ressourcenschwachen Bevölkerungsteile angeht, scheint in Deutschland
ein besonders großer Nachholbedarf zu bestehen.
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73
Abb. 6 »Welche Formen von politischer Beteiligung werden von den Bürgern praktiziert und sind für Sie
erstrebenswert – Welche kommen nicht in Frage?«
www.bertelsmann-stiftung.de/cps/rde/xbcr/SIDCE93650F- 414B9DD6/bst/xcms_bst_dms_34121_34144_2.pdf © Studie der Bertelsmann-Stiftung (2011): Bundesbürger möchten sich politisch beteiligen, vor allem aber
mitentscheiden. Gütersloh.
Verba, Sidney, Kay Lehman Schlozman und Henry
Brady (1995): Voice and Equality Civic Voluntarism
in American Politics. Cambridge, Mass./London: Harvard University Press.
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P o l i t i s c he Pa r t i z ip at i o n u n d s o z i o - ö k o n o mi s c he R e s s o u r c e n a u s s tat t u n g
BRICHT EUROPA AUSEINANDER? REICHTUM UND ARMUT IN EUROPA
9. » Die Geschichte der europäischen
­Migrations- und Asylpolitik –
ein Trauerspiel?« Ein Planspiel
zur Asylpolitik.
ARNDT, HOLGER-MICHAEL/ BEHNE, MARKUS W.
Z
74
eit-online vertrat bereits am 11. Oktober 2013 die These:
»Die Geschichte der europäischen Migrations- und Asylpolitik ist ein Trauerspiel«. Dies geschah insbesondere in Anbetracht der Flüchtlingskatastrophen vor der italienischen
Insel Lampedusa und anderswo am Mittelmeer. Obwohl die
Europäische Union sich schon früh auf eine gemeinsame, den
europäischen Werten verpflichtete Flüchtlingspolitik verständigte, stellt sich die EU bis heute nicht nur aus der Sicht
von Einreisewilligen immer noch als die »Festung Europa«
dar. Die Zahl der Opfer, die bei dem Versuch, die Europäische
Union zu erreichen, sterben, nimmt täglich zu. Ihre genaue
Zahl ist unbekannt. Aber selbst die Grenzsicherungsorganisation der EU, »Frontex«, spricht von Zehntausenden. Dabei
verschlechtert sich die Situation derer, die sich aus ganz unterschiedlichen Gründen auf den Weg nach Europa machen
und den europäischen Boden und damit den vermeintlichen
Schutz der Mitgliedstaaten der EU erreichen, von Monat zu
Monat.
Die Asyl- und Flüchtlingspolitik der Europäischen Union ist in den
letzten Jahren zunhemend in Verruf geraten. Obwohl der Schutz
von Flüchtlingen in der gesamten EU durch die Anerkennung der
Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) gewährt sein müsste, reagieren die Mitgliedstaaten sehr unterschiedlich, zumal sie sich ganz
unterschiedlichen Herausforderungen gegenüber sehen. Einige
Staaten an den Außengrenzen der EU erleben eine explodierende
Einwanderungs- beziehungsweise Flüchtlingswelle. Andere Staaten sind als Binnenstaaten kaum betroffen, obwohl die ankommenden Menschen zum Teil gerne in genau diese Staaten weiterziehen möchten. Asylanträge, so die derzeit gültige Regel in der
EU, müssen nämlich in jenem Land der EU gestellt werden, in dem
die Asylsuchenden zuerst einreisen.
Insgesamt wird dadurch in vielen Einreisestaaten die derzeitige
Verteilung der Flüchtlinge als ungerecht erlebt. Was gerecht ist,
wird aber sehr kontrovers diskutiert. Viele Flüchtlingshilfswerke
und Menschrechtsorganisationen fordern eine bessere Aufnahme
der geflüchteten Menschen, egal ob sie aus wirtschaftlichen, bürgerkriegs- oder politischen Gründen ihre Heimat verlassen haben. Insbesondere rechtspopulistische Parteien fordern dagegen
eine Begrenzung der Zuwanderung, da sie die heimische Bevölkerung gegenüber den Asylsuchenden als benachteiligt beschreiben. Zusätzlich sind auch technisch-taktische Fragen in der Asylund Flüchtlingspolitik zu beantworten. Menschen, deren
Asylantrag in einem Aufnahmestaat abgewiesen wurde, versuchen mitunter erneut eine Aufnahme in einem anderen Staat der
EU.
Mit einem Planspiel zu einer gemeinsamen europäische Asyl- und
Flüchtlingspolitik möchte die Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg gemeinsam mit dem CIVIC Institut für
internationale Bildung dieses aktuelle und wichtige Themenfeld
europäischer Politik anschaulicher gestalten, erlebbar machen
und auf Grundlage unterschiedlicher Positionen europäischer Akteurinnen und Akteure sowie Entscheidungsstrukturen der Europäischen Union Handlungsstrategien und Lösungsoptionen entwickeln. Im Mittelpunkt steht dabei der Beschluss für einen
europäischen Rechtsakt, über den im Rahmen des ordentlichen
Gesetzgebungsverfahrens der EU abgestimmt werden soll.
Das Planspiel eignet sich dabei für den Einsatz ab Klassenstufe 9
aller Schularten und kann auch von einem einzenen Klassenverband im Rahmen eines Projekttages durchgeführt werden.
Rechtliche Rahmenbedingungen
Asyl ist eine Form des Schutzes, den ein Staat auf seinem Hoheitsgebiet einer Person gewährt, die nicht aus diesem Staat kommt.
