Zeitschrift für Gemeinschaftskunde ISSN 1864-2942 Geschichte und Wirtschaft DEUTSCHLAND & EUROPA Heft 69 – 2015 Bricht Europa auseinander? Reichtum und Armut in Europa DuE69_ums_20150316.indd U1 23.03.15 11:00 Zeitschrift für Gemeinschaftskunde, Geschichte und Wirtschaft DEUTSCHLAND & EUROPA HEFT 69–2015 »Deutschland & Europa« wird von der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg herausgegeben. DIREKTOR DER LANDESZENTRALE Lothar Frick REDAKTION Jürgen Kalb, [email protected] REDAKTIONSASSISTENZ Sylvia Rösch, [email protected] ab 1.4.2015: Verena Demel, [email protected] BEIRAT Günter Gerstberger, Robert Bosch Stiftung GmbH, Stuttgart Renzo Costantino, Ministerialrat, Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Prof. Dr. emer. Lothar Burchardt, Universität Konstanz Dietrich Rolbetzki, Oberstudienrat i. R., Filderstadt Lothar Schaechterle, Professor am Staatlichen Seminar für Didaktik und Lehrerbildung Esslingen/Neckar Dr. Beate Rosenzweig, Universität Freiburg und Studienhaus Wiesneck Dr. Georg Weinmann, Studiendirektor, DietrichBonhoeffer-Gymnasium Wertheim Lothar Frick, Direktor der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg Jürgen Kalb, Studiendirektor, Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg Vor dem Beiertheimer Tafel-Laden in Karlsruhe (Baden-Württemberg) standen am 7.2.2014 Menschen Schlange. Die Tafeln versorgen arme Menschen mit Lebensmitteln, die sonst weggeworfen würden. Mit steigender Zahl von Bedürftigen müssen Brot, Obst und Gemüse jetzt auf mehrere Köpfe verteilt werden. Nach einer aktuellen Untersuchung aus dem Jahre 2015 der Nichtregierungsorganisation Oxfam (vgl. www.oxfam.de) haben die sozialen Unterschiede in den letzten Jahren global deutlich zugenommen. © Uli Deck, dpa, picture alliance ANSCHRIFT DER REDAKTION Stafflenbergstraße 38, 70184 Stuttgart Telefon: 0711.16 40 99-45 oder -43; Fax: 0711.16 40 99-77 SATZ Schwabenverlag Media der Schwabenverlag AG Senefelderstraße 12, 73760 Ostfildern-Ruit Telefon: 0711.44 06-0, Fax: 0711.44 06-179 DRUCK Süddeutsche Verlagsgesellschaft Ulm mbH 89079 Ulm Deutschland & Europa erscheint zweimal im Jahr. Preis der Einzelnummer: 3,– EUR Jahresbezugspreis: 6,– EUR Auflage 16.000 Namentlich gezeichnete Beiträge geben nicht die Meinung des Herausgebers und der Redaktion wieder. Für unaufgefordert eingesendete Manuskripte übernimmt die Redaktion keine Haftung. Nachdruck oder Vervielfältigung auf elektronischen Datenträgern sowie Einspeisung in Datennetze nur mit Genehmigung der Redaktion. THEMA IM FOLGEHEFT 70 (NOVEMBER 2015) Gerechter Welthandel? Nachhaltigkeit, Freihandel und Protektionismus DuE69_ums_20150316.indd U2 23.03.15 11:00 Inhalt Inhalt Bricht Europa auseinander? Reichtum und Armut in Europa. Vorwort des Herausgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Geleitwort des Ministeriums für Kultus, Jugend und Sport . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 1. Bricht Europa auseinander? Wieviel Ungleichheit vertragen Demokratien? (Jürgen Kalb) .3 2. Der Wandel sozialer Gleichheit in Deutschland und den OECD-Staaten (Martin Groß) . . 8 3. Die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums und die Einstellungen der Eliten zur sozialen Frage. (Michael Hartmann) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 4. Armut in Europa: Trends und Risikogruppen (Roland Verwiebe, Nina-Sophie Fritsch) . . . . 28 5. Roma und Sinti: Europas größte Minderheit zwischen Ausgrenzung und Selbstorganisation (Uwe Wenzel) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 6. Zunehmende Ungleichheit: Folge oder Ursache der jüngsten Wirtschaftskrisen? (Till van Treeck) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 7. Die Mindestlohndebatte in Deutschland (Hans Gaffal) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 8. Politische Partizipation und sozio-ökonimische Ressourcenausstattung in europäischen Demokratien (Oscar W. Gabriel) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 9. »Die Geschichte der europäischen Migrations- und Asylpolitik – ein Trauerspiel«. Ein Planspiel zur Asylpolitik. (Holger-Michael Arndt/ Markus W. Behne) . . . . . . . . . . . . 74 DEUTSCHLAND & EUROPA INTERN Das Planspielangebot der Landeszentrale für politische Bildung in Baden-Württemberg (Auszüge) (Jürgen Kalb) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 D&E-Autorinnen und Autoren – Heft 68 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 D&E Heft 69 · 2015 Inhalt 1 Vorwort des Herausgebers Geleitwort des Ministeriums Moderne liberale Demokratien tragen das Versprechen in sich, dass vor allem Leistung und Arbeit ausschlaggebend für Einkommen, Vermögen und sozialen Status des Einzelnen seien. Spätestens seit Erscheinen des Bestsellers »Das Kapital im 21. Jahrhundert« des französischen Ökonomen Thomas Piketty über eine dramatisch ansteigende Ungleichheit zwischen Reich und Arm seit der Jahrtausendwende auch in den entwickelten Staaten regen sich an diesem Grundversprechen mobiler Gesellschaften und Demokratien Zweifel. Belohnt unser Wirtschafts- und Gesellschaftssystem tatsächlich die besonders Fleißigen und Leistungswilligen oder doch zunehmend Menschen mit hohem Kapitalvermögen und Erbschaftsansprüchen? Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Leserinnen und Leser, Zudem wird die öffentliche Diskussion darüber, ob die Verteilung von Bildungschancen vorrangig vom sozialen Status des Elternhauses abhängt, nach wie vor intensiv geführt. So wurde Deutschland zuletzt u.a. von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) für sein undurchlässiges Bildungssystem kritisiert, das insbesondere Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund oder aus sozial schwachen Familien benachteilige. Manche Kommentatoren äußern außerdem ihre Verwunderung darüber, dass es vor diesem Hintergrund in der Bundesrepublik kaum zu öffentlichen Protesten kommt. Diese entladen sich eher in Phänomen der Fremdenfeindlichkeit oder rechtspopulistischer Europaskepsis. Im Süden Europas scheinen linkspopulistische Bewegungen dagegen zunehmend Zulauf zu bekommen, ob nun in Griechenland (»Syriza«), Italien (»Fünf-Sterne-Bewegung«) oder in Spanien (»Podemos«). 2 Das Versprechen der Europäischen Union lautete von Anfang an, dass sie zum Wohlstand aller führen würde. Ist dieses Versprechen angesichts der jüngsten Wirtschaftskrisen und politischer Instabilität noch einlösbar? Oder bricht Europa zunehmend auseinander? Die Zeitschrift »Deutschland und Europa« geht diesen ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen Fragestellungen in ihrer vorliegenden Ausgabe aus unterschiedlichen Perspektiven nach. Braucht Europa nach Jahren der Liberalisierung der Märkte eine stärkere Regulierung und mehr sozialen Ausgleich? Auch die Politische Bildung muss sich diesem Thema stellen. die aktuelle Ausgabe von Deutschland & Europa thematisiert die weltweit wachsende soziale Ungleichheit und beschäftigt sich mit den Ursachen und Folgen dieser Entwicklung für den Zusammenhalt in Europa. Im Fokus stehen dabei auch die aktuelle Krise der europäischen Währungsunion und die damit verbundene Zunahme sozialer Unterschiede - nicht nur zwischen den europäischen Ländern, sondern auch innerhalb der einzelnen Mitgliedstaaten. Die hier behandelten Themen sind von hoher Aktualität und werden die Menschen und die Öffentlichkeit in Deutschland und Europa in nächster Zeit weiter intensiv beschäftigen. Damit bietet diese Ausgabe von D&E hervorragende Anknüpfungspunkte für den Unterricht - beispielsweise auch im Hinblick auf die Bedeutung von Bildung und Schule in diesem Kontext. So stellt Martin Groß in seinem Beitrag fest, dass die Akzeptanz sozialer Ungleichheit auch in Deutschland zu bröckeln beginnt. Er macht dies unter anderem an Defiziten im Bereich der Chancenund Bildungsgerechtigkeit fest, die auch in den PISA-Studien immer wieder deutlich zum Ausdruck kommen. Oscar W. Gabriel kommt in seiner Auswertung zu dem Ergebnis, dass Menschen sich umso stärker politisch beteiligen, je besser sie mit sozioökonomischen Ressourcen im Sinne von Bildung, Einkommen und qualifizierter Berufstätigkeit ausgestattet sind. In Deutschland stellt er im Hinblick auf die gleiche Wahrnehmung von Beteiligungsrechten durch ressourcenstarke und ressourcenschwache Bevölkerungsteile einen besonders hohen Nachholbedarf fest. Somit ist die wachsende soziale Ungleichheit auch für unsere Demokratie eine Herausforderung, die als spannende Diskussionsgrundlage für den Unterricht dienen kann. Der aktuelle Zustrom von Flüchtlingen nach Europa rückt ebenfalls Fragen der Gerechtigkeit und der ungleichen Verteilung in den Fokus der Öffentlichkeit. In der Rubrik D&E INTERN finden Sie dazu ein interessantes Planspielangebot der LpB, bei dem sich Schülerinnen und Schüler intensiv mit einer gemeinsamen europäischen Asyl- und Flüchtlingspolitik und anderen aktuellen politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Problemen auseinander setzen sollen. Herzliche Grüße Lothar Frick Direktor der Landeszentrale für politische Bildung in Baden-Württemberg Vorwort & Geleit wort Jürgen Kalb LpB Baden-Württemberg, Chefredakteur von »Deutschland & Europa« Andreas Stoch, Mitglied des Landtags, Minister für Kultus, Jugend und Sport in Baden-Württemberg D&E Heft 69 · 2015 BRICHT EUROPA AUSEINANDER? REICHTUM UND ARMUT IN EUROPA. 1. B richt Europa auseinander? Wieviel Ungleichheit vertragen Demokratien? JÜRGEN KALB N ach den islamistisch-motivierten terroristischen Anschlägen vom 7. Januar 2015 in Paris auf die Redakteure der satirischen Zeitschrift »Charlie Hebdo« und einen jüdischen Supermarkt, bei dem auch Polizisten muslimischen Glaubens unter den 17 Opfern zu finden waren, gab es Momente internationaler Solidarität gegen Gewalt und Rassismus, die begründeten Anlass zur Hoffnung geben konnten, dass die westliche Welt und insbesondere die Europäische Union angesichts der gemeinsamen Bedrohungen wieder enger zusammen wachsen würde. Paris erlebte in diesen Tagen die größte Kundgebung der Nachkriegszeit. Auch wenn die zahlreich erschienenen Staats- und Regierungschefs aus rund 50 Ländern (I Abb. 1 I) aus Sicherheitsgründen nicht tatsächAbb. 1 Bei einer der größten Kundgebungen der Nachkriegszeit gedachten mehr als eine Million Menschen der lich die Kundgebung mit deutlich 17 Opfer der islamistischen Anschlagsserie gegen die Karikaturisten der Zeitschrift »Charlie Hebdo«, gegen Kunden mehr als einer Million Teilnehmern eines jüdischen Lebensmittelgeschäfts sowie gegen französische Polizisten. Gemeinsam mit Frankreichs Präsident anführten, so war dies doch deutFrançois Hollande ließen sich die Staats- und Regierungschefs aus 50 Ländern gemeinsam fotografieren. Die symlich mehr als ein Akt symbolischer bolische Geste war Teil des » Republikanischen Marsches« durch die Hauptstadt Paris, darunter Bundeskanzlerin Politik. Es schien für einen Moment Angela Merkel (CDU), Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und Palästinenserpräsident Mahmud Abbas. so, als nähme die politische Klasse © European Council/ Europäischer Rat, 11.1.2015 die deutlich gewordenen Herausforderungen für die Politik, die VerHerausforderungen für westliche Grundwerte teidigung der Menschenrechte und der liberalen Demokratie und für den europäischen Einigungsprozess entschlossen an. Dies soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich seit geraumer Zeit fremden- und ausländerNicht wenige Zeitgenossen sahen in den terroristischen Anschläfeindliche Tendenzen in Europa vermehrt bemerkbar machen. gen vom 7. Januar 2015 in Paris allerdings eher eine Bestätigung So nahm der Anteil rechtspopulistischer Parteien bei der Euder vom us-amerikanischen Politikwissenschaftler Samuel Hunropawahl im Mai 2014 deutlich zu und speziell in Deutschland tington bereits 1993 aufgestellten These vom »Kampf der Kultumehren sich in einigen Städten wie Dresden Demonstrationen ren«, der nunmehr in vollem Gange sei. Keine Woche vergehe in von zutiefst Enttäuschten, die sich nicht zuletzt durch ihre westlichen Großstädten ohne Terrorwarnungen, kein Tag ohne Weigerung auszeichnen, mit der Politik und den Medien in Berichte über Gräueltaten im Nahen Osten. Der »Islamische einen sachlichen Dialog zu treten. Auch deshalb wird in der Staat« (»IS«) stelle das bestehende Machtgefüge in seiner GrauSoziologie, aber auch der Wirtschafts- und Politikwissensamkeit gänzlich infrage, seine Schergen versklavten, köpften schaften inzwischen die Diskussion geführt, woher diese und zerstörten alles und jeden, der nicht den Regeln ihrer perverFrustration denn kommen könne. Nicht wenige sind der festierten Islamauslegung entspräche. Selbst jahrtausendealte ten Überzeugung, dies hänge mit der fortschreitenden GlobaKunstschätze fallen derzeit Bulldozern und Vorschlaghämmern lisierung sowie der rapiden Zunahme sozialer Ungleichheit zum Opfer. auch in den prosperierenden Staaten wie Deutschland zusamDie heftig diskutierte und umstrittene These vom »Kampf der men. Die Frage, wieviel Ungleichheit Demokratien eigentlich Kulturen« ist eine politische Theorie der internationalen Bezievertragen, wurde erstmals gar zum »Megathema« (Handelshungen, die davon ausgeht, dass sich nach dem Ende des Kalten blatt vom 20.1.2015) des jährlichen Weltwirtschaftsforums 2015 Krieges zukünftige internationale Konflikte vor allem zwischen in Davos. verschiedenen Kulturräumen, insbesondere der westlichen Zivilisation und dem islamischen oder chinesischen Kulturraum abspielen würden. Seine Überlegungen erweiterte Huntington in seinem 1996 erschienenen Werk »Clash of Civilizations and the Remaking of World Order« zu einer umfassenden Theorie, die einen nicht unerheblichen Einfluss auf die us-amerikanische Außenpoli- D&E Heft 69 · 2015 Bricht Europa auseinander? 3 Jürgen Kalb Abb. 2 4 » … ein feines Süppchen« tik seit 9/11 im Jahre 2001 hatte. Darin stellt er die Behauptung auf, dass ein grundsätzlicher, kultureller Antagonismus zwischen einzelnen Zivilisationen bestehe und dass es vor allem dieser Gegensatz sei, der die Weltordnung nach dem Ende des ideologisch geführten Ost-West-Konfliktes besonders prägen werde. In Zeiten des Terrors wie im Januar 2015 erlebt Huntington gerade politisch eine Renaissance. So wie der 11. September 2001 ein Anschlag auf die Symbole amerikanischer Hegemonie war, wird der 7. Januar 2015, der Tag, an dem zwei selbst ernannte islamistische Gotteskrieger ein Blutbad in den Pariser Redaktionsräumen von »Charlie Hebdo« anrichteten, als Anschlag auf die europäische Werteordnung gedeutet. Nicht nur Frankreichs früherer Präsident Nicolas Sarkozy sprach vielen Europäern aus der Seele, als er das Attentat als einen »Angriff auf die Zivilisation« verurteilte. Die Pegida-Bewegung In Deutschland machte sich insbesondere in Dresden eine Bürgerbewegung (PEGIDA) diese Stimmung zu eigen. Als »Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes« veranstaltet Pegida seit dem 20. Oktober 2014 wöchentliche Demonstrationen gegen eine von ihr behauptete »Islamisierung« und eine aus ihrer Sicht verfehlte Einwanderungs- und Asylpolitik in Deutschland und Europa. Ursprünglich als geschlossene Facebook-Gruppe gegründet, ist sie seit dem 19. Dezember 2014 unter dem Kürzel PEGIDA als Verein eingetragen. Die Teilnehmerzahl wuchs laut Polizeiangaben von etwa 350 am 20. Oktober 2014 kontinuierlich auf mehr als 25.000 am 12. Januar 2015 an. Über 150.000 »Likes« hat die nun geöffnete Facebook-Seite dieses Vereins Anfang 2015 bereits vorzuweisen. Dabei ist eine inhaltliche Einordnung dieser Bewegung, die stets betont, nicht »rechts« zu sein, nicht einfach. Pegida-Demonstranten reagieren auf Pressearbeit oder gar wissenschaftliche Begleituntersuchungen vor Ort regelmäßig mit Sprechchören wie »Lügenpresse, Lügenpresse« oder »Lügenpresse, halt die Fresse« und »Volksverräter« als Bezeichnung für Politiker. Befragungen lehnt ein großer Teil der Demonstranten kategorisch ab. Die NS-Propaganda hatte den Kampfbegriff »Lügenpresse« in den 1930er und 1940er Jahren gegen Kommunisten und Juden gerichtet. Am 5. Januar 2015 wurden zudem Parolen wie »Sachsen bleibt deutsch« und »Merkel muss weg« gezeigt und skandiert. Die Technische Universität Dresden (TUD) befragte am 22. Dezember 2014 sowie am 5. und 12. Januar 2015 dennoch rund 400 Pegida-Demonstranten. Nach Aussage ihres Leiters Hans Vorländer gilt die Umfrage we© Gerhard Mester, 2015 gen der Zahl der Antworten als empirisch gesichert, jedoch wegen der Antwortausfälle von 65 % der Adressaten nicht als repräsentativ. Der durchschnittliche Teilnehmer der Studie kommt demnach aus der sächsischen Mittelschicht, ist männlich, 48 Jahre alt, konfessionslos, nicht parteigebunden, gut ausgebildet, berufstätig und verfügt über ein für Sachsen etwas überdurchschnittliches Nettoeinkommen. Knapp 50 % gaben an, Arbeiter oder Angestellte zu sein, 20 % selbstständig, 18 % Rentner, 2 % arbeitslos. 38 % gaben als Bildungsstand Mittlere Reife, 28 % einen Studienabschluss, 16 % Abitur, 5 % einen Hauptschulabschluss an. Drei Viertel seien konfessionslos, ein Fünftel protestantisch. Zwei Drittel fühlten sich keiner Partei verbunden, 17 % der AfD, 9 % der CDU, 4 % der NPD, 3 % der Linkspartei. Als Hauptgrund ihrer Teilnahme nannten die Befragten zumeist Unzufriedenheit mit der Politik (54 %), »Islam, Islamismus und Islamisierung« (23 %), Kritik an den Medien und der Öffentlichkeit (20 %) sowie Vorbehalte gegen Asylbewerber und Migranten (15 %). 42 % hatten insbesondere Vorbehalte gegenüber Muslimen oder dem Islam, je 20 % äußerten Sorgen vor hoher Kriminalität durch Asylbewerber oder Abb. 3 Wahrnehmungsstörungen der Bevölkerung in Europa (nach aktuellen Umfragen) © Süddeutsche Zeitung vom 31.1.2015, S. 8 Bricht Europa auseinander? D&E Heft 69 · 2015 hatten Angst vor sozioökonomischer Benachteiligung. Vorländer sieht Pegida dennoch nicht vorwiegend als Bewegung von Rechtsextremisten, Rentnern oder Arbeitslosen. Die Kundgebungen seien für die meisten eine »Ausdrucksmöglichkeit für tief empfundene, bisher nicht öffentlich artikulierte Ressentiments gegenüber der politischen und meinungsbildenden Elite«. Diskussionen, wie man mit diesen Protesten und Demonstrierenden umzugehen habe, erregten zeitweise heftig die öffentliche Diskussion. Dabei korrespondieren die Parolen von Pegida und ähnlichen Bewegungen in anderen Großstädten, wie aktuelle Umfragen belegen (I Abb. 3 I), deutlich mit einer weit verbreiteten Wahrnehmungsstörung der Mehrheitsgesellschaft gegenüber dem Anteil der Muslime in Westeuropa. Dazu kommt, dass in kaum einer anderen Stadt in Westeuropa der prozentuale Anteil der Muslime an der Gesamtbevölkerung so gering ist wie in Dresden (ca. 0,4 %). Hier von der Gefahr einer »Islamisierung« zu sprechen, scheint daher eine mehr als kühne These. Ebenso verhält es sich mit den bisherigen (März 2015) Auswirkungen des Terrors des »Islamischen Staats« auf Abb. 4 Das Gesellschaftsbild einer sozialen, solidarischen Gesellschaft Westeuropa. © FAZ, 19.2.2015, S. 10, nach Zahlen des Instituts für Demoskopie, Allensbach Das im Nord-Irak ausgerufene »Kalifat«, das, geht es nach deren Urhebern, bald die gesamte muslimische Welt umspannen soll, hat Wie viel Ungleichheit verträgt die Demokratie? auch für die übergroße Mehrheit der Muslime nichts zu bieten außer Knechtschaft und wird folglich von allen zentralen IslamKonzerne wie GM und Ford haben einst die Massenproduktion Vertretern in Europa kategorisch abgelehnt. Meldungen über des amerikanischen Traums ermöglicht, heute schaffen UnterKonflikte zwischen einheimischen Kämpfern und »Fremdenlegionehmen wie Apple, Microsoft, Google und Facebook eine Handnären« aus Westeuropa fügen sich mit Berichten über Schwierigvoll Multimilliardäre. Der breiten Masse bleiben Lohnstagnation keiten, neue Rekruten anzuwerben, zu einem Bild des Niederund erodierende Sozialsysteme, ein Nährboden für Politikvergangs zusammen (Handelsblatt, 12.3.2015, S. 12 f). drossenheit. Für Fukuyama stellen Welthandel und DigitalisieZudem zeigt schon ein flüchtiger Blick auf die Koalition, die sich rung die demokratische Ordnung vor Herausforderungen, denen gegen die Islamisten stellt, wie unscharf das Konzept des sie nicht gewachsen ist. Das Ergebnis sei »ein breiter Trend zu »Kampfes der Kulturen« nach wie vor ist. Amerikaner und Araber mehr wirtschaftlicher Ungleichheit in vielen entwickelten Gesellwerfen Bomben, während am Boden schiitische Milizen auf iranischaften«. Nun lautet die Frage, die ihn beschäftigt, nicht: Wie sche Anweisung vorrücken. Wenn es einen »Kampf der Kulturen« viel Ungleichheit produziert der Markt? Sie lautet: Wie viel Ungibt, dann tobt er innerhalb der muslimischen Welt. gleichheit verträgt die Demokratie? »Computer und intelligente Maschinen ermöglichen es, Mittelklasse-Jobs Die Kehrtwende von Francis Fukuyama wegzuautomatisieren«, argumentiert Fukuyama. »Jobs, die das soziale und wirtschaftliche Rückgrat einer stabilen Gesellschaft bilden. Gerade In seiner jüngsten Publikation hat der us-amerikanische Politikdie Demokratie braucht eine breite Mittelschicht, um die Polarisierung zu wissenschaftler Francis Fukuyama, der einst 1992 mit seiner These vermeiden, die beispielsweise weite Teile Südamerikas auseinanderreißt.« vom »Ende der Geschichte« den globalen Sieg der liberalen westFukuyama glaubt nicht daran, dass die durch die technologische lichen Demokratien prognostizierte, eine deutliche KehrtwenRevolution entfesselten Wachstumskräfte den Kampf gegen die dung vollzogen. Jahrzehntelang zählte sich Fukuyama zu der inUngleichheit erleichtern. »Die Wohlstandsgewinne der vergangenen tellektuellen Strömung der Neokonservativen. Doch nach der zwei Jahrzehnte sind den wenigen an der Spitze der Einkommenspyramide desaströsen Irak-Invasion, die Präsident George W. Bush 2003 auf zugefallen. Ohne politische Korrekturen wird Wachstum also nicht dazu neokonservativen Rat hin befehligte, wandte sich Fukuyama von beitragen, die Ungleichheit zu überwinden. Es wird die Ungleichheit verseinen alten Weggefährten ab. Die wahre Bedrohung der liberaschärfen.« Das ist ein Plädoyer für eine neue, Einkommens- und len Demokratie , so Fukuyama heute, werde nicht in finstermittelVermögensunterschiede ausgleichende Politik, ausgerechnet von alterlichen Koranschulen ausgebrütet, sondern z.B. im grellen einem Denker, der einst das Label »neokonservativ« trug. kalifornischen Sonnenlicht. So zumindest sieht es Fukuyama, der Mit seinen Sorgen steht Fukuyama dabei beileibe nicht allein: zur Überzeugung gelangt ist, dass der liberalen Demokratie eine »Heute steht die Fähigkeit der marktwirtschaftlichen Demokratien, breit Gefahr von innen erwachsen ist, dass die erodierende Mittelgestreute Wohlstandsgewinne zu erbringen, stärker denn je infrage« (zit. schicht das Fundament aushöhlt, auf dem die demokratische nach: Handelsblatt vom 12.3.2015, S.13), argumentierte bereits vor Ordnung beruht. ihm der Franzose Thomas Piketty in seiner weltweit die BestselÄhnliche Befunde legen auch Untersuchungen des Allensbacher lerlisten stürmenden Publikation »Das Kapital«. Instituts für Demoskopie für Deutschland nahe (I Vgl. Abb 4 I). Die In der aktuellen Ausgabe von D&E hat der Tübinger Professor für Mehrheitsgesellschaft tritt in Deutschland ganz entschieden für Soziologie Dr. Martin Groß die zentralen wissenschaftlichen Beden sozialen Ausgleich ein und fordert dies von der Politik. funde zur Thematik »Der Wandel sozialer Gleichheit in Deutschland und den OECD-Staaten« zusammengefasst und statistisch belegt, wel- D&E Heft 69 · 2015 Bricht Europa auseinander? 5 Jürgen Kalb der Großen Koalition, die ab 1. Januar 2015 in Kraft trat, wie sich die politische Debatte diesbezüglich in den letzten Monaten entwickelte und wie breit der gesellschaftliche Konsens in wirtschaftspolitischen Diskussion reicht. Dr. Uwe Wenzel vom Studienhaus Wiesneck zeigt anschließend in seinem Aufsatz: »Roma und Sinti: Europas größte Minderheit zwischen Ausgrenzung und Selbstorganisation«, was es für eine Minderheit bedeuten kann, weitgehend vom ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen Partizipationsprozess abgeschnitten zu sein. Integration durch mehr politische Parizipation? Abb. 5 »Wird man durch Arbeit reich?« » … sieht ganz so aus!« 6 che Schere sich zwischen arm und reich in den letzten Dekaden im Rahmen zunehmender Globalisierung aufgetan hat. Mit Bezug auf die Sinus-Milieu-Forschungen zeigt Groß, wie differenziert sich moderne Gesellschaften heute darstellen lassen. Der Organisationssoziologe Professor erem. Dr. Michael Hartmann konzentriert sich in seinem Beitrag : »Die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums und die Einstellungen der Eliten zur sozialen Frage.« besonders auf die Privilegierten, die Vermögenden, und deren Einstellung zur sozialen Unwucht. Elitenrekrutierungsfragen thematisiert Hartmann ebenso wie die Diskussion um die Steuergesetzgebung und mögliche Umverteilungsszenarien. Hartmann bezieht sich bei seinen Studien dabei ausführlich auf die von Thomas Piketty vorgelegten Studien zur sozialen Ungleichheit. Die an der Universität Wien tätigen Autoren Professor Dr. Roland Verwiebe und seine Mitarbeiterin Nina Fritsch, MA, widmen sich vor allem der Thematik der »Armut in Europa: Trends und Risikogruppen«. Risikogruppen, so zeigen deren Studien, ähneln sich in nahezu allen EU-Mitgliedstaaten, wenn auch die sozialstaatlichen Steuerungsmechanismen sich durchaus unterscheiden. Die politischen Umsetzungsstrategien sind demgemäß sehr unterschiedlich. Und die ökonomischen Zwänge? Gibt es ökonomische oder politische Zwänge, die dies bislang verhindert haben? Wie solidarisch soll eine Gesellschaft organisiert sein, wenn sie nicht ihre Legitimation durch ihre Bürgerinnen und Bürger verlieren will? Professor Dr. Till van Treeck beschäftigt sich schließlich in seinem Beitrag: »Zunehmende Ungleichheit: Folge oder Ursache der jüngsten Wirtschaftskrisen?« mit den ökonomischen Ursachen und Folgen zunehmender sozialer Ungleichheiten. Sind diese sozialen Disparitäten nicht sogar hinderlich für den ökonomischen Wachstumsprozess? Kritisch geht van Treeck dabei mit zahlreichen Unterrichtshilfen aus Wirtschaftsverbänden und Schulbuchverlagen zu Gericht, die seiner Meinung nach die Thematik allzu verkürzt oder gar verfälschend darstellten. Der Referent für Gemeinschaftskunde und Wirtschaft am Regierungspräsidium Stuttgart (Gymnasien), Studiendirektor Hans Gaffal, untersucht in seinem Beitrag: »Die Mindestlohndebatte in Deutschland« am konkreten Beispiel einer politischen Intervention Bricht Europa auseinander? Schließlich legt der emeritierte Professor für Politikwissenschaft (Universität Stuttgart) Dr. Oscar W. Gab© Gerhard Mester, 2012 riel in seinem Beitrag: »Politische Partizipation und sozio-ökonomische Ressourcenausstattung in europäischen Demokratien« dar, dass gesellschaftlich weniger integrierte Gruppierungen sich nicht nur bei Wahlen weniger beteiligen, sondern dass die Hoffnungen, Politikverdrossenheit in bildungsfernen Schichten durch vermehrte politische Partizipationsmöglichkeiten abzubauen, bislang keineswegs erfüllt haben. Eine Integration müsste also in erster Linie über die ökonomische und gesellschaftliche Integration gelingen. Über die Frage, ob es derzeit bereits gerechtfertigt ist, die westlichen Demokratien als »Postdemokratien« (Crouch) zu bezeichnen, lässt sich trefflich streiten. Kaum strittig dürfte allerdings Crouchs Beobachtung sein, dass die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger in der Politik bereits jetzt eine passive, schweigende, ja sogar apathische Rolle spielt. »Im Schatten der politischen Inszenierung wird die reale Politik hinter verschlossenen Türen gemacht: von gewählten Regierungen und Eliten, die vor allem die Interessen der Wirtschaft vertreten« (Crouch, S. 10). Das im November 2015 als nächste Ausgabe von D&E erscheinende Heft 70 mit dem Titel: »Gerechter Welthandel? Nachhaltigkeit, Freihandel und Protektionismus« versucht denn auch die Thematik des Zusammenhangs ökonomischer, gesellschaftlicher und politischer Herausforderungen noch einmal in eher globaler Perspektive zu untersuchen. Und die politische Bildung? Aufgabe der politischen Bildung bleibt es, die Gleichzeitigkeit ökonomischer, gesellschaftlicher und politischer Probleme zu analysieren. In diesem Zusammenhang bemüht sich die Landeszentrale für politische Bildung in Baden-Württemberg deshalb u.a. auch ganz besonders um handlungsorientierte Planspiele, die mehrperspektivisch nationale und internationale Problemfelder zunächst spielerisch beleuchten. Holger-Michael Arndt und Markus W. Behne haben dazu in ihrem Beitrag: »Die Geschichte der europäischen Migrations- und Asylpolitik - ein Trauerspiel« einen Einblick in ihr aktuelles Planspiel angeboten. Eine Zusammenstellung gibt dann im Anschluss einen Überblick über das umfangreiche Planspielangebot der LpB Baden-Württemberg, das entweder als Printangebot abgerufen (Bausteine-Reihe) oder auch direkt bei den jeweils Verantwortlichen der LpB als Veranstaltung gebucht werden kann. D&E Heft 69 · 2015 Chancengleichheit als Voraussetzung für Integration Letztlich steht und fällt aber jedes Angebot der politischen Bildung, wenn es dem Vergleich mit den tatsächlichen Partizipationsangeboten unserer Gesellschaft standhält. Horrende Zahlen von Jugendarbeitslosigkeit in einigen EU-Mitgliedstaaten bieten hier ebenso Anlass zur Sorge wie die rapide Zunahme von sozialen Unterschieden. Die Angebote unserer demokratischen Gesellschaft werden erst dann in erwünschtem Umfang angenommen werden, wenn das Aufstiegsversprechen einer demokratischen, mobilen Gesellschaft z.B. durch Bildungschancen umgesetzt wird. Sorge bereiten hier derzeit z.B. eine Untersuchung der BertelsmannStiftung vom Januar 2015 unter deutschen Unternehmen, die ergab, dass fast 60 Prozent der ausbildenden BeAbb. 6 Chancengleichheit in Deutschland © Gerhard Mester, 2014 triebe in Deutschland noch nie Azubis mit Migrationshintergrund beKoch, Moritz (2015): Francis Fukuyama. Abschied vom Ende der Geschichte. schäftigt haben. Als Gründe wurde die Sorge vor Sprachbarrieren Handelsblatt vom 12.3.2015, S. 12f und zu großen kulturellen Unterschieden genannt. Aktuell bilden gerade einmal 15 Prozent der Unternehmen Jugendliche mit MigMau, Stefan / Verwiebe Roland (2009): Die Sozialstruktur Europas. Lizenzrationshintergrund aus. Über Resignation und mangelnde Integausgabe bei BpB, Band 786 der Schriftenreihe, Bonn. ration bei diesen Teilen unserer Gesellschaft muss man sich da Piketty, Thomas (2014): Das Kapital im 21. Jahrhundert. C.H.Beck. nicht wundern. Erst die Lösung der drängenden ökonomischen und sozialen Probleme könnte verhindern, dass Europa tatsächWehler, Hans Ulrich (2013): Die neue Umverteilung. Soziale Ungleichheit in lich auseinanderbricht. Deutschland. München. Literaturhinweise Internetlinks Bertelsmann-Stiftung (2015): Berufsausbildung junger Menschen mit Migrationshintergrund. Eine repräsentative Befragung von Betrieben. Autorenteam: Enggruber, Ruth / Rützel, Josef. Gütersloh Butterwegge, Christoph (2015): Wachsende soziale Ungleichheit - eine Gefahr für die Demokratie. In: Journal für politische Bildung, 1/2015, S. 10ff BpB (Hrsg.) (2014) Mitte. Aus Politik und Zeitgeschichte 49/2014, www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/196719/mitte BpB (Hrsg.) (2014): Oben. Aus Politik und Zeitgeschichte 15/2014, www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/181781/oben Crouch, Collin (2008): Postdemokratie. Frankfurt /Main BpB (Hrsg.) (2015): Unten. Aus Politik und Zeitgeschichte, 10 /2015, www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/201660/unten Eberl, Oliver / Salomon, David (2015): Soziale Krise und Demokratie. Diagnose Postdemokratie. In: Journal für politische Bildung, 1/2015, S. 10ff BpB (Hrsg.) (2013): Datenreport 2013, www.bpb.de/nachschlagen/ datenreport-2013/ (Online-Version) Fukuyama, Francis (2015): The Origins of Political Order. Bd. 2., New York: Farrar, Straus and Giroux. dt: Politische Ordnung und politischer Verfall (im Erscheinen) Hradil, Stefan (2012): Müssen wir uns an mehr Ungleichheit gewöhnen? in: GWP (Gesellschaft - Wirtschaft - Politik) 1, S. 23ff D&E Heft 69 · 2015 Bricht Europa auseinander? 7 BRICHT EUROPA AUSEINANDER? REICHTUM UND ARMUT IN EUROPA. 2. D er Wandel sozialer Gleichheit in Deutschland und den OECD-Staaten MARTIN GROSS D as Gefüge sozialer Ungleichheit hat sich in den letzten Jahrzehnten drastisch geändert – und zwar sowohl was seine »objektiven“, als auch was seine „subjektiven« Komponenten betrifft. Hinsichtlich der »objektiven« Komponenten geht es um die Frage, wie sich das Wohlstandsniveau, das Wohlstandsgefälle und vor allem auch die Möglichkeiten und Hindernisse, einen Platz in diesem Gefälle zu erreichen, geändert haben. Hinsichtlich der »subjektiven« Komponenten geht es um die Frage, wie die Menschen all dies bewerten – welche Rolle spielen die objektiven Lebensbedingungen für die Lebensweise der Menschen überhaupt noch? Zunahme der Einkommens- und Vermögensungleichheit 8 Weltweit lässt sich in den modernen Industrienationen eine Zunahme der sozialen Ungleichheit beobachten. Wie in vielen AngeleAbb. 1 »Moderne Gesellschaft« © Gerhard Mester 16.6.2010 genheiten nimmt auch hier die USA eine Vorreiterrolle ein – hier begann dieser Anstieg schon in den siebziger Jahren. DeutschAber nicht nur die Einkommen sind ungleicher geworden, auch land galt lange Zeit als Hort der Stabilität in dieser Hinsicht, mit die Vermögensungleichheit hat deutlich zugenommen – und das einem gewissen Hang zur Egalität, doch auch hier ist seit den angesichts der Tatsache, dass die Vermögen grundsätzlich viel neunziger Jahren eine deutliche Verschärfung der Ungleichheit zu ungleicher verteilt sind als die Einkommen. Die obersten 10 % der verzeichnen. Vermögensbesitzer verfügten im Jahre 2002 über 57,9 % aller VerSummarisch lässt sich dies beispielsweise an den Haushaltseinmögen – nur fünf Jahre später betrug der Anteil schon 61.1 % kommen mit Hilfe des »Gini«-Index darstellen, der zwischen 0 (Frick und Grabka 2009: 584). Seit 2007 stagniert die Vermögen(»alle verdienen das Gleiche«) und 1 («maximal mögliche Unsungleichheit auf diesem hohen Niveau (Grabka und Westermeier gleichheit)» variiert und der für die verfügbaren Haushalts2014). Zudem lässt sich beobachten, dass die Einkünfte aus Vermarkteinkommen (also Einkommen ohne Renten, Pensionen, mögens- und Unternehmenseinkommen seit Anfang der 2000er sonstigen Sozialtransfers etc.) seit Beginn der neunziger Jahre Jahre deutlich stärker gestiegen sind als die Einkünfte aus der Erbis etwa 2005 in Westdeutschland um ca. 20 % gestiegen ist, im werbsarbeit – die Kluft zwischen Kapital und Arbeit wächst wieOsten fiel der Anstieg noch deutlicher aus (vgl. Grabka und Goebel der. 2013, | Abb. 3 |). Ab 2005 hat sich die Lage zumindest in Westdeutschland wieder etwas entspannt: Hier ist die Ungleichheit der Haushaltseinkommen seitdem zurückgegangen, während Ursachen des Wandels sie im Osten des Landes auf hohem Niveau stagniert. In jüngerer Zeit (ab 2011) steigt die Ungleichheit aber wieder, insbesondere Im Wesentlichen tragen zwei Gruppen von Faktoren zum Wandel aufgrund der nach der Erholung der Finanzmärkte von der jüngsder Ungleichheit bei: Demographische und solche, die unmittelten Finanzkrise wieder angestiegenen Kapitaleinkünfte. Im bar mit dem Arbeitsmarkt verknüpft sind – wobei letztere den internationalen Vergleich gehört Deutschland zu den OECD-Ländeutlich größeren Einfluss zeigen (Grabka und Goebel 2013, Biedern mit den höheren Anstiegsraten der Einkommensungleichwen und Juhasz 2012). Hinsichtlich der demographischen Faktoheit, wie auch Schweden, Finnland oder andere nordische Länren ist beispielsweise zu beobachten, dass Haushaltsformen mit der. Aber ebenso wie dort startete Deutschland von einem eher geringeren Haushaltseinkommen (Rentnerhaushalte, Einvergleichsweise niedrigen Ungleichheitsniveau – während einige Eltern Haushalte) zunehmen. Die wichtigsten direkt arbeitsLänder mit traditionell hohem Ungleichheitsniveau (wie Chile, marktbezogenen Faktoren umfassen vor allem drei Punkte. Mexico oder die Türkei) sogar etwas gleicher geworden sind. InsErstens die Beteiligung der Menschen am Erwerbsleben: Steigesamt lässt sich in den OECD-Ländern damit ein (wenn auch gende Arbeitslosenquoten verschärfen die Ungleichheit der nicht sehr ausgeprägter) Trend zur Konvergenz der EinkommenHaushaltseinkommen, während die anziehende Konjunktur und sungleichheit auf einem hohen Niveau feststellen (OECD Publider Rückgang der Arbeitslosigkeit ab 2005 hauptsächlich dafür shing Jan. 2012: 22). Der Wandel sozialer Gleichheit D&E Heft 69 · 2015 verantwortlich sind, dass die Ungleichheit wieder etwas abgenommen hat bzw. zumindest nicht weiter gestiegen ist. Zweitens die Erträge, die sich am Arbeitsmarkt erzielen lassen – die Ungleichheit der Erwerbseinkommen steigt. Drittens die mehrfache Änderungen der Steuergesetzgebung, die vor allem höhere Einkommen entlastete. Entgegen landläufiger Vermutungen haben die »Hartz IV« – Regelungen nicht zu einer Erhöhung der Einkommensungleichheit beigetragen, sondern sie sogar eher verringert (Biewen und Juhasz 2012: 638). Was den Anstieg der Vermögensungleichheit verursacht hat, ist weniger klar. DiskuAbb. 2 Entwicklung des Volkseinkommens in Deutschland © nach: Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2013: 44. tiert werden vor allem zwei Faktoren: Die Deregulierung der Finanzmärkte, die es erLöhne boten den Arbeitnehmern die Grundlage für eine sichere, leichtert hat, aus Vermögensanlagen Einkünfte zu erzielen und im internationalen Vergleich auch für gering qualifizierte Arbeitdamit zu einer verstärkten Vermögensakkumulation beigetragen nehmer gut entlohnte, Beschäftigungsverhältnisse. habe, und Erbschaften, die eine solche Akkumulation ganz beDoch jüngere arbeitsmarktpolitische Forderungen haben diese sonders gut ermöglichen. Gerade höher Gebildete mit guten Einstark regulierte Form des »rheinischen« Kapitalismus, der auf künften und höherem Vermögensbesitz haben gute Chancen, eine »Befriedung« der Konflikte zwischen Arbeitgebern und Argrößere Vermögen zu erben. Allerdings gibt es einen eher ausgleibeitnehmern zielte, ins Wanken gebracht. Immer stärkere Konchenden Lebenszykluseffekt: Die Erbschaften der Älteren fließen kurrenz in allen Bereichen setzte die Unternehmen, und stärker meist an die Jüngeren, die (noch) über kein Vermögen verfügen noch die Arbeitnehmer, unter Druck und der Ruf nach mehr Flexioder sogar wegen Familiengründungen verschuldet sind, was die bilität der Arbeitsbeziehungen wurde immer lauter. Gefordert Vermögensungleichheit im Querschnitt etwas reduziert (Kohli et al. 2006). Technologischer Wandel und Flexibilisierung des Arbeitsmarktes Die hauptsächlich treibende Kraft des Anstiegs der Einkommensungleichheit ist im Wandel des Arbeitsmarktes zu sehen – vor allem die steigende Ungleichheit der Erwerbseinkommen trägt zum Anstieg der Haushaltseinkommen bei. Der Wandel des Arbeitsmarktes lässt sich in erster Linie als »Flexibilisierung« begreifen. Im internationalen Vergleich verfügte Deutschland über einen relativ stark regulierten Arbeitsmarkt, wobei »Regulierung« sich einerseits auf gesetzliche Regelungen von Arbeitsbeziehungen bezieht, zum anderen auf die Tatsache, dass Arbeitgeber und Gewerkschaften in weiten Bereichen des Arbeitsmarktes geltende Tarifverträgen abschließen, die stark in die Ausgestaltung von Arbeitsbeziehungen eingreifen. Hauptgegenstand der Tarifverträge sind Lohnzahlungen, aber auch Arbeitszeiten, Beschäftigungssicherungen und andere, für die Gestaltung von Arbeitsverhältnissen wichtige Punkte. Der gesetzliche Kündigungsschutz, die gesetzliche Rahmung von Arbeitsverträgen und durch starke Gewerkschaften ausgehandelte kollektive D&E Heft 69 · 2015 Abb. 3 Ungleichheit der realen Haushaltsmarkteinkommen in Deutschland © nach: Grabka et al. 2012: 7 Der Wandel sozialer Gleichheit 9 ����������� Abb. 4 Entwicklung des Anteils der Niedriglohnbeschäftigung in Deutschland © nach: Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2013: 337. 