Asyl bedeutet in seiner ursprünglichen, seit dem antiken Griechenland praktizierten Form einen Zufluchtsort für Verfolgte. Die
Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 der UNO begründet, als Reaktion auf die Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs
und der Terrorherrschaft der Nationalsozialisten, in Artikel 14 das
Recht, in anderen Ländern vor Verfolgung Asyl zu suchen und zu
genießen. Die bedeutet aber kein völkerrechtlich garantiertes
Recht auf Asyl. Die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) von 1951
und das Zusatzprotokoll von 1967 beinhalten zwar auch keine
Aufnahmepflicht, definieren aber in Artikel 1a zumindest einen
Flüchtling als eine Person, die sich »aus der begründeten Furcht
vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer
politischen Überzeugung« in den Schutz eines anderes Landes
begibt. Damit beschäftigt sich die GFK mit internationaler Migration durch Flucht. Art. 33 der GFK enthält das Verbot, einen
Flüchtling über die Grenzen von Gebieten aus- oder zurückzuweisen, »in denen sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse,
Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht sein würde.« Diese Ergänzung ist die Grundlage
für die Aufenthaltsgewährung von Menschen, die in die Bundesrepublik oder andere europäische Staaten geflüchtet sind, aber
kein Asyl aufgrund einer politischen Verfolgung erhalten, wie es
in Art. 16a des Grundgesetzes festgelegt wird. Binnenmigration,
auch unter Fluchtbedingungen wird durch die GFK nicht abgedeckt.
Insgesamt haben im Jahr 2013 434.160 Personen Asyl in der EU beantragt. Ein Jahr zuvor waren nur 335.000 Asylanträge gemeldet
worden. 2013 sind 860 Asylbewerber pro Million Einwohner in die
EU eingereist. Für 326.310 Bewerbungen lagen am Ende des Jahres
Entscheidungen vor. 112.730 erhielten eine positive Entscheidung
und dürfen mit dem Flüchtlingsstatus (49.510) oder als Person, die
aus humanitären oder anderen Gründen nicht in ihr Herkunftsland abgeschoben werden darf, in der EU bleiben. Die Anträge der
Die Geschichte der europäischen M
­ igr ations- und A s ylp olitik
D&E
Heft 69 · 2015
anderen 213.580 Personen,
das sind 65 Prozent der Bewerber, wurden abgelehnt.
Sie müssen die EU wieder verlassen. Die Anträge werden
an den jeweiligen Staat der
Ersteinreise gestellt.
Die meisten Anträge wurden
von 127.000 Bewerbern in
Deutschland gestellt (29 Prozent). In Frankreich waren es
65.000 Anträge oder 15 Prozent, in Schweden 54.000
oder 13 Prozent, im Vereinigten Königreich 30.000 be­
ziehungsweise 7 Prozent und
in Italien 28.000 oder 6 Prozent. Damit entfielen auf
diese fünf Staaten rund
70 Prozent aller Anträge.
Wenn man die Einwohnerzahl
der Mitgliedstaaten zum Vergleich heranzieht, ergibt sich
aber ein anderes Bild. Dann
Abb. 1 Flüchtlinge versuchen bei Ceuta, einer spanischen Enklave in Nordafrika, über einen Zaun zu klettern, um in der
hat diese höchste BewerberEuropäischen Union politischen Asyl zu beantragen.
© Reduan, epa, picture alliance, 3.2.2015
quote Schweden zu verzeichnen mit 5.700 Bewerbungen
pro Million Einwohner. Es fol25. Oktober 2011 zur Änderung der Verordnung (EG) 2007/2004
gen Malta mit 5.300 pro Million Einwohner, Österreich mit 2.100,
des Rates zur Errichtung einer Europäischen Agentur für die opeLuxemburg mit 2.000 und Ungarn sowie Belgien mit je 1.900. Die
rative Zusammenarbeit an den Außengrenzen der Mitgliedstaafünf Mitgliedstaaten mit der niedrigsten Quote waren Portugal
ten der EU übernimmt letztlich genau diese Verpflichtung.
mit 50 Bewerbungen pro Million Einwohner, Tschechien mit 65,
Estland 70, Slowakei 80 sowie Lettland und Spanien jeweils 95.
Rund die Hälfte der Asyl-Bewerberinnen und Bewerber im Jahr
Eröffnungsrede des Präsidenten der
2013 kamen aus 7 Ländern. Zusätzlich kann auch die Quote des
Europäischen Kommission
tatsächlich gewährten Asyls pro Antrag sehr unterschiedlich ausfallen. Deutschland gewährt durchschnittlich 30 Prozent der AnDas Planspiel wird nach der Einführungs- und Einarbeitungstragstellenden den Asylstatus, Italien dagegen rund 50 Prozent.
phase aller Teilnehmer/-innen durch eine Rede der Präsidentin/
Die EU hat sich durch die Einführung des Binnenmarkts und die
des Präsidenten der Europäischen Kommission eröffnet. Die
Umsetzung des Schengener Durchführungsübereinkommens
Spielerin/der Spiel erhält hierzu einen Entwurf einer Rede, der in1993 in einen Staatenverbund gewandelt, der keine Personenkondividuell ergänzt oder abgeändert werden kann.
trollen an seinen Binnengrenzen mehr kennt. Damit ist die Frage
gestellt, wie die von allen Mitgliedstaaten unterzeichnete GFK
realisiert werden kann. Über die verschiedenen Vertragsreformen
Fiktiver Vorschlag für einen Rechtsakt
sind heute die Charta der Grundrechte der EU und die im Vertrag
von Lissabon unter dem Titel Raum der Freiheit, der Sicherheit
Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer bringen sich zu Beginn des
und des Rechts formulierten Zugangspolitiken relevant für die
Planspiels bereits aktiv bei der Erarbeitung des fiktiven VorAusgestaltung der EU-Asyl- und Flüchtlingspolitik durch die EUschlags für einen europäischen Rechtsakt ein. Die Europäische
Rechtsetzung.