10 wird mehr Flexibilität hinsichtlich der Arbeitszeiten, um Maschinenlaufzeiten verlängern zu können, mehr Flexibilität beim Einsatz der Arbeitskraft, um sich Nachfragezyklen besser anpassen zu können, und mehr Flexibilität bei den Löhnen, um die Entlohnung besser der individuellen Produktivität anpassen zu können. Insbesondere erschien die in Tarifverhandlungen geforderte Entlohnung für gering qualifizierte Arbeitnehmer generell zu hoch im internationalen Vergleich. Der Ruf nach mehr Lohnflexibilität wird auch durch einen tiefgreifenden technologischen Wandel genährt. Im Zuge der Entwicklung der Informationstechnologie werden immer mehr berufliche Tätigkeiten von IT-basierten Produktionstechnologien übernommen. Dies betrifft aber vor allem Routinetätigkeiten im mittleren Bereich der beruflichen Hierarchie (Goos und Manning 2007) – manuelle Routinetätigkeiten wie Putzen oder Autofahren können ja (noch) nicht von Computern übernommen werden, und kreative Nicht-Routinetätigkeiten am oberen Ende der Berufshierarchie auch nicht. Besonders in den USA und Großbritannien lässt sich daher (schon) eine Polarisierung der Berufsstruktur beobachten (Autor et al. 2008, Oesch und Menés Jorge Rodriguez 2011), dergestalt, dass Berufspositionen im mittleren Bereich der Berufshierarchie ausdünnen, während die Nachfrage nach qualifizierten Arbeitskräften, die den Einsatz der IT-gestützten Produktionssysteme steuern, zunimmt. Hand in Hand mit dieser Entwicklung geht dann eben eine Polarisierung der Einkommensverteilung: Die »Bildungsreturns« (Lohnsteigerungen, die man mit höherer Bildung erreichen kann) steigen deutlich an, was die Verschärfung der Einkommensungleichheit erheblich vorangetrieben hat. In Deutschland ist weniger eine Polarisierung der Berufsstruktur als ein »Upgrading« zu beobachten, da die immer noch bedeutsame Arbeitsmarktregulierung das Angebot an unqualifizierten Tätigkeiten begrenzt (Oesch und Menés Jorge Rodriguez 2011), aber auch dieser Prozess treibt die Einkommensungleichheit voran. Flexible Produktionsweisen und steigende Bildungsreturns wurden in Deutschland lange Zeit durch die vergleichsweise starke Regulierung des Arbeitsmarktes gehemmt. Doch zwei Trends sorgten dafür, dass diese Regulierung in jüngerer Zeit stark gelockert wurde. Zum einen wurden etliche gesetzliche Rahmenbedingungen so geändert (beispielsweise mehrfache Änderungen des Teilzeit- und Befristungsgesetzes), dass der Einsatz so genannter »atypischen Beschäftigungsformen« wie befristeter Beschäftigung, Teilzeitarbeit, Leiharbeit etc. erleichtert wurde – in der Folge hat der Anteil solcher Beschäftigungsformen deutlich zugenommen. Der Wandel sozialer Gleichheit Zum anderen werden immer weniger Beschäftigungsverhältnisse tarifvertraglich geregelt. Beide Prozesse haben die Ungleichheit der Arbeitseinkommen erheblich befördert. Eine bessere Bezahlung hochqualifizierter Arbeitnehmer in Folge des technologischen Wandels ist natürlich auch in einem regulierten Arbeitsmarkt möglich – aber die relativ schlechtere Bezahlung gering Qualifizierter erforderte einen solchen institutionellen Wandel. In der Tat kann man beobachten, dass die Realeinkommen am unteren Ende der beruflichen Hierarchie gesunken sind und der Anteil des Niedriglohnsektors an der gesamten Erwerbstätigkeit gestiegen ist. Der Niedriglohnsektor besteht wiederum zu einem großen Teil aus den so genannten »atypischen« Beschäftigungsverhältnissen, die befristete Beschäftigung, Leiharbeit oder geringfügige Beschäftigung beinhalten, die (bei gleicher Qualifikation und Arbeitsumfang) deutlich schlechter bezahlt werden als hinsichtlich der Anforderungen äquivalente «Normalarbeitsverhältnisse«. Globalisierung und Finanzialisierung Warum wollen Unternehmen so dringend Arbeitskosten sparen, indem sie auf flexible Beschäftigungsformen zurückgreifen und dem Tarifvertragswesen den Rücken zuwenden? Hierfür werden zwei Prozesse verantwortlich gemacht, die »Globalisierung« und die »Finanzialisierung«. Mit »Globalisierung« ist hier vor allem gemeint, dass weltweit die Grenzen immer durchlässiger geworden sind – für Informationen, Waren und Kapitalströme. Das hat zu einer Internationalisierung von Produkt- und Arbeitsmärkten geführt: Der Tausch von Waren, Geld und Arbeitskraft ist so leicht möglich wie nie zuvor. Das bedeutet zum einen gestiegene ökonomische Chancen – gerade für die Deutschen, die ihre Waren und Dienstleistungen immer leichter exportieren können. Es bedeutet aber auch erhöhte Risiken: Die Konkurrenz hat zugenommen – sowohl für die Unternehmen, die nun auch auf den heimischen Märkten mit ausländischen Anbietern konkurrieren müssen, wie auch für die Arbeitnehmer, die mit internationaler Konkurrenz rechnen müssen – weniger in der Form, dass ausländische Arbeitnehmer in Deutschland Arbeitskraft anbieten, als in der Form, dass Teile der Produktion ins Ausland verlagert werden. Die exportorientierte, auf hochwertige (und damit kon kurrenzarme) Produkte setzende deutsche Wirtschaft weist ein insgesamt positives »Globalisierungssaldo« auf – die gesamtwirtschaftlichen Vorteile, die sich aus der Ausweitung der Märkte ergeben, dürften die Verluste durch industrielle Abwanderung etc. bei weitem überwiegen, was sich u. a. am kontinuierlichen Anstieg des allgemeinen Wohlstandsniveaus ablesen lässt und an den hohen Exportüberschüssen. Allerdings wird das Globalisierungsplus keineswegs gleichmäßig verteilt – die oben angeführten Reaktionen auf international verschärften Wettbewerb in Form der oben beschriebenen Änderungen gesetzlicher Rahmenbedingungen und die darauf folgende Änderungen in der Organisationsstruktur der Unternehmen trägt zum Anstieg der Ungleichheit in der beschriebenen Form bei. Allerdings ist bei dieser Einschätzung zu beachten, dass die Deregulierung der Märkte zwar durchaus deutlich die Ungleichheit der Erwerbsbezieher vergrößert, aber auch die Zahl der Erwerbstätigen erhöht – und damit zu einer Reduktion der Haushaltseinkommensungleichheit beiträgt, indem sie für Menschen Erwerbseinkommen überhaupt erst ermöglicht, die vorher von Transfers abhängig D&E Heft 69 · 2015 waren. Der resultierende Gesamteffekt für die Ungleichheit ist äußerst schwierig abzuschätzen (OECD Publishing Jan. 2012: 30ff ). Eine »Finanzialisierung« der Ökonomie erfolgte durch die Deregulierung des Finanzsektors und dessen immer größerer Bedeutung für die Wirtschaft. Ein Hauptgesichtspunkt ist dabei, dass Unternehmen Betriebskapital immer weniger über Bankkredite aufbringen, sondern durch Ausgabe von Aktien. Damit treten aber neue Akteure auf den Plan, die Einfluss nehmen auf die unternehmerischen Prozesse und Organisationsformen: Korporative Akteure wie Investmentfonds versuchen ihr Interesse an kurzfristiger Profitmaximierung in allen Bereichen der Unternehmen durchzusetzen (Windolf 2005). Die Maximierung des »shareholdervalues« lässt sich auf vielfaAbb. 5 Aktivisten des Bündnisses »Umfairteilen« warfen am 25.09.2012 vor dem Bundeskanzleramt in Berlin Muster-Bankche Weise erreichen: noten in die Luft. Die Demonstranten forderten mit Aktionen in 40 Städten in Deutschland eine stärkere Vermögensbesteue»Outsourcing« von Produktirung zu Gunsten von Bildung, Pflege und Energiewende. © Ole Sparta, dpa, picture alliance onsabläufen, die zu teuer erscheinen, Verkauf ganzer lässt sich aus der globalen Finanzkrise, die 2007 einsetzte, ableProduktionszweige, wenn sie sich als unrentabel erweisen, und sen. Zum einen wurde in den USA deutlich, wie die Deregulierung vor allem auch: Minimierung von Arbeitskosten durch Rationalider Finanzmärkte als Instrument zur Steuerung von Verteilungssierung von Arbeitsabläufen und den Einsatz atypischer Beschäfprozessen verwendet werden kann. So wurde dort der erleichtigungsverhältnisse. terte Zugang zu Immobilienkrediten zu einem wichtigen Weg geEs ist empirisch schwer zu differenzieren, ob eher »Globalisierade für ärmere Haushalte, ihren Konsum zu finanzieren – ein rung« oder »Finanzialisierung« zum Wandel des Arbeitsmarktes Mittel, das vor allem auch deshalb an Bedeutung gewann, weil und damit zum Anstieg der Ungleichheit beigetragen haben, zuihnen Sozialtransfers immer weniger zur Verfügung standen. Zum mal beide Entwicklungsprozesse Hand in Hand gehen und die anderen zeigte sich, wie volatil Ungleichheitsstrukturen werden, gleichen Konsequenzen zeitigen – so kann man durchaus der wenn sie von solchen Finanzinstrumenten abhängen – als der Meinung sein, dass die Deregulierung der Finanzmärkte durch »privatisierte Keynesianismus« (Young 2011) zum Zusammendie Globalisierung vorangetrieben wurde, und beide Prozesse bruch der Immobilienmärkte führte, griff diese Krise sehr schnell befördern die Flexibilisierung von Arbeitsverhältnissen. Allerweltweit um sich. Allerdings kann man hier konstatieren, dass dings legen sie zwei völlig verschiedene Beurteilungen des WanDeutschland die Auswirkungen der Krise im internationalen Verdels der Ungleichheit nahe: Wenn die Globalisierung die Untergleich sehr gut abgefedert hat – während in vielen Ländern Kapinehmen unter Konkurrenzdruck setzt und zur Einsparung von tal- und Arbeitseinkommen unter der Krise litten, wurden hier die Arbeitskosten zwingt, dann erscheint das wie ein unvermeidliVerluste – wenn auch unter Einsatz beträchtlicher staatlicher Ficher, quasi naturwüchsiger Prozess, zu dem es keine Alternative nanzmittel – gut abgefangen, so dass der Effekt der Krise auf die gibt – und damit den Verlierern der genannten Entwicklungen Einkommensverteilung eher moderat ausfiel (OECD 2013). nahelegt, die Verschlechterung ihrer Lebensverhältnisse klaglos zu akzeptieren. Wenn der Anstieg der Ungleichheit aber vor allem dem kurzfristigen Profitmaximierungsinteresse institutioBedroht die gestiegene Ungleichheit die soziale neller Großaktionäre geschuldet ist, dann scheint der Wandel Integration? der Ungleichheit steuerbar, und die Legitimität der Zunahme der Ungleichheit äußerst fraglich. Vor allem kommt es darauf an, Wie reagieren die Menschen auf die wachsende soziale Ungleichwas man unter »Globalisierung« genau versteht. Beschränkt man heit? Wird diese als legitim und/oder unabänderlich akzeptiert? diesen Begriff auf die reine Handelsintegration, lassen sich weniOder führt eine steigende Ungleichheit zu sich verschärfenden ger Effekte auf die Einkommensungleichheit feststellen (OECD sozialen Konflikten, wie oft befürchtet wird? Diese Frage ist nicht Publishing Jan. 2012 28ff); nimmt man erleichterte Kapitalströme einfach zu beantworten, da die Wahrnehmung von, die Beweroder technischen Wandel hinzu, wird der Einfluss der Globalisietung der und die Reaktion auf eine(r) ansteigenden Ungleichheit rung schon bedeutsamer; und versteht man, wie hier, die Derevon vielen Faktoren abhängt. Drei Bereiche seien hier angesprogulierung der Arbeits- und Finanzmärkte als eine Reaktion auf chen: Die Beurteilung der Ungleichheit als gerecht oder ungedie Globalisierung der Märkte, dann wird er ganz deutlich. recht, der Wertewandel und die zunehmende Individualisierung Dass Finanzinstrumente aber ein zunehmendes eigenständiges der Gesellschaft. Gewicht für die Strukturierung sozialer Ungleichheit bekommen, D&E Heft 69 · 2015 Der Wandel sozialer Gleichheit 11 ����������� 12 Auch reflektieren die Preise für bestimmte Qualifikationen nicht immer unmittelbar individuelle Produktivität, sondern sind Ergebnisse sozialer Konflikte, in denen sich bestimmte (Berufs-) Gruppen besser durchsetzen können als andere; oft können mit Hilfe institutionalisierter Berufszugangsregeln mögliche Konkurrenten vom Marktzugang ausgeschlossen werden, was Preise wiederum künstlich nach oben treibt (Giesecke und Groß 2012). Nun ist die Frage, wie unter solchen Gesichtspunkten die zunehmende soziale Ungleichheit zu bewerten ist – basiert sie auf sich verschiebenden Leistungspotentialen (weil etwa im Zuge des technologischen Wandels die Produktivität der Geringqualifizierten sinkt, die der Hochqualifizierten steigt) – oder basiert sie auf sich verschiebenden Konfliktpotentialen (beispielsweise weil die abnehmende Tarifbindung der Betriebe und die Lockerung der Arbeitsmarktregulierung die Verhandlungsposition der gering QualifizierAbb. 6 Entwicklung der Managereinkommen in Deutschland ten schwächen und die der Hochqualifizier © Aus: ISJP (2009): Wie die Krise der Finanzmärkte unsere Vorstellungen von Gerechtigkeit ten stärken)? verändert Arbeitsbericht Nr. 180, S. 23. Es ist schwierig, solche Beurteilungen im Einzelnen vorzunehmen, aber in der WahrnehIst die Zunahme sozialer Ungleichheit gerecht? mung der deutschen Bevölkerung scheint eine zunehmende »Gerechtigkeitslücke« auf. Empirisch lässt sich das an der Beurteilung Eine (zunehmende) soziale Ungleichheit muss nicht notwendigerder Entlohnungsverhältnisse (der eigenen wie der anderen) als weise als ungerecht beurteilt werden. Wie die empirische Gerechgerecht oder ungerecht ablesen. So nehmen die Deutschen die tigkeitsforschung zeigt, bildet die Forderung nach Gleichheit der überproportional steigenden Gehälter am oberen Ende der EinLebensbedingungen nur eines von mehreren möglichen Gerechkommensskala durchaus wahr, ebenso wie sie bemerken, dass die tigkeitsprinzipien – in Deutschland werden Gleichheitsideale Entlohnungen am unteren Ende stagnieren oder gar sinken. Doch zwar stärker vertreten als in den angelsächsisch geprägten Indusdiesem sich ändernden »Ist«-Zustand passt sich das »Soll« nicht trienationen, doch wie in den meisten Gesellschaften findet auch an: Schon immer denken sie, dass Manager weniger verdienen hier das Gerechtigkeitsprinzip die höchste Zustimmung, das eine sollten, als sie es (vermutlich) tun, und Arbeitern sprechen sie leistungsgemäße Verteilung des gesellschaftlichen Wohlstands eine höhere Entlohnung zu. Diese wahrgenommene Gerechtigfordert. Solange also soziale Ungleichheit unterschiedliche Leiskeitslücke geht (insbesondere was die Manager betrifft) zwischen tungen der Gesellschaftsmitglieder widerspiegelt, erscheint sozi2000 und 2009 – deutlich auseinander (vgl. Schrenker und Wegeale Ungleichheit durchaus als legitim – wer mehr arbeitet und ner 2009). Die Legitimierung sozialer Ungleichheit bröckelt also produktiver ist als andere, soll auch mehr verdienen. auch im wohlhabenden Deutschland. Doch ist das immer der Fall? Diese Frage ist in der Wissenschaft wie in der Politik heftig umstritten. Eine Marktwirtschaft führt Wertewandel und Individualisierung nur dann zu einer leistungsgerechten Entlohnung (oder allgemeiner gesprochen: zu einer leistungsgerechten Verteilung des geUngerechte Verhältnisse fordern Proteste heraus – insbesondere sellschaftlichen Wohlstandes) wenn die Marktkräfte sich auch frei von denen, die ungerecht behandelt werden. Ist also in entfalten können – wenn alle über Menge und Qualität von GüDeutschland mit sich verschärfenden sozialen Konflikten, gar mit tern und Leistungen informiert sind und wenn alle die gleichen einem neuen »Klassenkampf« zu rechnen? Nicht unbedingt, da Chancen haben, einen Tausch am Markt einzugehen oder sich etliche Wandlungsprozesse solche Konflikte eher dämpfen. eben nach Alternativen umsehen zu können (also: wenn im Markt Zum einen hat in jüngerer Zeit ein beträchtlicher Wertewandel freie Mobilität herrscht). stattgefunden. Dominierten vor nicht allzu langer Zeit noch »maEs lässt sich nun an vielen Stellen zeigen, dass diese Bedingungen terialistische« Wertvorstellungen, die aus Bedürfnissen herrühnicht oder zumindest nicht vollständig erfüllt sind. So fordert das ren, die das unmittelbare Überleben der Menschen betreffen (wie Marktprinzip, dass produktivere Arbeitnehmer besser entlohnt Bedürfnisse eines minimalen Lebensstandards, von Sicherheit, werden; die Produktivität wiederum hängt von der Ausbildung Ruhe und Ordnung etc.), so wuchs der Anteil der Menschen, für der Arbeitnehmer ab. Damit ist in der Theorie der Weg zu soziadie »postmaterialistische« Werte wichtig sind, die Möglichkeiten lem Aufstieg vorgezeichnet: Wer sich besser stellen will, muss in zur Selbstverwirklichung, politische Teilhabe etc. fordern seine Ausbildung investieren. So lange alle den gleichen Zugang (Klein:579ff). Dieser Wertwandel, der in allen fortgeschrittenen zur Bildung haben, hängt dann die Stellung im System der soziaIndustrieländern zu beobachten ist, wird im Wesentlichen auf das len Ungleichheit von der eigenen Bereitschaft ab, in seine Bildung im Zuge der Industrialisierung gestiegene Wohlstandsniveau zuzu investieren und die erworbenen Qualifikationen dann zu eirückgeführt. Erfahrungen materiellen Mangels in der Jugend förnem angemessen »Preis« auf dem Arbeitsmarkt zu »verkaufen«. dert entsprechenden Studien zufolge die Ausbildung materialistiDoch in der Praxis funktioniert das nicht: Die jüngeren PISA-Stuscher Wertvorstellungen, erst die Wohlstandsgesellschaft dien haben wiederholt gezeigt, dass die Bildungserwerbschanermöglicht der jüngeren Generation die Formierung postmateriacen keineswegs für alle gleich sind, sondern gerade in Deutschlistischer Wertüberzeugungen. Und da in der Kindes- und Juland erheblich von der sozialen Herkunft abhängen – bestimmte gendzeit erworbene Wertvorstellungen bis ins hohe Alter stabil Bevölkerungsgruppen sind damit vom Zugang zum Markt ausgebleiben, wird eine Gesellschaft mit steigendem Wohlstand mit schlossen resp. der Marktzugang wird behindert (OECD 2010). Der Wandel sozialer Gleichheit D&E Heft 69 · 2015 jeder neuen Generation etwas postmaterialistischer. Dieser Wertewandel hat eine hohe Bedeutung für die Beurteilung sozialer Ungleichheit. Je materialistischer eine Gesellschaft ist, desto wichtiger sind die Erfüllung entsprechender Lebensziele für die Menschen – und damit erhält die Frage, welchen Bildungsabschluss man erreicht, welchen Beruf man ausübt, wie viel man verdient, eine zentrale Bedeutung für die Selbstdefinition und für die Lebensplanung. Postmaterialisten können ihre wichtigen Lebensziele – Selbstverwirklichung, gesellschaftliche Partizipation, soziale Integration – leichter als die Materialisten auch ohne materiellen Wohlstand (bzw. mit mit einem geringeren Wohlstandsniveau) erreichen. Insofern mag es durchaus sein, dass der Wertewandel soziale Konflikte trotz sich verschärfender Ungleichheit dämpft. Zum anderen haben in jüngerer Zeit beträchtliche Individualisierungsprozesse Abb. 7 Entwicklung der Arbeitereinkommen in Deutschland stattgefunden (vgl. der »Basistext« zur Indivi © Aus: ISJP (2009): Wie die Krise der Finanzmärkte unsere Vorstellungen von Gerechtigkeit dualisierungsthese: Beck 1983). Die Menverändert Arbeitsbericht Nr. 180, S. 23 schen begreifen sich immer weniger als Teil einer »Schicht«, einer »Klasse« oder einer anBundesministerium für Arbeit und Soziales (2013): Lebenslagen in Deutschderen »Großgruppe«, deren Solidarität sie benötigen, um ihre land. Der vierte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Bonn: Lebensbedingungen verbessern zu können. Gerade auch die VerBMAS. breitung atypischer Beschäftigungsverhältnisse untergräbt die Basis einer solchen Solidarisierung: In ein solches BeschäftiFrick, Joachim R., u. a. (2009): Zur Entwicklung der Vermögensungleichheit gungsverhältnis zu geraten wird als individuelles Schicksal erfahin Deutschland. Berliner Journal für Soziologie 19: 577–600. ren (»misslungener Einstieg in den Arbeitsmarkt«) und nicht als Giesecke, Johannes/ Groß, Martin (2012): Soziale Schließung und die Strukein kollektives Problem. Umgekehrt liegt die Basis gewerkschaftturierung externer Arbeitsmärkte. In Arbeit als Ware, Hrsg. Krause, Alexanlicher Interessensvertretung in den Kernbereichen der Arbeitnehdra und Christoph Köhler, 91–115. Bielefeld: transcript. merschaft, in denen die »Normalarbeitsverhältnisse« überwiegen, so dass gerade diejenigen, die hauptsächlich von den Grabka, Markus M., und Jan Goebel (2013): Rückgang der Einkommensunnachteiligen Folgen des Arbeitsmarktwandels betroffen sind, gleichheit stockt. DIW Wochenbericht 80: 13–23. weder ein Interesse an kollektiven Konfliktführungen haben, Grabka, Markus M., u. a. (2012): Höhepunkt der Einkommensungleichheit in noch eine adäquate Vertretung finden könnten, wenn sie dieses Deutschland überschritten? DIW Wochenbericht 43/2012: 3–15. Interesse hätten. Schließlich bleibt anzumerken, dass Organisationsfähigkeit und politische Teilhabe gerade bei denen am geGrabka, Markus M.,u. a. (2014): Anhaltend hohe Vermögensungleichheit in ringsten ausgeprägt ist, die es am nötigsten hätten, ihren InterDeutschland. DIW Wochenbericht 81: 151–164. essen politisch Gehör zu verschaffen. Allerdings finden sich in Klein, Markus. Gesellschaftliche Wertorientierungen, Wertewandel und jüngster Zeit durchaus gewerkschaftliche und politische Ansätze, Wählerverhalten. In Handbuch Wahlforschung, Hrsg. Falter, Jürgen W. und sich auch um die peripheren Teile des Arbeitsmarktes zu kümHarald Schoen, 563–590. mern und auch Menschen in »atypischen« Beschäftigungsverhältnissen zu mobilisieren, wie gewerkschaftliche Versuche, TarifKohli, Martin u. a. (2006): Erbschaften und ihr Einfluss auf die Vermögensverträge für Leiharbeiter durchzusetzen oder die Einführung verteilung. Vierteljahreshefte zur Wirtschaftsforschung 75: 58–76. eines Mindestlohnes zeigen. Ob das aber auf Dauer genügt, der OECD. (2013): Crisis squeezes income and puts pressure on inequality and Fragmentierung des Arbeitsmarktes und der Individualisierung poverty. der Arbeitnehmer entgegenzuwirken, bleibt abzuwarten. Oesch, Daniel, und Menés Jorge Rodriguez (2011): Upgrading or polarization? Occupational change in Britain, Germany, Spain and Switzerland, 1990–2008. Socio-Economic Review 9: 503–531. Literaturhinweise Autor, David H, u. a. (2008.): Trends in US Wage Inequity: Revising the Revisionists. The Review of Economics and Statistics 90: 300–323. Beck, Ulrich (1983): Jenseits von Stand und Klasse? Soziale Ungleichheit, gesellschaftliche Individualisierungsprozesse und die Entstehung neuer sozialer Formen und Identitäten. In Soziale Ungleichheiten., Hrsg. Kreckel, Reinhard, 35–74. Göttingen: Otto Schwartz. Biewen, Martin, Andos Juhasz. 2012. Understanding Rising Income Inequality in Germany, 1999/2000–2005/2006. Review of Income and Wealth 58: 622–647. D&E Heft 69 · 2015 Schrenker, Markus u. a. (2009): Wie die Krise der Finanzmärkte unsere Vorstellungen von Gerechtigkeit verändert. ISJP-Arbeitsbericht No. 180. Berlin: Humboldt Universität. Young, Brigitte (2011): Der privatisierte Keynesianismus, die Finanzialisierung des ,alltäglichen Lebens‘ und die Schuldenfalle. 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Arbeitsplatzverlust und längerer Verbleib in Arbeitslosigkeit sind zentrale Risikofaktoren für ein relativ geringes Einkommen, einen eingeschränkten Lebensstandard oder die Abhängigkeit von staatlichen Leistungen. Arbeitslosigkeit verschlechtert den Gesundheitszustand und das subjektive Wohlergehen. Sind Eltern langfristig arbeitslos, geht hiervon auch eine negative Signalwirkung M 3 Entwicklung der Arbeitereinkommen in Deutschland auf die davon unmittelbar betroffenen Kin © Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2013): Lebenslagen in Deutschland. Der 4. Armuts- und Reichder und Jugendlichen aus. Dies kann auch tumsbericht der Bundesregierung, S. XXIV, nach: Statistisches Bundesamt, Mikrozensus 2000–2011. deren Bildungs- und Ausbildungschancen reduzieren. Eine Erwerbsaufnahme führt in der Mehrzahl der Fälle aus diesen Situationen Zuwachs gegeben. Dieser vollzog sich sowohl in der ersten Hälfte heraus und stärkt auch die Kinder. (…) der Dekade zwischen den Jahren 2000 bis 2005 (plus 0,9 Mio. PerBei der Beurteilung des Niedriglohnsektors sind (…) zwei Aspekte sonen) als auch in der zweiten Hälfte bis 2011 (plus 1,2 Mio. Persozu beachten. Einerseits ist die unverhältnismäßige Ausbreitung nen). Insbesondere die Reform des Arbeitnehmerüberlassungsvon niedrig produktiver Beschäftigung und dementsprechender gesetzes (2002) und die gesetzlichen Regelungen für die Löhne, die nicht mehr ausreichen, um den Lebensunterhalt selbst geringfügige Beschäftigung im Nebenerwerb und die Anhebung in Vollzeitbeschäftigung zu sichern, kritisch zu sehen. Andererder Verdienstgrenze von 325 Euro auf 400 Euro (2003) sowie die seits wird unterstrichen, dass der Niedriglohnsektor wesentlich trendmäßige Zunahme der Teilzeitarbeit haben die Möglichkeiten zum Beschäftigungsaufbau der vergangenen Jahre beigetragen für atypische Beschäftigung erweitert. Nach der Statistik der und vielen Geringqualifizierten eine Chance gegeben hat, auf Bundesagentur für Arbeit stieg die Zahl der Minijobber (geringfüdem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. (…) gig entlohnte Arbeit bis 400 Euro brutto) im Nebenjob mit EinfühDie sich in den nächsten Jahren abzeichnenden Fachkräfteengrung im Jahr 2003 sprunghaft auf 1,2 Mio. und weiter auf 1,7 Mio. pässe können die Arbeitsmarktchancen auch im Niedriglohnbeim Jahr 2004. Seitdem nahm sie bis 2011 relativ kontinuierlich auf reich verbessern. Wenn der Arbeitsmarkt sich tendenziell von ei2,5 Mio. Personen zu. nem Markt mit einem Überangebot an Arbeitskräften hin zu Die Zahl der ausschließlich geringfügig entlohnt Beschäftigten einem Nachfragemarkt entwickelt, dann dürfte sich das auch für stieg mit der Reform von 2003 bis 2004 (Agenda 2010) ebenfalls die Beschäftigungschancen und die Lohnentwicklung im jetzigen deutlich um 400.000 auf 4,8 Mio. an (…). Seither ist sie relativ staNiedriglohnbereich positiv auswirken. bil. Niedriglöhne können mit einem materiellen Armutsrisiko verDie Einkommensspreizung hat seit 2006, d. h. auch im Berichtsbunden sein. Letzteres lässt sich nur im Haushaltskontext und bei zeitraum, nicht weiter zugenommen. Auch gehört Deutschland der Gesamtbetrachtung der persönlichen Lebenssituation der nach Berechnungen der OECD weiterhin zu den Staaten, in denen Betroffenen und ihrer Familien bewerten. Nach Berechnungen die Ungleichheit der Markteinkommen mit am stärksten durch des IW Köln verfügen etwa 16 Prozent der Beschäftigten mit eiSteuern und Sozialtransfers reduziert wird. Betrachtet man die nem Niedriglohn über ein Einkommen unterhalb der Armutsrisireale Lohnentwicklung im Berichtszeitraum auf der Basis der Bekoschwelle. Es kommt entscheidend auf den Umfang der Befragungsdaten des SOEP, zeigt sich, dass das mittlere monatliche schäftigung sowie den Haushaltszusammenhang an. Auch ein Bruttoerwerbseinkommen von Vollzeitbeschäftigten (Median) niedriger Lohn kann zu einem ausreichendem Haushaltseinkompreisbereinigt im Jahr 2011 auf dem selben Niveau lag wie im Jahr men beitragen, und eine Niedriglohnbeschäftigung kann der Ein2007. Dabei entwickelten sich die realen Bruttoerwerbseinkomstieg oder Wiedereinstieg in eine besser bezahlte Beschäftigung men in diesem Zeitraum bis zum 8. Dezil rückläufig oder blieben sein. konstant. Hierbei handelt es sich allerdings um Querschnittsbe© Bundesministerium für Arbeit und Soziales: Der vierte Reichtums- und Armutsbericht trachtungen, die unberücksichtigt lassen, dass zwischen 2007 der Bundesregierung www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/PDF-Publikationenund 2011 viele Arbeitslose oder in geringer Stundenzahl BeschäfDinA4/a334–4-armuts-reichtumsbericht-2013-kurzfassung.pdf?__ tigte eine Vollzeitbeschäftigung im unteren Lohnbereich neu aufblob=publicationFile, S. genommen haben. Die im Beobachtungszeitraum sinkenden Reallöhne in den unteren Dezilsgruppen sind also auch Ausdruck struktureller Verbesserungen. Zwar hat sich der Anteil der atypischen Beschäftigungen zwischen 2000 und 2011 von rund 20 Prozent auf 25 Prozent erhöht. Es handelt sich dabei aber überwiegend um zusätzliche Beschäftigung. So hat sich die Anzahl der Normalarbeitsverhältnisse seit 2000 (23,8 Mio.) – mit einem zwischenzeitlichen Rückgang auf 22,1 Mio. im Jahr 2005 – bis zum Jahr 2011 kaum verändert (23,7 Mio.). Im Bereich der atypisch Beschäftigten hat es hingegen − ebenso wie bei den Normalarbeitsverhältnissen im Berichtszeitraum − einen D&E Heft 69 · 2015 Der Wandel sozialer Gleichheit 15 ����������� 16 gehen machen die Nähe von Milieu- und Lebensstilforschung deutlich. (…) Gegenüber anderen Milieu- und Lebensstilanalysen haben die Sinus-Studien einen großen Vorteil: Die Milieu-Modelle werden ständig aktualisiert. Mit ihrem Instrumentarium werden seit fast drei Jahrzehnten kontinuierlich Repräsentativumfragen durchgeführt, sodass auch quantitative und qualitative Veränderungen der Milieustruktur empirisch sichtbar gemacht werden. In (| M 5 |) wird die deutsche Bevölkerung zu zehn Milieus gruppiert. Diese sind auf der waagerechten Achse des Schaubildes nach ihren Grundorientierungen drei verschiedenen ModernisieM 4 Entwicklung der Arbeitereinkommen in Deutschland rungsphasen zugeteilt. Die © Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2013): Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2014): Lebenslagen in Deutschland. beiden ersten Phasen entDer 4. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, S. XXV, nach: Statistisches Bundesamt, Mikrozensus 2000–2011. sprechen geläufigen Unterscheidungen der soziologischen Werteund M 5 Rainer Geißler (2014): Die Sozialstruktur Deutschlands. Individualisierungsforschung. Die senkrechte Achse stellt den Zusammenhang der Milieustruktur mit der Schichtstruktur her Soziale Milieus: Der Milieubegriff kann auf eine lange Tradition und zeigt, in welchen Schichten die verschiedenen Milieus veranin der klassischen ökologisch orientierten Soziologie zurückblikert sind. Dabei wird zweierlei deutlich: Zum einen haben sich im cken (vgl. Hradil 1992a, 2006). Er wurde benutzt, um die Einoberen Bereich der Schichtungshierarchie andere Milieus herausflüsse spezifischer sozialer Umwelten auf die Einstellungen und gebildet als in der Mitte und in der Mitte andere als in der unteren Verhaltensweisen aufzuspüren. In der neueren deutschen SozioEbene. Zum anderen haben sich auf denselben Ebenen des logie haben sich kultursoziologisch verkürzte Varianten des KonSchichtgefüges unterschiedliche Milieus entwickelt, wobei die zepts durchgesetzt. Bekannt geworden sind die Milieus der »Er»kulturelle Pluralisierung« in der gesellschaftlichen Mitte deutlich lebnisgesellschaft« (Schulze 1993) und die sogenannten weiter vorangeschritten ist als oben und unten (…). Die Größe Sinus-Milieus. Diese wurden vor drei Jahrzehnten in der kommerund die inhaltliche Ausprägung der Milieus sind ständigen Veränziellen Markt- und Wahlforschung entwickelt und dort seitdem derungen unterworfen. Ein Vergleich der heutigen Situation mit sehr erfolgreich eingesetzt. Ich werde im Folgenden die Sinusder Milieustruktur von 1982 zeigt den Bedeutungsverlust traditioMilieus etwas genauer darstellen, weil sie empirisch abgesineller zugunsten moderner Orientierungen sowie eine weitere cherte Aussagen über die Entwicklung der Milieustruktur zulasDifferenzierung der Milieustruktur in der Mitte. Die folgenden sen. (…) Beispiele sollen diese Trends verdeutlichen. Die beiden traditioDie Sinus-Milieus: Das Sinus-Institut arbeitet »für die Zielgrupnellen Milieus des Kleinbürgertums und der Arbeiterschaft haben penoptimierung« in »der Produktentwicklung, dem Marketing sich vom Umfang her mehr als halbiert und sind heute zu den und der Kommunikationsplanung“ (Sinus 2005, 2) mit einem ei»Traditionellen« zusammengefasst. Seit 1991 ist zu den acht Miligenständigen Forschungsansatz: Es gruppiert Menschen mit eus der 1980er Jahre das »Neue Arbeitermilieu« als neuntes Milieu ähnlicher Lebensauffassung und Lebensweise zu »sozialen Milihinzugekommen, heute umbenannt in »Adaptiv-pragmatische«. eus«: »Soziale Milieus fassen, um es vereinfacht auszudrücken, Beim Up-Date im Jahr 2000 entsteht am rechten Rand in der Mitte Menschen zusammen, die sich in Lebensauffassung und Lebenseine zehnte Gruppierung, das »postmoderne Milieu«; heute wird weise ähneln, die also gleichsam ‚subkulturelle‘ Einheiten innerdieses mit der Bezeichnung »Performer« den »sozial gehobenen halb der Gesellschaft bilden« (…). Die Bevölkerung wird also Milieus« zugeordnet. nach »subkulturellen Einheiten« oder »Subkulturen« unterglie© Rainer Geißler (2014/ 7. Auflage): Die Sozialstruktur Deutschlands. Springer VS. Heideldert; dazu gehören Unterschiede in ihren Wertorientierungen berg /Berlin., S. 114–117 und Lebenszielen, in ihren Einstellungen zu Arbeit, Freizeit und Konsum, zu Familie und Partnerschaft, in ihren Zukunftsperspektiven, politischen Grundüberzeugungen und Lebensstilen. Sinus-Milieus »rücken … den Menschen und das gesamte Bezugssystem seiner Lebenswelt ganzheitlich ins Blickfeld« (Sinus 2010, 1). Soziale Milieus lassen sich in der gesellschaftlichen Realität nicht scharf gegeneinander abgrenzen, die Übergänge zwischen ihnen sind – so wie die Übergänge zwischen den verschiedenen Klassen, Schichten, sozialen Lagen oder Lebensstiltypen – fließend. Die empirische Grundlage der Sinus-Milieus ist repräsentatives Interviewmaterial – es wird mit Hilfe von Ähnlichkeitsmessungen, insbesondere mit Clusteranalysen, systematisch ausgewertet. Sowohl der Begriff als auch das methodische Vor- Der Wandel sozialer Gleichheit D&E Heft 69 · 2015 M 6 Die Sinus-Milieus in Deutschland, 2015 © Sinus-Institut, www.sinus-institut.de 17 Sozial gehobene Milieus 1. Konservativ-Etablierte (10 Prozent): Das klassische Establishment – Verantwortungs- und Erfolgsethik, Exklusivitäts- und Führungsansprüche versus Tendenz zu Rückzug und Abgrenzung, Statusorientierung und Standesbewusstsein. 2. Liberal-Intellektuelle (7 Prozent): Die aufgeklärte Bildungselite mit liberaler Grundhaltung und postmateriellen Wurzeln, Wunsch nach selbstbestimmtem Leben, vielfältige intellektuelle Interessen. 3. Performer (7 Prozent): Die multioptionale, effizienzorientierte Leistungselite mit globalökonomischem Denken – Selbstbild als Konsum- und Stil-Avantgarde, hohe IT- und Multimedia-Kompetenz. 4. Expeditive (7 Prozent): Die ambitionierte kreative Avantgarde – unkonventionell und individualistisch, mental und geografisch mobil, online und offline vernetzt und immer auf der Suche nach neuen Grenzen und neuen Lösungen. Milieus der unteren Mitte/Unterschicht 8. Traditionelle (14 Prozent): Die Sicherheit und Ordnung liebende Kriegs-/Nachkriegsgeneration – in der alten kleinbürgerlichen Welt bzw. in der traditionellen Arbeiterkultur verhaftet. 9. Prekäre (9 Prozent): Die um Orientierung und Teilhabe bemühte Unterschicht mit starken Zukunftsängsten und Ressentiments – Anschluss halten an die Konsumstandards der breiten Mitte als Kompensationsversuch sozialer Benachteiligungen, geringe Aufstiegsperspektiven und delegative/ reaktive Grundhaltung, Rückzug ins eigene soziale Umfeld. 10. Hedonisten (15 Prozent): Die spaß- und erlebnisorientierte moderne Unterschicht/untere Mittelschicht – Leben im Hier und Jetzt, Verweigerung von Konventionen und Verhaltenserwartungen der Leistungsgesellschaft. (Zusammengestellt von Rainer Geißler nach Unterlagen des Sinus-Instituts) Milieus der Mitte 5. Bürgerliche Mitte (14 Prozent): Der leistungs- und anpassungsbereite bürgerliche Mainstream – generelle Bejahung der gesellschaftlichen Ordnung, Streben nach beruflicher und sozialer Etablierung, nach gesicherten und harmonischen Verhältnissen. 6. Adaptiv-Pragmatische (9 Prozent): Die moderne junge Mitte der Gesellschaft mit ausgeprägtem Lebenspragmatismus und Nutzenkalkül – zielstrebig und kompromissbereit, hedonistisch und konventionell, flexibel und sicherheitsorientiert, starkes Bedürfnis nach Verankerung und Zugehörigkeit. © bpb (2014) (Hrsg.): Sozialer Wandel in Deutschland. Informationen zur politischen Bildung Heft 324. (erstellt von Rainer Geißler). www.bpb.de/shop/zeitschriften/informationen-zur-politischen-bildung/197876/sozialer-wandel-in-deutschland 7. Sozialökologische (7 Prozent): Idealistisches, konsumkritisches/-bewusstes Milieu mit normativen Vorstellungen vom »richtigen« Leben – ausgeprägtes ökologisches und soziales Gewissen, Globalisierungs-Skeptiker, Bannerträger von Political Correctness und Diversity. D&E Heft 69 · 2015 Der Wandel sozialer Gleichheit BRICHT EUROPA AUSEINANDER? REICHTUM UND ARMUT IN EUROPA. 3. Die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums und die Einstellungen der Eliten zur sozialen Frage MICHAEL HARTMANN S 18 eit seinem Erscheinen macht das Buch von Thomas Piketty über die weltweite Einkommens- und Vermögensverteilung und deren Konsequenzen (Piketty 2014) weit über die Grenzen der Wissenschaft hinaus Furore. Piketty zeigt anhand von Daten, die eine Gruppe Wirtschaftswis senschaftler seit fast zwei Jahrzehnten gesammelt und analysiert hat, dass die Einkommen und Vermögen in den Industrieländern immer ungleicher verteilt sind. Der im 20. Jahrhundert lange anhaltende Trend zu mehr Gleichheit sei seit den 1980er Jahren (zunächst in den angelsächsischen Staaten, dann auch in den anderen Ländern) gebrochen und ins Gegenteil verkehrt worden. Das gelte für Nordamerika ebenso wie für Europa. Der Anteil der Reichen am gesamten Nationaleinkommen sei überall stark angestiegen, je reicher, umso stärker. Wie stark, das hängt allerdings von der jeweiligen Ausgangslage und von den jeweiligen politischen Entscheidungen ab. Den stärksten Anstieg und die größte Einkommenskonzentration an der Spitze haben dank der unter der konservativen britischen Premierministerin Margarete Thatcher und dem republikanischen US_Präsidenen Ronald Reagan begonnenen Steuerpolitik Großbritannien und (außerhalb Europas) die USA zu verzeichnen. Was die Einkommenskonzentration angeht, folgt danach schon Deutschland. Bei der Steigerungsrate liegt Italien auf dem dritten Platz, allerdings von den niedrigsten Ausgangswerten aus. Bei der Verteilung des nationalen Vermögens lässt sich dieselbe Tendenz beobachten. Die Steigerungsraten fallen allerdings erheblich geringer aus, weil die Konzentration schon immer und auch zu Beginn der 1980er Jahre auf einem deutlich höheren Niveau lag als bei den Einkommen. So hat sich der Anteil des obersten Prozents am Gesamtvermögen zwischen 1980 und 2010 nach den offiziellen Steuerangaben, die das tatsächliche Vermögen der Reichen deutlich zu gering veranschlagen dürften, überall erhöht, in Frankreich von 22 auf 24,4 Prozent, in Großbritannien von 22,7 auf 28 Prozent, in Europa insgesamt von 20,4 auf 24,4 Prozent und in den USA von 30,1 auf 33,8 Prozent (piketty.pse.ens.fr/files/capital21c/ en/xls). Piketty schätzt den wirklichen Anteil für die USA sogar auf ca. 40 Prozent (Piketty 2014: 463). In Deutschland ist die Situation der in den USA vergleichbar. Das oberste Prozent verfügt mittlerweile über 35,8 Prozent des Gesamtvermögens und allein das oberste Promille über 22,5 Prozent (Bach/Beznoska/Steiner 2011: 11). Diese Entwicklung hat, darauf weist Piketty zu Recht immer wieder hin, eine entscheidende Ursache in der Steuerpolitik der Industriestaaten. Warum diese sich so stark zugunsten der Reichen verändert hat, darauf bietet er aber allenfalls eine sehr begrenzte Teilantwort (Piketty 2014: 685 ff.). Hier kann ein Blick auf die Einstellung der maßgeblichen Eliten zu Finanz- und Steuerfragen einen wichtigen Schritt weiter führen. Diese Einstellung zu ermitteln, war ein wesentliches Ziel einer vom Verfasser und dem Wissenschaftszentrum Berlin 2011/2012 gemeinsam durchgeführten Studie über die Inhaber der 1.000 wichtigsten Machtpositionen hierzulande (die Vorstands- und Aufsichtsratsvorsitzenden der 212 größten deutschen Unternehmen, die Spitzen der größten Abb. 1 » Das Kapital im 21. Jahrhundert« ist ein ökonomisches Fachbuch des französischen Ökonomen Thomas Piketty (Titel der französischen Originalausgabe: »Le Capital au XXIe siècle«, englisch: »Capital in the Twenty-First Century«), das in vielen westlichen Ländern 2014 auf der Bestsellerliste stand. Das Buch thematisiert grundlegende Fragen der Vermögens- und Einkommensungleichheit. Dabei untersucht es die Veränderungen in der Vermögensverteilung und Einkommensverteilung seit dem 18. Jahrhundert. Piketty vertritt darin mit empirischen Untersuchungen die These, dass die Vermögenskonzentration seit Mitte des 20. Jahrhunderts in den Industrienationen deutlich gestiegen sei, dass eine Zunahme der Ungleichheit wesentlich zum Kapitalismus gehöre und dass eine unkontrollierte Zunahme der Ungleichheit die Demokratie und Wirtschaft bedrohe. © C. H.Beck Wirtschaftsverbände, Spitzenpolitiker wie Regierungsmitglieder und parlamentarische Staatssekretäre auf Bundesebene und Ministerpräsidenten und Finanzminister auf Länderebene, die beamteten Staatssekretäre und Abteilungsleiter in den Bundesministerien, die Präsidenten, Vizepräsidenten und Vorsitzenden Die Verteilung des gesell schaf tlichen Reicht ums D&E Heft 69 · 2015 Richter der Bundesgerichte, die 20 höchsten Bundeswehrgeneräle und -admiräle, die Intendanten und Programmdirektoren von ARD, ZDF, RTL und Pro Sieben/SAT 1 sowie die Herausgeber und Chefredakteure der wichtigsten Printmedien, die Präsidiumsmitglieder der großen Wissenschaftsorganisationen und die Spitzenvertreter von zivilgesellschaftlichen Organisationen, Kirchen und Gewerkschaften). Die Einstellung der deutschen Eliten zur Finanz- und Steuerpolitik Anteil des obersten Prozent/obersten Promilles am nationalen Gesamteinkommen Länder Jahr oberstes Prozent Deutschland 1983 9,1 % oberstes Promille 3,2 % 2010 11,2 % 4,0 % 1983 7,0 % 1,6 % 2010 8,8 % 2,6 % Großbritannien 1983 6,8 % 1,8 % 2010 14,7 % 5,6 % Italien 1983 6,3 % 1,5 % 2010 9,4 % 2,7 % Spanien 1983 7,7 % 1,9 % 2010 8,5 % 2,6 % Frankreich 1983 11,6 % 4,6 % USA Welche Position die deutschen Eliten in der 2010 19,8 % 9,5 % Steuerfrage einnehmen, dazu ergab die Studie ganz eindeutige Ergebnisse. Obwohl die Abb. 2 Anteil der Einkommenseliten am nationalen Gesamteinkommen Reichen in den vergangenen zwei Jahrzehn © eigene Zusammenstellung anhand der Daten aus piketty.pse.ens.fr/files/capital21c/en/xls ten durch die Steuerpolitik der verschiedenen Bundesregierungen massiv begünstigt Einstellungen und Herkunft der Eliten worden sind – hier sind vor allem die Abschaffung der Vermögensteuer, die deutliche Senkung des Spitzensteuersatzes und der Schaut man genauer hin, fällt allerdings auf, dass die EinstellunKörperschaftssteuer, die Einführung der Abgeltungssteuer statt gen der Eliteangehörigen alles andere als einheitlich sind, sondes individuellen Steuersatzes bei Kapitalerträgen und die weitdern ganz wesentlich von ihrer eigenen sozialen Herkunft geprägt gehende Abschaffung der Erbschaftssteuer auf Betriebsvermöwerden. Die Antworten folgen dabei immer derselben Logik. Die gen zu nennen –, wird eine Wiederanhebung dieser Steuern von Arbeiterkinder und die Großbürgersprösslinge bilden mit ihren den Eliten mit einer klaren Mehrheit von zwei zu eins abgelehnt. Ansichten stets die beiden Pole, die Mittelschicht- und die BürGerade einmal ein gutes Viertel der Befragten kann sich für eine gerkinder liegen dazwischen, jeweils dem sozial näher stehenden solche Maßnahme erwärmen. Fast die Hälfte lehnt sie dagegen Bevölkerungsteil zugeneigt. Dieses Verhalten zeigt sich für die explizit ab. Dies ist umso überraschender, als gleichzeitig bei der Eliten insgesamt, aber auch innerhalb der Teileliten. Frage nach dem wichtigsten gesellschaftlichen Problem die Die Meinungsunterschiede je nach sozialer Herkunft machen sich Staatsverschuldung, verknüpft mit der Euro- und Finanzkrise, am stärksten in der Steuerfrage bemerkbar. Die in Arbeiterfamiganz vorn liegt. Für ungefähr ein Drittel der Eliteangehörigen lien, der unteren Hälfte der Elterngeneration, aufgewachsenen stellt dieser Problemkomplex aktuell die wichtigste politische Elitemitglieder befürworten Steuererhöhungen auf hohe EinkomHerausforderung dar, weit etwa vor der Bildung, die es gerade men, Vermögen und Erbschaften im Verhältnis von fünf zu zwei, einmal auf vier Prozent der Nennungen bringt. Nimmt man die die aus dem Großbürgertum, den oberen fünf Promille der ElternAntwort auf die Frage, was die wichtigste Ursache der Finanzgeneration, stammenden lehnen sie dagegen im Verhältnis von krise ist, hinzu, zeigt sich, wie zentral die Staatsverschuldung für neun zu zwei ab. Bei den aus Bürgertum und Mittelschichten die deutschen Eliten ist. Für knapp ein Drittel ist sie nämlich mit kommenden Elitenangehörigen fällt die Differenz zwar nicht so Abstand die wichtigste Ursache der Finanzkrise, während die Deklar aus, ist mit einem negativen Votum von acht zu zwei gegenregulierung der Finanzmärkte mit nicht einmal einem Fünftel der über einem von nur drei zu zwei aber auch immer noch mehr als Antworten deutlich abgeschlagen auf dem zweiten Platz folgt. deutlich. Generell kann man sagen, dass die ablehnende Haltung Berücksichtigt man außerdem, dass an dritter Stelle mit gut zehn gegenüber Steuererhöhungen umso heftiger ausfällt, je wohlhaProzent die als verkappte Sozialpolitik bewertete Immobilienpobender bzw. reicher jemand aufgewachsen ist. Die stärkste Ablitik der US-Regierungen liegt, wird deutlich, in welche Richtung lehnung findet man deshalb bei den Kindern von reichen Freibedie meisten Vertreter der deutschen Eliten denken. In der hohen ruflern, großen Unternehmern und Vorstands- bzw. staatlichen Verschuldung und der staatlichen Sozialpolitik sehen Geschäftsführungsmitgliedern mit fast 75 Prozent gegenüber nur sie die Hauptverantwortlichen für die Finanzkrise und der Abbau gut zehn Prozent Zustimmung. Bei dieser Ablehnungsquote muss der Staatsverschuldung steht folgerichtig auch ganz oben auf ihman berücksichtigen, dass allein die Steuerreformen der Schrörer Agenda. Über zwei Drittel finden ihn wichtig oder sehr wichder-Regierung zwischen 2000 und 2005, also noch ohne die Abtig, nur ganze zehn Prozent unwichtig oder vollkommen unwichgeltungssteuer, für die 450 reichsten Deutschen, die oberen 0,001 tig. Der Rest ist unentschieden. Prozent der Einkommensbezieher, eine Senkung ihrer realen Steuerbelastung von 43,1 auf nur noch 31 Prozent zur Folge hatVergleich mit der Einstellung der Bevölkerung ten. Bei den 45 reichsten Deutschen mit einem jährlichen Mindesteinkommen von 57 Mio. Euro sank die Quote sogar von 48,2 Vergleicht man die Einstellung der Eliten mit der der Bevölkerung, auf 28,7 Prozent (Bach/Corneo/Steiner 2011: 14, 22). dann zeigt sich ein ganz gravierender Unterschied. Während bei Entsprechend sieht auch das Antwortverhalten der einzelnen streng wissenschaftlichen wie auch bei medialen Umfragen unter Sektoreliten aus. Dort, wo Arbeiter- und auch Mittelschichtkinder der Bevölkerung durchweg zwei Drittel der Befragten für eine Anstark vertreten sind, dominiert die Forderung nach Steuererhöhebung des Spitzensteuersatzes plädieren und nur ein Drittel dahungen, dort, wo Bürger- und Großbürgerkinder die