Kommission, die das Recht zur alleinigen Initiative innehat, kann
Auf dieser Grundlage wurden im Juni 2013 neue Verordnungen und
für fünfvorgesehene Artikel des Rechtsakts aus jeweils zwei AlterRichtlinien erlassen, die die konkrete Umsetzung der Asyl- und
native auswählen. Überdies kann der Inhalt für einen sechsten
Flüchtlingspolitik in der EU regeln. Die Verordnungen und RichtliArtikel frei gewählt werden.
nien wurden nach dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren beschlossen. Im Einzelnen sind dies die sogenannte Dublin-III-Verordnung.
Ablauf des Planspiels
Im Planspiel wird auch die Rolle der Europäischen Grenzschutzagentur Frontex thematisiert. Frontex unterstützt mit Sitz in WarDas Planspiel ist auf eine Ein-Tages-Veranstaltung ausgelegt und
schau seit 2004 die Mitgliedstaaten der Europäischen Union bei
inklusive Pausenzeiten ca. 7 ½ Zeitstunden lang. Es werden drei
der Sicherung der Grenzen der EU. Frontex wird dabei im ZusamRäume benötigt, die in unmittelbarer Nähe zueinander liegen.
menhang mit der europäischen Flüchtlingspolitik kontrovers disDer größte Raum muss alle Teilnehmenden aufnehmen können.
kutiert. Vor allem die Erneuerung der Leitlinien für Frontex-OpeDie Spielerinnen und Spieler erhalten nach der thematischen und
rationen im Jahr 2011 war umstritten, da seitdem durch die
methodischen Einführung jeweils ein Szenario, ein Gruppenprofil
Teilnahme an solchen gemeinsamen Maßnahmen nicht nur Vorund ein Rollenprofil sowie den Zeitplan und spezifische Einzelvorteile für die jeweiligen Mitgliedstaaten verbunden sind, sondern
lagen. Die Gruppen »Medien«, »Europäische Kommission«, »Rat«
auch die Verpflichtung, in internationalen Gewässern ausgegrifund »Europäisches Parlament« werden aus den teilnehmenden
fene beziehungsweise gerettete Bootsflüchtlinge zunächst in eiSchülerinnen und Schülern respektive Jugendlichen oder Erwachnen eigenen Hafen zu bringen, um zum Beispiel eventuelle Asylsenen gebildet. Jede Gruppe beginnt mit einer Vorstellungsrunde,
rechte festzustellen. Die letztlich verabschiedete Verordnung
in der jede Person sich in ihrer neuen Rolle mit einem neuen Na(EU) 1168/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom
D&E
Heft 69 · 2015
Die Geschichte der europäischen M
­ igr ations- und A s ylp olitik
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Arndt, Holger-Michael/ Behne, Markus W.
76
men vorstellt und kurz in 2 Minuten die eigenen Ziele skizziert,
ohne schon zu viele Details Preis zu geben. Die Mediengruppe
kann bereits nach ihrer eigenen Findung an den Vorstellungsrunden der Organe teilnehmen. Die Mitglieder des EP setzen sich in
ihren Fraktionen zusammen, die Mitglieder des Rates sitzen in
einer alphabetischen Reihenfolge der Ländernamen. Danach wird
in jeder Gruppe eine Person zur Präsidentin oder zum Präsidenten
gewählt und leitet die weiteren Sitzungen. Weitere Personen können für die Kontakte zu den anderen Gruppen oder zu Schriftführenden bestimmt werden. Die Kommission bereitet zeitgleich mit
Hilfe der Vorlage einen Vorschlag für einen neuen Rechtsakt und
die Eröffnungsrede vor. Die Mediengruppe erarbeitet einen Plan
für die eigene Tätigkeit und nimmt an allen Sitzungen teil.
Nach der ersten Pause eröffnet der Präsident oder die Präsidentin
der Kommission die gemeinsame Konferenz mit der Eröffnungsrede. Nach einem kurzen Austausch, kleineren Interviews der Mediengruppe und informellem Kennenlernen zwischen den Teilnehmenden, kehren die Gruppen in ihre Räume zurück.
Die Kommission verteilt ihren Vorschlag für einen neuen Rechtsakt zunächst im Parlament und anschließend im Rat. Der Text
wird vorgelesen und die Beweggründe werden mitgeteilt. Die
Kommission beziehungsweise einzelne Mitglieder der Kommission sind in der Regel in den Sitzungen des Parlaments und des
Rats anwesend und haben ein Rederecht.
Das EP und der Rat beraten die Vorlage und das EP beschließt Änderungen. Der Rat kann erst Änderungen beschließen, wenn das
EP seine Änderungen dem Rat mitgeteilt hat und nur auf Grundlage dieser veränderten Vorlage. Das EP beschließt mit der absoluten Mehrheit seiner Mitglieder. Der Rat beschließt grundsätzlich mit der sog. qualifizierten Mehrheit. Die qualifizierte
Mehrheit im Rat ist im Planspiel erreicht, wenn 55 Prozent der
anwesenden mitgliedstaatlichen Vertreter, 65 Prozent der Bevölkerung der anwesenden Mitgliedstaaten widerspiegeln.
Die Mediengruppe begleitet jede Sitzung der Organe. Zur Mitte
des Planspiels und zum Abschluss führt die Mediengruppe jeweils
eine Talkshow mit Gästen aus allen Organen durch. Zu Beginn der
Talkshows berichten die Medienvertreter aus den Sitzungen, anschließend werden die Gäste interviewt.
Ordentliches Gesetzgebungsverfahren
Die Europäische Union erlässt grundsätzlich ihre Rechtsakte mit
bis zu drei Lesungen im Europäischen Parlament und im Rat auf
Initiative der Europäischen Kommission nach dem im Artikel 294
des Vertrags zur Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) beschriebenen Verfahren. Hiernach reicht die Kommission Vorschläge für gemeinsame Gesetze, eben für Verordnungen (unmittelbar gültige Rechtsakte) und Richtlinien (durch die
Mitgliedstaaten umzusetzende Rechtsakte), ein. Die Vorschläge
gehen an das Europäische Parlament und den Rat der EU. Im Europäischen Parlament (EP) arbeiten 751 auf 5 Jahre direkt gewählte Abgeordnete in politischen Fraktionen. Der Rat ist die Vertretung der Mitgliedstaaten für die tägliche Arbeit der EU. Hier
sitzen 28 Fachministerinnen und -minister aus den nationalen
Regierungen zusammen. Sobald das EP Änderungen zum Vorschlag der Kommission beschlossen hat, ist der Rat aufgefordert
die Änderungen anzunehmen, abzulehnen oder ebenfalls Änderungen zu beschließen. Die erste Runde von Änderungsbeschlüssen heißt Erste Lesung. Sollten beide Institutionen keine Änderungen für notwendig betrachten oder der Rat die Änderungen
des EP akzeptieren, kann das Gesetz in Kraft treten. Wird in der
Zweiten Lesung Einigkeit in den Änderungen erzielt, tritt das Gesetz jetzt in Kraft. Werden sich EP und Rat überhaupt nicht einig,
kann das Gesetz aber auch scheitern. Oft einigen sich aber auch
beide Institutionen nach der Zweiten Lesung darauf, einen Vermittlungsausschuss einzuberufen, der eine Einigungsvorlage für
eine Dritte Lesung in beiden Gremien erarbeiten soll. Der Vermittlungsausschuss besteht aus allen Mitgliedern des Rates und
ebenso vielen Mitgliedern des EP. Sollte dieser Versuch scheitern
oder in der Dritten Lesung eines der beiden Gremien gegen den
gemeinsamen Vorschlag stimmen, ist das Gesetz endgültig gescheitert. Ansonsten unterzeichnen die Präsidenten oder Präsidentinnen von Rat und EP das Gesetz, womit es in Kraft tritt.
Die Präsidentschaft im EP wird für je 2,5 Jahre von den Mitgliedern
des EP gewählt. Die Präsidentschaft im Rat wechselt jedes Halbjahr, damit jedes Land einmal diese Aufgabe übernehmen kann.
Die Kommission begleitet die ganze Zeit den Gesetzesvorschlag
und gibt Stellungnahmen zu den Änderungswünschen ab. Dies
ändert im Rat die Entscheidungsfindung. Bei negativen Beurteilungen der Kommission, kann der Rat die gewünschte Änderung
nur einstimmig beschließen. Bei positiven Urteilen der Kommission, reicht eine qualifizierte Mehrheit. Um diese zu erreichen,
reicht ab 2014 eine Mehrheit von 55 Prozent der Mitgliedstaaten,
die 65 Prozent der Bevölkerung der EU vertreten. Das EP stimmt in
der Regel mit Mehrheit ab.
Rollenprofil Europäisches Parlament (als
Beispiel)
hier: Die Grünen/ Freie Europäische Allianz Grüne/EFA – Fraktionsprofil
Die Fraktion Grüne EFA ist eine der mittelgroßen Fraktionen im
Europäischen Parlament. Ihre Mitgliedparteien stammen aus
dem ökologischen und bürgerlich-liberalen Spektrum sowie regionalistischer europäischer Politik. Dies bedeutet, dass neben
klassischen ökologischen Parteien auch linksliberale Parteien
und regionale Unabhängigkeitsparteien in Ihrer Fraktion sitzen.
Die Grüne/EFA-Fraktion hat seit vielen Jahren Mitglieder aus vielen EU-Staaten. Damit ist sie im Selbstverständnis eine gesamteuropäische Fraktion. Die Grüne EFA-Fraktion vertritt regelmäßig
pro-europäische Lösungen, da sie die Vorteile einer kontinentalen Politikgestaltung zumeist sehr deutlich gewichtet. Es sind
aber auch MdEPs in den Reihen der Grünen/EFA-Fraktion, die das
Subsidiaritätsgebot besonders betonen. Dieses Gebot unterstreicht den europäischen Grundsatz, dass nur auf einer höheren
Ebene geregelt werden soll, was die untere lokale oder regionale
Ebene weniger gut regeln kann. Die Grüne/EFA-Fraktion sieht sich
als wertegebundene Fraktion, die vor allem den Umweltschutz
betont und die Bürgerrechte gegen zu viel Bevormundung durch
die Staaten verteidigt. Die Grüne/EFA-Fraktion ist eher wirtschaftskritisch.