Elitepositiogegen ist, ist das Verhältnis von Befürwortern und Gegnern unter nen eindeutig beherrschen, werden sie entschieden abgelehnt. den Eliteangehörigen genau umgekehrt. Ähnliches gilt auch für So sprechen sich die Repräsentanten der zivilgesellschaftlichen die Erklärung der Finanzkrise. Die große Mehrheit der BevölkeOrganisationen mit einer Mehrheit von fünf zu eins für höhere rung sieht den Hauptschuldigen in den Banken oder der DereguSteuern aus, während die Wirtschaftselite mit fast drei zu eins dalierung der Finanzmärkte, die Mehrheit der Eliten in der Staatsgegen votiert. In der politischen Elite ist das Verhältnis fast ausverschuldung bzw. im »Ausufern« des Sozialstaats. geglichen, mit einem leichten Übergewicht der Gegner von Steu- D&E Heft 69 · 2015 Die Verteilung des gesell schaf tlichen Reicht ums 19 Michael HartMann 20 Umfrage 1: Anhebung der Steuern auf hohe Einkommen, Vermögen und Erbschaften ( Angaben in Prozent) nen an bewusst und vor allem unbewusst als selbstverständlich vermittelt. Diese Einstellung lässt sich kurz und knapp so charakteriBereiche Bewertung A M B GB Gesamt sieren: Der Fiskus kassiert vom durch eigene unwichtig 6,3 18,8 50,0 – 14,7 Gesellschaftliche Leistung erwirtschafteten Geld stets einen Organisationen zu großen Anteil und er kann mit diesem wichtig 87,5 63,4 50,0 – 73,5 Geld auch nicht richtig umgehen, schlechter unwichtig 0,0 20,0 85,7 100,0 33,3 Politik jedenfalls, als man es in der Wirtschaft selbst vermag. Deshalb sollte man dem Staat auch wichtig 88,9 30,0 0,0 0,0 40,7 nicht mehr Geld zukommen lassen als unbeunwichtig 25,0 52,5 54,5 73,3 57,3 Wirtschaft dingt nötig. Das bedeutet in der Realität, wichtig 37,5 27.9 13,6 13,3 21,4 dass eine starke Neigung besteht, steuerliunwichtig 22,9 43,0 54,4 62,0 46,4 Gesamt che Regelungen durch Ausnutzen legaler Schlupflöcher zu unterlaufen oder die Grauwichtig 56,3 29,6 15,5 14,0 26,8 zonen des Steuerrechts ausgiebig zu nutzen. Abb. 3 Anteil der Einkommenseliten am nationalen Gesamteinkommen Zu einem nicht unerheblichen Teil ist man © eigene Zusammenstellung anhand der Daten aus piketty.pse.ens.fr/files/capital21c/en/xls sogar bereit, wie in den in den letzten Jahren bekannt gewordenen Fällen von Steuerhinererhöhungen. Innerhalb der Sektoren gehen die Ansichten je terziehung, auch illegale Wege zu beschreiten. Das Verständnis nach Elternhaus, nicht überraschend, ebenfalls sehr weit auseinfür solche auch nicht legalen Handlungen ist in diesen Kreisen ander. So findet sich unter den hoch bezahlten Spitzenmanagern traditionell jedenfalls recht weit verbreitet. der Großunternehmen zwar eine klare Mehrheit gegen höhere Bei den Eliteangehörigen, die aus Arbeiterfamilien stammen, ist steuerliche Belastungen, die wenigen Arbeiterkinder unter ihnen all das ganz anders. Sie haben zum Staat und damit indirekt auch sind allerdings im Verhältnis drei zu zwei anderer Meinung. Sie zu Steuern aufgrund eigener Erfahrungen mehrheitlich eine posihalten höhere Steuersätze für wichtig, obwohl sie selbst davon tivere Einstellung; denn ihr eigener Aufstieg war nur möglich, weil betroffen wären. Ihre in großbürgerlichen Verhältnissen aufgedie öffentliche Hand die dafür erforderliche Infrastruktur, vor alwachsenen Kollegen sind dagegen im Verhältnis von fast sechs zu lem in Form eines ausgebauten Bildungssystems, in dem entspreeins gegen solche Maßnahmen. Noch eindeutiger fällt das Votum chenden Zeitraum der 1950er und 1960er Jahre zur Verfügung unter den Spitzenpolitikern aus. Neun von zehn Arbeiterkindern stellte. Dass das ohne eine entsprechende Finanzierung durch sind für, kein einziger ist gegen höhere Steuern. Bei den aus bürSteuern nicht möglich gewesen wäre, ist vielen klar. Diese Einstelgerlichen oder großbürgerlichen Familien stammenden Politilung bleibt auch dann bestehen, wenn man die eigene Leistung kern ist es genau umgekehrt. Neun von zehn sind gegen Steuererals entscheidend für den beruflichen Erfolg ansieht. höhungen, kein einziger ist dafür. Das gilt unabhängig von der Die soziale Herkunft prägt auch die Haltung zur Finanzkrise und Parteizugehörigkeit. Zwar haben die Arbeiterkinder überwiegend zur Staatsverschuldung. So sehen die aus dem Großbürgertum ein SPD-Parteibuch und die Bürgerkinder eines von CDU/CSU stammenden Eliteangehörigen, wenn es um die Finanzkrise geht, oder FDP, aber die Minderheit der SPD-Politiker mit bürgerlichem deren wichtigste Ursache mit ca. 55 Prozent ganz eindeutig in der oder der CDU/CSU-Politiker mit Arbeiterhintergrund stimmen Staatsverschuldung und der US-Immobilienpolitik. Die Dereguohne Ausnahme entsprechend ihrer sozialen Herkunft und nicht lierung nennen dagegen nicht einmal zehn Prozent an erster entlang der offiziellen Parteilinie. Stelle. Bei den Elitemitgliedern, die aus Arbeiterfamilien komDass in der Frage von Steuererhöhungen für hohe Einkommen, Vermögen oder ErbschafUmfrage 2: Die wichtigsten Ursachen für die Finanzkrise (Nennung an erster Stelle ten Sympathien bzw. Antipathien so eindeuin Prozent) tig verteilt sind, hängt damit zusammen, Bereiche Ursache A M B GB Gesamt dass hier viel stärker als bei den eher allgemeinen Fragen nach den Ursachen der Fi53,3 35,3 0,0 – 41,1 Gesellschaftliche Deregulierung nanzkrise oder der Staatsverschuldung die Organisationen eigene Betroffenheit der Befragten zu Buche Staatsver6,7 33,3 50,0 – 20,6 schlägt. Die aus bürgerlichen und, noch stärschuldung ker, die aus großbürgerlichen Verhältnissen US-Immobili0,0 6,7 0,9 – 2,9 stammenden Eliteangehörigen sind materiell enpolitik ganz anders als Mittelschicht- und vor allem Deregulierung 44,4 44,4 28,6 0,0 38,5 Politik Arbeiterkinder betroffen, weil sie nicht nur Staatsver11,1 22,2 28,6 100,0 23,1 relativ hohe Einkommen beziehen, sondern schuldung im Unterschied zu den sozialen Aufsteigern US-Immobili0,0 11,1 14,3 0,0 7,7 in der Regel auch über deutlich größere enpolitik Vermögen und vor allem potenzielle Erb Deregulierung 37,5 9,5 18,2 12,9 14,6 Wirtschaft schaften verfügen. Das gilt selbst bei den weit überdurchschnittlich gut bezahlten Staatsver37,5 16,7 22,7 35,5 25,2 Spitzenmanagern. Dort ist der Blickwinkel schuldung ebenfalls ein anderer, wenn es nicht nur um US-Immobili0,0 16,7 22,7 16,1 16,5 das Gehalt, sondern auch um Vermögen und enpolitik Erbe geht. Deregulierung 35,6 20,3 14,6 9.8 19,0 Gesamt Zur stärkeren eigenen Betroffenheit kommt Staatsver26,7 23,9 35,0 39,2 30,0 vor allem bei in wirtschaftsnahen Kreisen schuldung groß gewordenen Bürger- und GroßbürgerUS-Immobili2,2 8,7 13,6 15,7 10,4 kindern noch die dort traditionell weitverenpolitik breitete Einstellung zu »staatlichen Zwangsabgaben« hinzu. Personen, die in diesem Abb. 4 Umfrage: Wichtigste Ursachen für die Finanzkrise © Eigene Erhebung Milieu aufwachsen, wird sie von Kindesbei- Die Verteilung des gesell schaf tlichen Reicht ums D&E Heft 69 · 2015 men, sieht es vollkommen anders aus. Bei ihnen führt ganz klar die Deregulierung mit fast 36 Prozent vor der Staatsverschuldung mit knapp 27 und der Immobilienpolitik mit gerade einmal gut zwei Prozent. Dementsprechend fällt das Antwortverhalten in den einzelnen Sektoren aus. In den zivilgesellschaftlichen Organisationen herrscht die Deregulierung als zentrale Erklärung vor, in der Wirtschaft glaubt man in der staatlichen Verschuldungsund Sozialpolitik den Hauptschuldigen ausmachen zu können. Aber auch in den einzelnen Teilsektoren antAbb. 6 Umfrage: Die sozialen Unterschiede sind gerecht. © Eigene Erhebung worten die Spitzenvertreter fast immer entlang der Linie ihrer Herkunft. Wer es aus einer Arbeiterfamilie an die Spitze eindeutig. Die einzelnen Sektoreliten antworten ebenfalls, wie es eines Großunternehmens gebracht hat, sieht die Deregulierung angesichts ihrer Reaktionen auf die Frage nach den Ursachen der skeptischer als sein Kollege, der in einem großbürgerlichen AmFinanzkrise zu erwarten war. Am stärksten drängt die Wirtschaftbiente groß geworden ist. Auch wenn die generelle Prägung selite auf eine Entschuldung, am wenigsten die Spitzenvertreter durch den Sektor spürbar ist, gewichten Spitzenmanager aus der der zivilgesellschaftlichen Organisationen. Auch innerhalb dieser Arbeiterschaft Deregulierung und Staatsverschuldung immerhin Teileliten kommen wieder die bekannten Unterschiede je nach noch gleich stark, während die großbürgerlichen Manager letzElternhaus zum Vorschein. Für die in großbürgerlichen Verhältnistere im Verhältnis von fast drei zu eins vorn sehen. Bezieht man sen aufgewachsenen Elitenangehörigen besitzt der Ausgabenabdie US-Immobilienpolitik noch mit ein, ändert sich bei den Arbau auf staatlicher Seite eine ganz eminente Bedeutung. Fast alle beiterkindern nichts, bei den Großbürgersprösslingen dagegen halten ihn für wichtig, fast niemand für unwichtig. Bei den Arbeifällt die Deregulierung noch weiter zurück, liegt nun sogar im terkindern ist das weit umstrittener. So halten sich Befürworter Verhältnis von eins zu vier hinten. Dasselbe Bild lässt sich bei den und Gegner unter den Spitzenpolitikern immerhin die Waage und Spitzenvertretern von Verbänden, Kirchen und Gewerkschaften bei den Spitzenrepräsentanten von Verbänden, Kirchen und Gebeobachten. Bei den aus dem Bürgertum stammenden Repräwerkschaften überwiegen sogar die ablehnenden Stimmen im sentanten – aus dem Großbürgertum kommt niemand – führt Verhältnis fünf zu vier. konkurrenzlos die Staatsverschuldung, bei denen aus der ArbeiDer Haltung zur Steuer- und Finanzpolitik entspricht bei den Eliteterschaft genauso überlegen die Deregulierung. mitgliedern im Großen und Ganzen auch die Beurteilung der soziDieselben Unterschiede zeigen sich, wenn es um den Abbau der alen Verhältnisse in der deutschen Gesellschaft in ihrer Gesamt(nicht nur als Ursache der Finanzkrise) so viel beklagten staatliheit. Die deutliche Abneigung Steuererhöhungen gegenüber geht chen Verschuldung geht. Zwar gilt die Schuldenreduzierung quer bei den aus bürgerlichen oder großbürgerlichen Verhältnissen durch fast alle Sektoren und Herkunftsgruppen für eine Mehrheit stammenden Elitenangehörigen Hand in Hand mit einer Sicht der als wichtig – dies wohl eine spezifisch deutsche Tradition –, ihre Gesellschaft, die diese mehrheitlich als im Grunde gerecht beurBedeutung wird von den aus großbürgerlichen Familien stamteilt. Ist es bei den Bürgerkindern noch nur eine knappe Mehrheit, menden Elitenangehörigen aber weitaus höher eingestuft als von die die Frage, ob die sozialen Unterschiede hierzulande gerecht denjenigen, die aus der Arbeiterschaft stammen. Während unter sind, bejaht, fällt die Zustimmung bei den Großbürgerkindern mit letzteren auf die Frage, wie wichtig sie die Verringerung der einem Verhältnis von über zwei zu eins schon ganz und gar eindeuStaatsausgaben finden, nur gut doppelt so viele mit wichtig anttig aus. Aus Mittelschichtfamilien kommende Elitenangehörige worten wie mit unwichtig, lautet diese Relation bei ersteren viersind demgegenüber spürbar anderer, Arbeiterkinder sogar genau zig zu eins. Die Differenz zwischen Zustimmung und Ablehnung entgegengesetzter Meinung. Sie empfinden die Verteilung des fällt fast zwanzigmal so groß aus. Das ist schon bemerkenswert gesellschaftlichen Reichtums ganz überwiegend als ungerecht. Umfrage 3: Reduzierung der öffentlichen Ausgaben ( Angaben in Prozent) Bereiche Bewertung A M B GB unwichtig 31,3 50,0 0,0 – 37,5 wichtig 25,0 42,9 100 – 37,5 Politik unwichtig 33,3 0,0 16,7 00 15,4 wichtig 33,3 70,0 66,7 100,0 57,7 Wirtschaft unwichtig 0,0 0,0 8,7 3,2 2,8 wichtig 50,0 75,0 82,6 90,3 79,2 unwichtig 18,8 10,0 10,7 2,0 10,2 wichtig 39,6 66,4 73,8 80,4 67,0 Gesellschaftliche Organisationen Gesamt Abb. 5 Umfrage: Reduzierung der öffentlichen Ausgaben D&E Heft 69 · 2015 Gesamt © Eigene Erhebung Die soziale Rekrutierung der deutschen Eliten Die Einstellung der Eliten zur Finanz- und Steuerpolitik wie auch ihre Einschätzung der sozialen Lage allgemein hängt eindeutig davon ab, wie sie sich sozial rekrutieren, ob sie mehrheitlich aus sozialen Aufsteigern bestehen, die in ihren Einstellungen zu sozialen Fragen, vor allem wenn es sich um Arbeiterkinder handelt, der breiten Bevölkerung noch relativ ähnlich sind, oder aus Bürgerund Großbürgerkindern. Was das Antwortverhalten der Eliten insgesamt schon andeu- Die Verteilung des gesell schaf tlichen Reicht ums 21 Michael HartMann 22 tet, bestätigt sich bei genauerem Hinsehen. Ihre soziale Rekrutierung ist überwiegend exklusiv. Die Elitenmitglieder kommen mit einer Mehrheit von fast zwei Dritteln aus bürgerlichen oder großbürgerlichen Familien. Die größte Gruppe mit fast 40 Prozent stammt aus dem Bürgertum, das in der Vätergeneration nur drei Prozent der Bevölkerung stellte, ein weiteres knappes Viertel aus dem Großbürgertum. Der Nachwuchs der oberen fünf Promille der Gesellschaft ist damit genauso stark repräsentiert wie der aus Mittelschichtfamilien, obwohl die in der Vätergeneration einen mehr als siebzigmal so großen Anteil an der Bevölkerung ausmachten. Am schlechtesten vertreten sind Arbeiterkinder. Sie, deren Väter noch die Hälfte der Erwerbstätigen stellten, besetzen nicht einmal jede achte Elitenposition. Von einer halbwegs repräsentativen Rekrutierung der verschiedenen Bevölkerungsteile kann also keine Rede sein. Allerdings gibt es große Unterschiede zwischen den einzelnen Sektoren. Am exklusivsten präsentiert sich die Wirtschaftselite. Nicht einmal jeder Vierte ist ein sozialer Aufsteiger. Arbeiterkinder bekleiden sogar weniAbb. 7 »Staat und Gerechtigkeit« © Martin Guhl, dieKLEINERT.de, dpa, picture alliance ger als sechs Prozent der Spitzenpositionen. Lässt man die öffentlichen Unternehmen, die knapp ein Fünftel der wirtschaftlichen Elitepositionen ausmaAls Faustregel für die soziale Rekrutierung der einzelnen Elitesekchen, außen vor, wird das Bild noch homogener. Während in den toren kann man Folgendes festhalten: Je größer der Einfluss der öffentlichen Unternehmen aufgrund politischer Einflüsse nur 46 Bevölkerung in einem Sektor ist, desto repräsentativer sind auch Prozent der Spitzenpositionen von Bürger- oder Großbürgerkinseine Eliten zusammengesetzt. Das gilt für die Politik, vor allem dern besetzt werden, sind es in den großen Privatunternehmen auf Landesebene und in den Parteigremien, weil dort selbst die über 83 Prozent. An ihrer großen Dominanz hat sich hier seit JahrSpitzenvertreter letztlich immer noch von der Bevölkerung bzw. zehnten nichts geändert (Hartmann 2007: 144). von der Parteibasis gewählt werden müssen. Vor allem aber trifft Die Eliten aus Justiz und Verwaltung sowie den Medien rekrutiees auf die Kirchen und Gewerkschaften zu, die auf die aktive Unren sich immerhin auch noch zu ungefähr zwei Dritteln aus Bürterstützung ihrer Mitglieder, und sei es nur in Form von Mitgliedsger- oder Großbürgertum. Bei den Spitzen der Justiz und der Mebeiträgen, angewiesen sind, um überhaupt etwas durchsetzen zu dien sind es ziemlich genau zwei Drittel, bei denen der hohen können. Genau umgekehrt verhält es sich in den Bereichen, wo Verwaltung mit gut 62 Prozent etwas weniger. Interessant ist dadas Prinzip der Kooptation dominiert, wo also die in den Spitzenbei, dass im Mediensektor ein ähnlicher Unterschied zwischen positionen sitzenden Eliteangehörigen weitgehend oder ganz alöffentlich-rechtlichen und privaten Institutionen zu verzeichnen lein entscheiden, wen sie in ihre Reihen aufnehmen. Das trifft vor ist wie in der Wirtschaft. Während in den Anstalten der ARD und allem in der Privatwirtschaft zu, wo nur wenige Personen, manchim ZDF Intendanten und Programmdirektoren »nur« zu gut der mal sogar nur ein einziger Eigentümer, entscheidet, wer in den Hälfte aus privilegierten Verhältnissen stammen, gilt das bei den Vorstand oder die Geschäftsführung eines Unternehmens aufHerausgebern und Chefredakteuren der privaten Fernsehsender rückt und wer nicht. und Printmedien für über drei Viertel. Die soziale Zusammensetzung der einzelnen Sektoreliten schlägt Da auch die Wissenschaftselite zu fast 60 Prozent aus diesem sich gleich in doppelter Hinsicht in deren Einstellungen nieder. Milieu kommt, bleiben nur die Eliten aus Politik, Militär, Kirchen, Zum einen sorgt das jeweilige Gewicht von sozialen Aufsteigern Gewerkschaften und Verbänden (Sport-, Umwelt-, Wohlfahrtsauf der einen und bereits in privilegierten Verhältnissen aufgeverbände etc.), die sich überwiegend aus der breiten Bevölkewachsenen Personen auf der anderen Seite für eine vorherrrung rekrutieren. In der politischen und militärischen Elite wie schende Grundhaltung in der gesamten Teilelite. Zum anderen auch in den Spitzen der Verbände liegen sie allerdings nur verbeeinflusst diese Grundhaltung auch die Einstellung jener Elitegleichsweise knapp mit einem Vorsprung von gut zehn Prozent mitglieder, die nicht der dominanten Herkunftsgruppe entstamvor den Bürger- und Großbürgerkindern. Dazu kommt, dass sie men. Arbeiter- oder Mittelschichtskinder, die es in die Toppositiosich im einflussreichsten Teil der politischen Elite, in der Bundesnen der Wirtschaft geschafft haben, stehen den sozialen exekutive (Bundesregierung und parlamentarische StaatsekreUnterschieden zwar kritischer gegenüber als ihre Kollegen, die täre), mit einem Anteil von weniger als 44 Prozent sogar in der aus bürgerlichen oder großbürgerlichen Familien kommen, aber Minderheit befinden. Wirklich stark vertreten sind aus den Mitdoch deutlich unkritischer als die Arbeiterkinder, die in der Politik telschichten oder der Arbeiterschaft stammende Elitenangehöoder gar in Kirchen und Gewerkschaften Spitzenstellungen berige nur in den obersten Gremien der Kirchen und der Gewerkkleiden. Soziale Herkunft wirkt insofern immer gleich zweifach. schaften. Das gilt besonders für die Arbeiterkinder, die selbst in Die größten Meinungsunterschiede verglichen mit der Normalden sozial eher offenen Verbandsspitzen und in der politischen bevölkerung gibt es daher bei der Wirtschaftselite, wo diese Bundesexekutive nur jede achte und in der politischen Elite insbeiden Wirkungsfaktoren am stärksten spürbar sind. Deshalb ist gesamt auch nicht mehr als jede fünfte Position besetzen. Bei dort die Einstellung gegenüber Steuerhinterziehungsvergehen, den beiden großen Kirchen stellen sie dagegen jeden zweiten wie in den spektakulären Fällen von Hoeneß, Würth oder ZumSpitzenrepräsentanten und in den Gewerkschaften sogar drei winkel zu sehen, auch so anders als in der übrigen Bevölkerung. von vier Spitzenvertretern. Die große Mehrheit der Wirtschaftselite hat schon in ihrer Kind- Die Verteilung des gesell schaf tlichen Reicht ums D&E Heft 69 · 2015 heit und Jugend, quasi mit der Muttermilch, eine Grundhaltung gegenüber Steuern aufgesogen, die sich später nur noch weiter verfestigt. Elitenrekrutierung, Steuerpolitik und Reichtumsverteilung Die Personen, die wegen ihrer Machtpositionen wesentlichen Einfluss auf die maßgeblichen Entscheidungen nehmen konnten und können, denken vor allem aufgrund ihrer sozialen Herkunft in zentralen Fragen der Finanz- und Steuerpolitik mehrheitlich genauso oder zumindest so ähnlich wie die Reichen. Sie sehen zum einen in der hohen Staatsverschuldung die wichtigste Ursache der Finanzkrise und das größte gesellschaftliche Problem unserer Tage, sie lehnen zum anderen aber gleichzeitig Steuerhöhungen auf hohe Einkommen, Vermögen und Erbschaften ab. Um die staatliche Verschuldung abzubauen, etwas, was für sie ganz oben auf der politischen Agenda steht, bleibt ihnen daher nur noch die Kürzung öffentlicher Leistungen (speziell im Sozialbereich). Angesichts dieser Haltung ist es nicht verwunderlich, wenn in der Finanz- und Steuerpolitik der vergangenen Jahre viel für die Entlastung hoher Einkommen und Vermögen getan wurde, mittlere und geringe Einkommen – letztere vor allem durch eine massive Anhebung der indirekten Steuern – aber zusätzlich belastet worden sind. Gleichzeitig ist die Rettung der Banken in der Finanzkrise im Wesentlichen von der Normalbevölkerung bezahlt worden, während die Aktionäre und die Reichen, deren Geld dort angelegt war, weitgehend unangetastet blieben. Die als Folge dieser Rettungsaktionen drastisch geAbb. 8 Titelbild Manager Magazin spezial, 2014/1 © manager magazin stiegene Staatsverschuldung hat dann in der Folge zu massiven Kürzungen in den öffentliHartmann, Michael (2002): Der Mythos von den Leistungseliten. Frankfurt chen Haushalten geführt, in erster Linie bei den Sozialetats. Für a. M.: Campus die Einkommens- und Vermögensverteilung in Deutschland wie Hartmann, Michael (2007): Eliten und Macht in Europa. Frankfurt a. M.: auch in Europa insgesamt haben all diese Maßnahmen sichtbare Campus Konsequenzen gehabt. Die Kluft zwischen oben und unten hat deutlich zugenommen. Diese Entwicklung wird sich weiter fortHartmann, Michael (2013): Soziale Ungleichheit – Kein Thema für die Eliten? setzen, sollte sich die Steuerpolitik nicht entschieden ändern. AlFrankfurt a. M.: Campus lein die Tatsache, dass die Erbschaften in Deutschland inzwischen Piketty, Thomas (2014): Das Kapital im 21. Jahrhundert. München: C. H. Beck ein Neuntel des gesamten jährlichen Nationaleinkommens ausmachen, während es 1980 gerade einmal vier Prozent waren (PiSpannagel, Dorothee/ Broschinski, Sven (2014): Reichtum in Deutschland ketty 2014: 566), macht den Handlungsbedarf mehr als deutlich. wächst weiter, WSI-Report 17, September 2014. www.boeckler.de/pdf/p_ wsi_report_17_2014.pdf Literaturhinweise Bach, Stefan/Corneo. Giacomo/Steiner, Viktor (2011): Effective taxation of top incomes in Germany, 1992–2002. FU Berlin, School of Business & Economics, Discussion Papers 18/2011 Bach, Stefan/Beznoska, Martin/Steiner, Viktor (2011): A Wealth Tax on the Rich to Bring down Public Debt? SOEPpapers 397, 7.7.2011. Berlin D&E Heft 69 · 2015 Internethinweise Daten zur Piketti-Studie: piketty.pse.ens.fr/files/capital21c2 Daten von Eurostat, der Statistikdatenbank der Europäischen Union: http:// epp.eurostat.ec.europa.eu/statistics_explained/index.php/Income_distribution_statistics Die Verteilung des gesell schaf tlichen Reicht ums 23 Michael HartMann 24 MATERIALIEN M 1 Neue Studie des WSI: Reichtum in Deutschland wächst und verfestigt sich, 2014 Ebenso wie die Armut hat auch der private Reichtum in Deutschland über die vergangenen zwei Jahrzehnte deutlich zugenommen. Der Anteil der Personen, die nach dem in der Wissenschaft verbreiteten relativen Reichtumsbegriff reich oder sehr reich sind, liegt heute um ein gutes Drittel höher als Anfang der 1990er Jahre: Galten 1991 noch 5,6 Prozent aller Menschen in Deutschland wegen ihres verfügbaren Haushaltseinkommens als reich oder sehr reich, waren es 2011, dem jüngsten Jahr, für das Daten vorliegen, 8,1 Prozent. Zudem haben vor allem die Einkommen der sehr Reichen stärker zugelegt als im Durchschnitt der Gesellschaft. Das liegt wesentlich am höheren Anteil, der reichen und insbesondere sehr reichen Personen aus Kapitaleinkommen zufließt. Und: Wer einmal reich oder sehr reich ist, muss zunehmend weniger fürchten, beim Einkommen in die Mittelschicht »abzusteigen«. Zu diesen Ergebnissen kommt eine neue Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) in der HansBöckler-Stiftung. »Die sehr Reichen setzen sich vom Rest der Bevölkerung regelrecht M 2 »Besserverdienende bauen ihre Stellung aus« © Böckler Impuls 15/2014, Hans-Böckler-Stiftung, ab«, schreiben die WSI-Verteilungsexpertin www.boeckler.de/hbs_showpicture.htm?id=51289&chunk=1 Dr. Dorothee Spannagel und ihr Ko-Autor Sven Broschinski von der Universität Oldenburg. Die Untersuchung basiert auf Daten aus dem sozio-ökonomischen Panel (SOEP), einer jährlichen Wiedernen. Letztere Gruppe ist zwar sehr klein, doch ist sie im Verhältnis holungsbefragung in mehreren tausend Haushalten. Reich ist besonders stark gewachsen – von 0,9 Prozent aller Personen 1991 nach gängiger wissenschaftlicher Definition, die zum Beispiel auf 1,9 Prozent im Jahr 2011. Gleichzeitig haben die sehr Reichen auch der Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung verihre mittleren Einkommen in diesem Zeitraum auch besonders wendet, wer in einem Haushalt lebt, der das Doppelte und mehr deutlich steigern können: Preisbereinigt um rund 20 Prozent. Dades mittleren verfügbaren Jahreseinkommens hat. Dieses beträgt gegen erzielten die Reichen einen realen Zuwachs von 5 Prozent rund 18.000 Euro pro Person. Für Alleinstehende gilt demnach: (siehe auch die Abbildungen 1 und 2 in der Studie). Das mittlere Eine Person, die netto, nach Abzug von Steuern und Sozialabgaben Einkommen der Menschen unterhalb der Reichtumsgrenze stieg und nach Anrechnung von staatlichen oder privaten Transfers, lediglich um 4 Prozent. Die Wirtschafts- und Finanzkrise brachte mindestens knapp 36.000 Euro im Jahr als verfügbares Einkomzwar einen kurzzeitigen Rückschlag, sie habe aber weder die Zahl men hat, gehört zur Gruppe der Reichen. Als sehr reich wird beder Reichen noch deren Einkommenshöhe »nachhaltig verrinzeichnet, wer mindestens dreimal so viel wie üblich hat. Die Untergert«, beobachten Spannagel und Broschinski. grenze für einen Alleinstehenden liegt hier also bei knapp 54.000 © Pressemitteilung des Hans-Böckler-Stiftung vom 8.10.2014, www.boeckler. Euro. In Mehrpersonenhaushalten werden die Grenzen nach Erde/45167_51265.htm wachsenen und Kindern gewichtet und sind entsprechend höher. Gemessen an den Einkommen von Konzernvorständen, Investmentbankern oder Spitzensportlern scheint die Schwelle recht M 3 Stephan Kaufmann: Die Reichen sind noch reicher als niedrig gezogen zu sein. Tatsächlich gebe es ein Problem bei der gedacht, Frankfurter Rundschau vom 17.7.2014 wissenschaftlichen Erfassung von Millionären und Milliardären, sagt WSI-Forscherin Spannagel: Superreiche sind relativ selten Angesichts von Finanz- und Schuldenkrise wächst die Kritik an der und auf Diskretion bedacht, deshalb sind sie bei allen BefragunVerteilung der Vermögen. Eine neue Untersuchung zeigt jetzt: Die gen unterrepräsentiert. Doch von einer »gehobenen Lebenslage, Reichen sind noch viel reicher als gedacht. Auch in Deutschland. Wer mit der zahlreiche privilegierte Lebensbedingungen verbunden viel Geld hat, der genießt – und schweigt. Superreiche sind meist sind«, lasse sich durchaus schon bei Personen sprechen, die jeden zurückhaltend, wenn es um die Größe ihres Vermögens geht. Das Monat mindestens doppelt so viel ausgeben können wie der Problem dabei: Statistiken zu Vermögen und ihrer Verteilung beruhen Durchschnitt, betont die Wissenschaftlerin. »Unsere Studie anaauf Umfragen. Und da Reiche in dieser Hinsicht eher dezent sind, lysiert gewissermaßen den unteren Bereich des Reichtums in wird die Ungleichverteilung unterschätzt. Die Europäische ZentralDeutschland. Darüber erfährt man schon eine Menge. Und die bank (EZB) hat nun den Versuch unternommen, die Geld-Elite durch Ergebnisse legen nahe, dass die Superreichen sich noch deutlich einen Trick in die Statistik einzubeziehen. Das Ergebnis: Die Reichen stärker und schneller von der Mitte der Gesellschaft entfernen als sind nicht nur reich, sondern noch reicher als bisher angenommen. die Personen, die in der Studie untersucht wurden.« Um die Vermögenslage von Haushalten zu erheben, nutzen StatisSehr Reiche werden reicher. Das zeigt sich nach Analyse der Fortiker Umfragen bei den Haushalten – in der Euro-Zone ist dies der scher schon beim Vergleich von reichen und sehr reichen Perso- Die Verteilung des gesell schaf tlichen Reicht ums D&E Heft 69 · 2015 Household Finance and Consumption Survey (HFCS). Die Teilnahme an solchen Umfragen ist freiwillig. Wer nicht will, muss nicht antworten. In diese Kategorie fallen überproportional viele Superreiche. Das sieht man laut Philip Vermeulen, Autor des EZB-Papiers, wenn man die Umfragen mit der Forbes-Liste der Superreichen vergleicht. Jedes Jahr gibt das US-amerikanische Wirtschaftsmagazin »Forbes« diese Liste heraus. Zwar beruht sie auf Schätzungen, Vermeulen hält sie aber für halbwegs verlässlich. Laut offizieller HFCS-Umfrage gab es 2010 in Deutschland nur 85 Haushalte mit einem verfügbaren Netto-Vermögen von über zwei Millionen Euro. Gleichzeitig standen 52 Deutsche auf der Forbes-Liste der Milliardäre. Der reichste deutsche Haushalt verfügte laut HFCS nur über 76 Millionen Euro, Haushalte mit mehr Vermögen existierten in dieser Statistik nicht. In der Realität aber schon: Der ärmste der 52 Deutschen in der Forbes-Liste hatte über 818 MillioM 5 »Der Sieger am Buffet« © Heiko Sakurai, 20.1.2015 nen Euro, der reichste, Aldi-Gründer Karl Albrecht, sogar noch 17.000 Millionen mehr. Derartige Differenzen zwischen Statistik und ten buchstäblich Hunger. Heute bezieht er Hartz IV und kann Forbes-Liste gebe es in allen Euro-Ländern, so Vermeulen. Das zeigt, damit zumindest seine Existenz sichern. (…) Mit der beginnenden dass die Superreichen in den offiziellen Berechnungen nicht auftauIndustrialisierung wurde die ökonomische Vorherrschaft der chen. Und das bedeutet: Die Ungleichverteilung der Vermögen in Großgrundbesitzer aufgebrochen – zahlreiche Unternehmer den bislang verfügbaren Statistiken wird unterschätzt. Der Ökonom stellten Industriearbeiter ein, ihre Einkommen wuchsen relativ zu hat nun die Forbes-Liste mit den Umfrageergebnissen kombiniert denen der Landbesitzer. »Während der Industrialisierung konnten und errechnet, wie groß der Anteil am gesamten Vermögen ist, der breitere Teile der Bevölkerung über Bildung und Ausbildung erstdem reichsten Prozent der Haushalte gehört. (...) Den reichsten fünf mals erhebliche Einkommenszuwächse erreichen«, sagt Baten. Prozent der Haushalte gehören in den USA rund 60 Prozent des VerGleichwohl gab es regelmäßig Rückschläge. (…) Während der NSmögens, in Deutschland ist es immer noch über die Hälfte. HierzuZeit (…) gab es gezielte Umverteilungsmaßnahmen zugunsten lande ist der Reichtum also wesentlich konzentrierter als in Frankder Großunternehmer. »Um die Industriellen bei der Stange zu reich und Italien, wo die reichsten fünf Prozent 37 bis 38 Prozent des halten, verteilten die Nationalsozialisten die Einkommen von den Gesamt-vermögens auf sich vereinen. Hierzulande ist der Reichtum unteren Schichten zu Gunsten der Oberschicht um«, erklärt Baalso wesentlich konzentrierter als in Frankreich und Italien, wo die ten. Die NS-Politik zielte auf Kriegsproduktion, für die die Koopereichsten fünf Prozent 37 bis 38 Prozent des Gesamtvermögens auf ration der Großunternehmen unverzichtbar war. »Die Nationalsosich vereinen. Die Verteilung in Europa ist also noch ungleicher als zialisten lockten Unternehmen mit deutlich höheren Gewinnen in gedacht. Das ist vor dem Hintergrund stark gestiegener Staatsschuldie Kriegswirtschaft, und drohten zusätzlich mit Repressalien.« den politisch brisant. Vermeulens Ergebnisse, so betont die EZB In den Fünfzigerjahren machte sich in Europa Hoffnung breit. »Im allerdings, »repräsentieren die Ansichten des Autors und nicht notsogenannten goldenen Zeitalter nahm die Ungleichheit stark wendiger weise die der EZB«. ab«, sagt Baten. Steigende Wachstumsraten waren ein gesamteu© Stephan Kaufmann, Die Reichen sind noch reicher als gedacht, FR vom 17.7.2014, www. ropäisches Phänomen. »Insgesamt gab es eine Überschussnachfr-online.de/wirtschaft/reichtum-in-deutschland-die-reichen-sind-noch-reicher-alsfrage nach Arbeit. Von daher wurde der Faktor Arbeit auch gut gedacht,1472780,27874966.html entlohnt.» Zudem verabschiedete sich die Wirtschaft endgültig von der NS-Zeit und schwenkte wieder auf ihren traditionellen Pfad um: »Die vielen kleinen und mittelgroßen Unternehmen M 4 Niklas Dummer: Bildung ist kein Aufstiegsgarant mehrsenkten die Ungleichheit.« Mit der großen Bildungsexpansion in Amtliche OECD-Studie zur Einkommensverteilung. Wirtden Siebzigerjahren erreichte die Ungleichheit in den Achtzigern schaftswoche, 16.10. 2014, ihren tiefsten Punkt in den vergangenen 200 Jahren. So gleich waren die Einkommen der Deutschen nie wieder verteilt. Ist die Gesellschaft heute gerechter als im 19. Jahrhundert – und geht es Seit der Globalisierungswelle nimmt die Ungleichheit bis heute unden Menschen besser? Diese Fragen wollten Wirtschaftshistoriker in einer gebrochen zu. »Der Trend geht wieder hin zu größeren Unternehumfangreichen Studie beantworten. Mit ernüchterndem Ergebnis. men, und die Löhne von weniger qualifizierten Arbeitnehmern steDie Einkommen in Deutschland waren im Jahr 2000 genauso unhen weiterhin unter Abwärtsdruck«, sagt Baten. (…) Zudem führe gleich verteilt wie 1820. Zu diesem Schluss kommt die Anfang Okdie Globalisierung nicht per se zu einer ungerechteren Einkomtober 2014 veröffentlichte OECD-Studie »How Was Life? Global mensverteilung, wie das skandinavische Beispiel zeigt. Der gestieWell-Being Since 1820« – zumindest auf den ersten Blick gene Wettbewerbsdruck durch die Öffnung der Arbeits- und KapiRückblick. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war Deutschland getalmärkte sei nur ein Faktor, der zu einer höheren Ungleichheit prägt von der Agrarwirtschaft. Auf großen landwirtschaftlichen führe. Baten: »Sehr viel entscheidender für Deutschland ist, dass der Besitztümern ließen Lehnsherren ländliche Arbeiter und KleinLeistungsgedanke im Bildungssystem in den Siebzigern und Achtbauern ihren Wohlstand erwirtschaften, vor allem in den östlizigern phasenweise abhanden kam.« Besonders schädlich sei das chen Landesteilen. De facto hat die Ungleichheit seit dem für die Schüler aus weniger bildungsnahen Elternhäusern gewesen. 19. Jahrhundert jedoch abgenommen. »Der Grund dafür ist die © Niklas Dummer: Bildung ist kein Aufstiegsgarant mehr, Wirtschaftswoche, 18.10.2014, heute weitaus höhere Staatsquote«, sagt Jörg Baten, Wirtschaftswww.wiwo.de/politik/deutschland/oecd-studie-zur-einkommensverteilung-bildung-isthistoriker der Universität Tübingen und einer der Autoren der Stukein-aufstiegsgarant-mehr/10840568.html die. Wer im 19. Jahrhundert arm war, der litt nach schlechten Ern- D&E Heft 69 · 2015 Die Verteilung des gesell schaf tlichen Reicht ums 25 Michael HartMann M 7 Das Vermögen der Deutschen M 6 Philip Plickert: Wer wird Millionär?, FAZ vom 25.7.2012 26 Der Armuts- und Reichtumsbericht hat eine neue Umver teilungsdebatte angefacht. Sozialer Aufstieg ist schwieriger geworden. Richtig reich werden vor allem Unternehmer. Vom Tellerwäscher zum Millionär – dies klischeehafte Bild vom sozialen Aufstieg stand Generationen von Amerikanern vor Augen, auch wenn der Traum für viele mittlerweile verblasst. In Deutschland waren die Aufbaujahre nach dem Krieg eine goldene Zeit. Tatkräftige Unternehmer legten im »Wirtschaftswunder« den Grundstein für große Vermögen. In den sechziger und siebziger Jahren gab die Bildungsexpansion, der erleichterte Zugang zum Studium, nochmals einen Schub zu mehr sozialer Mobilität. Doch seit einigen Jahren schwindet der Optimismus. Mehr und mehr wird eine wachsende, unüberwindliche Kluft zwischen Arm und Reich beklagt. Parteien und Organisationen von links fordern mehr Umverteilung, Vermögenssteuern und – abgaben, um Geld der Reichen abzuschöpfen. Doch wer sind eigentlich die Millionäre, wie sind sie zu ihren Vermögen gekommen? Rund 920.000 Deutsche besitzen derzeit mehr als eine Million Euro Vermögen. Wolfgang Lauterbach, Soziologieprofessor an der Universität Potsdam, hat eine repräsentative Umfrage unter Wohlhabenden mit Kapitalvermögen von mehr als 200.000 Euro gemacht – die obersten 3 Prozent der Vermögenspyramide. Es sind nicht die Superreichen, eher »millionaires next door«, wie Lauterbach sagt. Das Ergebnis der Umfrage: Rund zwei Drittel sind als Unternehmer tätig. 30 Prozent hatten eine Erbschaft gemacht, 7 Prozent hatten einen reichen Mann oder eine reiche Frau geheiratet. Aber das war selten der einzige Grund für ihr Vermögen. Mehr als 55 Prozent der Befragten gab an, »in erster Linie durch Arbeit reich geworden« zu sein. Wichtig ist vor allem der unternehmerische Wagemut, sagt Lauterbach. »Die das Risiko eingehen, ein Unternehmen aufzubauen, das sind diejenigen, die wirklich zu den ganz Reichen aufsteigen können.« Auf rund 12 Billionen Euro schätzt die Bundesbank das Gesamtvermögen der Deutschen. Trotz der Krise ist es von 2007 bis 2010 um 1,4 Billionen Euro gestiegen. Das Vermögen setzt sich aus Immobilien und Grundstücken sowie Sachkapital in Unternehmen und zu kleineren Teilen aus Finanzvermögen sowie Lebensversicherungen und anderem zusammen. Die Verteilung ist ungleich: Wenigen Haushalten gehört sehr viel; vielen gehört wenig. Westdeutsche Haushalte haben mehr Vermögen als die im Osten, Männer mehr als Frauen, die Älteren mehr als die Jüngeren. Der Anteil des Gesamtvermögens, den das oberste Zehntel besitzt, stieg innerhalb eines Jahrzehnts von 45 auf 53 Prozent. Die reichere Hälfte der Bevölkerung © FAZ – Infografk vom 25.7.2012 zum Artikel von Plickert: Wer wird Millionär? hat sogar 99 Prozent des Gesamtvermögens, die andere Hälfte besitzt dagegen kein nennenswertes Vermögen. Die Zahlen, die das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) aus der Haushaltsbefragung des Sozioökonomischen Panels (Soep) errechnet hat, finden sich im neuen Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Schon der Entwurf, der bekannt wurde, hat eine heftige Verteilungsdebatte ausgelöst. Die gespreizte Einkommensentwicklung »verletzt das Gerechtigkeitsempfinden der Bevölkerung und kann den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährden«, heißt es im Vorwort des Berichts. Weiter hinten fügten die Beamten des Sozialministeriums den brisanten Satz ein: Die Bundesregierung prüfe »ob und wie über die Progression in der Einkommensteuer hinaus privater Reichtum für die nachhaltige Finanzierung öffentlicher Aufgaben herangezogen werden kann«. Das war Wasser auf die Mühlen von SPD, Grünen und Linkspartei, die schon seit längerem eine höhere Belastung der Reichen fordern. Die obersten 10 Prozent der Bestverdiener zahlen mehr als die Hälfte der Einkommensteuer, doch das reicht diesen Parteien nicht. Sie fordern höhere Spitzensätze und Substanzabgaben. (…) Zunehmend gerät auch die Masse des zu vererbenden Reichtums in den Blick: In diesem Jahrzehnt werden Vermögen für rund 2,6 Billionen Euro vererbt, errechnete eine Studie des Deutschen Instituts für Altersvorsorge, ein Fünftel mehr als im vergangenen Jahrzehnt. »Wir erleben jetzt die Weitergabe der Vermögen der Wirtschaftswunder-Generation an die Erben«, sagt Reichtumsforscher Lauterbach. Im Durchschnitt geht es je Erbfall um gut 300.000 Euro. Die Verteilung ist aber ähnlich ungleich wie bei den Vermögen: Nur 0,2 Prozent der Erbschaften sollen mehr als 250.000 Euro ausmachen, darunter auch Vermögen von zig- oder gar hundert Millionen. © www.faz.net/aktuell/wirtschaft/wirtschaftspolitik/umverteilungsdebatte-wer-wirdmillionaer-11914941.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2 Die Verteilung des gesell schaf tlichen Reicht ums D&E Heft 69 · 2015 M 8 »Wir lassen unser ganzes Geld in der Firma«. Interview mit Nicola LeibingerKammüller, Chefin des Werkzeugmaschienherstellers Trumpf in Ditzingen bei Stuttgart. Manager Magazin spezial 2014 Manager Magazin (mm): Frau Leibinger-Kammüller, Sie gehören zu den 10 Prozent Reichen, die mehr als die Hälfte des gesamten Vermögens in diesem Land besitzen. Können Sie nachvollziehen, dass viele Menschen dieses Ungleichgewicht als ungerecht empfinden? Leibinger-Kammüller: Ich habe den Eindruck, dass Gerechtigkeit in unserem Land oft mit Gleichheit gleichgesetzt wird. Wir Menschen sind aber nicht alle gleich. Es gibt Begabte und weniger Begabte, es gibt Fleißige und Faule, manche haben mehr, manche weniger Glück. mm: Und es gibt diejenigen, denen alles in den Schoß gefallen ist. 56 Prozent der Vermögenden in Deutschland haben ihren Reichtum geerbt. Ist das noch zu vermitteln? Leibinger-Kammüller: Ich halte es für eine wesentliche Antriebsfeder menschlichen Handelns, Vermögen zu bilden und es an die Kinder weiterM 9 Nicola Leibinger-Kammüller, Vorsitzende der Geschäftsführung der Trumpf GmbH + Co. KG. geben zu wollen. Außerdem wäre es gefährlich, Trumpf gehört zu den weltweit größten Anbietern von Werkzeugmaschinen, Firmensitz: Ditdas Vermögen der Erben rigoros zu besteuern. zingen bei Stuttgart, © dpa. picture alliance Dann werden jene, die die Wirtschaft antreiben, das Land verlassen. mm: Sie tun so, als gäbe es unter den Vermögenden nur Leibinger-Kammüller: … und die Armen immer ärmer, wollen Sie arbeitsplatzschaffende Gutmenschen. Dabei sehen Sie über den Jetset jetzt wahrscheinlich ergänzen? hinweg, der sein Erbe verjuxt. mm: So lässt es sich aus der Statistik ablesen. Leibinger-Kammüller: Erstens: Wenn Sie anfangen, überall dort Leibinger-Kammüller: Ich bezweifle diese These. Schauen Sie die Steuern zu erhöhen, wo Sie Geldausgeben für unvernünftig sich doch um: Soweit ich weiß, hatten noch nie so viele Menschen halten – oje, ein weites Feld! Wir haben nun mal ein Recht auf EiArbeit wie jetzt. Es geht vielen Menschen hierzulande sehr gut, gentum. Zweitens: Sie sprechen die Minderzahl der Fälle an. Wir nicht nur den Vermögenden. und auch viele andere Familienunternehmen lassen praktisch ihr mm: Fakt ist, dass die Zuwächse bei den Vermögenden höher ausfallen. gesamtes Geld in der Firma. Wir entnehmen so gut wie keine GeAuch die Familie Leibinger mehrt von Jahr zu Jahr mit den Gewinnen ihres winne, sondern nutzen unser Kapital, um das Unternehmen weiUnternehmens ihren Besitz. In welcher Form geben Sie der Gesellschaft terzuentwickeln, um Wachstum zu schaffen – und übrigens auch, etwas zurück? um sehr viel Steuern zu zahlen. Leibinger-Kammüller: Ich habe es eben gesagt: Unser Vermögen mm: Beim Betriebsübergang auf die nächste Generation wird in der Resteckt in der Firma, und wir schaffen damit Arbeitsplätze. Trumpf gel keine Erbschaftssteuer fällig. Wer sich aber mit Arbeit etwas Wohlbeschäftigt 11.000 Menschen, das ist das höchste gesellschaftlistand schafft, wird in der Spitze mit fast 50 Prozent besteuert. Wäre es che Engagement, das man eingehen kann. Im Übrigen engagienicht ein Leistungsanreiz, wenn der Staat das Einkommen niedriger und ren wir uns als Familie, als Unternehmen und auch über unsere Erbschaften höher besteuern würde? Stiftung kulturell, wissenschaftlich und sozial. Leibinger-Kammüller: Was die Erbschaftssteuer angeht: Da wird mm: Die Trumpf-Gruppe gehört zu 100 Prozent den Leibingers – also Ihsicherlich eine Veränderung kommen, das haben die Richter am ren Eltern und den drei Geschwistern, die insgesamt zehn Kinder haben, Bundesverfassungsgericht ja schon angedeutet. Es wäre aber für und der Bertold-Leibinger-Stiftung. Wie stellen Sie sicher, dass die Firma Wirtschaft und Arbeitsplätze am besten, wenn die Änderungen auch in der nächsten Generation, wenn der Gesellschafterkreis deutlich möglichst gering ausfielen. Nur fürchte ich, dass auch die Erbangewachsen ist, im Eigentum der Familie bleibt? schaftssteuer wieder so ein Thema wird, bei dem man uns UnterLeibinger-Kammüller: Für jeden ist grundsätzlich ein Rückzug nehmen immer mehr auferlegt, so nach der Devise: Das schaffen aus dem Gesellschafterkreis möglich: es könnte ja sein, dass eines die schon. Mir fällt dazu die Geschichte mit der Ziege auf der der Kinder keine Bindung zur Firma spürt. (…) Wer Gesellschafter Schwäbischen Alb ein: Kennen Sie die? werden will, muss fachlich und charakterlich geeignet sein. Das mm: Noch nicht. haben wir in unserem Familienkodex festgeschrieben. (…) Leibinger-Kammüller: Also, ein Bäuerle muss sparen und gibt damm: Haben Sie auch geregelt, wie der Nachwuchs in die Firma einsteigen her seiner Ziege immer weniger Futter. Und gerade, als er der kann? Ziege das Fressen ganz abgewöhnt hat, stirbt sie. Zu blöd. Wie die Leibinger-Kammüller: Wir verlangen ein abgeschlossenes StuZiege kommen wir Unternehmer uns manchmal vor. dium, vorzugsweise mit Promotion. Er oder sie muss sich in einem mm: Ein bisschen Futter müssen Sie dem Staat schon auch zugestehen. Er anderen Unternehmen bewährt haben, sollte Erfahrungen im braucht dringend Geld für den Infrastrukturausbau und das Bildungssystem. Ausland gemacht haben und erkennen lassen, dass da wirkliche Leibinger-Kammüller: Natürlich muss der Staat in diesen BereiFähigkeiten sind, um Verantwortung in der Firma zu übernehmen. chen mehr tun. Aber er hat doch aktuell unwahrscheinlich hohe Wobei wir mit Fähigkeiten nicht nur Managementwissen meinen, Steuereinnahmen. Ich habe gelegentlich Zweifel, ob er sie effizisondern auch moralische Integrität. ent oder auch nur effektiv einsetzt – wenn ich etwa an den Berli© Manager Magazin spezial: »Die reichsten Deutschen«, 2014, darin: »Wir lassen unser ner Flughafen denke. (…) ganzes Geld in der Firma«, Interview mit Nicola Leibinger-Kammüller. mm: Wir sprachen über die Vermögensverteilung in Deutschland: Seit den 90er Jahren werden die Reichen immer reicher … D&E Heft 69 · 2015 Die Verteilung des gesell schaf tlichen Reicht ums 27 BRICHT EUROPA AUSEINANDER? REICHTUM UND ARMUT IN EUROPA. 