In der Asyl- und Flüchtlingspolitik ist die Position der Grünen/
EFA-Fraktion relativ einheitlich. Die unterschiedlichen Interessen
liegen zwischen der Betonung der europäischen humanitären
Menschenrechtstradition, die auch Flüchtlinge und Asylsuchende
einschließt, und der Rücksicht auf eine möglichst gerechte Verteilung der Lasten zwischen den Mitgliedstaaten und Bürgerinnen
EP – Grüne/EFA – Iniciativa per Catalunya Verds ICV (Spanien)
– Rollenprofil
Im Königreich Spanien leben auf über 504 Tausend Quadratkilometern rund 46 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner. Damit
ist Spanien nach der Fläche auf Platz 2, nach der Bevölkerungsgröße auf Platz 5 der EU-Mitgliedstaaten. Spanien ist bereits seit
1986 Mitglied der Europäischen Gemeinschaften. Nach dem Tod
des Militärdiktators General Franco 1975 gelang es der schnell,
die Demokratie zu etablieren und zu festigen. Nach dem Ende der
Ost-West-Teilung Europas gründete Spanien zusammen mit 11
weiteren Staaten Westeuropas 1993 die Europäische Union. Durch
seine Größe und seine sehr vielfältige Wirtschaftsstruktur mit einer starken Industrie ist Spanien mit geschätzten 1.031 Mrd. Euro
Bruttoinlandsprodukt nach der Wirtschaftsleistung in 2014 auf
dem 5. Platz der ökonomischen Partner in der EU. Allerdings hat
Spanien stark unter der Welt-Wirtschaftskrise seit 2008 gelitten,
was zu einer hohen Arbeitslosenquote besonders unter Jugendlichen, dem Zusammenbruch der Baubranche und konkursgefähr-
Die Geschichte der europäischen M
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deten Banken führte. Der Staat ist durch die
Bankenrettung stark verschuldet.
Durch seine Lage an der Südgrenze der EU ist
Spanien besonders von der illegalen Einreise
von Flüchtlingen betroffen. Über das Mittelmehr versuchen jährlich Tausende Menschen, Europa zu erreichen, um dort zu leben. Von diesen Menschen stellen allerdings
viele ihren Asylantrag nicht in Ihrem Land,
sondern sehen Spanien als Transitland und
reisen illegal weiter nach Norden, um in Ländern wie Schweden, Deutschland oder Großbritannien Asyl zu finden. Für die ICV steht im
Fokus, dass die EU endlich ihre »unmenschliche Flüchtlingspolitik« beenden muss. Darunter versteht die ICV zum einen die Verschärfung von Grenzkontrollen, z. B. im
Rahmen von Einsätzen der Grenzschutzagentur Frontex. Diese dient nach Ansicht der ICV
nur dazu, Flüchtlinge von Europa fernzuhalten, indem z. B. Flüchtlingsboote abgedrängt
werden. Das ist für Sie unerträglich und die
Verantwortlichen dafür müssen zur Rechenschaft gezogen werden. In den nordafrikanischen Enklaven Ceuta und Melila, die zu Spanien gehören, werden nach Informationen
regelmäßig Flüchtlinge mit Gewalt am
Grenzübertritt gehindert. Das ist unwürdig
für einen europäischen Staat, finden Sie.
Nach Ansicht der ICV können sich die europäischen Staaten der Verantwortung für die
Flüchtlinge nicht entziehen, schließlich haben sie viele der Probleme in anderen Regionen der Welt mitverursacht, so dass die Menschen von dort fliehen müssen. Fluchtgründe
können aus Ihrer Sicht nicht „geprüft“ werden, da jedes Schicksal individuell ist. Deshalb muss jedem Flüchtling, der seine Heimat verlässt und die oft weite und gefährliche
Reise nach Europa auf sich nimmt, das Recht
auf einen dauerhaften Aufenthalt gewährt
werden.
Die »unmenschliche Flüchtlingspolitik« zeigt
sich nach Ansicht der ICV aber auch in der Behandlung von Flüchtlingen, die es nach Europa geschafft haben. Der oft jahrelange AufAbb. 2 Europa und Afrika mit den als »sichere Herkunftsstaaten« bezeichneten Ländern. enthalt in Flüchtlingslagern, ohne die
© Grafik: J. Reschke, dpa, picture alliance
Möglichkeit zu arbeiten und oft getrennt von
Familienangehörigen, die in anderen Gegenden Europas leben, ist einfach menschenunwürdig und eine
tung« auszubauen. Die EU kann es sich international aus Ihrer
Schande für ein Europa, dass sich den Menschenrechten z. B. in
Sicht nicht erlauben, zu keiner gemeinsamen Lösung zu kommen.
seiner Grundrechtcharta verschrieben hat. Mit dieser Art der BeEs wäre ein Skandal, wenn eine wirtschaftlich so starke Region
handlung von Flüchtlingen leisten die Regierungen dem Rassisder Welt sich hier nicht einigen könnte! Im Zentrum aller Überlemus und der Ausländerfeindlichkeit nur weiter Vorschub und ergungen muss die Menschenwürde stehen! Forderungen nach eischweren die Integration. Sie plädieren auch hier für einen
ner besseren Grenzsicherung bedienen nur Vorurteile über
radikalen Kurswechsel!
Flüchtlinge, finden Sie. Die Politik hat aber aus Ihrer Sicht die VerSie sehen allerdings auch, dass die Lasten gerechter verteilt werantwortung, den Bürgerinnen und Bürgern Ängste zu nehmen,
den müssen. Spanien soll nicht länger darunter leiden, dass es am
anstatt diese durch populistische Äußerungen noch zu bestätiRande der EU liegt und damit natürlicherweise oft die erste Angen.
laufstelle für Flüchtlinge ist. Darum setzen Sie sich dafür ein, dass
Das Planspiel enthält – je nach Klassengröße – eine Vielfalt solsich vor allem die mittel- und nordeuropäischen Staaten stärker
cher Rollenprofile. Am Ende soll dann nach einem politischen
an der Verteilung der Belastungen beteiligen.
Aushandlungsprozess über die Möglichkeit einer neue RechtssetEine gemeinsame Behörde und eine Datenbank lehnen Sie ab.
zung in der Flüchtlings- und Asylpolitik abgestimmt werden.
Kontrolle und Bürokratie wären am Ende nur dazu da, die Zahl der
Kontakt: Holger-Michael Arndt: [email protected]
Flüchtlinge drastisch zu reduzieren und Europa weiter zur »Fes-
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Jürgen Kalb
D&E intern: Planspielangebote sowie
Aktionstage der LpB BW (Auswahl)
Im Rahmen der Politischen Tage der LpB in Baden-Württemberg werden sowohl Planspiele als auch Aktionstage angeboten. Politische
Tage sind Veranstaltungen zu ausgewählten politischen Themen als Ergänzung zum normalen Schulunterricht oft durch junge Expertenteams der LpB (»peer group education«). Zielgruppe sind Schülerinnen und Schüler aller weiterführenden Schularten, aber auch Grundschulen ab Klasse 2. Die nachfolgende Tabelle zeigt in einer Auswahl die aktuellen Angebote der LpB.
JÜRGEN KALB
Abb. 1 Aktionstage und Planspielangebote der LpB BW im Überblick (Auswahl)
Bereich /
Format
Name der Veranstaltung
Zielgruppe
Regierungspräsidium
Kontakt
Gesellschaft
»Same same but different«
ab Klasse 8
RPTü
[email protected]
»Soundcheck«
Klassen 9-10
alle
[email protected]
»Wir und die anderen«
ab Klasse 8
RPFr
[email protected]
Aktionstag zum Thema Vourteile und Diskriminierung.
»GrenzFall«
ab Klasse 8
RPFr
[email protected]
Aktionstag zum Thema Migration und Integration.
Globaleasyrung
ab Klasse 8
RPFr
[email protected]
Aktionstag zum Themenfeld Globalisierung. Internationale Zusammenhänge einfach erklärt.
»Wandel durch Handel«
ab Klasse 10
RPFr
[email protected]
Planspiel zur WTO - Möglichkeiten und Grenzen des
Welthandels entdecken.
» Streik! Arbeitskampf in
der ABC AG«
ab Klasse 9
RPKa/RPS
[email protected]
Planspiel zu Interessenskonflikten im Betrieb und
Sozialpartnerschaft.
»Stuttingen«
Jugendliche ab
alle
[email protected]
Wirtschaft
Politik
Europa
Aktionstag zum Thema Gleichberechtigung.
[email protected]
Projekttag zum Thema Rechtsextremismus und Musik.
Kommunalpolitisches Planspiel mit Jugendbeteiligung.
Klasse 8
»Neckardorf«
78
Nähere Beschreibung
ab Klasse 8
»Du hast die Wahl in
Wahlingen«
ab Klasse 7
»Bundestag macht
Schule«
ab Klasse 9
«Kein Bock auf Politik?»
ab Klasse 5
»Festung Europa?«
ab Klasse 9
RPKa/ RPS
[email protected]
RPTü
[email protected]
RPFr
[email protected]
RPKa/RPS
[email protected]
RPTü
[email protected]
RPFr
[email protected]
RPKa /RPS
[email protected]
RPTü
[email protected]
RPFr
[email protected]
RPTü
[email protected]
RPFr
[email protected]
RPKa/RPS
[email protected]
Planspiel zur Kommunalpolitik.
Planspiel zur Kommunalpolitik.
Planspiel des Bundestags zur Gesetzgebung.
Aktionstag zu Grundlagen der Politik.
Planspiel zur Asylpolitik der EU. (Auch in der Bausteine-Reihe erschienen)
RPTü
[email protected]
»An der schönen blauen
Donau«
ab Klasse 10
RPKa/RPS
[email protected]
Planspiel zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit
im Donauraum.
»Europoly«
ab Klasse 2
RPKa/RPS
[email protected]
Lernspiel rund um Europa und die Europäische Union.
RPTü
[email protected]
»Europoly für S I«
ab Klasse 5
RPTü
[email protected]
»Fokus Balkan«
ab Klasse 9
RPKa/RPS
[email protected]
Planspiel für Schulklassen ab 25 Teilnehmer zum möglichen Beitritt in die EU: als PDF unter www.deutschlandundeuropa.de
»Mobil in Europa«
ab Klasse 10
RPKa/RPS
[email protected]
Planspiel für Schulklassen ab 25 Teilnehmer zur Konvergenz der europäischen Sozialsysteme: als PDF unter
www.deutschlandundeuropa.de
»Europäische Asyl- und
Migrationspolitik«
ab Klasse 10
RPKa/RPS
[email protected]
Planspiel für Schulklassen ab 25 Teilnehmer zur Asylpolitik der EU: demnächst als PDF unter www.deutschlandundeuropa.de
Frieden /
Sicherheit
»Es geht um den
Frieden!«
ab Klasse 10
Geschichte
»Kriegsende und Wiederaufbau in Freiburg nach
dem Zweiten Weltkrieg«
Klasse 8-10
RPFr
[email protected]
RPKa/RPS
[email protected]
RPFr
[email protected]
Erweitertes Lernspiel rund um Europa und die EU.
Planspiel zum UN-Sicherheitsrat.
Mit Tablet und Apps auf historischer Spurensuche in
Freiburg.