4. A rmut in Europa: Trends und Risikogruppen ROLAND VERWIEBE/ NINA-SOPHIE FRITSCH I 28 n der sozialwissenschaftlichen Armutsforschung wird vielfach die Position vertreten, dass die Vermeidung von Elend und Armut ein zivilisatorisches Minimum ist, welches für entwickelte Gesellschaften verbindlich sein sollte. Armut ist ein Seismograf für den sozialen Zustand einer Gesellschaft: inmitten einer Wohlstandsgesellschaft stellt sie das Wirtschafts- und Sozialsystem in Frage, gefährdet die politische und soziale Legitimation eines Sozialstaats und weist auf Verwerfungen in der weiteren Gesellschaft hin (Bäcker et al. 2008: 356). Trotz dieser gesellschaftlichen Brisanz liegt der Schwerpunkt europäischer Analysen traditionell vor allem auf der Schichtung der erwerbstätigen Kernbevölkerung (Arbeiter, Angestellte, Selbstständige, Manager). Die Lebenssituation der unteren Bevölkerungsschichten und Menschen am Rand der Gesellschaft wurden viele Jahrzehnte kaum thematisiert. Die Erforschung von Armut war daher lange nur ein Thema der RandgruppenforAbb. 1 In der Stuttgarter Leonhardskirche, der ältesten Vesperkirche Deutschlands, werden täglich rund schung. Die sozialwissenschaftliche Litera600 bis 800 Mahlzeiten angeboten. © Thomas Niedermüller, dpa, picture alliance, 14.1.2013 tur ist bisher davon ausgegangen, dass in erster Linie jene Personen von Armut bewürde danach derjenige leben, »dessen Mittel zu seinen Zwecken troffen sind, die nicht oder nicht ausreichend in den Arbeitsnicht zureichen. Dieser rein individualistische Begriff verengt sich für markt integriert sind. Im Wesentlichen zählen hierzu Arbeitsseine praktische Anwendung dahin, dass bestimmte Zwecke als der willlose, Obdachlose, Pensionäre und Alleinerziehende. kürlichen und bloß persönlichen Setzung enthoben gelten. (…) Vielmehr Allerdings zeigen aktuelle Forschungen auch, dass Armut jedes allgemeine Milieu und jede besondere soziale Schicht besitzt typiheute nicht mehr ausschließlich ein Problem am unteren Rand sche Bedürfnisse, denen nicht genügen zu können Armut bedeutet« (Simder Gesellschaft, sondern sich durch die »Entgrenzung soziamel 1908: 369). ler Risiken« (Groh-Samberg/Hertel 2010) zu einem Phänomen entWeiter bedeutet Armut nach Simmel ein Herausfallen aus traditiwickelt, mit dem auch Bevölkerungsgruppen konfrontiert onellen Bindungen, Schichten und Milieus. Armut wird erst sichtwerden, die traditionell nicht von Armut betroffen waren. bar für den Betroffenen und die Gesellschaft, wenn symbolische Damit ist Armut erst in den letzten zwei Jahrzehnten auch zu Zuschreibungen erfolgen. Dies geschieht durch die Zuweisung einem Kernthema der Sozialstruktur- und Ungleichheitsforvon wohlfahrtsstaatlichen Leistungen und den damit einhergeschung geworden, was eine Fülle nationaler und internationahenden Klassifikationsprozessen: ler Publikationen belegt. »Das Annehmen einer Unterstützung rückt also den Unterstützten aus den Voraussetzungen des Standes heraus, sie bringt den anschaulichen Beweis, dass der formal deklassiert ist. (.…) deshalb ist er im sozialen Sinne erst arm, wenn er unterstützt wird. Und dies wird wohl allgemein Historische und theoretische Betrachtungen gelten: soziologisch angesehen ist nicht die Armut zuerst gegeben und daraufhin erfolgt Unterstützung (…), sondern derjenigen, der UnterstütDie Beschäftigung mit Armut und sozialer Ausgrenzung gehört zung genießt, bzw. sie nach seiner soziologischen Konstellation genießen seit der Gründungsphase der Disziplin zu den Kernthemen der sollte – auch wenn sie zufällig ausbliebt –, dieser heißt der Arme. (…) Der Soziologie. Bereits im 19. Jahrhundert findet sich bei sozialwisArme als soziologische Kategorie entsteht nicht durch ein bestimmtes senschaftlichen Klassikern ein Bezug auf das Thema Armut, etwa Maß von Mangel und Entbehrung, sondern dadurch, dass er Unterstütbei Marx (»Lumpenproletariat«) oder bei Toqueville (»Pauperiszung erhält oder sie nach sozialen Normen erhalten sollte.« (Simmel mus«). Eine erste allgemeinere theoretische Betrachtung von Ar1908: 371). mut, auf die auch heute noch Bezug genommen wird, legte im Es ist wichtig festzuhalten, dass Simmel mit dieser ArmutskonJahr 1906 Georg Simmel vor. Die zentrale Frage in Simmels bahnzeption die Basis für fast alle späteren Studien gelegt hat. Auch in brechenden Arbeiten war, wie Armut definiert werden kann (Simden aktuellen Armutsstudien wird in der Regel ein relativer Bemel 1906, 1908). In diesen Arbeiten unterscheidet Simmel zwei griff von Armut verwendet. Was heute als Armut gilt, wird in der Armutsbegriffe: »Arm sein« und »Armut«. Simmel spricht von eiForschung jedoch nicht einheitlich gehandhabt. Es existiert eine nem »relativistischen Charakter des Armutsbegriffs«. In Armut Vielzahl von Armutsbegriffen und Verwendungskontexten. Die Armut in Europa D&E Heft 69 · 2015 wichtigste definitorische Unterscheidung ist die zwischen absoluter Armut und relativer Armut: (1) Von absoluter Armut redet man, wenn Menschen nicht über die zur physischen Existenzsicherung notwendigen Güter wie Nahrung, Kleidung und Wohnung verfügen. Diese Form der Armut dominiert nach wie vor in vielen Ländern des globalen Südens, ist aber in Deutschland und den anderen westlichen Industriestaaten weitestgehend überwunden. (2) Relative Armut bemisst sich am allgemeinen Lebensstandard einer konkreten Referenzgesellschaft. Das durchschnittliche Einkommensniveau oder die durchschnittliche Ausstattung mit Wohnraum, eine durchschnittliche sozial-kulturelle Integration dienen hier unter anderem als Vergleichsmaßstab. Das relative Armutskonzept geht prinzipiell über rein monetäre Gesichtspunkte bei der Bemessung von Armut hinaus. »Armut liegt nach diesem Verständnis dann vor, Abb. 2 »Armut hat immer Konjunktur!« © Heiko Sakurai, 29.10.2014 wenn Menschen das sozialkulturelle Existenzminimum einer Gesellschaft unterschreiten« (Bäcker Unterschiedliche Messkonzepte zur Bestimmung et al. 2008: 357). von Armut Auch die Europäische Union verwendet seit Anfang der 1980erJahre einen relativen Armutsbegriff: »The poor shall be taken to mean Beim Ressourcenansatz steht die Ausstattung von Personen oder persons, families and groups of persons whose resources (material, cultuHaushalten mit Einkommen im Mittelpunkt. Das Einkommen eiral and social) are so limited as to exclude them from the minimum accepner Person oder eines Haushaltes gilt dabei als ein für die Armutstable way of life in the member state in which they live.« (European bestimmung passender Indikator, da Einkommen einen univerCommission 1984) Dieser Armutsbegriff der EU ist auch leitend sellen Charakter hat und zur Kompensation von Defiziten in für die Armutsberichterstattung der Bundesregierung – beivielen Lebensbereichen herangezogen werden kann. Verwendet spielsweise im Armuts- und Reichtumsbericht (BMAS 2012). werden unterschiedliche Grenzwerte zur Bestimmung von ArUm die bislang vorgestellten Überlegungen zusammenzufassen, mutspopulationen. In Armut leben diejenigen, deren Einkommen können die folgenden Punkte hervorgehoben werden: Armut wird nicht ausreicht, um die Güter und Dienstleistungen zu erwerben, in der Regel als relatives Phänomen bezeichnet bzw. wird mit redie zur Abdeckung eines sozialkulturellen Existenzminimums erlativen Messkonzepten erfasst und bezieht sich auf einen gesellforderlich sind. Es ist dabei üblich, einen Grenzwert von 50 % des schaftlich etablierten Lebensstandard einer konkreten Referenznationalen Median-Einkommens zu verwenden. Bei einem gesellschaft. In Armut lebende Personen haben als Mitglieder Schwellenwert von 40 % spricht man von einer strengen Armutseiner Gemeinschaft einen Anspruch auf Unterstützung. Durch die grenze. Einen Schwellenwert von 60 % nutzt man in der Regel, Gewährung von sozialpolitischen Leistungen vollziehen sich symwenn Armutsgefährdung dargestellt werden soll. Die meisten Pubolische Klassifikationen, Zuschreibungen und Abwertungen. blikationen der Armutsforschung beruhen noch immer auf dem Armuts- und Sozialpolitik hat damit zwei Funktionen: VerbesseRessourcenansatz. Die Anwendung des Ressourcenansatzes ist rung von Integration und Teilhabe sowie Exklusion und Deklassieallerdings nach Ansicht von Bäcker et al. (2008: 357) nicht unprorung. Kronauer (Kronauer 2002: 151) schlägt im Rahmen der Exblematisch, »da der Handlungsspielraum eines Haushalts nicht nur klusionsdebatte drei grundlegende Ausgrenzungsdimensionen durch die Ressource Einkommen, sondern auch durch weitere Ressourcen für eine umfassende Analyse von Armut vor: Marginalisierung am wie Vermögen (zum Beispiel Wohneigentum), schulische und berufliche Arbeitsmarkt, Einschränkung der sozialen Beziehungen (bis hin Qualifikation (Humankapital), soziale Einbindung (Sozialkapital) und zur sozialen Isolation) sowie Reduzierung von Lebenschancen und Verfügung über Zeit bestimmt wird.« Lebensstandard. In der europäischen Sozialforschung ist ab Mitte/Ende der 1980erAusgehend von diesen theoretischen Argumenten belegen zahlJahre die mehrdimensionale Armutsforschung wichtig geworden: reiche wissenschaftliche Analysen die steigende Relevanz von »A strong case can be made for the notion that poverty and social excluArmut- und Armutsrisiken in modernen Wissensgesellschaften sion are inherently multidimensional concepts (…) even if income were the und deren Beeinflussung von unterschiedlichen Lebensbereikey determinant. (…) The factors affecting income at the household level chen, z. B. in Hinblick auf eine möglicherweise verminderte soziand its distribution at the societal level are extremely complex, encomale Teilhabe und die Einschränkung sozialer Beziehungen (Kropassing most obviously the way the labour market, education and (…) nauer 2002). Dabei stellt sich auch die Frage, mit welchen transfer systems are structured. Poverty in the highly complex societies of besonderen persönlichen Konsequenzen und Einschnitten arthe industrialised world (…) can only be understood by taking a variety of mutsgefährdete oder in Armut lebende Personen konfrontiert causal factors and channels into account.« (Nolan/Whelan 2007: 147f.) sind. Wie stabil sind deren familiäre Situation und partnerschaftDer multiple Lebenslagenansatz hat in dieser Spielart der Arlichen Beziehungen? Und was bedeutet es für Kinder und Jugendmutsforschung einen großen Stellenwert erlangt. In diesem liche, in einem von Armut betroffenen Haushalt aufzuwachsen? Ansatz wird Armut nicht nur mit einer Analyse des verfügbaren Diese wissenschaftlichen Analysen arbeiten teilweise mit sehr Einkommens erfasst, sondern zusätzlich im Hinblick auf die unterschiedlichen Messkonzepten. Diese sollen im Folgenden Ausstattung auf weitere wichtige Ressourcen und Güter der Levorgestellt werden. bensführung. Der Lebenslagenansatz fragt danach, ob bei der Versorgung der Menschen mit Nahrung, Bekleidung, Wohnraum, oder Leistungen des Gesundheits- und Sozialwesens Min- D&E Heft 69 · 2015 Armut in Europa 29 Roland Verwiebe/ Nina-Sophie Fritsch Abb. 3 Armutsgefährdungsquote in der EU vor und nach sozialstaatlichen Transfers (Tabelle 1) Typologie Konservative Wohlfahrtsstaaten Sozialdemokratische Wohlfahrtsstaaten Mediterrane Wohlfahrtsstaaten Liberale Wohlfahrtsstaaten liberal orientierte, postsozialistische Wohlfahrtsstaaten 30 Länder vor Sozialtransfers nach Sozialtransfers 1995 2005 2011 2013 1995 2005 2011 EU-15 26,0 25,5 26,1 26,2 17,0 15,7 16,2 2013 – Belgien 27,0 28,3 27,8 26,3 16,0 14,8 15,3 15,1 Deutschland 22,0 23,1 2,1 24,4 15,0 12,2 15,8 16,1 Österreich 24,0 25,5 27,1 25,9 13,0 12,6 14,5 14,4 Frankreich 26,0 26,0 24,7 24,2 15,0 13,0 14,0 13,7 Luxemburg 25,0 23,8 27,2 29,4 12,0 13,7 13,6 15,9 Dänemark – 29,9 28,4 28,1 10,0 11,8 13,0 12,3 Finnland 23,0 28,0 27,4 26,4 8,0 11,7 13,7 11,8 Schweden – 28,7 27,9 27,1 – 9,5 14,0 14,8 10,4 Niederlande 24,0 21,7 20,9 20,8 11,0 10,7 11,0 Griechenland 23,0 22,6 24,8 28,0 22,0 19,6 21,4 23,1 Spanien 27,0 24,5 30,0 30,0 19,0 20,1 22,2 20,4 Italien 23,0 23,4 24,4 24,6 20,0 18,9 19,6 19,1 Portugal 27,0 25,7 25,4 25,5 23,0 19,4 18,0 18,7 Zypern – 21,7 23,5 24,3 – 16,1 14,8 15,3 15,7 Malta – 20,1 23,2 23,3 – 14,3 15,6 Irland 34,0 32,3 39,6 – 19,0 19,7 15,2 – UK 32,0 30,6 30,5 30,1 20,0 29,0 16,2 15,9 2013 2000 2005 2011 2013 2000 2005 2011 Estland 26,0 24,2 24,9 25,4 18,0 18,3 17,5 18,6 Lettland 22,0 25,8 26,8 26,0 16,0 19,4 19,0 19,4 Litauen 23,2 26,1 30,2 30,3 17,0 20,5 19,2 20,6 Tschechien 18,0 21,2 18,0 16,6 8,0 10,4 9,8 8,6 Slowakei – 21,9 19,5 20,1 – 13,3 13,0 12,8 Slowenien 18,0 25,9 24,2 25,3 11,0 12,2 13,6 14,5 Ungarn 17,0 29,4 28,9 26,3 11,0 13,5 13,8 14,3 Polen 30,0 29,8 24,1 23,0 16,0 20,5 17,7 17,3 Bulgarien 18,0 17,0 27,4 26,7 14,0 14,0 22,2 21,0 Rumänien 21,0 – 29,1 27,8 17,0 – 22,2 22,4 EU-27 – 26,0 26,3 25,8 – 16,4 16,9 16,6 © Daten nach Eurostat (2015); Angabe von Armutsquoten in %; Armutsgefährdungsquote vor sozialstaatlichen Transfers: Anteil von Personen mit einem verfügbaren Einkommen unter 60% des nationalen Median-Äquivalenzeinkommens; Grundlage ist das verfügbare Haushaltsäquivalenzeinkommen nach Abzug von Einkommens-, Vermögenssteuern und Sozialabgaben sowie unter Berücksichtigung von Transfers zwischen Haushalten. Renten/Pensionen werden als Einkommen vor Sozialtransfers gezählt. Armutsgefährdungsquote nach sozialstaatlichen Transfers: Anteil von Personen mit einem verfügbaren Einkommen unter 60% des nationalen Median-Äquivalenzeinkommens unter Berücksichtigung von Sozialtransfers (z.B. Wohngeld, Kindergeld). Anmerkung: die Angaben für 1995 beruhen auf ECHP-Daten, ab 2004 auf EU-SILC-Daten. Die Unterteilung in die Wohlfahrtsstaatstypen orientiert sich an Esping-Andersen (1990), Ferrera (1996) sowie Mau/Verwiebe (2009, 2010). deststandards erreicht werden. Der Lebenslagenansatz berücksichtigt darüber hinaus, ob die Menschen ausreichend am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben partizipieren. Dies betrifft so zentrale Bereiche wie Arbeit, Bildung, Freizeitgestaltung, soziale Beziehungen und Information (Bäcker et al. 2008: 357). Im Lebenslagenansatz werden ebenfalls Grenzwerte zur Festlegung von Armut verwendet. Armut wird in der Regel als eine Unterversorgung in mindestens zwei zentralen Lebensbereichen definiert. Auch der sogenannte Deprivationsansatz enthält ein mehrdimensionales Konzept von Armut. Armut wird hier als mangelnde Teilhabe und Ausgrenzung konzeptualisiert. Das Konzept der relativen Deprivation wurde von Peter Townsend entwickelt und erstmals in seiner Studie über »Poverty in the United Kingdom« (1979) umgesetzt. Er definiert relative Deprivation als: » … the absence or inadequacy of those diets, amenities, standards, services and activities which are common or customary in society. People are deprived of the conditions of life which ordinarily define membership of society. If they lack or are denied resources to obtain access to these con- Armut in Europa ditions of life and so fulfill membership of society, they are in poverty.« (Townsend 1979: 915) Der Deprivationsansatz bündelt demnach Vorstellungen von der Versorgungslage eines Haushaltes (mit Versorgungsgütern, Gebrauchsgütern und Dienstleistungen), von soziokulturellen Mindeststandards und dem allgemeinen Wohlfahrtsniveau einer Gesellschaft. Diese allgemein anerkannten Standards werden nicht durch von Sozialwissenschaftlern oder Sozialpolitikern festgelegte Grenzen definiert. Es wird vielmehr mit Hilfe von großen Bevölkerungsumfragen ermittelt, welche Elemente der Lebensführung aus Sicht der Bevölkerung tatsächlich zu einem notwendigen Lebensstandard dazuzählen. Allen Abgrenzungsvorschlägen in der Armutsforschung ist gemeinsam, dass sie von Werturteilen abhängig sind: »Jede Armutsdefinition ist damit letztlich politisch-normativer Natur.« (Boeckh et al. 2006: 265) Dieser Umstand hat zur Folge, dass die wissenschaftliche und politische Diskussion um die Existenz und das Ausmaß von Armut in modernen Gesellschaften immer kontrovers verlaufen wird. »Je nach der Definition von Armut und der Bestimmung der Armutsgrenzen kann dabei der Kreis der Armutsbevölkerung enger oder D&E Heft 69 · 2015 weiter gesteckt werden. Eine bewusste Eingrenzung des Kreises relativiert die Armutsproblematik und kann dazu dienen, die tatsächlichen sozialen Verhältnisse zu verdecken, während eine bewusst weite Fassung des Kreises den Blick auf die eigentlich Betroffenen verstellen kann.« (Bäcker et al. 2008: 359) Stabilität und Dynamik von Risikogruppen Unabhängig von den unterschiedlichen Messkonzepten sind bestimmte Personengruppen häufiger von Armut betroffen als andere. Die Forschung zeigt, dass die Risiken in Armut zu geraten, nicht gleich verteilt sind. Unterschiede in der Armutsgefährdung bestehen zum Beispiel zwischen Männern und Frauen. Von zentraler Bedeutung sind hier die jüngsten Veränderungsprozesse in der ökonomischen Sphäre: Die Erwerbsbeteiligung von Frauen in Österreich hat in den Abb. 4 Obdachlose in Athen mit Schildern »Wir haben keine Slogans, wir haben Forderungen!« letzten Jahren deutlich zugenommen (Euro © dpa. picture alliance, 14.4.2013 stat 2015). Dieser Anstieg ist in erheblichem Maße mit einer Ausweitung von gering enterhöhten und potentiell ansteigenden Risiken zu rechnen, unter lohnter (Teilzeit-) Arbeit im Dienstleistungssektor verbunden. Die die Armutsgefährdungsschwelle zu fallen. ohnehin bestehende geschlechtsspezifisch ungleiche Verteilung Die Weiterentwicklung der Armutsforschung von der Randgrupvon Löhnen und Gehältern verstärkt sich dadurch und lässt auf penforschung hin zu einem Kernbereich der Sozialstruktur- und eine erhöhte Armutsgefährdung bei erwerbstätigen Frauen Ungleichheitsforschung ging auch mit methodischen Fortschritschließen. ten einher. Die Armutsforschung der 1970er- und 1980er-Jahre beZudem sind jüngere und ältere Personen verstärkt mit Armutsrisischrieb Armut mit Querschnittsanalysen in der Regel als dauerhafken konfrontiert. Diese Arbeitsmarktkohorten gehören zu denjeten Zustand. In der neueren Armutsforschung wird inzwischen, auf nigen, »die nicht fest im Erwerbsleben verankert sind bzw. sich an den der Grundlage von Trend- und Längsschnittstudien, zunehmend Rändern des Arbeitsmarktes oder in unsicheren Beschäftigungsverhältnachgewiesen, dass Armut für viele Menschen »nur« eine Episode nissen befinden und besonders durch Verlagerungen von Marktrisiken zu im Lebenslauf ist und von Betroffenen auch aktiv bewältigt werihren Ungunsten betroffen« sind (Blossfeld et al. 2008: 36). So lassen den kann. Zugleich reicht Armut als (vorübergehende) Lebenslage sich Teilzeittätigkeiten, befristete Beschäftigung und unterund latentes Risiko bis in mittlere soziale Schichten hinein und ist schiedliche Spielarten der »Neuen Selbstständigkeit« (Scheinnicht mehr ausschließlich auf traditionelle Randgruppen beselbstständige, Werkvertragsbeschäftigte, Freie Dienstnehmer) grenzt. Damit ist das Phänomen der Armut zunehmend verzeithäufig in diesem Arbeitsmarktsegment finden. Personen ohne licht, individualisiert und in einem gewissen Maße auch sozial entoder mit nur geringen beruflichen Qualifikationen zählen ebengrenzt. Armutserfahrungen haben einen Anfang, eine Dauer, falls zu den besonders gefährdeten Gruppen am Arbeitsmarkt. einen bestimmten Verlauf und in den meisten Fällen auch ein Sie sind stärker im Niedriglohnsegment vertreten und eher von Ende. Das ist keine Entwarnung, so Leibfried und Kollegen (1995: Arbeitslosigkeit betroffen. Eine erhöhte Armutsgefährdung von 14f.), die sozialpolitische Aufgabe Armutsbekämpfung hat nichts niedrigqualifizierten Personen resultiert in Teilen auch aus den an Aktualität verloren. Dadurch, dass Armut temporalisiert ist und sich rasch ändernden Anforderungen einer technologie-basierten auch mittlere soziale Schichten betrifft, sind mehr Menschen von Informations- und Wissensgesellschaft. So zeigt eine Reihe von Armut betroffen, als man dies mit den Studien der 1980er-Jahre geinternationalen Studien, dass sich durch den technologischen zeigt hat. Zugleich hat sich an der schicht- und klassenspezifiWandel die Nachfrage nach hoch qualifizierten Arbeitskräften erschen Risikostruktur der Armutsgefährdung in den letzten Jahren höht hat, während die nach weniger qualifizierten Arbeitskräften wenig geändert (Groh-Samberg 2004, 2009). gesunken ist, was in der Arbeitsmarktforschung unter der Überschrift »skill biased technological change« (SBTC) diskutiert wird. Aus Studien ist weiterhin bekannt, dass Armutsrisiken bei ErEmpirische Betrachtungen: Armut und werbstätigen, die nicht im Inland geboren wurden, besonders Sozialpolitik in Europa hoch sind. Durch eine schwierige Integration in den Arbeitsmarkt, teilweise mangelnde Sprachkenntnisse und Diskriminierungen Vor dem Hintergrund dieser konzeptionellen Erörterungen sollen seitens der Arbeitgeber ist ein potentiell wachsender Zusammenin den folgenden Abschnitten die Armutsrisiken in Deutschland hang von Migrationshintergrund und Armutsrisiko zu erwarten. mit denen in den anderen Mitgliedsländern der Europäischen Von den Veränderungen am Arbeitsmarkt sind Migranten und MiUnion verglichen werden. Dabei wird auf Indikatoren zurückgegrantinnen viel stärker betroffen als Personen ohne Migrationsgriffen, die sich am Ressourcenansatz der Armutsforschung orihintergrund. Für die Untersuchung von Armutsrisiken ist schließentieren. Daten, die entsprechend dem Lebenslagenansatz oder lich auch die Ebene des Haushaltes zu berücksichtigen. Denn der dem Deprivationsansatz erhoben wurden, liegen als europäische strukturelle Wandel und die Pluralisierung von Familien- und Levergleichende Statistiken für einen längeren Untersuchungszeitbensformen stehen in einem engen Wechselverhältnis mit den raum nicht vor. In (| Abb. 3 |) werden Armutsgefährdungsquoten ökonomischen Restrukturierungen. Viele Familien mit Kindern vor und nach sozialstaatlichen Transfers aufgeführt. geraten durch die Veränderungen am Arbeitsmarkt zunehmend Der empirische Vergleich stützt sich dabei auf etablierte Klassifiunter Druck. Besondere Risikogruppen stellen daher Alleinerziekationskonzepte. Die Untersuchung von Armutsquoten auf eurohende und kinderreiche Familien dar. Für beide Gruppen ist mit D&E Heft 69 · 2015 Armut in Europa 31 Roland Verwiebe/ Nina-Sophie Fritsch Abb. 5 »Ach ja, das sind unsere Armutsrisikogruppen!« 32 päischer Ebene legt aus zwei Gründen nahe, sich mit Konzepten zur Klassifikation von unterschiedlich verfassten Gesellschaften auseinander zu setzen: Zum einen bietet die Verwendung von Typologien die Möglichkeit, durch Abstrahierung analytische und heuristische Klarheit zu erzeugen. Zum anderen verlangt insbesondere die vergleichende Perspektive eine intensive Beschäftigung mit der Wirkung, die institutionelle Rahmenbedingungen (z. B. die unterschiedliche Ausgestaltung sozialer Sicherungssysteme) auf die Lebensbedingungen von Personen und Haushalten haben (Lohmann 2007). Gerade in den bekannten sozialwissenschaftlichen Gesellschaftskonzepten wird diesem Aspekt ein besonderer Stellenwert eingeräumt. Einen interessanten ersten Anknüpfungspunkt bietet in diesem Kontext die Literatur der vergleichenden Wohlfahrtsstaatenforschung, in der in den letzten zwei Jahrzehnten zunächst vor allem die Typologie von Gøsta Esping-Andersen (1990; 1999) zentrale Bedeutung erlangt hat. Mit der Einteilung in liberale, sozial demokratische und konservative Wohlfahrtsregimes hebt er die Unterschiedlichkeit der institutionellen Arrangements mit differierenden Wohlfahrtszielen und Ausmaßen an öffentlichen Unterstützungsleistungen der einzelnen Länder hervor. Die Klassifikation erfolgt entlang der Dimensionen Dekommodifizierung, Stratifizierung durch Sozialpolitik und dem Verhältnis von Familie, Staat und Markt (Esping-Andersen 1990: 21ff.). Ausdifferenzierungen, Adaptierungen und Ergänzungen bilden sich im Zuge der Transformationen zunehmend stärker heraus. Aktuell verfügen mehr als ein Viertel der europäischen Bevölkerung über ein Einkommen (vor Sozialtransfers), welches nur ein Leben unterhalb der Armutsgrenze ermöglicht. In einigen osteuropäischen Staaten (u. a. Litauen, Lettland, Ungarn, Bulgarien, Rumänien) ist die Armutsgefährdung besonders stark sichtbar. Innerhalb Westeuropas ist sie vor allem in Irland, Großbritannien und Spanien hoch. Deutschland weist, ähnlich wie Österreich, Slowenien oder Frankreich, eine mittlere bis leicht unterdurchschnittliche Armutsgefährdungsquote auf. Eine vergleichsweise niedrige Armutsgefährdung vor sozialstaatlichen Transfers findet sich z. B. in den Niederlanden und in Tschechien. Im Hinblick auf die Armutsrisiken nach sozialstaatlichen Transfers findet sich auf der einen Seite eine Gruppe von Ländern, die einen relativ geringen Bevölkerungsanteil aufweisen, der nach sozialstaatlichen Transfers ein verfügbares Einkommen unterhalb der Armutsgefährdungsschwelle aufweist. Das sind Länder, in denen durch Sozialpolitik Armutsrisiken deutlich reduziert werden. Zu dieser Ländergruppe gehören die sozialdemokratisch geprägten Länder Skandinaviens, Österreich und Luxem- Armut in Europa burg mit einem eher konservativ geprägten Wohlfahrtsstaat, aber auch Ungarn und Tschechien. Auf der anderen Seite stehen Länder, bei denen nach sozialstaatlichen Transfers etwa ein Fünftel der Bevölkerung von Armut bedroht ist. Zu dieser Gruppe gehören Staaten mit einem liberalen-postsozialistischen oder mediterranen Wohlfahrtssystem (Lettland, Litauen, Spanien, Griechenland, Rumänien und Bulgarien). Eine geringe Wirkung sozialpolitischer Interventionen lässt sich in Bulgarien und Rumänien sowie in dem mediterranen Krisenstaat Griechenland beobachten. Deutschland weist, nach sozialstaatlichen Transfers, eine im europäischen Vergleich durchschnittliche Armutsgefährdung auf: etwas mehr als 16 % der Bevölkerung galten im Jahr 2013 als armutsgefährdet. Dies ist in der Gruppe der konservativen Wohlfahrtsstaaten der höchste Wert. Die Zeitreihen in (| Abb. 3 |, | Tabelle 1 |) zeigen, dass sich die © Gerhard Mester, 2014 Armutsrisiken nach sozialstaatlichen Transfers in den EU-Mitgliedsländern unterschiedlich entwickelt haben. In den meisten osteuropäischen Staaten ist das Armutsrisiko in den letzten Jahren zum Teil deutlich angestiegen. Für Osteuropa kann dies als die Kehrseite der gesellschaftlichen Transformations- und Modernisierungsprozesse und als ein Ausdruck eines weit verbreiteten liberalen Wohfahrtsverständnis verstanden werden. Auch in Dänemark, Schweden und Finnland stieg der Bevölkerungsanteil, der nach sozialstaatlichen Transfers ein verfügbares Einkommen unterhalb der Armutsgefährdungsschwelle aufweist, was möglicherweise mit einem Rückgang der Sozialausgaben in den Jahren zwischen 2000 und circa 2005/06 (Mau/Verwiebe 2010: 56ff.) und der Reduktion von Wohlfahrtsprogrammen in einem Zusammenhang steht. Im Fall von Deutschland bestätigt sich mit den aktuellsten verfügbaren Zahlen ein langfristiger Trend des Wachstums der Bevölkerungsgruppen, die von Armut bedroht sind. Die Zeitreihen, die Geißler (2006: 203ff.) verwendet, legen einen kontinuierlichen Anstieg von Armutsrisiken seit Mitte der 1970er-Jahre nahe. In den 1990ern und ersten 2000er Jahren hat sich dieser Anstieg noch einmal verstärkt (BMAS 2005, 2008, 2012). In einigen europäischen Staaten ist die Armutsgefährdung nach sozialstaatlichen Transfers, entgegen dem allgemeinen Trend, zwischen 1995 und 2013 sogar gesunken. Zu diesen Ländern gehören z. B. Großbritannien, Portugal und Frankreich. Risikogruppen: Struktur der Armut in Europa Die Armutsforschung hat in der Vergangenheit immer wieder gezeigt, dass ein Blick auf die spezifische Risikostruktur der Armutsgefährdung wichtig ist (u. a. Groh-Samberg 2004; Lohmann 2007; Verwiebe 2011a). Dazu werden in der Regel Armutsrisiken verschiedener sozialer Gruppen betrachtet. Solche Daten sind seit einigen Jahren auch für den innereuropäischen Vergleich verfügbar. Einige der hier wichtigsten Gruppen sind in (| Abb. 6 |, | Tabelle 2 |) dargestellt. Aufgeführt sind die Armutsquoten nach Sozialtransfers für Alleinerziehende, kinderreiche Familien, Arbeitslose, ältere Menschen (+65 Jahre) und unterschiedliche Bildungsschichten. Welche Befunde und Trends sind hier besonders erwähnenswert? Zunächst deuten die Zahlen in Tabelle 2 auf ein besonderes Armutsrisiko von Alleinerziehenden hin (vgl. Eggen/Rupp 2006; Grabka/Frick 2010). Dieses ist mehr als doppelt so hoch (EU-27, 2011: 36,6 %) wie für den Durchschnitt der EU-Bevölkerung (vgl. | Tabelle 1 |). Besonders stark sind Alleinerziehende im Baltikum, in Rumänien sowie in Luxemburg und Malta von Armut bedroht D&E Heft 69 · 2015 Abb. 6 Hauptsächlich von Armut betroffene Gruppen nach Sozialtransfers (Tabelle 2) Konservative Wohlfahrtsstaaten Sozialdemokratische Wohlfahrtsstaaten Mediterrane Wohlfahrtsstaaten Alleinerziehende mit Kindern Familien mit drei oder mehr Kindern 1995 2005 2011 1995 über 65-Jährige 2005 2011 1995 2005 2011 Arbeitslose 1995 2005 Bildungsniveau (ISCED, 2011) 2011 0–2 3–4 5–6 EU-15 37,0 30,4 36,9 26,0 22,1 23,9 19,0 19,8 16,3 40,0 37,4 45,1 23,5 13,7 7,6 Belgien 31,0 33,2 38,5 13,0 19,6 16,7 21,0 21,4 20,2 34,0 30,9 38,1 22,5 11,5 6,0 Deutschland 48,0 25,8 37,1 23,0 11,6 16,2 18,0 13,4 14,2 38,0 40,9 67,7 27,9 15,2 8,0 Österreich 28,0 27,0 26,2 24,0 20,0 23,0 15,0 14,3 16,0 32,0 46,9 40,5 21,0 9,5 6,1 Frankreich 30,0 25,6 33,9 23,0 20,1 22,1 17,0 16,4 9,7 34,0 29,5 36,7 21,7 12,9 7,1 Luxemburg 25,0 33,1 45,5 20,0 20,7 25,7 12,0 7,8 4,7 – 48,8 42,4 21,2 10,9 4,9 Dänemark – 20,9 20,8 – 13,8 11,7 – 17,6 16,0 – 26,8 29,0 13,8 14,1 10,1 Finnland 7,0 20,3 21,9 7,0 11,1 15,2 10,0 18,7 18,9 19,0 35,6 43,4 19,0 15,9 4,7 Schweden – 20,4 35,9 – 9,7 15,4 – 10,1 18,2 – 26,9 38,5 19,9 12,5 9,2 Niederlande 40,0 26,8 33,9 17,0 19,9 19,1 6,0 5,4 6,5 18,0 27,9 33,4 14,2 11,1 6,9 Griechenland 23,0 43,5 33,4 22,0 32,7 26,7 34,0 27,9 21,3 35,0 32,6 44,3 29,3 19,4 5,9 Spanien 29,0 37,3 38,9 31,0 36,0 41,6 13,0 29,3 20,8 37,0 34,8 40,6 28,8 17,3 10,4 6,3 Italien 28,0 35,4 37,3 31,0 34,5 37,2 16,0 22,6 16,6 48,0 44,2 43,9 23,9 13,2 Portugal 44,0 31,5 27,9 46,0 42,0 34,5 34,0 27,6 20,0 30,0 28,6 35,9 19,9 10,9 2,5 Zypern 41,0 35,2 24,8 16,0 14,1 16,1 – 50,3 41,2 – 37,1 39,7 19,7 10,8 5,6 Malta – 36,1 47,2 – 26,1 32,2 – 23,4 18,1 – 44,3 43,3 17,5 7,6 3,2 Liberale Wohlfahrtsstaaten Irland 46,0 45,2 30,2 32,0 25,9 20,4 17,0 32,8 10,6 37,0 47,1 26,7 22,9 15,9 9,0 UK 55,0 37,9 36,4 36,0 28,0 27,4 30,0 24,8 21,4 52,0 53,9 47,7 26,4 15,5 7,9 2000 2005 2011 2000 2005 2011 2000 2005 2011 2000 2005 2011 0–2 3–4 5–6 liberal orientierte, postsozialistische Wohlfahrtsstaaten Estland 37,0 39,8 34,2 23,0 25,1 25,4 16,0 20,3 33,9 50,0 60,0 52,1 31,2 20,8 7,9 Lettland 31,0 31,2 38,8 26,9 38,7 37,4 6,0 21,2 47,5 41,0 58,5 49,8 36,0 21,1 6,2 Litauen 20,0 48,4 42,4 25,0 44,4 33,1 14,0 17,0 25,2 36,0 62,8 53,1 42,8 22,1 9,0 Tschechien 26,0 41,0 35,6 18,0 24,7 23,9 6,0 5,3 6,6 30,0 51,1 46,4 22,0 8,5 3,1 Slowakei – 31,8 25,0 – 24,2 29,8 – 7,1 7,7 – 39,2 41,2 26,8 10,8 4,6 Slowenien 21,0 22,0 30,8 10,0 16,6 18,2 21,0 20,3 20,9 42,0 25,1 44,6 21,3 11,5 3,5 Ungarn 28,0 27,1 29,9 27,0 26,0 33,0 8,0 6,5 4,5 32,0 49,7 46,7 32,0 10,9 3,0 Polen 26,0 40,1 29,8 30,0 44,8 34,6 8,0 7,3 14,7 38,0 45,6 43,7 33,4 17,8 4,7 Bulgarien 31,0 30,6 37,7 51,0 64,9 71,1 15,0 18,0 33,4 31,0 46,7 47,8 45,1 11,9 2,7 Rumänien 26,0 42,5 40,0 34,0 54,8 54,7 17,0 – 21,0 30,0 34,0 51,7 44,9 15,6 2,1 – 31,4 36,6 – 25,9 25,8 – 18,9 16,0 – 39,7 45,2 25,0 13,7 7,0 EU-27 © nach: Eurostat (2015); Angabe von Armutsquoten in %; *2006, +2009, die aktuellsten verfügbaren Angaben für EU-15, EU-27, Irland, Griechenland, Italien, Großbritannien, Zypern, Slowakei stammen aus 2010, restliche Länder aus 2011. (Quoten von circa 40 %). Das sind insofern hohe Werte, als sozialstaatliche Transfers bei den Angaben bereits berücksichtigt wurden. Wesentlich günstiger ist die Situation von Alleinstehenden mit Kindern zum Beispiel in Finnland, Dänemark oder Österreich. Deutschland liegt mit einer Armutsquote von 37 % knapp über den EU-Durchschnitt. Ferner verweisen die Eurostat-Daten für den Zeitraum zwischen 1995 und 2011 auf recht unterschiedliche Trendentwicklungen. In Ländern wie Deutschland, Frankreich oder auch den Niederlanden steigt das Armutsrisiko für Alleinerziehende seit dem Jahr 2000 wieder an, nachdem es zuvor deutlich gesunken war. In anderen westeuropäischen Ländern nimmt die Armutsgefährdung der Alleinerziehenden hingegen kontinuierlich ab, Beispiele hierfür sind Großbritannien und Irland, Ländern die noch 1995 das mit höchste Armutsniveau aufwiesen. In den osteuropäischen Staaten sehen wir eine andere Dynamik: die Armutsgefährdung von Alleinerziehenden hat in den letzten zehn Jahren substantiell zugenommen. Familien mit drei oder mehr Kindern sind ebenfalls erhöhten Armutsrisiken ausgesetzt. Im EU-27-Durchschnitt weist diese Bevölkerungsgruppe im Jahr 2011 eine Armutsgefährdungsquote nach Sozialtransfers von 26 % auf. Besonders problematisch ist die Situation von kinderreichen Fa- D&E Heft 69 · 2015 milien in Ländern mit einem mediterranen und post-sozialistischen Wohlfahrtsstaat: In Portugal, Italien, Spanien, Litauen, Lettland, Polen und Ungarn sind drei bis vier von zehn kinderreichen Familien von Armut bedroht. Geradezu dramatisch ist die Lage dieser Familien in Bulgarien und Rumänien (71 % bzw. 55 % Armutsquote). Vergleichsweise günstig ist die Situation in den skandinavischen Wohlfahrtsstaaten und in Deutschland, wo zwischen 12 % und 16 % der kinderreichen Familien ein erhöhtes Armutsrisiko tragen. Dies entspricht im Prinzip dem Armutsrisiko des Bevölkerungsdurchschnitts in diesen Ländern (vgl. | Abb. 3 |, | Tabelle li |). Ein Blick auf zeitliche Trends zeigt ferner: zwischen 1995 und 2011 nahmen die Armutsrisiken kinderreicher Familien im europäischen Durchschnitt ab. Die Entwicklung innerhalb der Länder verläuft dabei nicht gleich. In Ländern wie Deutschland, Österreich, Großbritannien oder Irland beobachten wir in diesem Zeitraum eine Verringerung des Armutsrisikos von kinderreichen Familien. Eine teilweise massenhafte Verarmung von kinderreichen Familien findet in den letzten zehn Jahren in Spanien, Bulgarien und Rumänien statt. Ältere Menschen gehören traditionell zu den besonders mit Armut konfrontierten Gruppen in modernen Gesellschaften (Geißler 2006). Die vorliegenden Armut in Europa 33 Roland Verwiebe/ Nina-Sophie Fritsch 34 27 bei sieben Prozent in Deutschland bei acht Prozent. Personen mit mittleren Bildungsabschlüssen (ISCED 3–4) weisen demgegenüber höhere Armutsrisiken auf. Sie liegen jedoch in den meisten EU-Staaten unter den jeweiligen nationalen Armutsrisikoquoten. Überdurchschnittlich hohe Armutsquoten sind für Personen mit geringen Qualifikationen beziehungsweise für Personen ohne formale Bildungsabschlüsse (ISCED 0–2) zu beobachten. Dies zeigt sich in einigen liberalen und mediterranen Wohlfahrtsstaaten sowie im Baltikum, Bulgarien und Rumänien. Auch für Deutschland ist mit einer Quote von 28 Prozent ein relativ hohes Armutsrisiko für gering Qualifizierte zu beobachten. In den sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaaten ist die ArAbb. 7 Knapp ein Viertel der Bevölkerung in der Europäischen Union war im Jahr 2013 von Armut oder sozialer mutsgefährdung von MenAusgrenzung bedroht. Das geht aus den Daten der Statistikbehörde Eurostat hervor. schen mit geringer Bildung © Grafik: Sven Stein, Dr. Raimar Heber; dpa, Globus-Infografik sehr viel schwächer ausgeZahlen machen allerdings deutlich, dass in den meisten westeuprägt: In Dänemark besitzt diese Bevölkerungsgruppe Armutsriropäischen Staaten die Armutsrisiken der über 65-jährigen in den siken, die so hoch sind wie im Bevölkerungsdurchschnitt. letzten Jahren gesunken sind. Deutschland ist beispielhaft in dieser Hinsicht: Das Armutsrisiko von Senioren lag im Jahr 2011 bei Fazit 14 %, 1995 war noch knapp jeder Fünfte über 65-jährige von Armut betroffen. Die Gründe für diesen Rückgang sind vielfältig. GeDer vorliegende Beitrag zeichnet insgesamt ein sehr facettenreinannt werden können u. a. die Einführung/Erhöhung von Minches Bild von Armut und Ausgrenzung in Deutschland und Eudesteinkommen, die Erhöhung von Renten sowie die Verlängeropa. Wie ließe sich nun eine Kontextualisierung der deutschen rung der Lebensarbeitszeit/spätere Renteneintritte (European Armutstrends vor dem Hintergrund der europäischen EntwickCommission 2007: 21). Sehr viel problematischer ist die Lage der lung der letzten Jahre abschließend vornehmen? Die aktuell verälteren Menschen in einigen osteuropäischen Ländern. Vor allem fügbaren Statistiken zeigen, dass die deutschen Armutsgefährin Bulgarien und im Baltikum ist die Altersarmut in den letzten dungsquoten im europäischen Mittelfeld liegen. Im Vergleich zu zehn Jahren drastisch gestiegen (Fuchs/Offe 2009; Zaidi et al. anderen Ländern sorgt ein immer noch gut funktionierender 2006). Beispiele für eine gute Absicherung von Senioren gegen Wohlfahrtsstaat für einen Ausgleich sozialer Schieflagen. Die Altersarmut sind Ungarn, Tschechien und die Slowakei. Trendanalysen belegen allerdings auch, dass die abfedernde WirArbeitslose haben das höchste Armutsrisiko aller betrachteten kung der sozialstaatlichen Transferleistungen in den letzten Jahsozialen Gruppen. Im Durchschnitt der bisherigen Kernunion verren abnimmt und damit jene Bevölkerungsgruppe wieder größer fügen vier bis fünf von zehn Arbeitslosen über ein Einkommen unwird, die mit ihrem Einkommen unter die Armutsgrenze fallen. terhalb der Armutsgefährdungsschwelle. Besonders hoch ist das Armut ist damit für einen nicht unwesentlichen Teil der deutschen Armutsrisiko für Arbeitslose in Deutschland sowie in GroßbritanBevölkerung ein ernstzunehmendes Problem. nien, den baltischen Staaten, Bulgarien und Rumänien. Als SpitAuf der Ebene der Binnenstrukturen kann folgendes Bild gezeichzenreiter in dieser Kategorie sind in Deutschland 68 % der Arnet werden: Die überdurchschnittliche Armutsgefährdung von beitslosen stark armutsgefährdet, im Jahr 2010 lag dieser Wert kinderreichen Familien und von Senioren – wie sie in vielen südsogar bei über 70 %, gegenüber dem Zeitraum der Mitte der und osteuropäischen Staaten virulent ist – ist in Deutschland in 1990er Jahre (Quote von 38 %) ist dies eine deutliche Zunahme. den letzten Jahren etwas zurückgegangen. Bei den spezifischen Die Armutsrisiken sind in Deutschland aktuell für Arbeitslose Armutsrisiken unterschiedlicher Bildungsschichten liegt mehr als viermal so hoch wie für den Durchschnitt der BevölkeDeutschland ebenfalls im Bereich des europäischen Durchrung. Was sich hier an sozialen Risiken zeigt, ist ein Ergebnis der schnitts. Bei den Alleinerziehenden ist zunächst zwischen 1995 wohlfahrtsstaatlichen De-Regulierungen der letzten Jahre (Stichund 2005 eine positive Entwicklung zu beobachten, die sich allerwort Hartz-Reformen). Dänemark und die Niederlanden sind wiedings in den letzten fünf bis sechs Jahren wieder in sein Gegenteil derum Beispiele für eine im europäischen Maßstab vergleichsverkehrt hat. Eklatant ist die sich deutlich verschlechternde Situweise niedrige Armutsgefährdung von Arbeitslosen. In Hinblick ation der Arbeitslosen in der Bundesrepublik. Es gibt nicht annäauf die Armutsrisiken unterschiedlicher Bildungsschichten bestähernd ein anderes europäisches Land, in dem die Situation der tigen die Zahlen in (| Abb. 6 |, | Tabelle 2 |) etablierte Befunde aus Erwerbslosen so schlecht ist wie in Deutschland. In diesem Zuder Sozialstrukturforschung, nach denen es einen engen Zusamsammenhang sind Politik und Öffentlichkeit gut beraten, sich menhang zwischen Bildungskapital und sozialer Lage gibt (Alldiesem Problem wieder mehr zu stellen und Auswirkungen der mendinger 1999; Geißler 2006). Konkret zeigt sich, dass Europäer Arbeitsmarktreformen der letzten Dekade ein Stück weit stärker mit tertiären Bildungsabschlüssen (ISCED 5–6) sehr geringe Arin den Blick zu nehmen. Es drohen sonst weitergehende soziale mutsrisiken haben. Sie lagen im Jahr 2011 im Durchschnitt der EU- Armut in Europa D&E Heft 69 · 2015 Verwerfungen, spätestens dann, wenn die derzeit sehr geringe Arbeitslosigkeit bei konjunktureller Abkühlung wieder auf ein Niveau steigt, wie es für eine lange Phase um die Jahrtausendwende typisch war. Literaturhinweise Allmendinger, J. (1999): Bildungsarmut. Zur Verschränkung von Bildungs- und Sozialpolitik. Soziale Welt, 50 (1): 35–50. Allmendinger, J./ Podsiadlowski, A. 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Eurostat (2015): Population and social conditions. http://epp.eurostat.ec.europa.eu/portal/page/ portal/statistics/themes, 05/01/2015. Abb. 8 Rund 6,7 Millionen Menschen leben nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit von Hartz IV, mehr als 1,7 Millionen von ihnen sind Kinder. Seit 2005 hat sich an dieser Zahl kaum etwas geändert. Nur in Bayern und Baden-Württemberg sind im Durchschnitt weniger als zehn von je 100 Kindern auf Hartz IV angewiesen. © dpa, picture alliance 2010 Frick, J. R./ Grabka, M. M. (2005): Zur Entwicklung der Einkommen privater Haushalte in Deutschland bis 2004: Zunehmender Einfluss von Arbeitslosigkeit auf Armut und Ungleichheit. DIW-Wochenbericht, 72 (28): 429–436. Fritsch, N. et al. (2014): Arbeitsmarktflexibilisierung und wachsende Niedriglohnbeschäftigung in Österreich. Eine Analyse von Risikogruppen und zeitlichen Veränderungen. Österreichische Zeitschrift für Soziologie, (Im Erscheinen). Geißler, R. (2006): Die Sozialstruktur Deutschlands. Wiesbaden: VS. 