Die Geschichte der europäischen M
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Heft 69 · 2015
In der Baustein- bzw. Planspiel-Reihe der LpB-BW werden exemplarisch Planspiele
dokumentiert und publiziert. Teilweise können diese
Planspiele auch als Planspielveranstaltungen angefragt
werden.
Ansprechpartner:
– Verantwortlich dafür ist
der stellvertretende Direktor der LpB: [email protected]
– Die Planspiele für das Regierungspräsidium Stuttgart und Karlsruhe organisiert die Außenstelle
Heidelberg der LpB: heiAbb. 2 Gerade entsteht ein Planspiel-Internetportal, das es ermöglichen soll, Teile der von der LpB angebotenen Planspiele
[email protected]
virtuell vorzubereiten und durchzuführen. Vgl.: www.fokus-planspiele.de bzw. http://fokus.kastanie-eins.de
– Für das Regierungspräsi
© KastanieEins, Agentur für Kommunikation und Serious Games, LpB Baden-Württemberg
dium Freiburg zeichnet
verantwortlich: thomas.
waldvogel@ lpb.bwl.de.
– Für das Regierungspräsidium Tübingen: thomas.franke@lpb.
– Verantwortlich für den Bereich »Jugend und Politik« ist dies:
bwl.de
[email protected]
– Zusätzlich bietet auch der Europareferent der LpB Planspiele
Auf den Websites der Lpb (www.lpb-bw.de sowie auf deutschlandan: [email protected]
undeuropa.de) finden sich zudem einzelne PDF-Versionen der
– Für den Bereich der Extremismusprävention (team-mex)
Planspiele.
zeichnet verantwortlich: [email protected]
Abb. 3 Bausteine - Reihe der LpB BW (Planspiele) im Überblick (Auswahl)
Name der Publikation
Bereich /
Format
Frauen und Männer - so und
anders!
Wirtschaft
Störfall im Finanzsystem
Politik
Baden-Württemberg. Methoden zur Landeskunde
schulische und außerschu- Methodensammlung zur wirtschaftlichen Globalisierung und Finanzkrise.
lische Gruppen
Ostralien - Schule als Staat
Klassen 3-6
Schulklassen S I und SII
Staats- und Eurokrise
ab Klasse 9
Europa sind wir! Band 1
Festung Europa?
ab Klasse 10
Ghettos - Vorstufen der Vernichtung
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Planspiel zur Asyl- und Flüchtlingspolitik in der EU.
Unterrichtsvorschläge zum Thema Ghettos im Nationsozialismus.
Zwischen Romantisierung und
Rassismus: Sinti und Roma
Euthanasie im NS-Staat
Methodensammlung zur aktuellen FInanzsituation, Diskussionsanregungen zu Zukunftsentwürfen in Zeiten scheinbar entfesselter Finanzmärkte.
schulische und außerschu- Methodensammlung für die europäische Jugendbildung.
lische Lerngruppen
Europa sind wir! Band 2
Erinnerung darf nicht enden
Lobbyismus am Beispiel der Krankenversicherung.
Handlungsorientierte Module für den Unterricht zu kulturellen, historiab Klasse 8, alle
Schularten mit verschiede- schen und geografischen Fragestellungen, auch für den fächerübergreinen Anforderungsniveaus fenden Unterricht.
Lernfeld Europa
Die Nacht als die Synagogen
brannten
Altersgerechte Methodensammlung zur Landeskunde, Landesgeschichte
und Landespolitik.
Schulische und außerschu- Dokumentation eines Unterrichtsprojekt zur DDR-Geschichte am Evangelischen Heidehof-Gymnasium in Stuttgart mit DVD.
lische Gruppen
Planspiel Lobbyismus
Geschichte
Nähere Beschreibung
Jugendliche /Lehrkräfte an Methoden für die Jugendildung, Texte, Methoden und UnterrichtsvorSchulen und offener
schläge, das Querschnittsthema »Chancengleichheit« in unterschiedliJugendbildung
chen Fächern zu integrieren.
Gesellschaft
Europa
Zielgruppe
Unterrichtsmaterialien und Methoden zur Geschichte der Sinti und Roma,
insbesondere über den nationalsozialistischen Völkermord und seine Auswirkungen.
ab Klasse 8
Materialien zum 9. November 1938.
alle Schularten ab Klasse 5 Materialien und Unterrichtsvorschläge zum 27. Januar (HolocaustGedenktag).
an Klasse 9
Grafeneck im Jahre 1940: Materialien und didaktische Impulse für den
Unterricht.
Die Geschichte der europäischen M
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DEUTSCHLAND & EUROPA INTERN
D&E-Autorinnen und Autoren – Heft 69
»Bricht Europa auseinander? Reichtum und Armut in Europa«
Abb. 1 Professor Dr. Michael
Groß, Universität Tübingen, Professur für Soziologie, mit dem Schwerpunkt Makrosoziologie.
Abb. 2 Professor em. Dr. Michael
Hartmann, Professur für Elite- und
Organisationssoziologie an der Technischen Universität Darmstadt.
Abb. 3 Prof. Dr. Roland Verwiebe,
Professur für Soziologie an der Universität Wien, Arbeitsschwerpunkt
u. a.: Soziale Ungleichheit in Europa
Abb. 4 Nina-Sophie Fritsch, M. A.,
Universität Wien, Institut für Soziologie, Lehrbereich Sozialstrukturforschung und Quantitative Methoden
Abb. 5 Professor Dr. Till van
Treeck, Professur für Sozialökonomie
an der Universität Duisburg – Essen.
CIVES School of Civic Education.