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Wenn auch unterschwellig, so knüpften CSU, Städtetag und viele Medien in ihrer Darstellung der Zuwanderer dabei auch an die tradierten Klischees und Negativbilder über Roma und Sinti an. Bilder von heruntergekommenen Romasiedlungen in Skopje oder Bukarest bestimmten die Berichterstattung ebenso wie die Müllberge vor dem »Roma-Haus« in DuisburgRheinhausen oder dem Mannheimer Jungbusch. Dabei hat diese Art der öffentlichen Debatte eine lange Tradition: Bereits 1990 dokumentierte Der Spiegel die negativen Reaktionen der Mehrheitsgesellschaft und die Probleme im kommunalen Raum rund um die »Asyl- und Armutszuwanderung« der südosteuropäischen »Zigeuner«. Klischees und Fakten über Roma und Sinti in Deutschland Dass solche Darstellungen zu keinem Zeitpunkt die Realität der Zuwanderung wiedergaben, hatte das Institut für Arbeitsmarktund Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit (IAB) bereits frühzeitig deutlich gemacht. Die Experten des IAB konstatierten eine im Rahmen der EU-Freizügigkeit steigende Nettozuwanderung aus Bulgarien und Rumänien auf gut 180.000 Personen, zeichneten aber gleichzeitig ein sehr differenziertes Bild. Trotz teilweise geringer beruflicher Qualifikationen sei die Quote der Leistungsbezieher unterdurchschnittlich. Unter den rumänischen und bulgarischen Beziehern von Arbeitslosengeld-II (Hartz IV) befänden sich überdies überwiegend sogenannte »Aufstocker«, deren Arbeitseinkommen die Lebenshaltungskosten nicht decke. Aufgrund der Datenlage könne der Anteil der Roma und Sinti unter den Zuwanderern nicht präzisiert werden, entspreche aber vermutlich dem Bevölkerungsanteil in den Heimatländern und falle damit nur in wenigen großstädtischen Regionen ins Gewicht (Brücker, Hauptmann, Vallizadeh 2013). Die Debatte des Jahres 2014 wirft ein Schlaglicht auf die Wirkmächtigkeit von Negativvorstellungen über Europas größte Minderheit und blieb keineswegs auf Deutschland beschränkt. Ähnlich gelagerte Diskurse konnten wir zum selben Zeitpunkt beispielsweise auch in Großbritannien oder Frankreich beobachten. Hier zeigt sich eine verbreitete Ablehnung gegenüber Angehörigen der Minderheit, die zuletzt in mehreren repräsentativen Studien bestätigt worden ist. So belegen die Ergebnisse der bisher umfangreisten Erhebung zur Haltung der bundesdeutschen Roma und Sinti Abb. 1 »Asyl in Deutschland? Die Zigeuner« © www.spiegel.de/spiegel/print/index-1990–36.html Gesellschaft gegenüber Roma und Sinti, die im Jahr 2013 im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle des Bundes durchgeführt wurde, die Aktualität altbekannter Feindbilder und ein hohes Maß individueller Ablehnung gegenüber Angehörigen der Minderheit (Antidiskriminierungsstelle 2014). In vergleichbarer Weise offenbaren die Ergebnisse der aktuellen Rechtsextremismus-Studie (»Die stabilisierte Mitte«) der Universität Leipzig einen wachsenden Antiziganismus im Zeitraum zwischen 2011 und 2014 bei gleichzeitiger Abnahme der Zahl an manifest rechtsextrem eingestellten Personen. Dabei gaben 56 % der Befragten an, Roma und Sinti neigten zur Kriminalität und bestätigten damit eines der nachhaltigsten Zerrbilder über die sogenannten »Zigeuner« (Decker, Kiess, Brähler 2014, 49f.). Vergleichbar umfangreiche Studien für andere europäische Länder liegen nicht vor. Allerdings konnte eine Umfrage der Europäischen Kommission aus dem Jahr 2012 zeigen, dass es 34 % aller Europäer und Europäerinnen unangenehm wäre, wenn ihre Kinder im schulischen Kontext Umgang mit Roma hätten. Dabei schwankt die Ablehnung der schulischen Integration zwischen relativ bescheidenen Werten in Nordeuropa oder in Spanien und deutlichen Mehrheiten in der Tschechischen Republik oder in der Slowakei (European Commission 2012). D&E Heft 69 · 2015 37 © Der Spiegel, http://cdn3.spiegel.de/images/image-126052-galleryV9-etlq.jpg Abb. 2 »Roma in Europa« Die Konstruktion von Fremdheitsvorstellungen Stereotype und pauschalisierende Vorstellungen der Mehrheitsbevölkerung gegenüber Roma und Sinti haben selten etwas mit der Lebensrealität der Minderheitsangehörigen zu tun. Dies zeigt sich bereits in der Vielzahl der verwendeten Eigenbezeichnungen. Die unter dem Oberbegriff »Roma« zusammengefassten Bevölkerungsgruppen umfassen die im deutschen Sprachraum ansässigen »Sinti«, die spanischen »Calé«, die französischen »Manouches« oder die Rumänischen beheimateten »Kalderasch«, insgesamt eine Gruppe von 9 bis 12 Millionen Menschen. Die Vielzahl der verwendeten Bezeichnungen spiegelt dabei die Heterogenität der einzelnen Gruppen in Hinsicht auf ihre Kultur, Religion oder Lebensweise wieder. Gemeinsam ist den Angehörigen der Minderheit zumeist allein die Sprache und eine Geschichte der Verfolgung und Ausgrenzung bis hin zur systematischen Erfassung und Ermordung im nationalsozialistischen Deutschland, der ca. 500.000 Roma und Sinti zum Opfer fielen. Der in weiten Teilen der europäischen Mehrheitsbevölkerungen benutzte Begriff »Zigeuner« wird von der Minderheit mehrheitlich als Fremdbezeichnung und gesellschaftliches Konstrukt abgelehnt, das die negativen Bilder über die Minderheit vermittelt. D&E Heft 69 · 2015 Tradierte Fremdheitsvorstellungen wie das Stereotyp vom umherreisenden Nomaden bestimmen auch heute noch die gesellschaftliche Wahrnehmung von Roma und Sinti. Dabei ist die überwiegende Mehrheit der deutschen Sinti schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sesshaft geworden, für Osteuropa gilt dies spätestens seit den 1960er Jahren. Die Prägekraft solcher Fehlwahrnehmungen lässt sich zum einen auf ihre jahrhundertelange Tradition zurückführen, wie dies vor kurzem Klaus-Michael Bogdal in einer umfangreichen Untersuchung zur Darstellung der Minderheit in Literatur und Kunst gezeigt hat. Mit der »Erfindung der Zigeuner« – so Bogdal – erschufen die sich modernisierenden Gesellschaften einen antimodernen Gegenpart und eine Projektionsfläche für eigene Ängste und Unsicherheiten (Bogdal 2011). Markus End hat auf der Grundlage seiner umfangreichen Analysen zur Genese von stereotypen Zuschreibungen darauf hingewiesen, dass selbst positive Bilder wie das des fähigen Musikers antiziganistisch wirken können, indem sie ein undifferenziertes, verklärtes und pauschales Bild der Minderheit reproduzieren, das mit den individuellen Fähigkeiten einer Person nichts zu tun haben muss (vgl. dazu End 2011: 15 ff). Roma und Sinti Uwe Wenzel 38 Einen wesentlichen Beitrag bei der Verfestigung und Fortschreibung von Klischees und Fremdbildern spielt die mediale Berichterstattung. In bemerkenswertem Gleichklang verbreiten Print- wie Bildmedien auch im Kontext der aktuellen Zuwanderung aus Südosteuropa kulturrassistische Vorstellungen über Roma und Sinti. Beispielhaft sei auf die Schweizer Zeitschrift »Die Weltwoche« verwiesen, die im April 2012 unter dem Titel »Die Roma kommen: Raubzüge in die Schweiz« das Foto eines mit einer Spielzeugpistole »bewaffneten« Romajungen veröffentlichte. Gezielt wird damit ein Bedrohungsszenario entworfen, das mit dem Klischee des Diebes und Gauners spielt. Aber auch jenseits der Sensationspresse werden Differenz und Fremdheit fortgeschrieben. So konstatiert beispielsweise der Literaturwissenschaftler und Kolumnist Hans Ulrich Gumbrecht in einem Essay in der Online-Ausgabe der Frankfurter Allgemeinen Zeitung eine grundlegende Differenz zwischen »den Existenz- und Identitätsformen der Roma« und den »globalen westlichen Kulturen« (Gumbrecht 2013). Problematisch sind solche vermeintlich kulturell Abb. 3 »Schätzungen zur Roma-Bevölkerung« gefestigten Gegenüberstellungen insbeson © nach Zahlen von OSI, Unicef, Weltbank, www.berlin-institut.org/newsletter/ dere auch deshalb, da sie ein gesellschaftliNewsletter_106_26_Oktober_2010.html.html ches Miteinander unmöglich erscheinen lasheit leben unbemerkt mit und unter uns, in der gesellschaftlichen sen und die Angehörigen der Minderheit Wahrnehmung spielen sie aber kaum eine Rolle. Im Mittelpunkt letztlich selbst für ihre gesellschaftliche Randstellung verantwortstehen dagegen die Bettler oder Straßenmusiker in unseren Fußlich machen. gängerzonen, also diejenigen, deren Leben durch mannigfaltige In besonderer Weise tragen heute die neuen Medien zur VerbreiFormen gesellschaftlicher Ausgrenzung und Armut gekennzeichtung von negativen Klischees und Hassparolen gegenüber Roma net ist. Erst nach der politischen Wende in Mittel- und Osteuropa und Sinti bei. Auf den etablierten »Hass-Seiten« wie »Politically und der EU-Osterweiterung 2004/2007 gerieten die Millionen Incorrect« finden sich zahlreiche Belege für diffamierende Artikel Roma und Sinti in den Blick der europäischen Öffentlichkeit. Wie über die Minderheit (z. B. über den Besuch des Bundespräsidenkeine andere Minderheit in Europa sind viele von ihnen dort von ten bei einer Selbstorganisation der Roma und Sinti in Mannheim absoluter Armut, Arbeitslosigkeit und Analphabetismus betrofunter dem Titel »Zigeuneronkel Gauck in Mannheim«). In den anfen. In den Zeiten der planwirtschaftlichen Organisation des Arschließenden Kommentarseiten rufen Rechtsextremisten explizit beitslebens vor dem Jahr 1989 waren Roma nicht selten zwangszur Gewalt gegenüber Angehörigen der Minderheit auf. Das Interweise in Bildungssystem und Arbeitsmarkt integriert. Nach dem net dient zudem vermehrt zur Verbreitung von rassistischem ProEnde der kommunistischen Regime führten ihr geringer Bildungspagandamaterial wie dem Songmaterial der verbotenen Rechtsstand und der zunehmende Rassismus dazu, dass sie als erste rockband »Landser«. Deren Song »Zigeunerpack« agitiert in ihre Arbeitsplätze in Industrie und Landwirtschaft verloren (Koch maßloser Weise gegen Roma und Sinti und ist – obwohl indiziert 2010: 270ff.). – über Internetserver in Russland und der Tschechischen RepubDie Ursachen gesellschaftlicher Randstellung sind dabei viellik im Netz jederzeit zugänglich. schichtig: Oftmals verstärken die skizzierten Zerrbilder über die Zeigt sich die Ablehnung von Roma und Sinti auf den »Hass-SeiMinderheit und Diskriminierungen sich wechselseitig und sind für ten« offen und direkt, so agitieren Rechtsextremisten auf den mildie soziale Ausgrenzung verantwortlich. Ausgrenzende Praktiken lionenfach gebrauchten sozialen Plattformen wie Facebook weitkönnen sich aber ebenso auch unabhängig von individuellen Voraus subtiler. Nicht selten erreichen sie eine breite Öffentlichkeit urteilsstrukturen in Form von organisatorischen Routinen instituin den speziellen Diskursforen unter dem Deckmantel legitimen tionell verfestigen (Hormel 2007: 60, 113ff.). Albert Scherr plädiert Bürgerprotests. Beispielhaft ist die Facebookseite »In Den zudem dafür, die Ursachen von Ausgrenzungsprozessen nicht losPeschen 3–5«, auf der sich Besorgnisse über soziale Problemlagen gelöst von den politischen, rechtlichen und sozioökonomischen rund um einen Schwerpunkt der Roma-Zuwanderung in Duisburg Grundstrukturen einer Gesellschaft zu analysieren (Scherr: 36). Aus mit rassistischen Kommentaren vermischen. Nach Hinweisen von dieser Perspektive müssen die ungleichen Zugangschancen von antirassistischen Initiativen wie jugendschutz.net entfernen die Roma und Sinti zu den gesellschaftlichen Statuspositionen immer Seitenbetreiber zwar oftmals diskriminierende Videos oder Artiauch als Ergebnis ihrer sozialen Lage verstanden werden. kel auf solchen Seiten, die rassistischen Kommentare bleiben Ein prägnantes Beispiel für die institutionelle Diskriminierung aber in der Regel online. von Roma und Sinti stellt deren systematische Einweisung in Sonderschulen für Lernschwache durch die zuständigen SchulbehörIndividuelle und institutionelle Formen der den dar. Die »Europäische Agentur für Grundrechte« (FRA) dokuAusgrenzung: Lebensbedingungen von Roma mentierte die überproportional hohen Quoten von Roma-Kindern und Sinti in Deutschland und Europa an Sonderschulen jüngst in einer Studie zu 11 Mitgliedstaaten der EU und führte dies wesentlich auf solche Formen organisatoriDie Vitalität von Stereotypen kann Diskriminierungen befördern, scher Routinen zurück, die auf negativen kulturbezogenen Zubehindert aber häufig auch einen objektiven Blick auf die Lebensschreibungen beruhen. (EU Agency 2014, Koch 2010: 272). Grundrealitäten von Roma und Sinti. Zahlreiche Angehörige der Minderlage solcher Routinen sind negative kulturelle Zuschreibungen Roma und Sinti D&E Heft 69 · 2015 wie die angeblich mangelhaften Bildungsanstrengungen, die pauschal auf alle RomaSchülerinnen und -Schüler angewandt werden. So werden z. B. in der Tschechischen Republik 23 % und in der Slowakei 58 % aller Roma-Schüler in solchen Sonderschulen unterrichtet. Auch in Deutschland haben laut einer jüngeren Erhebung zur Bildungssituation der deutschen Sinti mehr als 10 % der Minderheitenangehörigen eine Förderschule besucht, womit die Quote mehr als doppelt so hoch liegt wie im Rest der Bevölkerung (Strauß 2011: 53). Anzunehmen ist, dass zumindest in der Vergangenheit institutionelle Formen der Diskriminierung den Bildungserfolg von Sinti behindert haben (Brüggemann, Hornberg, Jonusz: 102). Charakteristisch für die Schulsysteme zahlreicher Staaten Ost- und Südosteuropas ist zudem die Segregation der Roma-Schüler in homogenen Klassen Abb. 4 Spielende Kinder im Roma-Viertel Fakulteta in Sofia (Bulgarien) neben einer Müllhalde. oder Schulen, in denen die Kinder nicht sel © Britta Pedersen, 10.4.2013, dpa. picture alliance ten nach einem eigenen Lehrplan und von gering qualifizierten Lehrkräften unterrichzunehmend gewaltbereiten Rechtsextremismus bedroht. tet werden. Europaweite Aufmerksamkeit fand in den Jahren 2008 und 2009 Die statistisch erfassbare Ungleichheit von Roma und Sinti, die zu eine Mordserie, bei der ungarische Rechtsterroristen sechs Angeeinem guten Teil auch Resultat solcher Ausgrenzungsprozesse ist, hörige der Roma-Minderheit töteten und weitere 55 zum Teil zeigt sich in ganz Europa anhand ihrer geringen Bildungserfolge. schwer verletzten. Die juristische Aufarbeitung dieser AnschlagsVerschiedene Untersuchungen der Weltbank, dem Open Society serie wird bis heute durch die Unwilligkeit der politisch VerantInstitute oder von UNICEF zeigen auf, dass in den bevölkerungswortlichen behindert. Amnesty International stellte im April 2014 starken EU-Mitgliedstaaten Rumänien und Bulgarien nicht eineinen Bericht zur rassistischen Gewalt und den Anti-Roma-Promal ein Fünftel bzw. ein Drittel der Roma und Sinti eine Primärbiltesten in Frankreich, der Tschechischen Republik und in Griedung abschließen. Noch dramatischer stellt sich die Situation mit chenland vor. Gemeinsam ist allen drei untersuchten Ländern die Blick auf qualifizierende Abschlüsse dar, die eine angemessene Normalität der Gewalt, die in wachsendem Maße gegen AngehöBeschäftigung ermöglichen: Nach Umfragen der Europäischen rige der Minderheit ausgeübt wird. Polizei und StrafverfolgungsGrundrechteagentur in 11 Mitgliedsstaaten der EU erreichen nur behörden fallen dabei sehr häufig durch Untätigkeit auf oder wer15 % der jungen Erwachsenen unter den Roma und Sinti einen den selbst zu Tätern (Amnesty International 2014). Schulabschluss der Sekundarstufe II oder schließen eine Berufsausbildung ab. In Rumänien, Spanien oder Frankreich erreicht nicht einmal jeder zehnte Angehörige der Minderheit einen solDie Politik der europäischen Institutionen chen berufsqualifizierenden Abschluss (EU Agency 2013: 16). Die gegenüber Roma und Sinti Geringqualifizierung trägt erheblich zur hohen Arbeitslosigkeit unter Roma und Sinti bei (zwischen 20 % in Frankreich und 53 % in Die Europäische Union sowie der Europarat und zahlreiche weiBulgarien). Nicht einmal jeder dritte der befragten Roma und tere internationale Organisationen haben in den vergangenen Sinti gab an, einer bezahlten Beschäftigung nachzugehen. BeJahrzehnten ein umfassendes, aber wenig koordiniertes System sorgniserregend ist dabei insbesondere, dass sich die Perspektivon Schutzrechten und Fördermaßnahmen zugunsten von Euroven für junge Roma und Sinti im Alter zwischen 15 und 24 Jahren pas größter Minderheitengruppe etabliert. Minderheitenschutz zunehmend verschlechtern. Zwischen 58 % in Ungarn und 77 % in für Roma und Sinti bewegt sich dabei bisher in einem Spannungsder Tschechischen Republik haben bisher noch keine Erfahrungen feld zwischen hochgesteckten Ansprüchen und sehr bescheideam Arbeitsmarkt sammeln können. Darüber hinaus machen die nen Resultaten. Berichte der befragten Roma und Sinti über ihre DiskriminieNach dem Ende der politischen Teilung in Europa initiierte rungserfahrungen bei der Arbeitssuche deutlich, dass diskrimizunächst der Europarat mit der »Europäischen Charta für Reginierende Einstellungen und Praktiken in der Mehrheitsbevölkeonal- oder Minderheitensprachen« (1992) und dem »Rahmen rung die Arbeitsaufnahme in hohem Maße behindern (ebd.: 17ff.). übereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten« (1995) Arbeitslosigkeit und Geringqualifizierung haben erheblich dazu grundlegende internationale Abkommen. Roma und Sinti sind in beigetragen, dass Roma und Sinti weit stärker als die jeweiligen der Folge in nahezu allen Mitgliedstaaten als nationale MinderMehrheitsgesellschaften von Armut und schlechter Gesundheitsheit anerkannt worden, woraus sich konkrete Ansprüche auf beversorgung betroffen sind. So leben in den von der FRA untersonderen Schutz und Förderung ihrer Sprache und Kultur ableisuchten Staaten mehr als 90 % der Minderheitsangehörigen in ten. Der Europarat richtete in der Folge eine Reihe von Haushalten, deren Äquivalenzeinkommen unterhalb der ArmutsExpertenkommissionen ein, die sich mit der Beobachtung der grenze des jeweiligen Landes liegt. In Bulgarien, Rumänien und Lage der Roma und Sinti befassen. Darüber hinaus ist der vom der Slowakei lebt eine Mehrheit der Roma und Sinti in separierten Europarat im Jahr 1998 geschaffene Europäische Gerichtshof für Wohnsiedlungen am Rande größerer Städte oder in isolierten Menschenrechte in kurzer Zeit zu einer bedeutenden Anlaufdörflichen Gemeinschaften ohne Zugang zu einer grundlegenden stelle für individuelle Klagen gegen Diskriminierungen geworInfrastruktur (z. B. Strom oder Bad). den und entscheidet heute oft auch zugunsten der Rechte von Die oft katastrophalen Lebensbedingungen und die wohnräumliRoma und Sinti, die den nationalen Klageweg erfolglos ausgeche Segregation tragen dazu bei, die negative Wahrnehmung der schöpft haben. Die Probleme der genannten RahmenvereinbaMinderheit in ihren jeweiligen Heimatländern weiter zu verstärrungen offenbaren sich allerdings regelmäßig in der konkreten ken. Roma und Sinti sehen sich darüber hinaus nicht allein in den Umsetzung auf nationaler Ebene oder, wie im Fall Deutschlands, postkommunistischen Gesellschaften durch einen offenen und D&E Heft 69 · 2015 Roma und Sinti 39 Uwe Wenzel nander und nicht integriert wirken und strukturelle Ungleichheiten kaum in Frage stellen (vgl. dazu kritisch Heuss 2011: 25f.). Selbstorganisationen von Roma und Sinti 40 Roma und Sinti verfügen trotz vielfacher Ansätze weder auf nationalstaatlicher noch auf internationaler Ebene über eine einheitliche politische Vertretung. Unterhalb dieser Ebenen allerdings formieren sich aktuell eine Vielzahl innovativer Selbstorganisationen insbesondere von jungen Roma und Sinti. Die Erfahrungen mit Ausgrenzung und Paternalismus durch Organisationen der Mehrheitsgesellschaft haben im westlichen Nachkriegs Abb. 5 »Gemeinsam Antiziganismus bekämpfen!« Am 25.10.2013 protestierte eine Roma-Gruppe gegen die Politik der europa und später dann auch Bundesregierung vor dem Mahnmal für Sinti und Roma in Berlin Die Demonstration stand unter dem Motto »Schluss mit der in den postkommunistischen rassistischen Hetze gegen Menschen aus Rumänien, Bulgarien und Asylsuchende!«. Gesellschaften die Bildung © Florian Schuh, 25.10.2013, dpa. picture alliance von Eigenorganisationen der Roma und Sinti befördert. in der unterschiedlichen Ausgestaltung der Maßnahmen auf der Die Vielfalt unterschiedlicher Kulturen und Interessen spiegelt Ebene der Bundesländer. sich dabei auch in der Vielfalt der Selbstorganisationen, die sich Die verstärkte Kooperation der EU-Mitgliedsstaaten beim Minnicht selten in Konkurrenz zueinander entwickelt haben. Auf euderheitenschutz zeigte sich erstmals bei der Vereinbarung der ropäischer Ebene haben bereits anfangs der 1970er Jahre Roma Union zur Aufnahme neuer Mitgliedstaaten (Kopenhagener Kriteund Sinti aus ganz Europa im Rahmen der »Internationalen Rorien, 1990). Gemäß diesen Vorgaben haben die ost- und südosteumani Union« erste Aufmerksamkeit für die Belange der Minderropäischen Beitrittsstaaten ein umfangreiches System des Minheit geschaffen, beispielsweise durch ihr Engagement für die Einderheitenschutzes geschaffen, das formal oftmals ein höheres führung eines internationalen Roma-Tages (8. April) und einer Schutzniveau festlegt als in vielen »alten« Mitgliedstaaten. In der eigenen Flagge. Mit dem »European Roma and Traveller Forum« juristischen wie auch in der gesellschaftlichen Praxis wird dies beim Europarat oder dem »European Roma Information Office« aber nur sehr unzureichend realisiert und umgesetzt. Beispielhaft bei der EU existieren heute erste professionalisierte Interessenzeigt sich dies in der Anwendung der Antidiskriminierungsrichtlivertretungen, die allerdings über begrenzte finanzielle Mittel vernie 2000/43/EG der Europäischen Union, mit deren Hilfe Minderfügen und nur unzureichend in der Minderheit verankert sind. heitenangehörige vor Diskriminierungen am Arbeitsmarkt, im Erfolgreicher gestaltet sich heute oft der juristische Kampf für die Bildungsbereich oder bei der Wohnungsvergabe geschützt werDurchsetzung von Antidiskriminierungsgesetzen. So gelang dem den sollen. Dagegen geben befragte Roma und Sinti in Umfragen »European Roma Rights Centre« bereits 2007 vor dem Europäiauch heute noch an, aufgrund ihres ethnischen Hintergrunds disschen Menschenrechtsgerichtshof ein Erfolg bei der Desegregakriminiert worden zu sein (EU Agency 2013: 26). Amnesty Internatition des Schulwesens in der Tschechischen Republik. In ihrem onal beklagt in diesem Zusammenhang die mangelhafte Bereitwegweisenden Urteil erklärten die Obersten Richter die Einweischaft der Europäischen Kommission, die Nichtbeachtung der sung von Roma-Kindern in Sonderschulen für Lernbehinderte für Richtlinie auch gegen Widerstand der Mitgliedstaaten durchzuungesetzlich. setzen (Amnesty International 2014: 29). In Deutschland hat sich aus dem Engagement der Sinti-BürgerJenseits einiger gesetzlicher Vorgaben stellt die EU ihren Mitrechtsbewegung in den 1970er Jahren 1982 der »Zentralrat Deutgliedstaaten im Rahmen ihrer gängigen Programmlinien wie dem scher Sinti und Roma« als Interessenvertretungen der deutschen Europäischen Sozialfonds finanzielle Mittel für die Integration Sinti formiert. Schwerpunkt der Arbeit war zunächst die Anerkenvon Minderheiten zur Verfügung. Zudem hat die EU in einer Vielnung der Sinti als Opfer des NS-Völkermordes durch die Bundeszahl ambitionierte Resolutionen und auf verschiedenen »Romaregierung und die damit verbundene Entschädigungsarbeit zuGipfeln« rein deklamatorische Politik betrieben, die neben einer gunsten der Betroffenen. Die Zuwanderung durch Roma aus den notwendigen öffentlichen Aufmerksamkeit für die Belange der Bürgerkriegsregionen Jugoslawiens, aus Rumänien oder BulgaMinderheit wenig konkrete Resultate produziert hat. Erfolgverrien zu Beginn der 1990er Jahre hat zur Formierung eigener Selbsprechender können internationale Initiativen wie die 2005 auf storganisationen der Roma mit Migrationshintergrund geführt. Anregung der Soros-Stiftung unter Beteiligung von 12 EU-Staaten Eine weitere Pluralisierung des Spektrums ist mit der Gründung lancierte »Dekade der Roma-Integration« agieren, die sich auf eigenständiger Jugendorganisationen von Roma und Sinti in der Maßnahmen in den Schlüsselbereichen Bildung, Wohnen, Gevergangenen Dekade eingetreten. Ausgehend von lokalen und sundheit, und Beschäftigung konzentriert. Die finanzielle Unterregionalen Initiativen engagieren sich Angehörige der Minderheit stützung durch die EU und andere internationale Organisationen oft gemeinsam mit Nicht-Roma in Integrations- oder Kulturprohat zahlreiche erfolgreiche Projekte zur sozialen Inklusion von jekten sowie beim Abbau von Vorurteilen und SelbststigmatisieRoma und Sinti auf den Weg gebracht, die allerdings oft nebeneirungen. Erklärtes Ziel der engagierten Jugendlichen ist die Stär- Roma und Sinti D&E Heft 69 · 2015 kung der Eigeninitiative und damit die Verbesserung der individuellen und kollektiven Teilhabechancen (Brüggemann, Hornberg, Jonusz: 111ff.). Die Förderung und Einbindung von Selbstorganisationen ist eine wesentliche Voraussetzung für die Gleichstellung von Roma und Sinti in Europa. Kurz- und mittelfristig geht es dabei zunächst um die Verbesserung der teils katastrophalen Lebensbedingungen. Die jahrelange Projektpraxis macht deutlich, dass dazu integrierte sozialräumliche Strategien notwendig sind, die die vielfältigen Problemlagen berücksichtigen und wohl zunächst im kommunalen Kontext entwickelt werden sollten. Unabdingbar bleibt daneben eine Antidiskriminierungspolitik, bei der bestehende rechtliche Instrumente von den Verantwortlichen in Politik, Verwaltung oder Justiz konsequent angewandt werden. Der Abbau der jahrhundertealten Klischeebilder der Minderheit kann nur eine langfristige, aber absolut notwendige Aufgabe vor allem der schulischen und der außerschulischen Bildungsarbeit sein. Abb. 6 Sinti und Roma demonstrierten am 13.09.2014 auf dem Schlossplatz in Stuttgart mit Transparenten. Die Bundesregierung erklärte zuvor Serbien, Mazedonien und Bosnien-Herzegowina als »sichere Herkunftsstaaten«. Antragsteller von dort können nunmehr schneller abgewiesen werden. © Bernd Weißbrot, dpa. picture alliance Literaturhinweise Amnesty International (2014): We ask for Justice. Europe’s failure to protect Ro-ma from racist violence. www.amnesty.org/en/library/info/ EUR01/007/2014/en Antidiskriminierungsstelle des Bundes (2014): Zwischen Gleichgültigkeit und Ablehnung. Bevölkerungseinstellungen gegenüber Sinti und Roma. 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Seit wenigen Monaten lebt sie in einem Block im Duisburger Stadtteil Bergheim. 30 Familien, meist Roma aus Rumänien, wohnen dort. Im Treppenhaus stinkt es nach Fäkalien. Vor dem Großbau spielen halbnackte Kinder im Dreck – Tristesse pur im Pott. Ein Flüchtlingstreck hat sich gen Westen aufM 2 Roma-Siedlung in der slowakischen Stadt Presov, aufgenommen im September 2010. Hier blockiert gemacht. Seit die Europäische Union (EU) bis eine Mauer eine schon zuvor unerlaubte Abkürzung von einer Roma-Siedlung durch ein Viertel von ans Schwarze Meer reicht, sind Millionen Einfamilienhäusern ins Stadtzentrum. «Schutz vor Kleinkriminalität» oder «Rassismus»?: Die zwei Roma EU-Bürger. Sie haben das Recht, sich Meter hohe und knapp acht Meter lange Mauer entzweit nicht nur die slowakische Stadt Presov, überall innerhalb der Union niederzulassen. sondern in der Folge die Medien in ganz Europa. © Christoph Thanei, 24.9.2010, dpa. picture alliance Die Mär vom goldenen Westen lockt Menschen wie Placuta Moise zu Zehntausenden aus den Elendsvierteln Bulgariens oder Rumäniens nach Berlin, Frankfurt, Mannheim oder eben in die Prozent hatten keinen Beruf gelernt. Auf dem deutschen ArbeitsStädte an Rhein und Ruhr. 184 Euro Kindergeld zahlt der deutsche markt bleiben Menschen wie Daniela Baba chancenlos. Staat für jeden Sprössling der kinderreichen Neuankömmlinge – © Focus online, 04.03.2013, Axel Spilcker u.a, www.focus.de/politik/deutschland/tidfür Migranten wie Placuta Moise ist das ein kleines Vermögen. In 30010/report-die-armut-kommt_aid_931446.html Rumänien liegt der Monatssatz bei knapp acht Euro. Nach FOCUS-Recherchen bezogen im Januar 2013 insgesamt 12 326 Bulgaren und 15 808 Rumänen in Deutschland Kindergeld. Bei den bulM 3 Die Tageszeitung (TAZ): »Roma, aber glücklich«, garischen Staatsangehörigen kletterte die Rate im Vergleich zu 4.3.2013 2010 um 138 Prozent. Laut der Bundesagentur für Arbeit stieg die Zahl rumänischer Empfänger zwischen April 2012 und Januar 2013 Als ich neulich Roma-Dörfer in der Ostslowakei besuchen wollte, von 11 736 auf 15 808 Personen. (…) Eine Arbeitserlaubnis in war mir schon vor Beginn der Reise fast klar, dass es unmöglich Deutschland besitzen die Zuwanderer nicht. Oft leben sie von sein würde, über Roma in Mitteleuropa zu schreiben. Jetzt, nach Schwarzarbeit und Sozialleistungen. Etliche auch von Gaunemeiner Rückkehr, bin ich mir sicher: Es ist unmöglich. reien, Diebstählen, Einbrüchen – in Metropolen wie Duisburg, Zum einen ist das Thema wie ein Minenfeld. Es ist höllisch schwieDortmund oder Köln steigen gerade die Delikte der Massenkrimirig, Stereotype und Klischees zu umgehen. Zwar wusste ich das nalität. Politiker in Bund und Ländern reagieren meist ratlos. (…) schon, bevor ich mit Kristina Magdolenova vom Roma Media CenSchließlich ist die Not mancher NRW-Städte besonders groß. Im ter in Kosice, Slowakei, gesprochen habe. Trotzdem bestätigte sie Duisburger Roma-Quartier in Bergheim sind die Fenster teils einmeinen Verdacht nachdrücklich. Dass Roma in einem Teufelskreis geschlagen, ein kaputter Fernseher liegt im Hausflur. Der Fußboaus Arbeitslosigkeit und Verelendung gefangen seien, ist das den im Treppenhaus ist klebrig, man tritt auf Kippen und Nusserste und wirkungsvollste Klischee. Ausländische Journalisten Schalen. »Fuck Zigeuner« hat jemand an die Wand gesprayt. Die tappen leicht in diese Falle, weil sie explizit nur die notleidenden städtische Abfallaufsicht patrouilliert täglich, seit ein Müllhaufen Roma aufsuchen – sei es in den Plattenbauten in Kosice, in der in Flammen aufging. Bei der Polizei ist das Roma-Haus als UnterGemeinde Shutka in Skopje oder in den Tausenden anderen Arschlupf von Kriminellen berüchtigt. Knapp 400 Strafverfahren mutsvierteln, die es in Mitteleuropa gibt. laufen gegen seine Bewohner. Meist geht es um Einbrüche, TaWer allerdings über die Not hinausschaut, findet viele integrierte schen- oder Ladendiebstähle. Erst vor einigen Wochen stürmte Roma aus der Unter- und Mittelschicht, die es aus dem Getto hedie Polizei den Wohntrakt. Eine Tür musste aufgehebelt werden. rausgeschafft haben. Wer schreibt über sie? Niemand. Es wäre 256 Bewohner zählte die Polizei im Haus, zum Teil bis zu 17 in einer schließlich nicht fesselnd genug. Das ist nicht alles: Es gibt eine Wohnung. Autos, die vor dem Gebäude parkten, waren auch an nicht unerhebliche Anzahl von Slowaken, Rumänen, Ungarn und Tatorten von Einbrüchen im Ruhrgebiet gesehen worden. anderen, die genauso arm sind. Ihre Abitur- und ArbeitslosenraMit Placuta Moise teilen sich sechs Erwachsene und fünf Kinder ten und ihre Lebensbedingungen unterscheiden sich nicht wedrei Zimmer. Derzeit sitzt eine ihrer Töchter im Gefängnis. Wasentlich von denen der sehr armen Roma. rum, weiß die Mutter nicht, oder sie will es nicht sagen. Ihre Journalisten haben den Auftrag, über die Missstände in Europa zu zweite Tochter Daniela Baba ist gerade 16. Sie hält ihre einjährige berichten. Dass viele Roma in extremer Armut leben müssen, ist Tochter im Arm. Daniela versteht kein Deutsch, sie hat auch keine natürlich ein Missstand. Wer allerdings ausschließlich über die Schule besucht. 2011 gab es eine Umfrage unter Roma in Deutschbesitzlosen Roma schreibt, erhält die Stereotype aufrecht und land. Repräsentativ sind die Zahlen nicht. Aber sie liefern einen vermittelt, dass Roma grundsätzlich notleidend und nicht mehr Hinweis: 13 Prozent der 275 Befragten waren Analphabeten, 69 Roma und Sinti D&E Heft 69 · 2015 als »ein Problem« und hilflose »Opfer« seien, sagt Magdolenova. Werden immer wieder die gleichen Armutsgeschichten publiziert, verstärkt das nur das Vorurteil, dass es keine Lösung für die Not der Roma gebe; vielmehr sieht es so aus, als sei sie ein charakteristisches Merkmal ihrer Ethnizität. (…) Einige Journalisten ahnen das, tappen dafür aber in eine andere Falle: das glänzende NGO-Projekt. Sie reißen sich ein Bein aus, damit ihre Roma-Geschichte kein Schreckensszenario wird – wer würde das lesen wollen? – und mildern sie stattdessen mit einer erfreulichen Nachricht über eine lokale oder internationale Initiative: ein Jugendzentrum, ein Computerkurs oder eine Frauen-Kooperative. Indem M 4 Bundespräsident Joachim Gauck hörte am 7.11.2013 in Mannheim Schülern der Neckarschule beim Singen der Schulder Journalist die enthusiashymne zu. Gauck besuchte Mannheim, um sich über die Situation der Sinti und Roma und die Zuwanderung aus Bulgatischen Mitarbeiter des Prorien und Rumänien zu informieren. © Uwe Anspach, dpa. picture alliance jekts und einige teilnehmende Roma zitiert, wird die Geschichte natürlich überwältigend positiv. Bisher seien viele dieser Projekte gefloppt, tschechische Roma vor ein paar Jahren geschrieben habe? Hat sagt Magdolenova. Tatsächlich führen sie nicht dazu, dass sich sich die Situation verschlimmert? Sich irgendetwas verändert? die Lebensbedingungen der Roma in irgendeiner Weise verbesOder ist es nur eine neue Version des Altbekannten? Ich könnte sern. »Am Ende gibt es viele begeisterte Artikel über Projekte, ehrlich sagen, dass es praktisch das Gleiche ist; oder lügen und die niemandem helfen«, sagt sie. Sie erwecken den Eindruck, über einen glücklichen Roma-Musiker oder eine erfreuliche NGOdass sich das Schicksal der Roma zum Guten wende. Tut es aber Geschichte schreiben. nicht. Wäre das Gegenteil besser – zu berichten, wie ein Projekt Gibt es eine Lösung? Wenn wir nicht über Roma berichten, verfür Roma nach dem anderen scheitert? Kaum. Es würde auch schwindet das Thema – so, wie es die nationalen Machthaber niemand ehrlich zugeben, dass selbst die funktionierenden Prowollen: die besitzlosen Roma in abseits gelegene Slums abschiejekte nicht mehr sind als ein Tropfen auf dem heißen Stein. Sie ben und die ganze Sauerei dann so gut es geht ignorieren. Magerzeugen ein gutes Gefühl, aber ändern nichts an den Missständolenova versteht, dass Journalisten eingeschränkt sind, was den. Daneben gibt es noch das Bild der glücklichen Roma, die Zeit und Stil angeht, und dass es ihr Job ist, mitreißende Artikel singen und tanzen. Sie sind ein weiteres Klischee, nach dem der zu schreiben und keine soziologischen Abhandlungen über die Journalist greift, wenn er über etwas Positives berichten möchte. Komplexität und Feinheiten des Themas. Gerade deshalb müsse Dieses Bild hat der Serbe Emir Kusturica in Filmen wie »Schwarze es Medien von den Minderheiten selbst geben, sagt sie. So wie Katze, weißer Kater« vervollkommnet. Das Fazit dieses Klischees das im Jahr 2000 gegründete Roma Media Center. Das ist natürist, dass Roma so oder so glücklich seien, selbst wenn sie unter lich keine angemessene Antwort für alle, die sich außerhalb der erbärmlichen Bedingungen leben: So sind die Roma nun mal, als Slowakei befinden. Aber gibt es eine Antwort? Ich glaube nicht. sei es in ihre DNA eingeschrieben. Leider. Es gibt natürlich noch weitere Bereiche, die mit Stereotypen be© Paul Hockenhos, Die Tageszeitung, 11.06.2012, www.taz.de/1/archiv/digitaz/ haftet sind, wie Kriminalität, Hygiene, Familiengröße, Erziehung, artikel/?ressort=tz&dig=2012 %2F06 %2F11 %2Fa0147&cHash=21a075703c5cbcbd66553a Prostitution, Menschenhandel, Arbeitsmigration und Zwangshei8c63a0cb62 rat. Als Journalist kann man einfach nicht alles richtig machen – egal, was man tut. Wer darüber schreibt, verfestigt die Stereotype. Wer es ignoriert, beschönigt die Tatsachen und gibt vor, der Missstand existiere nicht. Einige Stereotype beinhalten mehr als nur einen Funken Wahrheit. Sie sind aber das Ergebnis von sozialen und historischen Prozessen, nicht Merkmale von Roma als solchen. »Wenn alles auf die ,Ethnizität‘ zurückgeführt wird, wird auch die gesamte Gruppe als schuldig stigmatisiert«, so Magdolenova. (…) Eine weitere wichtige Hürde ist, die Redaktion von der Roma-Geschichte zu überzeugen. Zwanzig Jahre nach dem Zusammenbruch des Kommunismus haben wir alle immer wieder die gleichen Artikel über Roma gelesen. »Was ist daran neu?«, würde mich die Redaktion fragen. Inwiefern hebt sich diese Geschichte über slowakische Roma von denen ab, die ich über Roma in Transsylvanien 1991 oder über ungarische Roma vor zehn Jahren oder D&E Heft 69 · 2015 Roma und Sinti 43 Uwe Wenzel 44 bloß in Pappverschlägen hausen – und der italienische Staat verzichtete konsequent auf jegliche Integrationspolitik. Lieber errichten die Gemeinden bisweilen ganz »offizielle« Lager, wo die Menschen dann in Containern hausen, hinter hohen Zäunen, weit draußen in den Peripherien der Großstädte. Diese Politik der Segregation lässt sich zum Beispiel die Stadt Rom 24 Millionen Euro pro Jahr kosten. Und zugleich gelten die Camps dann der öffentlichen Meinung als Beweis, dass die »Nomadi«, die »Nomaden«, sich eben nicht integrieren wollen. Von rechts bis links schlägt den Roma und Sinti nichts als Abscheu entgegen: 85 Prozent der Italiener bekennen M 5 Protestmarsch von Sinti und Roma am 21.2. 2014 in Athen, Griechenland, zum griechischen Parlamentsgebäude. Die sich zu einer negativen MeiDemonstranten aus verschiedenen Teilen Griechenlands forderten bessere Lebensbedingungen, kostenfreien Zugang nung ihnen gegenüber, das zum griechischen Gesundheitssystem und die Verwirklichung der Bürgerrechte als EU-Bürger. ist europäische Spitze. Mit © Tzamaros, dpa. picture alliance der Abwertung und dem Hass geht ein völlig verzerrtes Bild einher: So glauben tatsächlich 84 Prozent der Italiener, M 6 Die Tageszeitung (taz): »B für die Braven, R für die die »Zingari« seien »fahrendes Volk« ohne Wohnsitz. Über 80 ProRoma«, vom 29.10.2014 zent sind überzeugt, dass sie freiwillig separiert in Elendslagern wohnen, weil sie »für sich« sein wollen. 13.000 Einwohner hat das Städtchen Borgaro Torinese, gleich Da überrascht es nicht, dass selbst das Klischee von den Kinder nördlich von Turin, und dank der Buslinie 69 ist man auch schnell stehlenden Zigeunern in Italien noch lebendig ist. 2008 kam es in in der Metropole nebenan. Jetzt aber möchte der Bürgermeister Neapel zu einem wahren Pogrom gegen ein Roma-Lager, weil eine von Borgaro den Service weiter verbessern: Die Linie soll »verdopjunge Romi angeblich versucht hatte, ein Kleinkind zu rauben. pelt« werden. Gemeint sind keineswegs häufigere Fahrten, sonUnd so hatte auch in Borgaro vor vier Wochen ein Vater von einer dern das Angebot soll diversifiziert werden – man könnte auch durch Roma versuchten Kindesentführung schwadroniert. Dasagen: die Rassentrennung im Bus. Da wäre zunächst die Linie 69 mals rückten sofort reichlich TV-Teams an. Jetzt dagegen, angefür die braven Bürger, nennen wir sie 69 B; und dann soll es noch sichts des realen bürgermeisterlichen Vorstoßes zur Einrichtung eine neue Linie geben, für die wohl die Bezeichnung 69 R passen der Sonderbusse, reist kein einziger Reporter an. würde – R wie Roma. Die 69 B soll, wenn es nach Bürgermeister © Michael Braun, Die Tageszeitung, 29.10.2014, www.taz.de/!148508 Claudio Gambino geht, ohne Halt am großen, außerhalb des Ortskerns gelegenen Roma-Camp mit seinen 600 Bewohnern vorbeirauschen. M 7 Michael Martens, Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ): Doch auch für die Roma ist gesorgt: Sie sollen ja die Extralinie 69 »Illusion vom Reißbrett« R bekommen, die bloß ihr Lager anfährt. »Ein Niemandsland« sei der 69er Bus geworden, erregt sich Gambino in einem Brief an Für die Integration der Roma in Bulgarien und Rumänien reicht den Präfekten von Turin, und deshalb bedürfe es jetzt »radikaler der Besuch einer Schule nicht aus. Oft scheitern die Kinder schon Lösungen«; gerade erst hätten Roma-Mädels auf der Fahrt wieder an Hürden, die für andere gar keine sind. versucht, ein 13-jähriges Mädchen zu bestehlen. »Toleranz und Tzwetana Eugeniewa, Leiterin eines Projekts zur Integration von Geduld« hätten Borgaros Bürger dem Roma-Lager vor ihrer Tür Roma-Kindern aus der Region Widin in der bulgarischen Grenzseit nunmehr 20 Jahren entgegengebracht, jetzt sei Schluss. stadt Widin an der Donau hat sich das Wohlstandsversprechen Das Pikante an der hochoffiziellen Stellungnahme: Sie kommt der Europäischen Union noch nicht erfüllt. Die imposante neue keineswegs aus den Reihen der üblichen Verdächtigen von der Donaubrücke, gebaut mit Brüsseler Strukturfördermitteln, lenkt rechtspopulistisch-fremdenfeindlichen Lega Nord. Der da zwar seit ihrer Eröffnung im April mehr Fernverkehr in die Geschreibt, ist ein Bürgermeister aus den Reihen der gemäßigt lingend, aber die Sattelschlepper transportieren den Reichtum nur ken Partito Democratico (PD) – und sein Verkehrsdezernent gedurch Widin hindurch, nicht hinein. Die Lastwagen wirken wie hört gar zur stramm linken Kleinpartei Sinistra Ecologia Libertà eine Reklame für eine ferne, unerreichbare Welt. Für die Stadt an (SEL – Linke, Ökologie, Freiheit). der rumänischen Grenze mit ihren annähernd 50.000 Einwohnern (…) Dennoch wurde kein Skandal aus der Geschichte. Kurz meldefällt wenig ab. Sie liegt in der ärmsten Region des ärmsten EUten die Medien den Apartheidvorstoß und niemand regte sich auf. Mitgliedstaates. Ganz unten in Widin, am Fuße der europäischen Stellungnahmen der PD, vor Ort oder gar von der nationalen ParWohlstandspyramide, leben die Roma. Wer das Pech bat, in einer teileitung? Fehlanzeige. Roma-Bashing nämlich ist in keinem Roma-Elendssiedlung von Widin geboren zu werden, hat kaum westeuropäischen Land so gesellschaftsfähig wie in Italien. Seit eine Chance, je aus eigener Kraft der Not zu entfliehen. Viele den 60er Jahren entstanden Favelas, in denen Tausende Roma Roma sind Analphabeten. Sie können die Welt nicht lesen. Sie leund Sinti, oft aus Osteuropa, in Wellblechhütten, manchmal gar Roma und Sinti D&E Heft 69 · 2015 ben in ihrer eigenen Welt, die mit jener der Gadjos, der Weißen, wenig zu tun hat. Bildung, heißt es oft, sei der einzige Ausweg aus dieser Misere. »Die Investition in die Ausbildung von Roma ist eine Investition in die Zukunft. Nur wenn diese Menschen Arbeit haben, können sie zur wirtschaftlichen Entwicklung beitragen, Steuern und Sozialbeiträge zahlen, Renten finanzieren«, sagt zum Beispiel Viviane Reding, (damalige) EUKommissarin für Justiz und Grundrechte. Es sei eine zentrale Aufgabe der EU, allen Roma ungehinderten Zugang zu Bildung zu verschaffen. Bildung für Roma-Kinder. Die Juristin Tzwetana Eugeniewa aus Widin widerspricht dieser Einschätzung nicht. Aber wie alle, denen die Schwierigkeiten dieser »größten Minderheit Europas« nicht nur theoretisch bekannt sind, weiß sie, dass die Dinge komplizierter sind. Die Vorstellung, es geM 8 Bundestagspräsident Norbert Lammert (M, CDU) unterhielt sich am 1.6.2011 in Heidelberg wähnüge, einen regelmäßigen Schulbesuch der rend eines Rundgangs durch die Ausstellungsräume des Dokumentationszentrums Deutscher Sinti Romakinder sicherzustellen, um deren und Roma mit Romani Rose (r), Vorsitzender des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, und mit Schwierigkeiten zu lösen, sei naiv. Am Reißdem Holocaust-Überlebenden Franz Rosenbach. Informationen zum Dokumentationszentrum brett erscheine die Lösung oft darin, den unter: www.sintiundroma.de © Uwe Anspach, dpa, picture alliance Transport der Kinder von ihren Elendssiedlungen zur Schule sicherzustellen, also ihre physische Anwesenheit dort zu gewährleisunlängst bei einer in Bonn von der Deutschen Welle und der Südten. Doch damit allein sei wenig gewonnen, sagt Frau Eugeniewa, osteuropa-Gesellschaft ausgerichteten Konferenz zur Bildungssidie seit Jahren ein Projekt zur Integration von Romakindern aus tuation der Roma vorstellte. Arbeitsplätze sind rar Die meisten der Region Widin leitet. »Viele Romakinder in Bulgarien lernen Teilnehmer hatten aber weniger Glück als jene 50 Roma, die heuimmer noch an separaten Schulen. Dort werden sie von wenig te eine Hochschule besuchen. »Viele versuchen vergeblich, einen motivierten Lehrern in einer abgesonderten Umgebung unterArbeitsplatz zu finden. Und die meisten gehen am Ende doch richtet.« Die Qualität der Bildung, die sie dort erhalten – wenn sie nach Deutschland«, sagt Frau Eugeniewa. Denn auch jenen Roma, überhaupt zum Unterricht erscheinen –, sei mangelhaft. An einer die lesen und schreiben können, hat Widin wenig zu bieten. Schon Romaschule lehren zu müssen, wird von manchen als Strafversetdie ethnischen Bulgaren haben es schwer, einen Arbeitsplatz zu zung empfunden. Die Roma würden von Lehrern unterrichtet, die finden, sie wandern nach Sofia oder gleich ins EU-Aus- land ab. nicht gut genug seien für eine »normale« Schule, glauben auch »Arbeitsplätze sind in Bulgarien ein rares Gut, dessen Verteilung viele Bulgaren. (…) hart umkämpft ist«, sagt die bulgarische BevölkerungswissenGanz anders sei die Lage für die Kinder an »Nichtroma-Schulen«, schaftlerin Ilona Tomowa. »Normalerweise funktioniert die Verwie Frau Eugeniewa das nennt. Hier hätten Schüler die Aussicht teilung über Netzwerke. Ein Roma mit geringer Bildung und ohne auf einen regulären Abschluss. Um den Kindern aus der RomaZugang zu solchen Netzwerken, also ohne Freunde, die bereits Elendssiedlung den Besuch einer solchen Schule zu ermöglichen, einen Job haben, hat kaum eine Chance, eine reguläre Arbeitswurde in Widin vor 13 Jahren unter anderem ein Schulbusprojekt stelle zu finden.« Weil das so ist, können viele Roma auch keinen gestartet. Der Romaslum der Stadt liegt weit außerhalb des ZenVorteil darin erkennen, ihre Kinder in die Schute zu schicken. trums. Vor allem für Erstklässler wäre der Fußmarsch zur Schule Wozu lesen und scheiben lernen, wenn danach doch die Arbeitszu weit. Als das Schulbusprojekt vor 13 Jahren begann, stießen die losigkeit wartet? Dass eine solche Sichtweise weit verbreitet ist, Initiatoren auf viele Widerstände. Sie mussten den ungebildeten bestätigt auch Stefan Zell, der ehrenamtlich ein SchulimegratiEltern in den Slums erklären, warum es wichtiger sei, ihre Kinder onsprojekt für Romakinder in Rumänien leitet: »Das Schulsystem zur Schule zu schicken, als sie mit zum Müllsammeln zu nehmen. wird nur dann glaubhaft bei den Roma ankommen, wenn sie seSie mussten Sprachkurse organisieren, um die Kinder, die zu hen, dass Ausbildung Essen auf den Tisch bringt.« Hause nur Romanes gesprochen hatten, an die bulgarische Spra© Michael Martens: Illusion vom Reißbrett, Faz vom 12. 10. 2013 che heranzuführen. Schließlich mussten sie auch die Eltern und Schulleiter davon überzeugen, die Kinder der Roma in die Klassengemeinschaft aufzunehmen. Anfangs wollten viele Bildungsanstalten lieber gesonderte Klassen für Roma einrichten. »Wichtig war es für uns, am Anfang nur zwei oder drei Romakinder in jede Klasse zu schicken, damit sie sich integrieren können«, sagt Tzwetana Eugeniewa. Außerdem musste eine Hürde überwunden werden, die den Koordinatoren des Projekts anfangs nicht bewusst war. Viele Romakinder kannten nur ihre Viertel, für sie war es ein Abenteuer, ins Stadtzentrum zu gehen. »Manche hatten Angst«, erinnert sich Frau Eugeniewa. »Heute ist es für Romakinder in Widin normal, Teil der Gesellschaft zu sein, sich im Stadtzentrum aufzuhalten und eine Schule dort zu besuchen.« Etwa 1.300 Romakinder haben bisher an dem Projekt teilgenommen. Mehr als 50 von ihnen studieren inzwischen an Hochschulen. »Diese Initiative war erfolgreich und sollte auf andere Städte ausgeweitet werden«, sagte Frau Eugeniewa, als sie das Projekt D&E Heft 69 · 2015 Roma und Sinti 45 BRICHT EUROPA AUSEINANDER? REICHTUM UND ARMUT IN EUROPA. 6. Z unehmende Ungleichheit: Folge oder Ursache der jüngsten Wirtschaftskrisen? TILL VAN TREECK S 46 eit nunmehr fünf Jahren beherrscht die Krise der Europäischen Währungsunion die Schlagzeilen. In fast allen Mitgliedstaaten und vor allem in den unmittelbar betroffenen Krisenländern ist es seither zu einem Anstieg der Arbeitslosigkeit gekommen, Einkommensungleichheit und Armut haben zugenommen. Die junge Generation ist von dieser Entwicklung besonders stark betroffen. Die Gefahr einer »verlorenen Generation« verbunden mit zunehmender Hoffnungslosigkeit, vermehrten gesellschaftlichen Spannungen und politischer Radikalisierung ist damit sehr real. Überdies droht eine zunehmende Entfremdung zwischen den Mitgliedsländern der Europäischen Währungsunion, da je nach Land die Krisenursachen und Maßnahmen zur Krisenbewältigung in Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft teilweise sehr unterschiedlich bewertet werden. In Deutschland etwa ist die Auffassung verbreitet, die Abb. 1 »Modernisierung des Standorts Deutschland« © Gerhard Mester, 2013 Krise sei im Wesentlichen durch die hohe Staatsverschuldung und die geringe Wettbewerbsfähigkeit der Krisenländer entniserregend hoch ist. In Deutschland hingegen liegt die Arbeitsstanden, weswegen eine harte Sparpolitik und schmerzhafte losenquote heute unterhalb des Vorkrisenwerts etwas oberhalb strukturelle Reformen in diesen Ländern notwendig seien. In von 5 Prozent. Auch in den USA und Japan, zwei große Volkswirtder internationalen Debatte hingegen ist Deutschland selbst schaften außerhalb des Euroraums, ist im Zuge der Krise die Arwegen seiner staatlichen Sparpolitik, der schwachen Lohnentbeitslosigkeit angestiegen. Anders als in den Euro-Krisenländern wicklung und der steigenden Ungleichheit und seinen dauerist dort aber seit 2010 eine leicht rückläufige Tendenz bei der Enthaft hohen Exportüberschüssen in die Kritik geraten. Doch wicklung der Arbeitslosigkeit festzustellen. Das Wirtschaftsdie Krise des Euro muss auch im größeren Kontext der globawachstum hat sich dort schneller erholt als im Euroraum, wo das len Finanz- und Wirtschaftskrise gesehen werden, die im SomBruttoinlandsprodukt 2014 noch immer unterhalb des Vorkrisenmer 2007 am US-amerikanischen Immobilienmarkt begann niveaus von 2008 lag. und von der sich die Weltwirtschaft bis heute noch längst Warum sind Länder des Euroraums wie Griechenland, Irland, Pornicht erholt hat. Eine zentrale strukturelle Ursache dieser tugal und Spanien und zunehmend auch Italien und Frankreich Krise war meines Erachtens die starke Zunahme der Einkomseit Jahren in einer schweren Krise, während sich andere Länder mensungleichheit in vielen Ländern. Dieser Zusammenhang, innerhalb und außerhalb des Euroraums makroökonomisch besder zunehmend von renommierten Ökonomen und internatioser entwickelt haben? Welche wirtschaftspolitischen Schlussfolnalen Organisationen hervorgehoben wird, sollte stärker in gerungen sollten aus der Krise gezogen werden? Im Folgenden den Fokus der Debatte um die Ursachen und mögliche Auswird zunächst die internationale Kritik an der deutschen Wirtwege aus der aktuellen Krisensituation gerückt werden. schaftspolitik und am »Modell Deutschland« referiert. Danach werden diese Positionen mit den in Deutschland vorherrschenden Interpretationen konfrontiert. Letztere finden sich in oft verDie Debatte über die Ursachen der »Euro-Krise« kürzter und einseitiger Form in zahlreichen Unterrichtsmaterialen, die gerade den Schulen angeboten werden. (| Abb. 2 |) zeigt die Entwicklung der Arbeitslosigkeit in sechs ausgewählten Ländern: In den Euro-Krisenstaaten Griechenland, IrKritik am »deutschen Modell« der land und Spanien ist die Arbeitslosenquote seit Ausbruch der inWrtschaftspolitik in der internationalen Debatte ternationalen Finanz- und Wirtschaftskrise 2007 drastisch angestiegen. Hierunter leidet besonders die junge Generation. In Interessant ist ein Vergleich der in Deutschland verbreiteten Spanien und Griechenland etwa liegt die Jugendarbeitslosigkeit Deutungen der Krise mit der internationalen Debatte. Während seit Jahren oberhalb von 50 Prozent, während die Arbeitslosigkeit insbesondere zu Beginn der Euro-Krise die deutsche Bundesrein der Gesamtbevölkerung mit etwa 25 Prozent ebenfalls besorg- Zunehmende Ungleichheit D&E Heft 69 · 2015 gierung und andere »Nordländer« in Reaktion auf die Verstöße gegen die im »Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt« (SWP) festgeschriebene 3-ProzentObergrenze bei den staatlichen Haushaltsdefiziten und die 60-Prozent-Obergrenze bei der Staatsverschuldung staatliche Sparprogramme in den »Südländern« durchsetzten, kamen viele internationale Ökonomen und Institutionen zu gänzlich anderen Einschätzungen. Beispielsweise begründete die USamerikanische Rating-Agentur Standard & Poors die Herabstufung der Bonität von europäischen Staatsanleihen Ende 2011 folgendermaßen: »Wir glauben auch, dass die Vereinbarung (der europäiAbb. 2 Arbeitslosenquote in ausgewählten Ländern, 1991–2014, in % © AMECO (EU-Kommission), eigene Berechnungen schen Staats- und Regierungschefs vom 9. Dezember 2011) die Ursache der Krise in Teilen verkennt. Sie basiert auf der Annahme, dass bestätigt: Ohne eine hinreichend voluntaristische Industriepolitik bleibt sich die aktuelle Finanzkrise in erster Linie durch unverantwortliche Fisder gemeinsame Währungsraum durch eine Polarisierung der wirtschaftkalpolitik der Peripherie ergibt. Aus unserer Sicht sind jedoch die finanzilichen Aktivität gekennzeichnet, welche in hohem Maße die Ungleichgeellen Probleme der Euro-Zone eine Folge steigender außenwirtschaftliwichte der Leistungsbilanzsalden innerhalb der Eurozone erklären. Einem cher Ungleichgewichte und Unterschiede in der Wettbewerbsfähigkeit Nordeuropa, das Exportgüter und –dienstleistungen produziert, steht ein zwischen dem Euro-Zonen-Kern und der sogenannten Peripherie.« (StanSüdeuropa gegenüber, dessen Leistungsbilanzsalden defizitär sind. Zu den dard & Poors, zitiert nach Münchau, 2011). Ungleichgewichten, die sich aus der Logik des Marktes heraus ergeben Zwar hat in der Folge das Thema Wettbewerbsfähigkeit auch in haben, kommen die Effekte nationaler Politik: Die Entscheidung Deutschder deutschen Debatte zunehmend an Bedeutung gewonnen, lands zu einer Lohndeflation bedeutet, dass das ‚deutsche Modell‘ nicht nachdem hier zunächst die Höhe der Staatsverschuldung in vielen verallgemeinerbar ist.« Daher wird unter anderem die »Etablierung Ländern im Mittelpunkt stand. Jedoch wird regelmäßig ein alleieiner gemeinsamen Budgetsouveränität auf Ebene der Eurozone« niger oder zumindest vorwiegender Anpassungsbedarf bei den als notwendig erachtet (Ministère de l’éducation nationale, 2013, S. 5, Krisenländern gesehen, und nicht oder zumindest in deutlich gemeine Übersetzung, TvT) ringerem Maße bei Deutschland selbst. In der internationalen Diese Darstellung weicht sowohl in der Frage nach den Ursachen Debatte hingegen gibt es sehr gewichtige Stimmen, die eine weder Euro-Krise als auch hinsichtlich der wirtschaftspolitischen sentliche Verantwortung für die makroökonomischen UngleichSchlussfolgerungen deutlich von der seit einigen Jahren nicht zugewichte im Euroraum beim größten Mitgliedsland, Deutschland, letzt auf Druck Deutschlands in den Krisenländern durchgesetzsehen. Der frühere luxemburgische Ministerpräsident und heuten Politik ab. Die deutsche Bundesregierung lehnte bislang eine tige Präsident der Europäischen Kommission Jean-Claude Juncker gemeinsame Budgetsouveränität auf Ebene der Eurozone (z. B. sprach in diesem Zusammenhang sogar von »Lohn- und SozialdEurobonds) strikt ab. Stattdessen setzte sie nicht nur verschärfte umping« in Deutschland. Er warf Deutschland vor, mit niedrigen Sanktionsmöglichkeiten bei Verstößen gegen die Defizit- bzw. Löhnen Profit auf Kosten anderer Länder zu machen, indem er Schuldenkriterien des SWP durch, sondern erreichte auch, dass eine »Fehlentwicklung der deutschen Gesamtwirtschaft und der die Mitgliedstaaten des Euroraums im Zuge eines völkerrechtliTariflandschaft« feststellte (Luxemburger Wort, 2010). Die damachen Vertrages (»Fiskalpakts«) sogenannte Schuldenbremsen lige französische Finanzministerin und heutige Direktorin des Innach deutschem Vorbild einführen müssen. Die Verantwortung ternationalen Währungsfonds (IWF) Christine Lagarde wies in eifür die Finanzierung der Staatshaushalte soll also in nationaler nem Aufsehen erregenden Interview in der Financial Times im Verantwortung bleiben. Gleichzeitig setzte die deutsche BundesMärz 2010 darauf hin, dass nicht nur Länder mit Leistungsbilanzregierung durch, dass die seit Ende 2011 im SWP verankerten defiziten ihre Politik anpassen sollten, sondern auch Länder mit neuen Regeln zur Überwachung von makroökonomischen UnÜberschüssen (»It takes two to tango.«) Außerdem identifizierte gleichgewichten asymmetrisch ausgelegt werden. Während Leissie den »sehr hohen Druck auf die Lohnkosten« als eine wichtige tungsbilanzdefizite bereits ab 4 Prozent des nationalen BIP sankUrsache für die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit Deutschtioniert werden können, werden Leistungsbilanzüberschüsse erst lands zu Lasten der anderen Länder (Financial Times, 2010). Eine ab 6 Prozent als problematisch angesehen. Überdies sind in letzin Teilen ähnliche Kritik äußerten das US-amerikanische Finanzterem Fall keinerlei Sanktionen zu erwarten. Die neuen Kriterien ministerium, die französische Regierung und zuletzt die EU-Komfür die nationale Wettbewerbsfähigkeit sind ebenfalls asymmetmission. risch. Insbesondere sollen die nominalen Lohnstückkosten im Es ist nicht überraschend, dass die Darstellung der Ursachen der Dreijahresvergleich um maximal 9 Prozent ansteigen, eine UnterEurokrise auch im Schulunterricht international stark von dem in grenze gibt es hingegen nicht, d. h. konstante oder sogar falDeutschland vorherrschenden Diskurs abweicht. In dem vom lende nominale Lohnstückkosten werden nicht als problematisch französischen Bildungsministerium herausgegebenen Lehrerbeangesehen. Entgegen der oben zitierten Darstellung des franzögleitmaterial für den sozialwissenschaftlichen Unterricht etwa sischen Bildungsministeriums wird also das deutsche Modell der wird das folgende Lernziel für französische Schüler beschrieben: Lohndeflation offenbar durchaus als verallgemeinerbar angese»Die Krise der Staatsschulden hat die Mehrheitsmeinung der Ökonomen hen. D&E Heft 69 · 2015 Zunehmende Ungleichheit 47 Till van Treeck Abb. 3 Staatliche Haushaltssalden, in Prozent des BIP © AMECO (EU-Kommission), eigene Berechnungen 48 Abb. 4 Staatliche Schuldenstandquoten, in Prozent des BIP © AMECO (EU-Kommission), eigene Berechnungen Abb. 5 Zinsen auf 10-jährige Staatanleihen, in Prozent © AMECO (EU-Kommission), eigene Berechnungen Zunehmende Ungleichheit Meines Erachtens ist es wichtig, dass im sozialwissenschaftlichen Schulunterricht die verschiedenen Sichtweisen zur Euro-Krise kontrovers dargestellt werden. Dies gilt umso mehr, als die didaktisch reduzierten Krisenanalysen, die in deutschen Schulmaterialien verbreitet werden, vielfach inhaltlich zu stark verkürzt bzw. sogar irreführend sind. Dies soll mit Hilfe von Abbildungen 3 und 8 kurz illustriert werden. Abbildungen 3-5 fassen wichtige Entwicklungen im Bereich der Staatsfinanzen zusammen, Abbildungen 6-8 verdeutlichen die Ungleichgewichte im Bereich der internationalen Wettbewerbsfähigkeit und der außenwirtschaftlichen Entwicklung. (| Abb. 3 |) zeigt, dass die heutigen Krisenländer wie Irland oder Spanien das 3-ProzentKriterium des SWP zwischen 1999 und 2007 nicht ein einziges Mal verletzt haben. Der Staat erzielte in den Jahren unmittelbar vor Ausbruch der Weltwirtschaftskrise sogar Haushaltsüberschüsse. Die staatliche Schuldenstandquote (Staatsverschuldung in Prozent des BIP) sank im gleichen Zeitraum von 49 Prozent auf 25 Prozent in Irland und von 62 % auf 36 % in Spanien. Die 60 ProzentObergrenze des SWP wurde also fast durchgehend eingehalten (| Abb. 4 |). Dennoch stürzten Irland und Spanien neben Griechenland und Portugal schnell in die Krise, und für die Staatsanleihen dieser Länder wurden auf den Finanzmärkten nun hohe Risikoaufschläge verlangt, was eine Refinanzierung zunehmend schwierig machte (| Abb. 5 |). Dabei waren die Staatshaushalte dieser Länder noch unmittelbar zuvor von der Europäischen Kommission und vom Rat der EU als vorbildlich gelobt worden. Auf den ersten Blick erstaunlich, gilt Deutschland heute als Land mit soliden Staatsfinanzen, obwohl die staatliche Schuldenstandquote in Deutschland unmittelbar vor der Krise (2007: 65 Prozent) deutlich höher lag als etwa in Irland oder Spanien, und etwa auf gleichem Niveau wie in Portugal. Die Zinsen auf Staatsanleihen sind in Deutschland seit Jahren sehr niedrig, und die Arbeitslosigkeit ist ebenfalls niedrig. Auch die Zahlungsfähigkeit von Ländern außerhalb des Euroraums wie den USA oder Japan ist trotz hoher Staatsverschuldung nicht in Frage gestellt. In den USA und Japan war die Rendite für 10-jährige Staatsanleihen deutlich niedriger als etwa in Spanien oder Griechenland (| Abb. 5 |), obwohl die staatliche Schuldenstandquote in den USA und Japan höher ist als in Spanien und in Japan höher als zumindest in Griechenland (| Abb. 4 |). Die Arbeitslosigkeit ist in den USA und Japan deutlich niedriger als in Spanien oder Irland (| Abb. 2 |). Die Behauptung, dass die Staatsverschuldung in den europäischen Krisenländern zu hoch sei, ist somit zumindest fragwürdig. Ein entscheidender Unterschied zwischen Ländern wie den USA und Japan einerseits und den europäischen Krisenländern andererseits ist, dass in den USA und Japan Wäh- D&E Heft 69 · 2015 rungsraum und staatliche Budgetsouveränität zusammen fallen. Die Mitgliedsländer des Euroraums hingegen verfügen weder über eine eigene Zentralbank noch können sie ihre Finanzierung über einen Gesamtstaat auf Ebene der Eurozone sicherstellen. In den USA ist die Zahlungsfähigkeit der Einzelstaaten durch den Bundesstaat und im Notfall durch die nationale Zentralbank, das Federal Reserve System, gesichert. Dass diese institutionellen Unterschiede, und nicht die Höhe der nationalen Staatsverschuldung, die Finanzierungsmöglichkeiten der Staaten maßgeblich beeinflussen, zeigt auch der Rückgang der Zinsen auf Staatsanleihen in den Ländern des Euroraums seit dem Sommer 2012 (| Abb. 5 |), als die Europäische Zentralbank (EZB) erklärte, nunmehr wie international üblich Spekulationen gegen Staatsanleihen durch Stützungskäufe am Sekundärmarkt für Staatsanleihen zu unterbinden. Gegen solche Maßnahmen hatten sich bis dahin insbesondere deutsche Zentralbanker gewehrt. Dies erklärt zu einem großen Teil, warum sich die spekulativen Angriffe auf den Finanzmärkten in Folge der weltweiten Wirtschaftsund Finanzkrise nach 2007 gegen europäische Staaten richteten, und nicht etwa gegen die USA oder Japan. Wie die oben zitierte Erklärung der Ratingagentur Standard & Poors zeigt, war überdies die außenwirtschaftliche Situation maßgeblich für die Anfälligkeit einzelner Länder gegenüber Spekulationsattacken auf dem Markt für Staatsanleihen. In allen heutigen Krisenländern (insbesondere Griechenland, Irland, Portugal, Spanien) waren vor 2010 beträchtliche Leistungsbilanzdefizite entstanden (| Abb. 6 |). Diese waren in manchen Ländern Ausdruck von Finanzierungsdefiziten des Staates, vor allem aber wiesen die privaten Sektoren dieser Länder hohe Finanzierungsdefizite auf. Die Ursachen der Leistungsbilanzdefizite sind komplex und von Land zu Land verschieden. Klar ist aber, dass sie nicht unabhängig von den Leistungsbilanzüberschüssen anderer Länder gesehen werden können. Denn die Leistungsbilanz der gesamten Welt ist immer ausgeglichen, weil die Exporte eines Landes immer die Importe eines anderen Landes sein müssen. Und weil die Leistungsbilanz des Euroraums insgesamt gegenüber dem Rest der Welt bis zur Krise nahezu ausgeglichen war, standen den Leistungsbilanzdefiziten der jetzigen Krisenländer in etwa gleicher Höhe Leistungsbilanzüberschüsse in anderen Mitgliedsländern des Euroraums gegenüber. Das mit großem Abstand wichtigste Überschussland ist Deutschland, dessen Leistungsbilanz bei Einführung des Euro im Jahr 1999 noch leicht im Minus gewesen war, seit 2002 aber stark angestiegen ist. Der deutsche Überschuss hält sich seit 2007 auf einem hohen Niveau von zeitweise über 7 Prozent des BIP (| Abb. 6 |). Häufig wird – gerade im Zuge von didaktischer Reduktion in Unterrichtsmaterialien – auf die unterschiedliche Entwicklung der D&E Heft 69 · 2015 Abb. 6 Leistungsbilanzsalden, in Prozent des BIP © AMECO (EU-Kommission), eigene Berechnungen 49 Abb. 7 Nominale Lohnstückkosten, 1999 = 100 (Basisjahr) © AMECO (EU-Kommission), eigene Berechnungen Abb. 8 Reale Lohnstückkosten, inflationsbereinigt, 1999 = 100 (Basisjahr) © AMECO (EU-Kommission), eigene Berechnungen Zunehmende Ungleichheit Till van Treeck 50 Länder. Wenn hingegen überall die Lohnstückkosten wie in Deutschland vor der Krise stagnieren oder sogar fallen, droht entweder eine Deflation (Rückgang der Preise) oder die Gewinnmargen der Unternehmen steigen dauerhaft an mit dem Ergebnis steigender Einkommensungleichheit. Wie in (| Abb. 7 | und | Abb. 8 |) zu sehen ist, sind in den Krisenländern in den vergangenen Jahren sowohl die nominalen Lohnstückkosten als auch die realen Lohnstückkosten, welche auf den Anteil der Löhne an den gesamtwirtschaftlichen Einkommen schließen lassen, deutlich gefallen. Ziel der Lohnsenkungen ist es, Wettbewerbsfähigkeit insbesondere gegenüber Deutschland zurückzugewinnen. Zur Durchsetzung dieses Ziels werden schmerzhafte Strukturreformen wie die Deregulierung des Arbeitsmarktes, die Schwächung der Verhandlungsmacht der ArAbb. 9 »Eckpunkte des Sanierungskonzepts nicht-konkurrenzfähiger Volkswirtschaften« beitnehmer und die Reduzierung von sozial © Gerhard Mester, 2013 staatlichen Ausgaben durchgesetzt. Die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit und die Lohnstückkosten als Erklärung der außenwirtschaftlichen Situaschwelende Gefahr eines Staatsbankrotts im Zuge von Finanztion der einzelnen Länder abgestellt. Die nominalen Lohnstückmarktspekulationen auf Staatsanleihen werden dabei geradezu kosten setzen den durchschnittlichen nominalen Stundenlohn in als Voraussetzung für die politische Durchsetzbarkeit der Reforeinem Land ins Verhältnis zur durchschnittlichen realen Arbeitsmen angesehen. Denn ohne die Bedrohung durch Arbeitslosigkeit produktivität pro Stunde. Wie (| Abb. 7 |) zeigt, sind die nominawären die Arbeitnehmer und Wähler vermutlich nicht zu entsprelen Lohnstückkosten in Deutschland zwischen Einführung des chenden Entbehrungen bereit. Dabei stellt sich die Frage, ob Euro und Ausbruch der Krise gar nicht gestiegen, während sie in diese sozialen Belastungen in den Krisenländern zumindest in den heutigen Krisenländern erheblich angestiegen sind. Weil es solch extremem Ausmaß überhaupt notwendig wären, wenn nicht im Euroraum keine nationalen Währungen mehr gibt, besteht Deutschland durch »Lohn- und Sozialdumping« (Jean-Claude Junauch nicht mehr die Möglichkeit von Wechselkursanpassungen, cker) zur Verschlechterung der Wettbewerbsfähigkeit in den Kriso dass die preisliche Wettbewerbsfähigkeit unmittelbarer als senländern beigetragen hätte. Mit anderen Worten: Hat nicht früher von der Entwicklung der nationalen Preisniveaus abhängt. Deutschland mit seiner schwachen Entwicklung bei StaatsausgaDiese wiederum hängt eng mit der Entwicklung der Lohnstückben und Lohneinkommen im Jahrzehnt vor der Krise mindestens kosten zusammen: Denn die Unternehmen halten ihre Gewinnebenso sehr unter seinen Verhältnissen gelebt, wie die heutigen margen genau dann konstant, wenn sie ihre Preise prozentual Krisenländern über ihren Verhältnissen gelebt haben? In diesem genauso stark anheben, wie die nominalen Lohnstückkosten anZusammenhang mit diesen Fragen ist die internationale Kritik an steigen. Hieraus folgt aber keineswegs, wie häufig in UnterrichtsDeutschlands Verweigerung gegenüber einer »gemeinsamen materialien behauptet wird, dass jeder Anstieg der ProduktionsBudgetsouveränität auf Ebene der Eurozone« (Ministère de kosten zu einer Verschlechterung der internationalen l‘‘éducation nationale) zur Eindämmung der Staatsschuldenkrise Wettbewerbsfähigkeit führt. Denn wenn in allen Ländern Lohnund am Beharren auf schmerzhaften Sparmaßnahmen zu sehen. stückkosten und Preise gleichermaßen steigen, bleibt die preisliIn den vergangenen Jahren ist in der internationalen Debatte zuche Wettbewerbsfähigkeit unverändert. nehmend die Position vertreten worden, dass eine steigende EinEin naheliegendes Maß für die Angemessenheit der Lohnstückkostenentwicklung in einem Land ist das Inflationsziel der EZB. Dieses liegt bei unter, aber nahe 2 Prozent. In (| Abb. 7 |) ist erkennbar, wie stark die nationalen Lohnstückkosten hätten steigen können, wenn eine Inflation (Preisanstieg) von 1,9 Prozent pro Jahr und konstante Gewinnmargen der Unternehmen angestrebt worden wären. In einigen Krisenländern sind die nominalen Lohnstückkosten deutlich stärker gestiegen, als laut Inflationsziel der EZB angemessen gewesen wäre. Jedoch wich die Lohnstückkostenentwicklung in Deutschland stärker nach unten vom EZB-Inflationsziel ab, als sie in den meisten Krisenländern nach oben abwich. Dass diese wie in der Lehrerhandreichung der französischen Bildungsministeriums als »nicht verallgemeinerbar« angesehen wird, liegt daran, dass es logisch ausgeschlossen ist, dass alle Länder ihre Wettbewerbsfähigkeit dadurch erhöhen, dass die Lohnstückkosten und Preise überall Abb. 10 »Noch ne Runde, Mario¡« © Gerhard Mester, 2014 weniger steigen als im Durchschnitt aller Zunehmende Ungleichheit D&E Heft 69 · 2015 kommensungleichheit nicht nur eine Folge der staatlichen Spar- und Deregulierungspolitik in Reaktion auf die Krise ist, sondern überdies auch eine zentrale Ursache für gesamtwirtschaftliche Instabilität sein kann. Die zugrunde liegende wirtschaftswissenschaftliche Forschung wurde unter anderem vom IWF (Kumhof/ Rancière, 2010; Ostry et al., 2014) und der OECD (2014) betrieben. Besonderen Auftrieb hat die Debatte über die mit der steigenden Ungleichheit verbundenen ökonomischen Probleme durch den internationalen Bestseller »Das Kapital im 21. Jahrhundert« des französischen Ökonomen Thomas Piketty erhalten. In einer makroökonomischen Untersuchung von Behringer et al. (2013) wird der Zusammenhang zwischen steigenAbb. 11 »Sparpolitik im Härtetest« der Ungleichheit und makroökonomischer Instabilität auf der Nachfrageseite der Volkswirtschaft verortet. Der Zusammenhang zwischen der Einkommensverteilung und der gesamtwirtschaftlichen (Nachfrage-) Entwicklung ist ein klassisches Thema der Makroökonomik. Ein zentrales Problem liegt in der Frage, wie bei hoher bzw. stark steigender Einkommensungleichheit eine hinreichend große Nachfrage generiert werden kann, um das gesamtwirtschaftliche Angebot auszulasten und eine hohe Arbeitslosigkeit zu verhindern. Von besonderer Bedeutung ist dabei die Entwicklung des privaten Konsums, der in den entwickelten Volkswirtschaften in der Regel zwischen 60 und 70 % des Bruttoinlandsprodukts ausmacht: Wenn sich im Zuge steigender Ungleichheit die Einkommen der breiten Masse der Bevölkerung, und damit die wichtigste Finanzierungsgrundlage für den privaten Konsum, nur schwach entwickeln, droht ein Nachfrageausfall. In der Zeit vor der weltweiten Finanzkrise 2007ff., als die Ungleichheit vielerorts stark anstieg, ist dieses latente Nachfrageproblem in verschiedenen Ländern im Wesentlichen auf zwei Arten zeitweise verdeckt worden: In den USA reduzierten die Haushalte unterhalb der Spitzenverdiener seit Beginn der 1980er ihre Sparquote und verschuldeten sich stark. Dies stabilisierte zunächst den privaten Konsum, dessen Anteil am Bruttoinlandsprodukt sogar anstieg, führte jedoch schließlich in die private Überschuldungskrise ab 2007. Außerdem ging diese Entwicklung mit hohen Leistungsbilanzdefiziten einher. Ein weiteres Beispiel für ein solches kreditbasiertes Entwicklungsmodell vor der Krise ist Großbritannien. In diesen Ländern sind die Topeinkommensanteile stark gestiegen, der private Konsum hat sich relativ kräftig entwickelt, und die Leistungsbilanz befand sich strukturell im Defizit. Erklärt werden kann die zunehmende Verschuldung der privaten Haushalte in den angelsächsischen Ländern mit sozialen Normen und Institutionen (überwiegend private Finanzierung von Bildung, Gesundheit, Wohnraum, leichter Zugang zu Krediten). In Deutschland hat sich dagegen in den letzten eineinhalb Jahrzehnten vor allem die Verteilung zwischen Unternehmens- und Haushaltseinkommen verschoben. Weil sich die privaten Haushalte auf Grund anderer sozialer Normen und Institutionen nicht vermehrt verschulden wollten bzw. konnten, entstand eine zähe Konsumnachfrageschwäche. Da gleichzeitig die stark steigenden D&E Heft 69 · 2015 © Gerhard Mester, 2013 Unternehmensgewinne nicht in entsprechend höhere Investitionen mündeten, erzielte der private Unternehmenssektor seit 2002 systematisch Finanzierungsüberschüsse. Diese sind ein wichtiger Grund für die strukturelle Schwäche der Binnennachfrage und die damit verbundenen Leistungsbilanzüberschüsse und somit für die Abhängigkeit von der Verschuldung des Auslands. Dass die Leistungsbilanzüberschüsse Deutschlands die Stabilität der europäischen und internationalen Wirtschaft gefährden und auch aus rein nationaler Perspektive kein Erfolgsmodell sind, wird zunehmend anerkannt. Die Hoffnung, dass angesichts der geringen Arbeitslosigkeit der private Konsum zum dauerhaften Wachstumsmotor mit dem Ergebnis höherer Importe und geringerer Exportüberschüsse wird, ist in der Vergangenheit stets enttäuscht worden. Zugleich wird gefordert, Deutschland müsse seine Binnennachfrage in erster Linie durch eine Stärkung der Investitionen erhöhen (DIW, 2013). Allerdings stellt sich die Frage, wie dies erreicht werden soll. Bisweilen wird eine (weitere) Deregulierung von Arbeits- und Produktmärkten angeraten, um das Innovations- und Investitionspotenzial angebotsseitig zu verbessern (OECD, 2012). Hans-Werner Sinn (2009) argumentiert sogar, die in Deutschland zu geringe Ungleichheit und Deutschlands geringe Attraktivität als Unternehmensstandort habe zu einer »Flucht von Kapital und Talenten« geführt. Eine verstärkt unternehmensfreundliche Politik sei daher notwendig. Diese Empfehlungen gehen meines Erachtens aber am eigentlichen Problem vorbei. Die Investitionsschwäche in Deutschland lag vor der Krise in erster Linie in geringen staatlichen und Bauinvestitionen begründet, was kaum mit übermäßigen Regulierungen erklärt werden kann. Die privaten Ausrüstungsinvestitionen hingegen entwickelten sich im zeitlichen und internationalen Vergleich eher unauffällig (van Treeck/Sturn 2012). Vielmehr liegt das Haupthemmnis für die Binnennachfrage – neben der strukturell restriktiv ausgerichteten Fiskalpolitik – in der seit langem deutlich zu schwachen Entwicklung der Lohneinkommen bzw. der verfügbaren Haushaltseinkommen. Ohne eine entsprechende Entwicklung der Masseneinkommen, und damit der Konsumnachfrage, fehlen auch für die Unternehmen auf Dauer die Anreize, ihre Investitionen mit Blick auf den binnenwirtschaftlichen Absatzmarkt auszuweiten. Eine gleichmäßigere Einkom- Zunehmende Ungleichheit 51 Till van Treeck 52 nen Grenzen überschritten haben, nicht entsprechend sanktioniert worden seien. Denn: »Bereits vor Ausbruch der Wirtschaftskrise im Jahr 2008 lag die Verschuldung mehrerer Eurostaaten über der vereinbarten Grenze von 60 Prozent.« (S. 3) Erhöhte »Verschuldungsanreize« hätten sich für die heutigen Krisenländer dadurch ergeben, dass die Verzinsung für Staatsanleihen mit der Euro-Einführung stark gefallen war: »Kapital war aus der Perspektive dieser Länder so kostengünstig wie nie zuvor« (S. 3). In keinem Satz wird auf die internationale Kritik am deutschen Exportüberschussmodell eingegangen. Ähnliche Einschätzungen finden sich beispielsweise in den Online-Materialien »Schroedel aktuell« des Schroedel-Verlags. Im ArAbb. 12 Im Rahmen der Zusammenarbeit des Handelsblatts mit dem Institut für Ökonomische Bildung beitsblatt »Europa leidet und Deutschland an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg sind bislang die Unterrichtseinheiten »Unsere boomt« (Schroedel aktuell, 2013) etwa werWirtschaftsordnung«, »Finanzielle Allgemeinbildung«, »Unternehmen und Strukturwandel«, »Innovation« den in der Lehrerhandreichung die folgenden und »Globalisierung« sowie »Wirtschaft und Recht« erschienen. © Handelsblatt 2015 Ursachen für die »schlechte wirtschaftliche Lage in den südlichen Ländern der Eurozone« mensverteilung hingegen würde die wirtschaftliche Entwicklung angeführt: »zu hohe Zinsen in Südeuropa«, »zu billige Konsumgüstabilisieren. ter bei gleichzeitig zu hohen direkten Steuern«, »zu geringe Sparmaßnahmen in Südeuropa, v. a. bei Ausgaben«, »fehlende Entschuldungsmaßnahmen (Schuldenschnitte)«, »Arbeitslosigkeit«, Einseitige Darstellung in vielen deutschen »zu geringe Flexibilität des Arbeitsmarktes (Bsp. Sozialpläne, Bsp. Schulmaterialien zur ökonomischen Bildung Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen)«, »keine duale Berufsausbildung«, »Lohnanstieg ohne Anstieg der Effektivität«, Insbesondere in Deutschland werden die zentralen Krisenursa»Verteuerung der Produktion und damit zurückgehende Konkurchen häufig in der Verantwortung der Krisenländer selbst geserenzfähigkeit«, »Schieflage der Leistungsbilanz«, »überhöhte hen. Dabei wird in erster Linie auf die hohe Staatsverschuldung Kreditaufnahme«, »Anstieg der Kreditzinsen«, »Überschuldung und den Mangel an Wettbewerbsfähigkeit der Krisenländer hindes Staates«, »Verarmung der Bevölkerung«. In diesem und vielen gewiesen. Dies lässt sich nicht zuletzt anhand von Lehrmateriaanderen Arbeitsblättern von »Schroedel aktuell« zur Krise wird es lien im Bereich der ökonomischen Bildung verdeutlichen. So heißt offenbar nicht für notwendig gehalten, dass Schülerinnen und es etwa in einer Ausgabe von »Info aktuell« der Bundeszentrale Schüler sich kritisch mit der möglichen Verantwortung Deutschfür politische Bildung aus dem Jahr 2012, dass die derzeitige Krise lands auseinandersetzen. erst dann auch Chancen biete, »wenn es gelingt, die StaatsverAuch Unterrichtsmaterialien von arbeitgebernahen Projekten wie schuldung nachhaltig einzudämmen, die Wettbewerbsfähigkeit das Internetportal »Wirtschaft und Schule« der Initiative Neue der Krisenländer zu steigern und die richtige Balance zwischen Soziale Marktwirtschaft (INSM) legen einen Schwerpunkt auf die Solidarität und Eigenverantwortlichkeit zu finden.« (Heinemann/ Staatsverschuldung und die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit Schmuck, 2012, S. 1) Immer wieder hätten Ökonomen im Vorfeld der Krisenländer. Als Krisenursachen werden hier (INSM 2014) geder Krise davor gewarnt, »Länder aufzunehmen, die Probleme mit nannt: »Zu hohe Staatsverschuldung, unterschiedliche Lohnihrer Wettbewerbsfähigkeit haben« (S. 3). Ebenso seien Glaubstückkostenentwicklung und Ungleichgewichte in den Leistungswürdigkeit und Wirksamkeit des Europäischen Stabilitäts- und bilanzen.« Eine Abbildung zur Entwicklung der Lohnstückkosten Wachstumspakts (SWP) dadurch beschädigt worden, dass Staaseit dem Jahr 2000 wird wie folgt kommentiert: »Ein Anstieg der ten, deren Haushaltsdefizite die durch den Parkt vorgeschriebeProduktionskosten geht in der Regel mit einem Anstieg des Verkaufspreises einher. Dadurch verschlechtert sich die internationale Wettbewerbsfähigkeit der betroffenen Firmen oder auch einer ganzen Volkswirtschaft: Ihre Erzeugnisse können preislich nicht mehr mit der günstigeren internationalen Konkurrenz mithalten.« Ein weiteres Beispiel für einen einseitigen Fokus auf die Verschuldung des Staates als Ursache von Krisen ist die im Rahmen des Projekts »Handelsblatt macht Schule« veröffentlichte Unterrichtsreihe »Unsere Wirtschaftsordnung« (Kaminski et al., 2011). Verfasst wurde die Unterrichtsreihe von Wissenschaftlern des Instituts für Ökonomische Bildung an der Universität Oldenburg, das in fachdidaktischen und bildungspolitischen Kreisen sehr einflussreich ist. Bereits im Vorwort des Präsidenten des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK) heißt Abb. 13 »Jeder kann sich nach seinen Möglichkeiten entwickeln« © Gerhard Mester, 2012 es: »Und wie im ‚kleinen‘ Familienhaushalt Zunehmende Ungleichheit D&E Heft 69 · 2015 können wir an den hochverschuldeten Staatshaushalten beobachten, was passieren kann, wenn man über seine Verhältnisse lebt.« In der gesamten Unterrichtsreihe bleibt unerwähnt, dass die Analogie von privaten und staatlichen Haushalten aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht überaus umstritten ist und dass neben der Verschuldung des Staates auch ganz andere Faktoren als Krisenursachen in Frage kommen (van Treeck, 2014a). Natürlich gibt es auch Beispiele für Unterrichtsmaterialien, die alternativen Erklärungsansätzen Raum bieten. Dies gilt insbesondere für staatlich zugelassene Schulbücher für den soziawissenschaftlichen Unterricht, welche prinzipiell den für die politische Bildung grundlegenden Beutelsbacher Konsens und insbesondere das Kontroversitätsgebot berücksichtigen müssen. Doch auch im Internet verfügbare Materialien zur Euro-Krise berücksichtigen teilweise vielfältigere Erklärungsansätze als die oben beispielhaft zitierten Materialien. Zu Abb. 14 »Neuer Sponsor gefunden!« © Freimut Wössner, dieKLEINERT.de, 2.12.2013dpa, picture alliance nennen sind hier zum Beispiel ein neues Online-Dossier der Bundeszentrale für politiKumhof, M., Ranciere, R. (2010), Inequality, Leverage and Crises, IMF Worsche Bildung zur Schuldenkrise (BpB, 2014) oder Materialien der king Papers (268), International Monetary Fund www.imf.org/external/ gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung (Böckler Schule, pubs/ft/wp/2010/wp10268.pdf 2012). Gerade bei Online-Materialien, welche keiner staatlichen Prüfung unterliegen, muss aber ein klares Übergewicht an MateMinistère de l’éducation nationale (2013): Quelle est la place de l’Union rialien, die einseitig auf die Verantwortung der Krisenländer im européenne dans l’économie globale?, Ressources pour le lycée général Bereich der Staatsverschuldung und der Wettbewerbsfähigkeit et technologique http://cache.media.eduscol.education.fr/file/SES_ abzielen, festgestellt werden. terminale_allegements/32/6/2.2_UE_ds_l_eco_-_cor_264326.pdf Literaturhinweise Behringer, J., Belabed, C., Theobald, T., van Treeck, T. (2013): Einkommensverteilung, Finanzialisierung und makroökonomische Ungleichgewichte, in: Vierteljahreshefte zur Wirtschaftsforschung, Nachhaltige europäische Konsolidierungspolitik – Chancen und Herausforderungen, 82 (4) 203– 221 http://ejournals.duncker-humblot.de/doi/abs/10.3790/ vjh.82.4.203?journalCode=vjh Böckler Schule (2012): Europas Sparpolitik – Teufelskreis oder Befreiungsschlag? www.boeckler.de/pdf/schule_ue_eurokrise_2012.pdf BpB (Bundeszentrale für politische Bildung) (2014): Debatte Europäische Schuldenkrise www.bpb.de/politik/wirtschaft/schuldenkrise/ BpB (2015): Ökonomie und Gesellschaft. Zwölf Bausteine für die schulische und außerschulische politische Bildung. Bonn. DIW (Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung, 2013): Investitionen für mehr Wachstum – Eine Zukunftsagenda für Deutschland, DIW Wochenbericht, Nr. 26 www.diw.de/documents/publikationen/73/diw_01.c.423458. de/13–26.pdf Heinemann, F., Schmuck, O. (2012): Euro am Scheideweg, Informationen zur politischen Bildung, Info aktuell, Bundeszentrale für politische Bildung www.bpb.de/shop/zeitschriften/info-aktuell/133098/euro-amscheideweg INSM (Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft) (2014): Schuldenkrise der EuroLänder www.wirtschaftundschule.de/aktuelle-themen/globalisierungeuropa/schuldenkrise-der-euro-laender/ Kaminski, H., Koch, M., Eggert, K. (2011): Unterrichtseinheit »Unsere Wirtschaftsordnung«, Handelsblatt macht Schule www.handelsblattmachtschule.de/unterrichtsmaterial/unterrichtseinheiten/unsere-wirtschaftsordnung.html D&E Heft 69 · 2015 Münchau, W. (2011): Wir bekämpfen die falsche Krise, Spiegel Online www.spiegel.de/wirtschaft unternehmen/s-p-o-n-die-spurdes-geldes-wir-bekaempfen-die-falsche-krise-a-809769.html OECD (Organisation for Economic Co-operation and Development, (2012): Economic Survey of Germany. Ostry, J., Berg, A., Tsangarides, C. (2014): Redistribution, Inequality, and Growth, IMF Staff Discussion Note, International Monetary Fund www.imf.org/external/pubs/ft/sdn/2014/sdn1402.pdf Sinn, H.-W. (2009): Falsches Geschäftsmodell, Wirtschaftswoche, 22.06.2009, Nr. 26, S. 38 www.cesifo-group.de/de/ifoHome/policy/ Staff-Comments-in-the-Media/Press-articles-by-staff/Archive/ Eigene-Artikel-2009/medienecho_10191744_ifostimme-wiwo-22–06–09. html van Treeck, T. (2013): Globale Ungleichgewichte im Außenhandel und der deutsche Exportüberschuss, in: Politik und Zeitgeschichte (APUZ 1–3/2014) www.bpb.de/apuz/175492/globale-ungleichgewichte-imaussenhandel-und-der-deutsche-exportueberschuss?p=all van Treeck, T. (2014a): Kurzgutachten zur Unterrichtseinheit Handelsblatt macht Schule: »Unsere Wirtschaftsordnung«, CIVES Praxistest Nr. 1 http:// cives-school.de/wp-content/uploads/2014/12/CIVES-Praxistest1.pdf van Treeck, T. (2014b): Wirtschaftsweise im Klassenzimmer. 