Abb. 6 Hans Gaffal, Studiendirektor, Referent für Gemeinschaftskunde/ Wirtschaft am Regierungspräsidium Stuttgart (Gymnasien),
Theodor-Heuss-Gymnasium
Esslingen
Abb. 7 Professor em. Dr. Oscar W.
Gabriel, Universität Stuttgart,
In­stitut für Sozialwissenschaften.
Schwerpunkte u. a.: Politische Einstellungen und politische Kultur,
politische und soziale Partizipation
sowie Methoden der vergleichenden
empirischen Politikforschung.
Abb. 8 Dr. Uwe Wenzel, Studienhaus Wiesneck, Institut für politische
Bildung Baden-Württemberg e. V.
sowie Universität Freiburg, Seminar
für Wissenschaftliche Politik am
Lehrstuhl für Vergleichende Regierungslehre
Abb. 9 Rechtsanwalt HolgerMichael Arndt, CIVIC-Institut für
internationale Bildung, Düsseldorf
und Wien, Schwerpunkt u. a.: Planspiele in der politischen Bildung
Abb. 10 Markus W. Behne, CIVICInstitut für internationale Bildung,
Düsseldorf und Wien, Schwerpunkt
u. a.: Planspiele in der politischen Bildung
Abb. 11 Jürgen Kalb, Studiendirektor, Fachreferent LpB, Chefredakteur
von D&E, Fachberater am RP Stuttgart für Geschichte, Gemeinschaftskunde und Wirtschaft, Elly-HeussKnapp- Gymnasium Stuttgart
80
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Stafflenbergstraße 38, 70184 Stuttgart
Telefon 0711/164099-0, Service -66, Fax -77
[email protected], www.lpb-bw.de
Direktor: Lothar Frick
Büro des Direktors:
Sabina Wilhelm
Stellvertretender Direktor: Karl-Ulrich Templ
Stabsstelle Kommunikation und Marketing
Leiter: Werner Fichter
N.N.
-60
-62
-40
-63
-64
Abteilung Zentraler Service
Abteilungsleiter: Kai-Uwe Hecht
-10
Haushalt und Organisation: Gudrun Gebauer
-12
Personal: Sabrina Gogel
-13
Information und Kommunikation: Wolfgang Herterich -14
Klaudia Saupe
-49
Siegfried Kloske, Haus auf der Alb Tel.: 07125/152-137
Abteilung Demokratisches Engagement
Abteilungsleiterin/Gedenkstättenarbeit: Sibylle Thelen* -30
Politische Landeskunde*: Dr. Iris Häuser
-20
Schülerwettbewerb des Landtags*: Monika Greiner
Daniel Henrich
-25
Frauen und Politik: Beate Dörr/Sabine Keitel
-29/-32
Jugend und Politik*: Angelika Barth
-22
Freiwilliges Ökologisches Jahr*: Steffen Vogel
-35
Alexander Werwein-Bagemühl/ Sarah Mann
-36/-34
Stefan Paller
-37
Abteilung Medien und Methoden
Abteilungsleiter/Neue Medien: Karl-Ulrich Templ
-40
Politik & Unterricht/Schriften zur politischen Landeskunde Baden-Württembergs: Prof. Dr. Reinhold Weber -42
Deutschland & Europa: Jürgen Kalb
-43
Der Bürger im Staat/Didaktische Reihe:
Siegfried Frech
-44
Unterrichtsmedien: Michael Lebisch
-47
E-Learning: Sabine Keitel
-46
Politische Bildung Online: Jeanette Reusch-Mlynárik,
Haus auf der Alb
Tel.: 07125/152-136
Internet-Redaktion: Klaudia Saupe
-49
Bianca Hausenblas
-48
Abteilung Haus auf der Alb
Tagungszentrum Haus auf der Alb,
Hanner Steige 1, 72574 Bad Urach
Telefon 07125/152-0, Fax -100
www.hausaufderalb.de
Abteilungsleiter/Gesellschaft und Politik:
Dr. Markus Hug
Schule und Bildung/Integration und Migration:
Robert Feil
Internationale Politik und Friedenssicherung/
Integration und Migration: Wolfgang Hesse
Europa – Einheit und Vielfalt: Thomas Schinkel
Hausmanagement: Julia Telegin
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Außenstellen
Regionale Arbeit
Politische Tage für Schülerinnen und Schüler
Veranstaltungen für den Schulbereich
Außenstelle Freiburg
Bertoldstraße 55, 79098 Freiburg
Telefon: 0761/20773-0, Fax -99
Leiter: Dr. Michael Wehner
Thomas Waldvogel
-77
-33
Außenstelle Heidelberg
Plöck 22, 69117 Heidelberg
Telefon: 06221/6078-0, Fax -22
Leiter: Wolfgang Berger
Robby Geyer
-14
-13
Politische Tage für Schülerinnen und Schüler
Veranstaltungen für den Schulbereich
Thomas Franke
Stuttgart: Stafflenbergstraße 38
Stabsstelle Extremismusprävention
Stuttgart: Stafflenbergstraße 38
Leiter: Felix Steinbrenner
Assistentin: Stefanie Beck
-83
-81
-82
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LpB-Shops/Publikationsausgaben
Bad Urach Hanner Steige 1, Telefon 07125/152-0
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8.00–12.00 Uhr und 13.00–16.30 Uhr
Freiburg
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Dienstag und Donnerstag 9.00–17.00 Uhr
-146
Heidelberg Plöck 22, Telefon 06221/6078-11
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Mittwoch und Donnerstag 13.00–17.00 Uhr
-139
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