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Zum anderen sind es die Mitgliedsländer in Südeuropa, die nicht nur bei der Haushaltspolitik geschlampt, sondern zugleich ihre Löhne viel zu stark erhöht haben. Deutschland ist bei alledem das unschuldige Opfer, das seit Beginn der Währungsunion alles richtig gemacht hat und jetzt riesige Milliardenbeträge zur Stützung der anderen Länder aufwenden muss. Bei dieser Sichtweise ist klar, wie der Euroraum wieder genesen kann: Alle Länder müssen so tugendhaft werden wie wir. Das Problem müsse an der Wurzel angepackt werden, sagte die Kanzlerin, die Länder müssten ihre Staatsfinanzen in Ordnung bringen und sich um eine bessere Wettbewerbsfähigkeit bemühen. Doch wie würde ein Euroraum mit 16 Deutschländern aussehen? In den vergangenen zehn Jahren war die deutsche Wirtschaftspolitik darauf fixiert, die Lohnkosten möglichst gering zu halten. Dies führte dazu, dass die Arbeitnehmer nicht mehr am Anstieg des Wohlstandes teilhaben konnten und die Ausgaben im Inland – preisbereinigt – nicht mehr zunahmen. Natürlich schlug sich das in einem enormen Exportboom nieder, die Ausfuhren stiegen real um bis zu 70 Prozent. Im finanziellen Sektor führte die Kombination aus Knauserei und Exportweltmeistertum zu einer riesigen Geldersparnis, die zwangsläufig im Ausland angelegt wurden musste. Seit Beginn der Währungsunion gab Deutschland – ausweislich seines Leistungsbilanzsaldos – 895 Milliarden Euro weniger aus, als es einnahm. Wir lebten als Volkswirtschaft also nicht über, sondern wie kaum ein anderes Land unter unseren Verhältnissen. Eine Währungsunion mit 16 Deutschländern wäre ein Albtraum. Gingen alle Mitgliedsländer dazu über, ihre Löhne nicht mehr zu erhöhen oder sie sogar zu senken, um so wettbewerbsfähig wie wir zu werden, würde der Euroraum geradewegs in die Deflation steuern. Diese Tendenz würde noch verstärkt, wenn alle auch noch versuchen würden, weniger auszugeben, als sie einnehmen, um genauso viel Geld zu sparen wie Deutschland. Das kann in der Summe nicht aufgehen, der Euroraum würde durch ein kollektives Gürtelenger-Schnallen so in die Knie gehen, dass am Ende überhaupt keine nennenswerte Geldersparnis mehr möglich würde. Das heißt allerdings nicht, dass sich alle Länder nun an den Beispielen Griechenlands, Irlands oder Spaniens orientieren sollten. Für den finanzpolitischen Schlendrian Griechenlands kann es keine Entschuldigung geben. Und in den südeuropäischen Mitgliedsländern sind – ebenso wie in Irland – die Löhne stärker gestiegen, als es von der Produktivität und dem Inflationsziel der Europäischen Zentralbank her angemessen gewesen wäre. Das hat der Wettbewerbsfähigkeit geschadet und zu einer überzogenen Verschuldung geführt. Der Euroraum wird nur dann ins Gleichgewicht kommen, wenn sich seine Mitgliedsländer überwiegend so verhalten, dass sie mittelfristig in etwa das ausgeben, was sie einnehmen. (…) Bundeskanzlerin Angela Merkel hat sich in überzeugender Weise für den Euro ausgesprochen. Doch die Währungsunion wird nur Zukunft haben, wenn die deutsche Wirtschaftspolitik erkennt, dass wir selbst ein Teil des Problems wie auch der Lösung sind. Das bedeutet nicht, dass wir nicht mehr exportieren oder in unseren Anstrengungen um Produktivitätssteigerungen und Innovationen nachlassen sollen. Es bedeutet aber, dafür sorgen müssen, dass unsere Binnennachfrage endlich in Schwung bekommen. Ein zentraler Ansatzpunkt für mehr Eigendynamik sind die hohen Ersparnisse der deutschen Wirtschaft, die seit Jahren überwiegend in ausländischen Geld- Zunehmende Ungleichheit M 2 Peter Bofinger, deutscher Ökonom und Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Würzburg. Seit März 2004 ist er Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. © Erwin Elsner, 27.11.2013, dpa, picture alliance anlagen investiert werden. Wenn es gelingen würde, diese Mittel verstärkt für Investitionen im Inland einzusetzen, würde das nicht nur die Inlandsnachfrage steigern. Es würde zugleich dazu beitragen, dass wir nicht länger unsere Altersvorsorge auf spanischen oder US-amerikanischen Schrottimmobilien aufbauen. Im Mittelpunkt der Wirtschaftspolitik muss deshalb die Förderung der Investitionstätigkeit stehen. Dazu sollte zu allererst die Abgeltungsteuer auf Zinseinnahmen abgeschafft werden. Damit würde ein Instrument beseitigt, das die Anlageentscheidungen verzerrt, und zwar zu Lasten von Sachinvestitionen. Zugleich käme nebenbei auch noch mehr Geld in die Staatskasse. Eine degressive Abschreibung auf Neubauten und eine Eigenheimzulage würden viele Private wieder in die Lage versetzen, ihre Ersparnis in Immobilien zu lenken. Damit würde die Bildung von Sachvermögen endlich genauso gefördert wie die Vermögensanlage in Versicherungsverträgen. Sinnvoll wären außerdem Investitionsprämien für Unternehmen, die in energiesparende Produktionsanlagen investieren. Aber die Privaten werden es allein nicht stemmen. Nach den bisherigen Planungen werden die öffentlichen Investitionen in den nächsten Jahren so gering ausfallen, dass sie nicht einmal die Abschreibungen ausgleichen. Der Staat sollte deshalb ein umfangreiches öffentliches Investitionsprogramm auflegen, auch wenn er sich dafür zusätzlich verschulden muss. Das Ersparte der Bürger ist momentan sicherer und ertragreicher in der deutschen Infrastruktur investiert als in ausländischen Staats- oder Unternehmensanleihen. Auf den ersten Blick würde ein solches Vorgehen mit den Bestimmungen der Schuldenbremse in Konflikt geraten. Aber man kann diese Bremse zeitweise außer Kraft setzen, wenn man es mit außergewöhnlichen Notsituationen zu tun hat, die sich der Kontrolle des Staates entziehen. Wenn die Eurokrise keine solche „außergewöhnliche Notlage“ ist, was dann? Deutschland hat ein vitales ökonomisches wie politisches Interesse am Euro. Doch ohne energische Anstrengungen der deutschen Wirtschaftspolitik für mehr Balance innerhalb des Systems wird die Europäische Währungsunion dieses Jahrzehnt nicht überleben. © Süddeutsche Zeitung, 17.05.2010, www.sueddeutsche.de/wirtschaft/wirtschaftspolitik-deutschland-lebt-unter-seinen-verhaeltnissen-1.942761 D&E Heft 69 · 2015 M 3 Hans-Werner Sinn: »Falsches Geschäftsmodell«, Wirtschaftswoche 2009 In der globalen Krise wird die Exportfixierung der deutschen Wirtschaft zur Last. Jetzt rächt sich, dass wir arbeitsintensive Binnensektoren vernichtet haben, sagt Hans- Werner Sinn. Wenn es eine Zahl gibt, die das Ausmaß der Wirtschaftskrise besonders eindringlich symbolisiert, dann ist es diese: Die deutschen Warenexporte sind im April im Vorjahresvergleich um 29 Prozent eingebrochen – so viel wie nie zuvor seit Beginn der statistischen Aufzeichnungen 1950. Die bislang höchsten Einbrüche wurden im ersten Halbjahr 1993 mit etwa 16 Prozent verzeichnet. Nachdem die Auslandsaufträge im verarbeitenden Gewerbe im Januar und Februar um 42 Prozent zurückgegangen waren, kam der Einbruch zwar nicht überraschend. Aber M 4 Hans Werner Sinn, Präsident des IFO Instituts München bei der Vorstellung der IFO Konjunkturprobeängstigend ist er allemal. Deutschland gnose 2014/2015, Pressekonferenz am 11.12.2014. © dpa, picture alliance wird von den Schockwellen der US-Finanzkrise in besonderem Maße erschüttert. Durch unsere Exportlastigkeit sind wir unfreiwillig in die Rolle des Stoßdämpfers der Welt geraten. Die Deutschen sparen wie die Weltmeister, aber sie investieren Während die USA im ersten Quartal im Jahresvergleich ihre nicht. Deutschland hatte zuletzt eine gesamtwirtschaftliche annualisierten Warenimporte um 361 Milliarden Dollar stärker Sparquote von 13,1 Prozent des Nationaleinkommens, doch lag schrumpfen ließen als die Exporte und China seinen Handelsseine Investitionsquote nur bei 5,4 Prozent. Wie in den Vorjahren überschuss um 71 Milliarden Dollar vergrößern konnte, hat sich war das vermutlich wieder der niedrigste Wert aller OECD-Länder. Deutschlands annualisierter Handelsüberschuss um 168 Mil Der Überschuss der Ersparnisse über die Investitionen – 2008 imliarden Dollar verringert. Von der Sache her ist das ungefähr merhin 166 Milliarden Euro oder 7,7 Prozent des Nationaleinkomdasselbe, als hätte unser Land zugunsten der Welt ein gigantimens – floss ins Ausland und verschaffte den Ausländern die Fisches Konjunkturprogramm dieser Größenordnung verabschienanzmittel, mit denen sie dann deutsche Güter kaufen konnten. det. Ein anderer Teil des Kapitals floh in die Exportindustrien, wo er, Das ist schön für die anderen Länder, aber nicht für uns, zumal insbesondere auf den Endstufen der Produktion, die Wertschöpwir dafür keine Lorbeeren bekommen, sondern im Gegenteil fung im Export im Übermaß aufblähte (Basar-Effekt). Deutschfortgesetzten Anschuldigungen ausgesetzt sind, wir täten filand durchlebte einen pathologischen Exportboom. Zwar war der nanzpolitisch nicht genug für die Weltkonjunktur. Kein anderes Zuwachs der Wertschöpfung bei den Ausfuhren für sich genomgroßes Land wird derzeit von außen so stark gebeutelt wie men eine feine Sache, er reichte aber nicht aus, den Verlust an Deutschland. Auch bei den Abschreibungsverlusten auf die Wertschöpfung bei den Binnensektoren auszugleichen, durch strukturierten Wertpapiere sind wir dank unserer gewaltigen Kaden er erkauft worden war. Das Kapital nahm nämlich nur die pitalexporte voll dabei. Deutschland hat zwar ein besseres Gequalifizierten Arbeitnehmer zur Gänze in die Exportindustrien mit schäftsmodell als Großbritannien, wo man sich von der realen – und überließ einen Teil der ungelernten Arbeitskräfte mitsamt Exportwirtschaft weitgehend verabschiedet hat, aber es zeigen ihrer potenziellen Wertschöpfung dem Sozialstaat. Kein Wunder, sich auch Risse im deutschen Modell. Dass es keinen Sinn gedass Deutschland – trotz einer passablen Performance im letzten macht hat, Porsches gegen Lehman-Brothers-Zertifikate zu verBoom – in der Zeitspanne von 1995 bis 2009 beim Wirtschaftskaufen und sich dann der Exportweltmeisterschaft zu rühmen, wachstum ganz hinten gelandet ist. Während die alten EU-Länder dürfte inzwischen hinreichend klar sein. Das Grundproblem aber in dieser Zeitspanne um 27,1 Prozent wuchsen, legte Deutschland hat mit der aktuellen Krise nichts zu tun: Über Jahre hinweg hat gerade mal um 14,3 Prozent zu. Nur Italien hatte eine noch Deutschland mit seiner nivellierenden Lohnpolitik, durch die es schlechtere Performance. zum Weltmeister bei der Arbeitslosenquote der gering QualifiImmerhin: Der Wandel zu einem besseren Geschäftsmodell ist zierten wurde, seine arbeitsintensiven Binnensektoren vernichmit der Agenda 2010 angelegt worden. Die Agenda wird helfen, tet. Das Dienstleistungsgewerbe wurde dezimiert. Die arbeitsinden Binnensektor weiter zu entwickeln und die verzerrten Wirttensiven Sektoren des verarbeitenden Gewerbes, von der schaftsstrukturen unseres Landes allmählich wieder ins Lot zu Textilindustrie bis zur Feinmechanik, gab man übermäßig rasch bringen. Auch hilft sie jetzt bei der Bewältigung der Krise. Umso der internationalen Niedriglohnkonkurrenz preis. Der Strukturgefährlicher sind die nicht enden wollenden Attacken der Politik wandel war zwar nicht prinzipiell falsch. Doch was in Deutschauf Kernelemente der Reformen. Mit den jüngsten Mindestlohnland geschah, kam einer Massenflucht aus den Binnensektoren gesetzen etwa hat eine schleichende Konterrevolution stattgegleich, die jedes Maß vermissen ließ. Das Kapital und die Talente funden, die das alte Geschäftsmodell wieder zu verfestigen und flohen aus den arbeitsintensiven Binnensektoren, weil sie Angst das deutsche Phlegma zu verlängern droht. vor den Fesseln einer fehlgeleiteten Sozialpolitik hatten, die der internationalen Niedriglohnkonkurrenz mit einer Hochlohnkon© Wirtschaftswoche, 22.06.2009, Nr. 26, S. 38, www.cesifo-group.de/de/ifoHome/policy/ kurrenz auf heimischen Arbeitsmärkten entgegentrat. Ein Teil Staff-Comments-in-the-Media/Press-articles-by-staff/Archive/Eigene-Artikel-2009/medes Kapitals floh ins Ausland; das erklärt den hohen deutschen dienecho_10191744_ifostimme-wiwo-22–06–09.html Exportüberschuss. Anstatt in Deutschland zu investieren, haben viele Unternehmen lieber Maschinen ins Ausland exportiert und dort die Arbeitsplätze geschaffen, deren Verlust man nun in Deutschland beklagt. D&E Heft 69 · 2015 Zunehmende Ungleichheit 55 Till van Treeck 56 Fakt ist: In den vergangenen Jahrzehnten hat vor allem in den USA die Einkommensungleichheit drastisch zugenommen. Längst ist es nicht mehr nur eine Kluft zwischen Arm und Reich, sondern eine zwischen den SuperSuper-Reichen und dem großen Rest der Gesellschaft. Wenn Volkswirte über die Reichen sprechen, dann reden sie nicht über die »oberen Zehntausend«, sondern über die »TopEin-Prozent« der Einkommensverteilung. Sie meinen damit die Gruppe von Menschen, die reicher sind als 99 Prozent aller anderen Einwohner eines Landes. In den USA gilt dies derzeit für alle, die mehr als 368 000 Dollar im Jahr verdienen. Statistiken des Berkeley-Ökonomen Emmanuel Saez (…) zeigen: Fast nur die Superreichen, die ganz oben in der Einkommenspyramide stehen, haben in den vergangenen Jahrzehnten kräftig dazugewonnen. (…) Schon die Gruppe der Topverdiener, die die reichsten zwei bis fünf Prozent der Gesellschaft bildet, ist in den vergangenen Jahrzehnten mehr oder weniger auf der Stelle getreten. Menschen, die unterdurchschnittlich gut verdienen, mussten zum Teil sogar herbe M 5 Diagramm zur ungleichen Verteilung des weltweiten Vermögens (Vergleich reichstes ein Prozent, Einbußen hinnehmen. (…) Die britischen Epirestliche 99 Prozent der Weltbevölkerung) © dpa, picture alliance, Januar 2015, Grafik: Bökelmann demiologen Richard Wilkinson und Kate Pickett argumentieren in ihrem 2009 erschienenen Buch »The Spirit Level«, dass quasi alle M 6 Olaf Storbeck: »Das Problem der Schere zwischen Arm sozialen und gesellschaftlichen Übel in einem engen Zusammenund Reich«, Handelsblatt 2011 hang mit der Einkommensverteilung in einem Land stünden. So seien Kriminalität und Drogenkonsum in einem Land umso höher, (…) Die Reise dauert gerade mal 50 Minuten. So lange braucht je größer die Kluft zwischen Arm und Reich sei. man mit dem Auto vom piekfeinen Montgomery County im ameMöglicherweise war die enorme Einkommensungleichheit in den rikanischen Bundesstaat Maryland in die südöstlichen StadtvierUSA auch ein Grund für die Finanz- und Wirtschaftskrise der vertel der Hauptstadt Washington. Es ist eine Reise von einer der gangenen Jahre. Diese These vertritt Raghuram Rajan, ehemalireichsten Regionen der USA in eine der ärmsten. Und das wirkt ger Chefvolkswirt des Internationalen Währungsfonds (IWF) und sich nicht nur auf den Bankkonten aus: Mit jedem Kilometer sinkt heute Ökonomieprofessor in Chicago. »Es gab einem enormen die Lebenserwartung der Menschen um sieben Monate – von 81 politischen Druck, etwas dagegen zu tun«, argumentiert Rajan. auf 60 Jahre. Die große Mehrheit der Wirtschaftswissenschaftler Die traditionellen Instrumente der Wirtschaftspolitik – höhere hat solche Unterschiede lange Zeit kaltgelassen. EinkommensunSteuern für Gutverdiener und direkte Transfers an die ärmeren gleichheit war in der modernen Volkswirtschaftslehre nur ein NiSchichten – seien jedoch seit den 80er-Jahren unpopulär geworschenthema. Die meisten Ökonomen sahen in der deutlichen den. Daher habe die US-Wirtschaftspolitik gezielt versucht, das Kluft zwischen Arm und Reich nicht nur eine Folge von hohem Problem mit billigem Geld und einfach verfügbaren Krediten zu Wirtschaftswachstum. Sie hielten solch ein Gefälle gar für eine lösen. »Das hat lange scheinbar wunderbar funktioniert«, so Rawichtige Voraussetzung dafür, dass die Marktwirtschaft gut funkjan. »Die Leute konnten sich mit geliehenem Geld Häuser kaufen, tionieren kann. Zudem waren nicht nur liberale Ökonomen überdie im Wert stiegen und als Sicherheit für neue Kredite dienten – zeugt: Wenn die Reichen noch reicher werden, wird das nach und dieses Geld konnten sie dann in den Konsum stecken.« Das Probnach auch zu den unteren Einkommensschichten durchsickern. lem der wachsenden Ungleichheit sei so lange zugedeckt worden. (…) Inzwischen denken viele Volkswirte um. Denn es mehren sich Die IWF-Volkswirte Michael Kumhof und Romain Rancière haben die Belege dafür, dass krasse Gegensätze zwischen Arm und diese Argumentation mit einem theoretischen Modell untermauReich nicht nur eine moralische Dimension haben, sondern handert. Darin zeigen sie: Steigende Einkommensungleichheit kann festen ökonomischen Schaden anrichten. Einige Forscher sehen dazu führen, dass ärmere Schichten versuchen, ihren Lebensstanin der drastisch gestiegenen Einkommensungleichheit gar eine dard immer stärker über Kredite aufrechterhalten zu wollen – und Ursache für die Finanzkrise der Jahre 2007 bis 2009. dass sie sich zumindest eine Zeit lang immer leichter Geld leihen Das neue ökonomische Bewusstsein für Verteilungsfragen hat können. Auf Dauer mache dies das Finanzsystem instabil und anhandfeste Konsequenzen für die Wirtschaftspolitik. Höhere Steufälliger für Krisen. Mehr traditionelle Sozialpolitik könne das Proern für Reiche – liberalen Ökonomen traditionell ein Graus – erblem lösen, schreiben die IWF-Ökonomen. Wenn der Staat Einscheinen in einem neuen Licht, staatliche Transfers an ärmere kommen umverteile, könne er die Wirtschaft damit womöglich Schichten ebenso. »Große Einkommensungleichheit verursacht stabiler machen. in reichen, hochentwickelten Volkswirtschaften zahlreiche Prob© Handelsblatt, 31.01.2011, http://www.handelsblatt.com/politik/oekonomie/nachrichleme«, ist zum Beispiel Adair Turner, Chef der britischen Finanzten/oekonomie-das-problem-der-schere-zwischen-arm-und-reich-seite-all/3820264-all. marktaufsicht FSA, überzeugt. Die Ignoranz für Einkommensunhtml gleichheit sei einer der entscheidenden Fehler, den das Fach in den vergangenen Jahrzehnten gemacht habe. »Ungleichheit«, betont auch der Mannheimer Ökonom Hans Peter Grüner, »ist eine ganz zentrale volkswirtschaftliche Größe. Über die dürfen wir nicht einfach hinwegsehen.« Zunehmende Ungleichheit D&E Heft 69 · 2015 M 7 Till van Treeck: »Ungleichheit – das neue Mega-Thema«, In: Capital, 2014 Der Piketty-Bestseller »Das Kapital im 21. Jahrhundert« erschüttert die Ökonomie, die sich zu lange um Fragen der Einkommensund Vermögensverteilung gedrückt hat. In diesen Tagen erscheint er endlich auch auf Deutsch: Thomas Pikettys internationaler Bestseller mit dem monumentalen Titel »Das Kapital im 21. Jahrhundert«. Die im April veröffentlichte englische Übersetzung des ursprünglich auf Französisch geschriebenen, beinahe 1000 Seiten starken Wälzers hat erstaunliche Wellen geschlagen. Beinahe alles, was in der internationalen Ökonomen-Szene Rang und Namen hat, hat mittlerweile Position bezogen zu den von Piketty erarbeiteten Thesen. Zeitweise führte das Buch sogar die Verkaufslisten von Amazon an, höchst ungeM 8 Finanzierungssalden (Einnahmen minus Ausgaben) der privaten und staatlichen Wirtschaftssektowöhnlich für einen wissenschaftlichen Fachren in Deutschland, in Prozent des Bruttoinlandsprodukts. © Eigene Darstellung, nach Daten titel. (…) des Statistischen Bundesamtes Der Beginn dieses kreditfinanzierten Konsummodells der US-amerikanischen Mittelschicht fällt genau zusammen mit dem rasanten Anstieg der Einkommensungleichheit am oberen Ende der Die anhaltend hohen Finanzierungsüberschüsse des UnternehVerteilung seit den frühen 1980er Jahren, den Pikettys Top-Einmenssektors bedeuten aber nicht nur, dass sich die Ersparnisbilkommens-Daten so eindrucksvoll zeigen. Eine Zeit lang sah es so dung von reich und arm auseinanderentwickelt, sondern sie sind aus, als könnte auch die Mittelschicht selbst ohne laufende Erauch ein schwerwiegendes makroökonomisches Problem. Die sparnis Vermögen bilden, weil die Häuserpreise stetig zu steigen privaten Haushalte waren in der Geschichte der Bundesrepublik schienen. Doch diese Illusion ist spätestens seit dem Platzen der Deutschland immer Nettosparer. Der Staat darf sich wegen der Immobilienblasen nach 2007 vorbei. Was bleibt, ist eine bei den sogenannten Schuldenbremse nicht mehr neu verschulden. Wenn reichen Haushalten und im Ausland verschuldete Mittelschicht nun auch noch die Unternehmen angesichts hoher Gewinne nicht und eine gestiegene Vermögensungleichheit, die nach und nach mehr auf eine für diesen Sektor eigentlich übliche Nettokreditverstärkend auch auf die Einkommensungleichheit zurückwirken aufnahme angewiesen sind, bedeutet dies, dass die deutsche wird. Volkswirtschaft strukturell weniger ausgibt, als sie einnimmt, Gleichzeitig ist die Überschuldung der Privathaushalte eine also Leistungsbilanzüberschüsse realisiert. Damit trägt Deutschschwere Hypothek für die künftige Wachstumsentwicklung in land maßgeblich zur Nachfrageschwäche in Europa und weltweit den USA. Nachdem jahrzehntelang fehlende Einkommenssteigebei, welche sich zu der besagten säkularen Stagnation zu verfestirungen der Mittelschicht durch Kredite ersetzt wurden und so der gen droht. Konsum hochgehalten wurde, droht nun die säkulare Stagnation Das sollte die zentrale Lehre sein, die die Volkswirtschaftslehre nicht zuletzt deswegen, weil bei sich weiter verschärfender Unund die Wirtschaftspolitik aus der Weltwirtschaftskrise 2007ff. gleichheit aber erschöpften Verschuldungsmöglichkeiten die ziehen sollte: Der Kapitalismus kann auf Dauer nur stabil sein, Konsumnachfrage nicht in Gang kommt. wenn die Einkommen der großen Masse der Bevölkerung im In Deutschland reduzierte die Mittelschicht nicht ihre ErsparnisGleichschritt mit der Güterproduktion steigen. Wenn dies nicht bildung und sie verschuldete sich auch nicht zunehmend, als zu der Fall ist, droht längerfristig Instabilität: entweder weil die MitBeginn der 2000er-Jahre die Einkommensungleichheit rasant antelschicht wie in den USA nur noch kreditfinanziert konsumieren zusteigen begann. Dies dürfte mit anderen sozialen Normen zukann und früher oder später überschuldet ist; oder weil wie in sammenhängen und mit der weniger laxen Kreditvergabe der Deutschland die Binnennachfrage schwächelt und Wachstum und Banken im Vergleich etwa mit den USA. Dennoch entwickelte sich Beschäftigung nur noch über die kreditfinanzierte Nachfrage des die relative Ersparnisbildung von arm und reich auseinander: Auslands erzeugt werden können. Die zunehmende Ungleichheit, Hierzulande waren es die Unternehmen, die in den frühen 2000er die Piketty in »Das Kapital im 21. Jahrhundert« so faktenreich anaJahren begannen, im Zuge stark steigender Gewinne vermehrt lysiert, und die schwere Krise des Kapitalismus im frühen 21. JahrGeldvermögen zu bilden. Weil die Unternehmen ihre Einnahmen hundert sind untrennbar miteinander verbunden. nicht an den privaten Haushaltssektor weitergaben, stiegen zwar © Till van Treeck, Capital, 7.10.2014, www.capital.de/meinungen/ungleichheit-das-neuedie Top-Haushaltseinkommen viel weniger stark an als etwa in mega-thema-2273.html den USA, wo die Unternehmen viel aggressiver auf Gewinnausschüttungen für die Aktionäre und Bonuszahlungen für die Spitzenmanager setzten. Die einbehaltenen Unternehmensgewinne bleiben zwar in Pikettys Top Income Shares unberücksichtigt, ihr Anstieg bedeutet aber eine Zunahme der Ungleichheit, weil die Letzteigentümer der Unternehmen in erster Linie reiche Haushalte sind. Und spätestens mit dem Ableben der Baby-Boomer, die nach dem Zweiten Weltkrieg geboren wurden, wird die Vererbung von in Unternehmen angehäuften Vermögen zum ernsthaften Verteilungsproblem werden, vor allem wenn die angemessene Besteuerung dieser Vermögen weiterhin ein politisches Tabu bleibt.(…) D&E Heft 69 · 2015 Zunehmende Ungleichheit 57 BRICHT EUROPA AUSEINANDER? REICHTUM UND ARMUT IN EUROPA 7. Mindestlohndebatte in Deutschland HANS GAFFAL S 58 eit dem 1. Januar 2015 gilt in Deutschland ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro brutto pro Stunde. Damit gesellt sich die Bundesrepublik zu den 21 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, in denen bereits Lohnuntergrenzen gelten. Nach einer repräsentativen Umfrage des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales vom April 2014 begrüßt eine große Mehrheit von 86 Prozent der Bundesbürger die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns. Vorausgegangen war eine mehr als zehnjährige Debatte über das Für und Wider eines allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns. Langzeitlich stagnierende Löhne, ein im Vergleich zu anderen OECD-Ländern überdurchschnittlicher Anstiegs der Ungleichheit und ein fragmentierter Arbeitsmarkt, der Risiken zunehmend individualisiert, bildeten den Hintergrund und Stoff für diese Diskussion. Ist das »Gesetz zur StärAbb. 1 »Der Arbeitsmarkt im Wandel« © Gerhard Mester, 2010 kung der Tarifautonomie« von 2014, dessen Artikel 1 das »Gesetz zur Regelung eines entstandene Niedriglohnsektor resultierte zum einen aus signiallgemeinen Mindestlohns« enthält, eine angemessene Antfikanten Veränderungen im Tarifvertragssystem. Durch den wort auf die aktuellen Herausforderungen eines gespaltenen kontinuierlichen Rückgang der Tarifbindung und des gewerkArbeitsmarktes? Ist es sozialpolitisch gesehen sogar eine hisschaftlichen Organisationsgrads kam es in vielen Bereichen zu torische Entscheidung und damit ein später Sieg der Gewerkkeinen Tarifvereinbarungen bzw. zu tariflichen Regelungen auf schaften und Agenda-2010-Kritiker? Oder ist es als eine politieinem nicht zwingend existenzsicherndem Niedriglohnniveau. sche Fehlentscheidung mit negativen Folgen für den Besonders häufig anzutreffen waren und sind solche VerhältArbeitsmarkt zu bewerten? nisse in bestimmten Handwerksberufen und in Branchen wie Gastgewerbe, dem Einzelhandel und bei Dienstleistungen für Unternehmen. Dieser Trend zu mehr Lohnungleichheit wurde »Sozial ist, was Arbeit schafft.«: Die Agenda 2010 durch die Arbeitsmarkt-Reformen (Hartz-Reformen) zwischen und das »deutsche Jobwunder« 2002 und 2005 noch verstärkt. Der entstandene Niedriglohnsektor war politisch gewollt und wurde durch verschiedene In der deutschen Arbeitsmarktstatistik jagt seit Jahren eine BestMaßnahmen wie z. B. durch die Anhebung der Geringfügigkeitsmarke die nächste: Am Jahresende 2014 waren erstmals mehr als grenze in der Sozialversicherung und verschärfte Zumutbar43 Millionen erwerbstätig, die Zahl der sozialpflichtigen Arbeitskeitskriterien gefördert. plätze stieg auf 30,7 Millionen und 2,76 Millionen wurden als arTrotz der Erfolgsmeldungen vom Arbeitsmarkt sah sich die Bunbeitslos Gemeldete registriert, was einer Arbeitslosenquote von desregierung 2014 veranlasst, ein Mindestlohngesetz auf den 6,4 Prozent entspricht. Weg zu bringen. Erklärungen für diesen staatlichen Eingriff in Anders als in den meisten europäischen Staaten konnte die Weltdie Lohnfindung auf dem Arbeitsmarkt findet man beim Blick finanzmarktkrise die Weltfinanzmarktkrise und deren Folgen hinter die Kulissen des deutschen »Jobwunders«. Die hohe Bevom deutschen Arbeitsmarkt mittels flexibler Arbeitszeiten und schäftigungsquote wurde mit einer starken Lohnspreizung und gespreizter Löhne sowie Kurzarbeit relativ gut aufgefangen und einem seit 1995 expandierenden und zwischen 2002 und 2007 abgefedert werden. Selbst wenn man die Unzulänglichkeiten der stark anwachsender Niedriglohnsektor mit relativ geringer AufArbeitsmarktstatistik, die fast 2 Millionen Arbeitslose nicht erwärtsmobilität erkauft. Heute besitzt Deutschland innerhalb fasst, und die Stille Reserve mit einrechnet, steht Deutschland im der großen Industriestaaten den größten Niedriglohnsektor, europäischen und internationalen Vergleich gut da. Die Arbeitsloauf dem fast ein Viertel der Beschäftigten arbeitet, v. a. in Bransigkeit ist um zwei Millionen gesunken, die Beschäftigung stark chen mit geringer Tarifbindung. In einigen Branchen ist es zum angewachsen und eine noch nie da gewesene Vielfalt unterBilliglohnland geworden. Eine erstaunliche Entwicklung, die schiedlichster Arbeitsverhältnisse entstanden. Vom »deutschen verteilungspolitisch durch ein weiteres Merkmal gekennzeichJobwunder« ist die Rede. net ist: Obwohl die Arbeitsproduktivität in den letzten 15 Jahren Wie konnte aus dem in den 90-er Jahren noch als »kranker Mann um fast 18 Prozent gestiegen ist, lagen die Reallöhne 2013 niedvom Rhein« verspotteten Land das »Modell Deutschland« entriger als 1999. stehen? Es waren v. a. zwei Entwicklungen, die den strukturellen Die Zuwächse in der Beschäftigung gingen also vorwiegend Wandel zur Dienstleistungsgesellschaft begleiteten und zu marauf das Konto sogenannter atypischer Beschäftigungsformen kanten Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt führten. Der neu wie Teilzeitarbeit, befristete und geringfügige Beschäftigung, Minde s tlohndebat te in Deu tschl and D&E Heft 69 · 2015 © sozialpolitik-aktuell Abb. 2 Sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse 1993–2013 Leiharbeit und neue Selbständigkeit. Solche atypischen Beschäftigungsverhältnisse sind meist mit deutlich niedrigeren Einkommen und höheren Arbeitslosigkeits- und Armutsrisiken verbunden. 2010 arbeitete zum Beispiel die Hälfte der Beschäftigten in diesem Bereich für einen Niedriglohn, darunter vier Fünftel der Minijobber und zwei Drittel der Leiharbeiter, bei denen sich deutlich die Insider-Outsider-Problematik zeigt. Vor allem Frauen landen so in einer Niedriglohnfalle, die eine eigenständige Existenzsicherung kaum ermöglicht. Zudem sind ein Drittel der Hartz-IV-Empfänger sogenannte Aufstocker, die zusätzlich zu ihrem Erwerbseinkommen Transferleistungen beziehen und damit staatliche Lohnsubventionen erhalten. Der deutsche Arbeitsmarkt präsentiert sich heute als ein gespaltener Markt: Neben gut geschützten »Normalarbeitsverhältnissen« der Stammbelegschaften findet man in den Betrieben eine Gruppe von Arbeitnehmern, die zu schlechteren Bedingungen arbeiten: befristet Beschäftigte, Leiharbeiter mit eigenem Tarifvertrag, Stammbeschäftigte der Dienstleister, die im Rahmen eines Werkvertrags tätig sind, sowie Solo-Selbstständige oder Scheinselbstständige, die mittels Werkverträgen Arbeiten übernehmen. Letztlich hat also der Abbau der Arbeitslosigkeit von Geringqualifizierten dazu geführt, dass Beschäftigungsverhältnissen mit vergleichsweise niedrigen und teils nicht einmal die Existenz sichernden Löhnen zugenommen haben. Gewerkschaftsbundes erfüllt. Parteipolitisch standen sich die SPD, Grüne und Linke als Befürworter einer Mindestlohnregelung der CDU und FDP gegenüber, die einen solchen Eingriff ablehnten. Nach der Bundestagswahl 2013 rückte die CDU in den Koalitionsverhandlungen mit der SPD von ihrer ablehnenden Haltung ab. Dagegen kritisieren Arbeitgeberverbände und die CDU/CSUMittelstandsvereinigung den ihrer Meinung nach überflüssigen und nicht zielführenden staatlichen Eingriff in die Lohnfindung. Sie werden dabei von großen Teilen der deutschen ÖkonomenZunft – einschließlich des »Sachverständigenrats« zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung – unterstützt. Positionen in der Debatte um den Mindestlohn Mit dem gesetzlichen Mindestlohn wurde eine langjährige Forderung des Deutschen D&E Heft 69 · 2015 Abb. 3 Plakat der DGB-Mindestlohnkampagne © Deutscher Gewerkschaftsbund Minde s tlohndebat te in Deu tschl and 59 Hans Gaffal 60 Kritiker wenden ein, dass die Realität auf den Arbeitsmärkten wenig mit diesem Marktmodell zu tun habe: Auf Arbeitsmärkten finden sich meist Informationsdefizite und keine vollständige Transparenz, statt vollkommenen Wettbewerb findet man vielfach oligopolistische Strukturen mit marktbeherrschenden Unternehmen. Neben Marktmacht und ungleichen Verhandlungspartnern zeigen sich Zugangsbarrieren und hohe Transaktionskosten sowohl für Unternehmen als auch für Beschäftigte, deren Arbeitsplatzwechsel durch diverse Faktoren beschränkt wird. Einer seriösen volkswirtschaftlichen Betrachtung halte diese ökonomische Sicht auch deshalb nicht stand, weil sie Löhne nur als betriebliche Kosten abbildet und ihre Wirkungen auf die gesamtwirtschaftliche Nachfrage unterschlägt. Die Befürworter verfolgen mit dem Mindestlohn gleich mehrere Ziele: Er soll die Abb. 4 Soziale Absicherung und Mindestlohn © Klaus Stuttmann, 3.7.2014 Einkommenssituation von Niedriglohnbeziehern verbessern, drohender Altersarmut Die Gegner argumentieren, dass Mindestlöhne den Faktor Arbeit entgegenwirken, die marktverzerrende Subventionierung von so verteuern werden, dass Wettbewerbsnachteile entstehen und Niedriglöhnen beenden und damit die sozialen Sicherungssysein massiver Beschäftigungsabbau – v. a. im Niedriglohnbereich teme entlasten. Zudem erhofft man sich, dass der Einkommens– drohe. Damit würden Lohnuntergrenzen gerade denen schazuwachs bei Geringverdienern infolge ihrer hohen Konsumden, denen sie helfen sollen. Selbst wenn es gelänge, die höheren quote zu einer Stärkung der Binnennachfrage führt. Im Arbeitskosten großenteils auf die Preise über zu wälzen, hätte Mindestlohn wird demnach ein verteilungs- und sozialpolitidies eine sinkende Nachfrage zur Folge. Gelingt die Einpreisung sches Instrument gesehen, das normativ gefordert und damit nicht, könnten die Unternehmen mit Rationalisierung oder mit überfällig sei. Hierbei wird u. a. auf die Europäische Sozialcharta der Verlagerung von Produktionsstätten reagieren und Haushalte und die Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der ArDienstleistungen durch Waren oder Schwarzarbeit ersetzen. beitnehmer verwiesen: Mit einer Vollzeitbeschäftigung müsse Sozialpolitisch sei ein Mindestlohn weder erforderlich noch efohne staatliche Transferleistungen bzw. »Kombilöhnen« der Lefizient, weil mit dem Arbeitslosengeld II bereits ein Instrument bensstandard einer Familie gesichert werden können. Dies sei besteh, dass ein Absinken unter das soziale Existenzminimum im Zuge einer abnehmenden Tarifbindung und zunehmender verhindere. Das bessere sozialpolitische Instrument sei die Verbreitung von Niedriglöhnen jedoch immer weniger gewährstaatliche Lohnsubvention durch Aufstockung der Niedriglöhne leistet. oder andere Kombilohnmodelle. Weil ein erheblicher Teil der Bezieher gar nicht in Haushalten mit geringem Einkommen Das Mindestlohngesetz – Wirkungen wohne und Alleinverdiener in mehrköpfigen Familien auch mit und Wertungen Mindestlohn arm bleiben werden, sei der Mindestlohn auch kein geeignetes Umverteilungsinstrument. Und schließlich müsse Mit dem gesetzlichen Mindestlohn, der im »Tarifautonomiestärder Mindestlohn als ein rechtswidriger Eingriff in die Autonomie kungsgesetz« von 2014 in ein Maßnahmenbündel zur Stärkung der Tarifvertragsparteien betrachtet werden. der Tarifautonomie eingebettet ist, betritt die Bundesregierung Die Gegner berufen sich dabei auf das neoklassische Marktmokein Neuland. Bereits seit 2007 konnten Mindestlohntarifverdell, nach dem Mindestpreise, die über dem Marktpreis liegen, träge nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz per Allgemeinvergrundsätzlich zu einer geringeren Nachfrage führen. Dieses Stanbindlichkeitserklärung auf ganze Branchen ausgedehnt werden. dardmodell setzt einen funktionierenden Markt voraus, der beIn achtzehn Wirtschaftszeigen wurde diese Möglichkeit für Niedstimmte Modellvoraussetzungen erfüllt. Sind diese gegeben, riglohngrenzen genutzt. Daneben existieren auf Länderebene redann reguliere sich der Preis von selbst. Vom Güter- auf den Argionale Mindestlöhne, die in landesspezifischen Vergabe- und beitsmarkt übertragen heißt das: Bei zu hohen Löhnen sinkt die Mindestlohngesetzen festgeschrieben wurden und für öffentliNachfrage nach Arbeit und steigt die Arbeitslosigkeit. In der Folge chen Aufträgen und Zuwendungen gelten. akzeptieren Arbeitslose niedrigere Löhne und so stellt sich auf Das Bundesarbeitsministerium schätzt, dass ca. 3,7 Millionen Bedem Arbeitsmarkt ein neuer Gleichgewichtslohn her, der dann schäftigten ab 2015 bzw. 2017 vom Mindestlohn profitieren werder Produktivität der Arbeitnehmer entspricht. den. Für zwei Millionen davon gelten bis 2017 Übergangsregelungen. Diese Ausnahmeregelung gilt für Zeitungszusteller, Garten- und Landschaftsbau, Friseurhandwerk, GroßwäscheNIEDRIGLOHN reien, Fleischindustrie und Leiharbeit. Hier liegen die bestehenDie OECD definiert den Niedriglohn im Verhältnis zu dem so geden branchenspezifischen Mindestlöhne unterhalb von 8,50 Euro. nannten Median (mittleres Bruttoarbeitsentgelt). Der Median Vorhandene Branchenmindestlöhne, die über der neuen Mindestteilt die Löhne in zwei gleich große Gruppen: Die eine Hälfte lohngrenze von 8,50 Euro liegen, werden durch die neue Mindestliegt unter diesem Wert, die andere Hälfte darüber. Geringverlohnregelung nicht verdrängt. Ganz ausgenommen von der neuen diener ist, wer ein Arbeitsentgelt von weniger als zwei Drittel Regelung sind Personen- und Beschäftigtengruppen wie Jugenddes mittleren Lohns bekommt. liche, Auszubildende, Praktikanten, ehrenamtlich Tätige und Die Beschäftigungsstatistik der Bundesagentur für Arbeit weist Langarbeitslose in den ersten sechs Monaten. Zukünftig soll eine für das Jahr 2010 die Niedriglohnschwelle 2011 bundesweit bei Kommission, die sich zu gleichen Teilen aus Vertretern der Geeinem Stundenlohn von 9,54 € brutto aus. werkschaften und der Arbeitgeberverbände zusammensetzt, alle Minde s tlohndebat te in Deu tschl and D&E Heft 69 · 2015 zwei Jahre über die Höhe des gesetzlichen Mindestlohns entscheiden. Über die möglichen Folgen des Mindestlohns gibt es unter Wirtschaftsexperten einen heftigen Streit. Die Einschätzung der Beschäfti gungs- und Verteilungswirkungen sowie der gesamtwirtschaftlicher Effekte auf Kaufkraft, Wachstum, Produktivität und öffentliche Haushalte variiert je nach wirtschaftspolitischer Schule und verteilungspolitischer Perspektive. Die Zahl der potenziellen Mindestlohnbezieher wurde im Gesetz durch den Ausschluss bestimmter Personengruppen um ein Viertel reduziert. Diese gruppenund branchenspezifischen Ausnahmen vom Mindestlohn werden ebenso wie die Verschiebung des Mindestlohnstarts auf 2015, die Möglichkeit tariflicher Abweichungen und das Einfrieren der Mindestlohnhöhe bis 2018 als Zugeständnis an die Arbeitgeber bewertet. Sie könnten sich, so wird befürchtet, als Einladung zum Missbrauch und damit als Hindernis für eine effiziente Begrenzung von Niedriglöhnen erweisen. Zudem bleibt abzuwarten, ob die AusnahAbb. 5 Mindestlohn in Europa und den USA © www.mindestlohn.de meregelung für Langzeitarbeitslose deren Beschäftigungschancen erhöhen oder eher ihre Chancen auf einen Preissteigerungen Nachfrageinschränkungen mit BeschäftiÜbergang in dauerhaft reguläre Beschäftigung verhindern wird. gungseinbußen bedeuten werden. Obwohl Untersuchungen zu den Beschäftigungseffekten der in Voraussichtlich werden sich lediglich leichte Verbesserungen in Deutschland gültigen Branchenmindestlöhne keine nennenswerder Einkommenssituation im Niedriglohnbereich – v. a. in Ostten Beschäftigungseffekte ergeben haben, prognostizieren viele Wirtschaftsforschungsinstitute Arbeitsplatzverluste in MillionenRechtliche Normen zur MINDESTLOHNDISKUSSION höhe als Folge der Mindestlohnregelung. Die dabei angewandten Simulationsmodelle, so Kritiker, unterstellen NachfrageelastiziVereinte Nationen (UNO): Allgemeine Erklärung der Mentäten bei Lohnerhöhungen, die einer empirischen Überprüfung schenrechte (1948): auf den realen Arbeitsmärkten nicht standhielten. Die als Droh»Jeder, der arbeitet, hat das Recht auf gerechte und befriedigende Entkulisse aufgebaute Gefahr von Aus- bzw. Verlagerung arbeitsinlohnung, die ihm und seiner Familie eine der menschlichen Würde enttensiver Produktionsschritte hält ebenso wenig einem Faktensprechende Existenz sichert, gegebenenfalls ergänzt durch andere sozicheck stand wie die Behauptung, der Gesetzgeber füge mit dem ale Schutzmaßnahmen.«(Artikel 23, Abs. 3) »Tarifautonomiestärkungsgesetz« der Tarifautonomie schweren Schaden zu: Zum einen wird in typischen Niedriglohnsektoren Europäische Sozialcharta 1961: wie Pflegeheime, Bäckereien, Restaurants und Friseurgeschäfte »Alle Arbeitnehmer haben das Recht auf ein gerechtes Arbeitsentgelt, auch zukünftig Arbeit in Deutschland nachgefragt werden. Zum das ihnen und ihren Familien einen angemessenen Lebensstandard sianderen hat der Mindestlohn schon vor Inkrafttreten Wirkung gechert.« (Teil I, Artikel 4) zeigt und vor allem im weitgehend tariflosen Ostdeutschland zum Abschluss vieler neuer Tarifvereinbarungen im NiedriglohnEU-Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbereich geführt. beitnehmer (1989): Die Verteilungswirkungen des gesetzlichen Mindestlohns hängen »Für jede Beschäftigung ist ein gerechtes Entgelt zu zahlen. Zu diesem letztlich vom jeweiligen Haushalttyp und -einkommen und FaktoZweck empfiehlt es sich, dass entsprechend den Gegebenheiten eines ren wie zukünftiges Konsumentenverhalten und Höhe staatlicher jeden Landes den Arbeitnehmern ein gerechtes Arbeitsentgelt garantiert Transferzahlungen ab. Entscheidend wird sein, ob höhere Löhne wird, das heißt ein Arbeitsentgelt, das ausreicht, um ihnen eine angeim unteren Einkommensbereich erhebliche Nachfrageeffekte bemessenen Lebensstandard zu erlauben« (Titel 5, Abs. 1) wirken können oder ob die durch den Mindestlohn ausgelösten D&E Heft 69 · 2015 Minde s tlohndebat te in Deu tschl and 61 Hans Gaffal Abb. 6 »Wirtschaftskreislauf« 62 deutschland – ergeben. Ein gesetzlicher Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro ist auf alle Fälle zu niedrig, um einen effektiven Beitrag zur Armutsvermeidung leisten zu können. Bei den meisten Betroffenen wird er weder das Nettohaushaltseinkommen über das ALG- II-Niveau anheben noch das drohende Armutsrisiko im Alter senken. Meldungen über höhere Wertschätzung und mehr Anerkennung aus Bereichen mit Branchenmindestlöhne lassen immerhin erwarten, dass sich die Arbeitszufriedenheit besser bezahlter Mitarbeiter erhöhen dürfte. Die Arbeitgeber werden letztlich darüber entscheiden, ob die Umsetzung des gesetzlichen Mindestlohns gelingt. Im Bereich der außertariflichen Sonderzahlungen könnten sich aufgrund der vagen Bestimmungen im Mindestlohngesetz einige Gestaltungsmöglichkeiten für Umgehungsstrategien eröffnen. Zeitungsberichten zufolge planen bereits einzelne Großbetriebe der Systemgastronomie den Mindestlohn auf diesem Wege zu unterlaufen. Ebenso könnten verschärfte Leistungsvorgaben den Mindestlohn de facto aushebeln. Solche Möglichkeiten bieten sich vor allem an bei Arbeitsverhältnissen mit Stücklöhnen wie sie sich z. B. bei Zeitungsausträgern, Saisonarbeitern im Agrarsektor, Taxifahrern und in Call-Centern finden. Nicht bezahlte Mehrarbeit etwa bei Minijobbern, Ausweichen in Schwarzarbeit, Anstieg der Scheinselbstständigkeit – in Form von Werkverträgen – oder Umwandlung von Vollzeit- in Teilzeitstellen mit Überstunden ohne Vergütung könnten weitere Anpassungsreaktionen sein, um den Mindestlohn zu umgehen. Die Durchsetzung und Kontrolle dürfte auch dadurch erschwert werden, dass ein Drittel der Betroffenen in Betrieben ohne gewerkschaftliche Vertretung arbeitet. »Sozial ist, was existenzsichernde Arbeit schafft.« In der Debatte um den Mindestlohn zeigt sich ein gesellschaftliches Grundproblem, das die um sich greifende »Ökonomisierung der Gesellschaft« begleitet: Wird das ökonomische – in der Regel eher betriebs- als volkswirtschaftlich verstandene – Effizienzkriterium alleiniger Bewertungsmaßstab für zukünftige politische Entscheidungen? Welches Gewicht messen wir z. B. bei der Beurteilung beschäftigungspolitischer Maßnahmen Aspekten wie Leistungs- und Bedarfsgerechtigkeit bei und inwieweit fragen wir dabei auch nach der Effizienz von Erwerbsarbeit für den arbeitenden Menschen? Spielt die grundsätzliche Frage nach dem Wert der Arbeit für den Menschen in einer »marktkonformen« Demokratie noch eine Rolle? Minde s tlohndebat te in Deu tschl and An die Adresse der Politik wäre in diesem Zusammenhang zu fragen: Kann sich eine Marktwirtschaft noch sozial nennen, wenn Erwerbsarbeit keine gesellschaftliche Teilhabe mehr ermöglicht weder materiell in Form existenzsichernder Einkommen noch sozialversicherungsrechtlich in Form gesetzlicher und tariflicher Schutzbestimmungen? Was ist das Versprechen von Chancengleichheit noch wert, wenn die Voraussetzungen dafür nicht geschaffen werden und sich Ungleichheit zunehmend vererbt? An die Ökonomen gerichtet wäre zu fragen: Welchen Erklärungswert haben ökonomische Modelle, die einen Markt als effizient deklarieren, der massenhaft prekäre Beschäftigungsverhältnisse hervorbringt, die den Betroffenen kein existenzsicherndes Einkommen sichern? Ist es Marktversagen oder ein Ausdruck von Marktmacht, wenn auf Geschäftsmodelle gesetzt wird, die mit staatli© Thomas Plaßmann, 2013 chen Markteingriffen in Form von Aufstockungsbeiträgen für Geringverdiener kalkulieren? Und: Warum schlägt sich der Facharbeitermangel nicht in höheren Löhnen nieder und werden Ingenieure als (billige) Leiharbeiter eingestellt? Der mit dem gesetzlichen Mindestlohn erfolgte staatliche Eingriff in die Lohnfindung ist Ausdruck einer Krise des Tarifvertragssystems, das auf einem Arbeitsmarkt mit zunehmender struktureller Ungleichheit nicht mehr vor Unterbietungskonkurrenz zu schützen vermag. Der Mindestlohn kann den Niedriglohnsektor nach unten begrenzen, aber – so lassen die Erfahrungen in Ländern mit Lohnuntergrenzen vermuten – wohl kaum ein auskömmliches Einkommen sichern. Wenn bei einer wachsender Kluft zwischen Arm und Reich die Zahl der Verlierer zu groß wird, dann werden immer mehr Menschen die Ergebnisse des Marktes als unfair empfinden und nicht mehr akzeptieren. Mittlerweile haben die wirtschaftlichen und sozialen Ungleichgewichte in Europa schon so stark zugenommen, dass die Konturen eines europäischen Sozialmodells nicht mehr erkennbar sind. In den Krisenländern des Südens hat die europäische Wirtschaftsordnung längst ein Legitimationsproblem. Zukünftig werden daher auch in der ökonomischen Diskussion Verteilungsfragen eine wichtigere Rolle spielen. So wird zu fragen sein, ob Volkswirtschaften zukünftig noch ein angemessenes Wirtschaftswachstum generieren können, wenn die ungleiche Verteilung des Produktivitätszuwachses weiter anhält. Für ein Viertel der Beschäftigten schwindet schon heute die Hoffnung auf existenzsichernde Renten und wächst die Gefahr der Altersarmut, vor allem für die im Niedriglohn überrepräsentierten Frauen. Geringverdiener und Arbeitslose haben kaum eine Chance, das von der Politik abgesenkte Rentenniveau durch kapitalgedeckte Altersvorsorge zu kompensieren. Durch die Sozialabgabenprivilegierung der geringfügigen Beschäftigung wird dieses Problem zusätzlich verschärft und durch den Ausstieg aus der paritätischen Finanzierung der gesetzlichen Rentenversicherung zudem sozialunverträglich gestaltet. Die bisherigen Entwicklungen auf zunehmend liberalisierten Weltmärkten lassen erwarten, dass die Markt- und Wettbewerbslogik der Globalisierung mittelfristig noch mehr oligopolistische Markt- und Machtstrukturen hervorbringen wird. Global agierende Unternehmen werden dann auf zunehmend gesättigten Märkten den Kostendruck auf mittlere und kleine Unternehmen noch mehr verstärken. Vor diesem Hintergrund könnte sich der Mindestlohn als ein vergeblicher Versuch erweisen, Fairness bei der Entlohnung einzufordern. D&E Heft 69 · 2015 Literaturhinweise Brenke, Karl/ Müller, Kai-Uwe (2013): Gesetzlicher Mindestlohn – Kein verteilungspolitisches Allheilmit-tel. DIW-Wochenbericht 39/2013. www.diw. de/documents/publikationen/73/diw_01.c.428116. de/13–39–1.pdf Bosch, Gerhard/ Weinkopf, Claudia (2014): Zur Einführung des gesetzlichen Mindestlohns von 8,50 Euro in Deutschland. Arbeitspapier 304 der HansBöckler-Stiftung vom Juni 2014 www.boeckler. de/pdf/p_arbp_304.pdf Kalina, Thorsten/ Weinkopf, Claudia (2012): Niedriglohnbeschäftigung 2012 und was ein gesetzlicher Mindestlohn von 8,50 € verändern würde. 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Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung, Berlin 2014 www.mindestlohn.de/hintergrund/studien/ mindestlohnregime-in-europa/studie-mindestlohnregime-in-europa.pdf Frankreich 62 Slowenien 60 Portugal 58 Ungarn 54 Belgien 51 Lettland 51 Deutschland* 51 Litauen 48 Irland 48 Slowakei 47 Polen 47 Niederlande 47 Großbritannien 47 Rumänien 45 Spanien 44 Griechenland 43 Luxemburg 42 Tschechien 36 36 Estland 0 10203040506070 * Geplante Mindestlohnhöhe ab Januar 2015 Abb. 8 Orientierungsmaßstäbe für den Mindestlohn in Deutschland D&E Heft 69 · 2015 © Hans-Böckler-Stiftung Minde s tlohndebat te in Deu tschl and 63 Hans Gaffal 64 MATERIALIEN M 1 DGB: »10 Argumente für Mindestlöhne« Warum braucht auch Deutschland welche? 10 schlagende Argumente auf einen Blick: 1. Mindestlöhne verhindern Lohnarmut. Mindestlöhne stellen sicher, dass Menschen von ihrer Arbeit leben können und keine weitere Unterstützung vom Staat benötigen. 2. Mindestlöhne sorgen vor. Niedriglöhne heute heißt Altersarmut morgen. 3. Mindestlöhne entlasten den Staatshaushalt. Es ist Aufgabe der Unternehmen und nicht des Staates, für Existenz sichernde Einkommen zu sorgen. 4. Mindestlöhne schaffen würdigere ArM 3 Der Niedriglohnsektor in Deutschland © www.sozialpolitik-aktuell.de beitsbedingungen. Existenz sichernde Einkommen sind ein Zeichen des Respekts für getane Arbeit. Warum hat ein Praktikant im Rahmen seines Studiums die Chance 5. Mindestlöhne schaffen fairen Wettbewerb. Durch Lohndumauf ein Praktikum, Menschen ohne Studium aber wird eine solche ping verschaffen Unternehmen sich unfaire WettbewerbsvorChance verwehrt? Und wie gerecht ist es, wenn ein 18-Jähriger am teile zulasten ihrer eigenen Beschäftigten. Tag seines Geburtstags seinen Austräger-Job an einen 17-Jährigen 6. Mindestlöhne sorgen für Gerechtigkeit. Mindestlöhne stopverliert, weil dieser für weniger als 8,50 Euro arbeiten darf? (…) pen die Abwärtsspirale der Löhne, unter der immer häufiger Mythos 3: »Der gesetzliche Mindestlohn ist gerecht.« auch Beschäftigte mit Berufsausbildung oder Studium leiden. Die Bezahlung von weniger als 8,50 Euro pro Stunde sei per se un7. Mindestlöhne fördern Gleichberechtigung. Mindestlöhne fair, sagen Mindestlohn-Befürworter. Aber kann man eine geschützen Frauen, die besonders oft von Niedriglöhnen betrofrechte Bezahlung wirklich an einer bestimmen Höhe festmachen? fen sind, vor Lohnarmut und Abhängigkeit. Zahlt der Gastronom einer Servicekraft sieben Euro Stundenlohn, 8. Mindestlöhne kurbeln die Binnenwirtschaft an. Mindestlöhne weil er für das gleiche Geld eine andere Servicekraft finden würde sorgen für mehr Nachfrage und wirken sich somit positiv auf oder weil bei einem höheren Stundenlohn die Rentabilität des Bedie Konjunktur aus. triebs in Gefahr wäre? Der Staat jedenfalls kennt die Motivation 9. 21 von 28 EU-Staaten verfügen bereits über Mindestlöhne. nicht. Er tut aber so, als würde er sie kennen, wenn er verkündet, Europaweit ist die Notwendigkeit von Mindestlöhnen unumdass ein Mindestlohn von 8,50 Euro gerecht sei. Gerecht könnte stritten. Deutschland aber hinkt dem europäischen Standard ein solches Gesetz allenfalls sein, wenn jeder Gastronom in der hinterher. Lage ist, 8,50 Euro zu zahlen. (…) 10. Mindestlöhne schaffen Klarheit. Mit Mindestlöhnen wissen ArMythos 4: »Ein Mindestlohn hilft vor allem den Menschen in den ostbeitnehmer, was ihnen an Lohn zusteht. Sie werden nicht gedeutschen Bundesländern.« zwungen, aus Unwissenheit Jobs anzunehmen, deren BezahVor der geplanten Einführung des Mindestlohns am 1. Januar 2015 lung unterhalb des Branchenstandards oder gar unterhalb des werden 4,6 Millionen Deutsche weniger als 8,50 Euro verdienen Existenzminimums liegt. und damit von der Einführung eines Mindestlohns betroffen sein. Während in Westdeutschland 14,6 Prozent aller Arbeitnehmer we© www.mindestlohn.de/hintergrund/argumente/ niger als 8,50 Euro je Stunde verdienen, sind es in den ostdeutschen Bundesländern mit 26,5 Prozent fast doppelt so viele. »Der Mindestlohn gefährdet deshalb vor allem Arbeitsplätze in M 2 Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft: »Mythen zum den neuen Bundesländern. Um die sogenannte Eingriffsintensität Mindestlohn« auf das westdeutsche Niveau zu senken, dürfte der Mindestlohn im Osten lediglich 7,00 Euro je Stunde betragen«, rechnet das InMythos 1: »Der Mindestlohn kostet keine Arbeitsplätze.« stitut der deutschen Wirtschaft Köln vor. Arbeitsministerin Andrea Nahles etwa behauptet, der MindestMythos 5: »Der Mindestlohn erleichtert Einstieg in Arbeit.« lohn gefährdet keine Arbeitsplätze. Dem widerspricht die ökonoWer mindestens 8,50 Euro die Stunde verdient, dem fällt es leichmische Theorie: Durch die Einführung eines Mindestlohns, egal in ter, eine Arbeit anzunehmen, so das Argument der Mindestlohnwelcher Höhe, gehen all jene Jobs verloren, die sich nicht mehr befürworter. Das Problem: Den Einstieg in Arbeit suchen vor allohnen. Und ein Job lohnt sich dann nicht, wenn wer Arbeit beauflem junge Menschen sowie Menschen aus Arbeitslosigkeit. Beide tragt, davon weniger hat, als er dem Arbeitenden zahlt. Damit Gruppen haben häufig geringe Qualifikationen und damit eine steht auch fest: Je höher der Mindestlohn, desto größer der Jobgeringe Produktivität. Der Mindestlohn raubt Berufseinsteigern verlust. Die Empirie folgt der Theorie: Experten gehen davon aus, und wenig Qualifizierten die Chance auf den Einstieg in Arbeit. dass ein flächendeckender Mindestlohn von 8,50 Euro 570.000 bis (…) 900.000 Arbeitsplätze gefährdet. Mythos 6: »Der Mindestlohn hilft gegen Armut.« Mythos 2: »Ausnahmen lösen das Problem des Mindestlohns.« Die Debatte um die Einführung des Mindestlohns wird in DeutschRichtig ist: Je größer die Zahl der Ausnahmen ist, desto geringer land als Armutsdebatte geführt. Mit einem Mindestlohn könne die Gefahr flächendeckender Jobverluste. Die negativen Folgen man dem Problem der »working poor« begegnen, so die Mindestwerden also durch Ausnahmen reduziert, ohne sie zu eliminieren. lohnbefürworter. Richtig ist: Ein Mindestlohn hilft nicht gegen (…) Hinzu kommt: Die Ausnahmen offenbaren die Absurdität des Armut. Denn schon heute gilt: Wer durch seine Arbeit nicht genügesamten Vorhabens. Warum erst langzeitarbeitslos werden, um gend Lohn erhält, um damit das Existenzminimum zu erreichen, wieder für weniger als 8,50 Euro den Einstieg in Arbeit zu finden? fällt nicht in Armut, denn jede Person kann ihr Einkommen erfor- Minde s tlohndebat te in Deu tschl and D&E Heft 69 · 2015 M 4 Warum der Mindestlohn schon vor der Einführung wirkt © FAZ-Grafik, Brocker, www.faz.net/aktuell/beruf-chance/arbeitswelt/gesetzlicher-mindestlohn-beeinflusst-deutschlands-wirtschaft-13266527.html derlichenfalls durch Sozialtransfers aufstocken lassen. Stattdessen erhöht ein Mindestlohn die Arbeitskosten der Unternehmen und gefährdet damit Arbeitsplätze. (…) Mythos 7: »Lohnsteigerungen infolge des Mindestlohns werden ausschließlich von Arbeitgebern bezahlt.« Nach Schätzungen des Sachverständigenrates werden die Lohnsteigerungen nur etwa zur Hälfte durch niedrigere Gewinne von Unternehmenseigentümern finanziert werden. Die andere Hälfte wird in Form steigender Preise von den Konsumenten bezahlt werden. (…) Die Erfahrung bei der Einführung des Mindestlohns in anderen Ländern lehrt zudem: Werden die negativen Auswirkungen des Mindestlohns spürbar – zum Beispiel in Form des Anstiegs der Jugendarbeitslosigkeit –, wird der Ruf nach Subventionen laut. Subventionen, die in erster Linie zu den Unternehmen fließen werden. In Frankreich etwa unterstützt der Staat den Mindestlohn mittlerweile in Höhe von rund zwei Prozent des Bruttoinlandprodukts. Mythos 8: »Der Mindestlohn erhöht die Nachfrage und belebt somit die Konjunktur.« Wer mehr verdient, der kann auch mehr ausgeben. Die Einführung eines Mindestlohns steigert die Nachfrage und kurbelt so die Wirtschaft an, so ein Argument der Mindestlohnbefürworter. Dabei werden regelmäßig zwei gegenläufige Effekte vergessen. Erstens erhöht der Mindestlohn die Arbeitskosten, was sich auf die Produktpreise negativ niederschlägt, was wiederum die reale Nachfrage senkt. Zweitens senkt auch der negative Beschäftigungseffekt eines Mindestlohns die Nachfrage. © www.insm.de/insm/kampagne/mindestlohn/8-fakten-zum-mindestlohn.html M Colin Crouch: »Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus«. Berlin 2011 liche Eingriffe – selbst wenn sie von den Preis- und Marketingstrategien oligopolistischer, also marktbeherrschen der Konzerne beeinflusst werden. (…) Denn wenn die Nachfrage sinke und die Arbeitslosigkeit steige, könnten die Beschäftigten keine weiteren Lohn-forderungen verlangen, weil die Arbeitslosen niedrigere Löhne akzeptieren würden, um wieder einen Job zu bekommen. Auf diese Weise werde der Markt das Gleichgewicht selbst wieder herstellen. Die Verhinderung von Arbeitslosigkeit war ein großes Ziel der keynesianischen Wirtschaftspolitik der Nachkriegszeit gewesen. Die Theoretiker des Neoliberalismus argumentieren nun, dass der Versuch, dies durch direkte Eingriffe in den Markt zu bewirken, mittelfristig scheitern müsse, da er auf einer künstlichen Anregung der Nachfrage beruhe, die zu einer Inflation führen werde. (…). Wenn der Staat jedoch von Eingriffen absehe, würden sich die Preise und Löhne schließlich auf einem Niveau einspielen, das auf lange Sicht höhere Beschäftigtenzahlen sichern werde. In der Folge blieb die neoliberale Kritik an der Regulierung des Arbeitsmarktes nicht auf die volkswirtschaftliche Ebene der Nachfragesteuerung beschränkt, sondern erfasste sämtliche Bestrebungen von Wirtschaftspolitikern oder Gewerkschaften, Vorgaben für die Arbeitszeit, Arbeitsbedingungen oder die betriebliche Altersversorgung festzuschreiben. So lange solche Regelungen nicht aus dem Wettbewerb hervorgingen, so das Argument, würden die daraus resultierenden Kosten die Preise hochtrieben, die Nachfrage bremsen und auf diese Weise zu mehr Arbeitslosigkeit führen. (…) Wie oben angedeutet, steht der Neoliberalismus Gewerkschaften grundsätzlich ablehnend gegenüber, da sie aus seiner Sicht das reibungslose Funktionieren des Arbeitsmarktes verhindern. Deshalb müssten ihre Aktivitäten kurzfristig zu Ineffizienz, langfristig zu Arbeitslosigkeit führen. © Colin Crouch: Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2011, S. 39, 40/41 Das oberste Credo des Neoliberalismus lautet, dass optimale Ergebnisse immer dann erzielt werden, wenn sich Angebot und Nachfrage auf dem Markt für Waren und Dienstleistungen durch den Mechanismus der Preisbildung selbst regulieren, ohne staat- D&E Heft 69 · 2015 Minde s tlohndebat te in Deu tschl and 65 Hans Gaffal M 6 Mindestlohn und Lohnfindungsprozess in Deutschland M 7 Finanztest 1/2014. 17. Dezember 2013 66 Der zwischen SPD und CDU/CSU im Koalitionsvertrag vereinbarte Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde reicht nicht, um im Alter eine gesetzliche Rente oberhalb der Grundsicherung zu bekommen. Dies geht aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine parlamentarische Anfrage der Linkspartei hervor. Ein Arbeitnehmer, der 45 Jahre lang 38,5 Stunden in der Woche arbeitet, müsste mindestens 10 Euro in der Stunde verdienen, um nach derzeitigem Stand im Alter mehr als rund 688 Euro im Monat gesetzliche Rente zu bekommen. Der Betrag entspricht der Grundsicherung im Alter. Die Leistung bekommen alle, die zu wenig Alterseinkommen haben und nicht von einem Partner versorgt werden. © www.test.de/Grundsicherung-im-Alter-850-Euro-Mindestlohn-bringen-kaumRente-4641909–0/ M 8 Rede des Bundestagsabgeordneten Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU) am 3. Juli 2014 im Deutschen Bundestag Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn es richtig ist, dass es Aufgabe des Staates ist, in der sozialen Marktwirtschaft Schiedsrichter des Wettbewerbs, Hüter des Gemeinwohls und vor allem Anwalt für die Schwachen zu sein, dann ist der Mindestlohn, wie wir ihn heute beschließen, ordnungspolitisch richtig und normativ geboten. Und doch ist es richtig, auf einige kritische Argumente einzugehen. Die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft hat durchaus recht, wenn sie sagt: Die Mindestlohndebatte ist geprägt von Halbwissen und Mythen. Leider stammen viele der aus Halbwissen vorgetragenen Mythen von dieser Initiative selbst. So behauptet die Initiative, der Mindestlohn gefährde Arbeitsplätze, und sie begründen das mit den ökonomischen Theorien. Nun kann man aus schiefen Annahmen in der ökonomischen Theorie immer die passenden Schlüsse ziehen. Deswegen lohnt ein Blick in die empirische Wirklichkeit. In Großbritannien ist der Mindestlohn 1998 eingeführt worden. Wir haben die zuständige Mindestlohn-Kommission dort besucht und gefragt: Hat der Mindestlohn Arbeitsplätze gekostet? Die eindeutige Antwort war: Nein, auch nicht in strukturschwachen Gebieten. Das ist alles sehr genau untersucht worden, und es ent- Minde s tlohndebat te in Deu tschl and spricht auch den Ergebnissen der internationalen Forschung. Nun wird man einwenden: Na ja, der Mindestlohn ist in Großbritannien doch viel niedriger. Das ist richtig. Aber man muss die Zahlen vergleichbar machen. Der Mindestlohn liegt in Großbritannien bei etwa 53 Prozent des Medianlohnes, in Deutschland wären es 2015 weniger als 52 Prozent des Medianlohnes; das ist also durchaus vergleichbar. Nein, hier drängt sich der Verdacht auf, meine Damen und Herren, dass es der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft nicht um das Erbe von Ludwig Erhard geht. Sie halten Verwerfungen und Verzerrungen der Wettbewerbsordnung in der sozialen Marktwirtschaft für normal, © Bundesministerium für Arbeit und Soziales weil der Markt nun einmal so ist, wie er ist. Nein, hier – der Verdacht drängt sich auf – will jemand das Soziale neu denken, während es doch darauf ankommt, das Neue sozial zu denken. Das Neue ist: Die Tarifbindung hat deutlich abgenommen. Die Tarifpartner erreichen heute viele Arbeitsverhältnisse nicht mehr. Dadurch kommt es zu einem Niedriglohnsektor, den viele für ungerecht halten. (…) Wenn die gesellschaftlichen Kräfte wie Arbeitgeber und Arbeitnehmer etwas nicht mehr regeln können, wird subsidiär der Staat tätig. Das ist eine der wunderbaren Ideen aus der katholischen Soziallehre, die auch den Geist der sozialen Marktwirtschaft durchdrungen haben. (…) Die Ordnung der Lohnfindung in unserer sozialen Marktwirtschaft ist aus den Fugen geraten. Gewerkschaften und Arbeitgeber alleine können es nicht richten. Deswegen ist der gesetzliche Mindestlohn, wie wir ihn heute verabschieden, eine subsidiäre Maßnahme. Er ist eine Weiterentwicklung der sozialen Marktwirtschaft aus dem System der sozialen Marktwirtschaft heraus. Er entspricht der Denklogik, indem er der sozialen Marktwirtschaft ein Ordnungsgefüge einzieht und Lohnspiralen nach unten verhindert. Wir anerkennen damit auch, dass der Arbeitsmarkt ein besonderer Markt ist, nicht einer, auf dem Pfeffer und Käse, Gurken und Wein gehandelt werden und lediglich das Spiel von Angebot und Nachfrage gilt. Nein, der Arbeitsmarkt ist ein abgeleiteter Markt, und er hat etwas mit Wertvorstellungen zu tun, die jenseits der Preise angesiedelt sind. Aus unserem Selbstverständnis als christliche Demokraten gehört nämlich die Arbeit zur Identität des Menschen und darf deswegen nicht vollständig dem Markt unterworfen sein. Meine Damen und Herren, sozial ist nicht, was Arbeit schafft – das war schon immer eine gedankenlose und falsche Aussage, sondern sozial ist, was gute Arbeit schafft. So denken wir als christliche Demokraten das Neue sozial in der Tradition von Ludwig Erhard und in der Tradition der Sozialphilosophie der Kirchen. (…) Von diesem Gesetz werden viele Menschen profitieren, denn sie haben ab dem 1. Januar 2015 einen gesetzlichen Anspruch auf den Mindestlohn. Von dem Gesetz werden viele Betriebe profitieren, denn Wettbewerbsvorteile durch Lohndrückerei werden nicht mehr möglich sein. Von dem Gesetz können auch die Sozialversicherungen profitieren, denn es wird mehr einbezahlt. (…) © Matthia Zimmer, CDU/CSU, www.bundestag.de D&E Heft 69 · 2015 M 9 Sven Astheimer: »Der Mythos vom prekären Arbeitsmarkt« Während über die Null im Bundeshaushaltsplan noch gestritten wird, inwieweit sie angesichts von Schattenhaushalten und Konjunkturrisiken überhaupt für die Geschichtsbücher taugen mag, ist eine andere Zahl über solche prinzipiellen Zweifel erhaben: Im Oktober übertraf die Zahl der Erwerbstätigen in Deutschland erstmals die Marke von 43 Millionen. Auch wenn die (…) vorläufigen Berechnungen des Statistischen Bundesamtes später einmal auf den Nachkommastellen korrigiert werden sollten, ändert sich doch nichts an der fast wundersam zu nennenden Erfolgsgeschichte, die sich am deutschen Arbeitsmarkt in den vergangenen Jahren zugetragen hat. Und die sich sogar im aktuell schwierigen politischen und konjunkturellen Umfeld fortsetzt. Innerhalb nicht einmal eines JahrM 10 »Die Gefahr der Entsolidarisierung im Betrieb« © Klaus Stuttmann, 6.11.2014 zehnts hat sich die Arbeitslosenzahl von fünf Millionen somit fast halbiert. Ein solcher Moment ist auch geeignet, um endlich mit einem Mythos am Arbeitsmarkt aufzuräumen, der von ausforderungen. Eines der Probleme ist allerdings nicht, dass interessierten Stellen seit Jahren erfolgreich am Leben gehalten Deutschland einen Niedriglohnsektor hat, sondern dass es ihn wird. Es geht um die Behauptung, dass das »German Jobwunder« womöglich bald nicht mehr haben wird. Mindestlöhne auf der eivor allem unsichere Billigjobs und Hungerlöhne hervorgebracht nen und wirtschaftlicher Strukturwandel auf der anderen Seite habe. Dass die Legende vom dynamischen prekären Arbeitsmarkt drängen diesen Einstiegsarbeitsmarkt für viele Geringqualifieben eine solche ist, belegen die Daten klar. Doch was scheren zierte und (Langzeit-) Arbeitslose vehement zurück. Gerade diese schon die Fakten, wenn die steile These eigene politische FordeGruppen dürften in Zukunft jedoch die größten Probleme haben. rungen nach mehr Regulierung und Gesetzen über Mindestlöhne Denn während sich Unternehmen um Akademiker und Facharbeiso schön stützt? Gerade erst haben es neue Statistiken eindruckster einen zunehmend härteren Wettbewerb liefern werden, droht voll belegt: Der Aufschwung am Arbeitsmarkt bringt Deutschland gleichzeitig ein Szenario von verfestigter Langzeitarbeitslosigkeit vor allem sogenannte Normalarbeitsverhältnisse: sozialversiunter Schlecht- und Geringqualifizierten. chert und unbefristet. Die viel kritisierte »atypische BeschäftiDeshalb gilt es erstens, die Gruppe von Schulabgängern ohne Abgung« ist sogar auf dem Rückzug. Schon die Begrifflichkeit in schluss zu verkleinern. Die Zahl liegt mit fast 50 000 noch immer schönstem Beamtendeutsch spricht Bände: Sie sammelt einfach viel zu hoch. Da es aber wohl immer auch Abgänger ohne formelle alles ein, was nicht mehr in das Denkschema des zwanzigsten Abschlüsse geben wird, müssen zweitens Wege existieren, damit Jahrhunderts passt. Warum etwa ist eine Mutter, die nach der Basie ihre Fähigkeiten Arbeitgebern trotzdem präsentieren und sich bypause mit 20 Wochenstunden in ihren Beruf zurückkehrt, atyim Job weiterentwickeln können. So können nicht nur Hartz-IVpisch? Oder der Zeitarbeiter, der Vollzeit und unbefristet angeKarrieren verhindert, sondern auch Fachkräfte für die Wirtschaft stellt ist und zum ausgehandelten Tariflohn eingesetzt wird? gewonnen werden. Für diese Personen wird eine BeschäftigungsWer permanent die These vom wachsenden Arbeitsprekariat in form jenseits des klassischen Normalarbeitsverhältnisses oft die Deutschland vertritt, der spielt auch leichtfertig mit den Ängsten einzige Eintrittsmöglichkeit in den Arbeitsmarkt sein. Typisch der Menschen. Natürlich verändern sich die Bedingungen in der atypisch eben. Arbeitswelt permanent, wer wollte das schon leugnen. Dazu ge© Sven Astheimer: Der Mythos vom prekären Arbeitsmarkt, Frankfurter Allgemeine Zeihört etwa, dass die Zahl der Befristungen gestiegen ist. Während tung vom 28.11.2014, S. 17 ein großer Teil schon durch Vertretungen etwa für Elternzeiten seine logische Begründung findet, steigen heute auch junge Leute häufiger als früher in den Arbeitsmarkt zunächst nur auf Zeit ein. Zur Wahrheit gehört aber genauso, dass jede zweite Befristung anschließend entfristet wird. Die teilweise hysterisch geführte Debatte über eine taumelnde »Generation Praktikum« vor einigen Jahren fiel vor allem mangels Substanz rasch in sich zusammen. Denn die große Mehrheit der Jungakademiker mutiert im Verlauf ihrer Karriere weder zu unentgeltlichen Dauerpraktikanten noch zu Taxifahrern, sondern ist ausbildungsadäquat beschäftigt. Dasselbe gilt auch für das andere Ende des Beschäftigungsspektrums. Wer genau hinschaut, sieht, dass der große Anstieg von Minijobs und Co. auf die erste Hälfte des vergangenen Jahrzehnts fiel, also in die Zeit nach dem Platzen der Dotcom-Blase und die großen Restrukturierungen in der deutschen Wirtschaft. Seit den Anfängen des ersten Aufschwungs im Jahr 2006 stagniert die atypische Beschäftigung dagegen. In einem Punkt haben die Dauernörgler allerdings recht: Der Arbeitsmarkt steht trotz der Erfolge auch künftig vor großen Her- D&E Heft 69 · 2015 Minde s tlohndebat te in Deu tschl and 67 BRICHT EUROPA AUSEINANDER? REICHTUM UND ARMUT IN EUROPA 8. P olitische Partizipation und sozio-ökonomische Ressourcenausstattung in europäischen Demokratien OSCAR W. GABRIEL S 68 eit den 1970er Jahren änderte sich die Infrastruktur des politischen Lebens in den demokratisch regierten Staaten der Welt. Neben das Engagement innerhalb der Institutionen und Prozesse der repräsentativen Demokratie traten zahlreiche neue Beteiligungsformen. Zunächst entwickelten sich legale Protestaktivitäten zu einem festen Bestandteil des Aktionsrepertoires vieler Bürger (vgl. z. B. Barnes u. a. 1979). Dem folgte eine verstärkte Mitwirkung an der Entscheidung über politische Sachfragen durch Volksbegehren und Volksentscheide (Altmann 2011). Neuerdings initiieren Entscheidungsträger in Politik und Verwaltung zunehmend Experimente mit neuen Beteiligungsformaten unterschiedlicher Art, von Planungszellen über Zukunftskonferenzen und Mediationsverfahren bis hin zu Bürgerhaushalten. Alle diese Verfahren zielen darauf, ein möglichst breites Spektrum von Präferenzen und Kompetenzen für die Lösung gesellAbb. 1 »Mehr Demokratie wagen?« © C hristiane Pfohlmann, 2010 schaftlicher und politischer Probleme nutzbar zu machen, den Austausch zwischen Bürgern und politischen Entscheidungsträgern zu intensivieren und auf Dauer zu stellen, die Responsivität des politischen Systems zu möglichkeiten für bestimmte Teile des Elektorats.« (Schäfer und erhöhen und auf diese Weise die Qualität der Demokratie zu Schoen 2013: 114f). verbessern (Geissel und Newton 2012). Bedeuten mehr PartizipaDie Erkenntnisse über den Einfluss der sozialen Position von tionsmöglichkeiten gleichzeitig auch mehr Demokratie? Menschen für Art und Ausmaß ihrer politischen Aktivität sind nicht neu (vgl. bereits: Nie, Powell und Prewitt 1969). Sie haben aber in den vergangenen Jahren an Aktualität gewonnen, weil die empirische Forschung Hinweise auf eine Verschärfung sozialer Auf den ersten Blick erscheint die hinter diesen demokratischen Ungleichheit in den modernen Demokratien liefert. Diese BeInnovationen stehende Annahme, breitere bürgerschaftliche Parfunde widersprechen nicht allein der Hoffnung, die fortschreitizipationsmöglichkeiten verbesserten die Qualität der Demokratende Modernisierung der europäischen Gesellschaften führe tie, stichhaltig. Die Demokratie findet ihre Legitimationsgrundlangfristig zu einem Abbau sozioökonomischer Ungleichheit. lage im Prinzip der Volkssouveränität, und dieses bildet die Sie fordern darüber hinaus das Selbstverständnis der DemokraGrundlage der Forderung nach einer umfassenden Mitwirkung tie heraus, weil eine fortbestehende oder gar wachsende soziale aller Bürger an der Gestaltung des politischen Zusammenlebens. Ungleichheit möglicherweise die Idee einer gleichberechtigten Auf der anderen Seite liefert die empirische Forschung zahllose Teilnahme aller Bürger an der Gestaltung der politischen GeBelege dafür, dass sich jenseits der Stimmabgabe bei Wahlen nur meinschaft untergräbt. eine Minderheit der Bürger politisch engagiert, dass die WahlbeDie Untersuchung des Zusammenhanges zwischen der sozioökoteiligung in den letzten Dekaden gesunken ist und dass die polinomischen Ressourcenlage und dem Ausmaß politischer Beteilitisch Aktiven keineswegs einen repräsentativen Ausschnitt der gung in europäischen Demokratien bildet das Thema dieses BeiBevölkerung darstellen. Unter den politisch Aktiven sind ressourtrages. Als Datengrundlage dient der seit dem Jahr 2002 im censtarke und sozial gut integrierte Menschen überdurchschnittZweijahresrhythmus in zahlreichen europäischen Ländern durchlich stark vertreten. Aus diesem Grunde führt ein Ausbau politigeführte European Social Survey. In sämtlichen sechs Wellen wurscher Beteiligungsrechte nicht notwendigerweise zu einer den in 16 Ländern zufällig ausgewählte Personen über verschieVerbesserung der Qualität der Demokratie, denn: dene Themen befragt. Bei diesen Ländern handelt es sich um »Demokratische Innovationen eröffnen Bürgern neue PartizipaNorwegen, Schweden, Dänemark, Finnland, Irland, Großbritantions- und Einflussmöglichkeiten, doch können diese nicht von nien, Frankreich, Belgien, die Niederlande, Deutschland, die allen gleichermaßen (gut) genutzt werden. Zusätzliche EinflussSchweiz, Portugal, Spanien, Slowenien, Polen und Ungarn. Diese kanäle für die Bürger erweisen sich empirisch häufig als Einfluss- P o l i t i s c he Pa r t i z ip at i o n u n d s o z i o - ö k o n o mi s c he R e s s o u r c e n a u s s tat t u n g D&E Heft 69 · 2015 Auswahl bildet die Vielfältigkeit Europas sehr gut ab. Sie umfasst Mitglieds- und Nichtmitgliedstaaten der EU, Länder mit einer langen demokratischen Tradition und junge Demokratien, bevölkerungsreiche Gesellschaften und solche mit einer kleinen Bevölkerungszahl, wohlhabende und weniger wohlhabende Länder sowie Staaten in verschiedenen europäischen Regionen. Durch die Kumulation der Daten aus sechs Befragungswellen ergeben sich für die einzelnen Länder ungewöhnlich hohe Fallzahlen (zwischen 8.385 in Slowenien und 17. 523 in Deutschland). Zudem liefert die Verwendung über einen längeren Zeitraum kumulierter Daten strukturelle Erkenntnisse über die langfristig bestehende Beziehung zwischen sozialen Merkmalen und der politischen Partizipation und geht damit über die üblicherweise von der empirischen Forschung erstellten Momentaufnahmen hinaus. Politische Partizipation in europäischen Demokratien Abb. 2 Durchschnittliche politische Partizipation in 16 europäischen Demokratien, 2002–2012. Fragen: Es gibt verschiedene Möglichkeiten, mit denen man versuchen kann, etwas (in Deutschland) zu verbessern oder zu verhindern, dass sich etwas verschlechtert. Haben Sie im Verlauf der letzten 12 Monate irgendetwas davon unternommen? Haben Sie Kontakt zu einem Politiker oder einer Amtsperson auf Bundes-, Landes- oder Kommunalebene aufgenommen, in einer politischen Partei oder Gruppierung mitgearbeitet, in einer anderen Organisation oder in einem anderen Verband oder Verein mitgearbeitet, ein Abzeichen oder einen Aufkleber einer politischen Kampagne getragen oder irgendwo befestigt, sich an einer Unterschriftensammlung beteiligt, an einer genehmigten öffentlichen Demonstration teilgenommen, bestimmte Produkte boykottiert? Sind Sie Mitglied einer politischen Partei? Ja (1)/ Nein (0). In Tabelle 1 ist der Anteil der Befragten wiedergegeben, der mindestens eine dieser Aktivitäten ausgeführt hat. Manche Menschen gehen heutzutage aus verschiedenen Gründen nicht zur Wahl. Wie ist das bei Ihnen? Haben Sie (bei der letzten Bundestagswahl im September 2002) gewählt? Ja (1)/ Nein(0). In Abbildung 1 ist der Anteil der Wähler wiedergegeben. © Oscar W. Gabriel, nach: European Social Survey, Wellen 1 (2002) bis 6 (2012). Die Qualität von Demokratien hängt unter anderem davon ab, dass möglichst viele Bürger aktiv am gesellschaftlichen und politischen Leben teilnehmen. Diese Teilnahme vollzieht sich in unterschiedlichen Formen, von der Beteiligung an Spendenaktion über das Verfolgen politischer Ereignisse in den Massenmedien bis hin zur aktiven Einflussnahme auf politische Entscheidungen. Diejenigen freiwilligen Aktivitäten, mittels derer Privatpersonen versuchen, Einfluss auf politische Entscheidungen zu nehmen, bezeichnet man als politische Partizipation. Wie die empirische Forschung dokumentiert, haben sich zu diesem Zweck zahlreiche politische Aktivitäten entwickelt, die von unterschiedlichen Bürgern in unterschiedlichem Maße und mit unterschiedlichen Zielen eingesetzt werden (van Deth 2009). In diesem Beitrag geht es allerdings nicht darum, den Formenreichtum des Beteiligungssystems europäischer Demokratien nachzuzeichnen, sondern die Frage zu beantworten, wie groß der Anteil der Bürger europäischer Demokratien ist, die sich – in welcher Form auch immer – aktiv am politischen Leben beteiligen und wie dies mit ihrer Ressourcenausstattung zusammenhängt. Im European Social Survey wurden neun Formen des politischen Engagements erhoben, von der Teilnahme an einer nationalen Parlamentswahl bis hin zur Beteiligung an einer genehmigten Demonstration (| Abb. 1 |). Da Parlamentswahlen in einem festen zeitlichen Rhythmus stattfinden, besteht nicht in allen Ländern jederzeit die Möglichkeit, durch die Ausübung des Wahlrechts politischen Einfluss auszuüben. Auch im Hinblick auf ihren Institutionalisierungsgrad, ihre Funktion, den mit ihr verbundenen Aufwand und ihre Verbreitung spielt die Stimmabgabe bei Wahlen eine besondere Rolle im Partizipationssystem moderner Demokratien. Insofern spricht einiges dafür, sie gesondert von den übrigen Beteiligungsformen zu betrachten. (| Abb. 2 |) enthält einen Überblick über das durchschnittliche politische Engagement der Bürger von 16 europäischen Demokratien im Zeitraum 2002 bis 2012. Wie die Daten belegen, fiel die Stimmabgabe bei Wahlen in den einzelnen Nationen sehr unterschiedlich aus. Die Spitzengruppe umfasst Dänemark, Schweden, Belgien und die Niederlande. Knapp dahinter liegen Norwegen, Finnland, Spanien, Deutschland und Ungarn. Slowenien, Irland, Portugal, Frankreich, Großbritannien und Polen nehmen die folgenden Positionen ein. Einen Sonderfall bildet die Schweiz, in der D&E Heft 69 · 2015 die Wahlbeteiligung traditionell deutlich geringer ausfällt als in fast allen anderen Demokratien. Am anderen Pol nimmt Belgien wegen der gesetzlichen Wahlpflicht eine besondere Position unter den hier untersuchten Demokratien ein. Die über die Wahlbeteiligung hinausgehenden Aktivitäten waren im untersuchten Zeitraum in Schweden, Norwegen und Finnland besonders weit verbreitet. In diesen Ländern beteiligten sich durchschnittlich mehr als zwei Drittel der Befragten an nichtelektoralen Aktivitäten wie Politikerkontakten oder Demonstrationen. In Dänemark, der Schweiz, Deutschland, Frankreich und Großbritannien war mehr als die Hälfte der Bürger in solche Aktivitäten involviert. In Belgien, den Niederlanden, Spanien und Irland lag die Beteiligungsquote zwischen 40 und 49,9 Prozent. Dagegen nutzte in den drei mittelosteuropäischen Ländern und in Portugal nicht einmal ein Drittel diese Möglichkeiten zur politischen Einflussnahme. Dem normativen Ideal einer aktiven Bürgerschaft werden die Menschen im nordwestlichen Teil Europas besser gerecht als in den postkommunistischen Staaten sowie in Portugal. Dieses Muster erweist sich im Zeitverlauf als stabil. In keinem der untersuchten Länder war im gesamten Beobachtungszeitraum ein stetiger Rückgang oder ein stetiger Anstieg der politischen Aktivität zu verzeichnen. Soweit überhaupt nennenswerte Schwankungen auftraten, waren sie kurzfristiger Natur und wiesen zudem nicht in eine einheitliche Richtung (nicht ausgewiesen). Sozioökonomische Bedingungen und politische Partizipation Für die Qualität einer Demokratie ist es nicht nur wichtig, dass sich viele Bürger aktiv am politischen Geschehen beteiligen. Da die gleichberechtigte Mitwirkung aller Mitglieder der politischen Gemeinschaft zu den wichtigsten Idealen der Demokratie gehört, P o l i t i s c he Pa r t i z ip at i o n u n d s o z i o - ö k o n o mi s c he R e s s o u r c e n a u s s tat t u n g 69 Oscar W. Gabriel 70 sonen oder in sozialen Gruppen häufen, desto stärker sinkt die Wahrscheinlichkeit einer aktiven Beteiligung am politischen LeNorwegen ben. Diese Erkenntnis bestätigte sich in zahlreichen, seither veröffentlichten empirischen Slowenien Studien (Brady, Verba und Schlozman 2005; Deutschland Hooghe und Quintelier 2013; Schäfer und Schoen 2013; Schlozman, Verba und Brady 2012; Verba und Irland Nie 1972; Verba, Nie und Kim 1978) Auch wenn das Interesse dieser UntersuGroßbritannien chung sich auf den Zusammenhang zwischen sozioökonomischer Ressourcenlage und poFrankreich litischer Beteiligung richtet, spielen weitere Faktoren eine Rolle dafür, ob Menschen eine Ungarn aktive Rolle im politischen Leben übernehmen. Hierzu gehören nach Verba, Schlozman Portugal und Brady (1995) partizipationsfördernde 0 20 40 60 80 100120 Motive (Interesse, Kompetenzbewusstsein, Parteiidentifikation usw.) und die Einbin Kein Merkmal Ein Merkmal Zwei Merkmale > Drei Merkmale dung in soziale Netzwerke (Vereinsmitgliedschaft und -engagement, informelle SozialAbb. 3 Ressourcenschwäche in 16 europäischen Demokratien, 2002–2012. kontakte usw.). Für den folgenden Beitrag ist Fragen: – Beschäftigungssituation: »Bitte sehen Sie Liste 54 einmal durch, und sagen Sie mir alles, was die Untersuchung ihres Einflusses jedoch von davon in den letzten sieben Tagen auf Sie zutraf: Bezahlte Tätigkeit (auch bei vorübergehender nachrangiger Bedeutung. Abwesenheit) (abhängig Beschäftigter, Selbstständiger, mithelfender Familienangehöriger), Schule/ Entsprechend seiner Zielsetzung, eine diffeAusbildung (nicht vom Arbeitgeber bezahlt; auch während der Ferien oder im Urlaub), im Vorruhestand/ renzierte Analyse der Struktur der europäiRuhestand/Frührente/Rente, Wehr- oder Zivildienst, Hausarbeit, Betreuung von Kindern oder anderen schen Gesellschaften zu ermöglichen, entPersonen (1: nicht arbeitslos); arbeitslos und auf aktiver Suche nach einem Arbeitsplatz, arbeitslos, Wunsch hält der European Social Survey zahlreiche nach einem Arbeitsplatz, aber keine aktive Suche, chronisch krank oder behindert (0: arbeitslos).“ Indikatoren der sozialen Lage der BevölkeEinkommensquelle: „Bitte denken Sie einmal an das Einkommen aller Haushaltsmitglieder und an alle rung europäischer Demokratien. Um die Einkommensarten, die der Haushalt bezieht. Was ist die wichtigste Einkommensquelle Ihres Haushaltes? Ideen der sozioökonomischen RessourcenLöhne oder Gehälter, Einkommen aus Selbständigkeit oder landwirtschaftlicher Tätigkeit, Renten oder Pensionen, Einkommen aus Vermögensanlagen, Ersparnissen, Versicherungen oder Grundbesitz (0: kein schwäche abzubilden, finden in diesem Beistaatliches Transfereinkommen), Arbeitslosengeld/-hilfe oder Abfindungen, andere Sozialleistungen trag fünf Indikatoren Verwendung. Von sozio(Sozialhilfe, Bafög usw.) oder Stipendien (1: staatliches Transfereinkommen).“ ökonomischer Ressourcenschwäche ist dann Subjektive Einkommenssituation: Was auf Liste 57 beschreibt am besten, wie Sie Ihr gegenwärtiges die Rede, wenn eine Person (1) keiner bezahlHaushaltseinkommen beurteilen? Mit dem gegenwärtigen Einkommen kann ich/können wir … bequem ten beruflichen Tätigkeit nachgeht, (2) ein leben (oder) zurechtkommen (0: keine subjektive Einkommensschwäche), nur schwer zurechtkommen (oder) staatliches Transfereinkommen (außer Rente nur sehr schwer zurechtkommen(1: subjektive Einkommensschwäche).“ oder Pension) bezieht, (3) nach eigener EinFormaler Bildungsabschluss: „Was ist der höchste allgemeinbildende Schulabschluss, den Sie haben? schätzung mit ihrem Einkommen nicht gut Schule beendet ohne Abschluss und Volks-/Hauptschulabschluss bzw. Polytechnische Schule Oberschule zurecht kommt, (4) über keine abgeschlosmit Abschluss 8. oder 9. Klasse (1: niedriges Bildungsniveau); Mittlere Reife/Realschulabschluss bzw. Polytechnische Oberschule mit Abschluss 10. Klasse, Fachhochschulreife (Abschluss einer Fachoberschule sene oder eine nur elementare Schulbildung etc.), Abitur bzw. Erweiterte Oberschule mit Abschluss 12. Klasse (Hochschulreife) (0: kein niedriges verfügt und wenn diese (5) niedriger ist als Bildungsniveau).“ die des Vaters. Statt die Effekte aller dieser Bildungsmobilität: „Was ist der höchste allgemeinbildende Schulabschluss, den Ihr Vater hat (hatte)? fünf Einzelgrößen auf die politische BeteiliSchule beendet ohne Abschluss und Volks-/Hauptschulabschluss bzw. Polytechnische Schule Oberschule gung zu analysieren, findet in den folgenden mit Abschluss 8. oder 9. Klasse (1: niedriges Bildungsniveau); Mittlere Reife/Realschulabschluss bzw. Teilen dieses Beitrages ein Index zur Messung Polytechnische Oberschule mit Abschluss 10. Klasse, Fachhochschulreife (Abschluss einer Fachoberschule der Kumulation dieser Eigenschaften Veretc.), Abitur bzw. Erweiterte Oberschule mit Abschluss 12. Klasse (Hochschulreife) (0: kein niedriges wendung ( vgl. | Abb. 3 |). Bildungsniveau).“ Niedriger eigener Bildungsabschluss als Vater (1: Abstieg), (gleicher oder höherer Das Phänomen der Ressourcenschwäche ist Bildungsabschluss als Vater (0: kein Bildungsabstieg). in den 16 europäischen Demokratien unterFür die Berechnung des Indexwertes „Ressourcenschwäche“ wurden diese fünf Merkmale addiert, so dass dieser Index Werte von 0 (keine Ressourcenschwäche) bis 5 (große Ressourcenschwäche) annehmen kann. schiedlich weit verbreitet. Im Durchschnitt Wegen der niedrigen Fallzahlen wurden die Werte 3, 4 und 5 zusammengefasst). der 16 Gesellschaften insgesamt weist die © Oscar W. Gabriel, nach: European Social Survey, Wellen 1 (2002) bis 6 (2012). Hälfte der Bevölkerung keines der fünf Merkmale von Ressourcenschwäche auf, bei einem Drittel ist ein Merkmal anzutreffen, bei zwölf bemisst sich die Qualität von Demokratien auch daran, dass resProzent finden wir zwei Merkmale. Vier Prozent der Befragten gesourcenschwache Personen ihre demokratischen Rechte annähören insoweit zu den sozioökonomisch benachteiligten Gruppen, hernd im gleichen Maße wahrnehmen wie dies ressourcenstarke als sich bei ihnen mindestens drei der einschlägigen Merkmale von Bürger tun. Dies ist nach den Erkenntnissen der empirischen ForRessourcenschwäche häufen. Die Menschen in europäischen Geschung allerdings nicht der Fall. sellschaften sind somit ungleich mit Ressourcen ausgestattet, jeBereits die ersten Arbeiten auf dem Gebiet der empirischen Partidoch streuen die entsprechenden Merkmale innerhalb der Gesellzipationsforschung belegten einen deutlichen Einfluss der soziaschaften mehr oder weniger stark und nur bei einer vergleichsweise len Lage von Menschen auf ihr politisches Engagement (vgl. kleinen Gruppe kumulieren sie. Milbrath 1965): Je besser Personen mit sozioökonomischen ResWie (| Abb. 2 |) zeigt, verdecken diese Durchschnittswerte große sourcen (Bildung, Einkommen, qualifizierte Berufstätigkeit) ausnationale Unterschiede in der Ressourcenverteilung. Während gestattet sind, desto stärker beteiligen sie sich an politischen Ak74,3 Prozent der Schweizer kein Merkmal von sozioökonomischer tivitäten. Als politisch schwer mobilisierbar erweisen sich dagegen Ressourcenschwäche aufweisen, trifft dies nur für 27,3 Prozent Personen mit einer schlechten Ressourcenausstattung. Je stärker der Portugiesen zu. Umgekehrt umfasst die am schlechtesten mit sich die Attribute von Ressourcenschwäche bei bestimmten Persozioökonomischen Ressourcen ausgestattete Gruppe in der P o l i t i s c he Pa r t i z ip at i o n u n d s o z i o - ö k o n o mi s c he R e s s o u r c e n a u s s tat t u n g D&E Heft 69 · 2015 Schweiz nur 0,9 Prozent der Bevölkerung, in Portugal aber neun Prozent. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, konzentrieren sich die ressourcenstarken Gruppen in Nord- und Mitteleuropa, die ressourcenschwachen hingegen im Süden und Osten des europäischen Kontinents. Die Tatsache, dass die Ausstattung mit sozioökonomischen Ressourcen das politische Engagement der Bürger beeinflusst, wurde durch die empirische Forschung mehrfach belegt. Zahlreiche Studien stützen die Annahme, dass Menschen umso weniger an Wahlen und anderen politischen Aktivitäten teilnehmen, je schlechter sie mit sozioökonomischen Ressourcen ausgestattet sind. Diese Erkenntnis bestätigt sich in unserer Untersuchung einmal mehr. Im Durchschnitt aller 16 Gesellschaften zeigt sich ein schwacher statistischer Zusammenhang zwischen der Ressourcenausstattung und der politischen Aktivität der Menschen. Für die Wahlbeteiligung stellt sich dieser Sachverhalt wie folgt dar: In der Bevölkerungsgruppe, die keines der hier untersuchten Merkmale von Ressourcenschwäche aufweist, beteiligen sich 84 Prozent der Befragten an Wahlen. In der am schlechtesten gestellten Gruppe liegt der betreffende Anteil jedoch nur bei 64 Prozent. Die Wahlbeteiligung nimmt mit dem Grad der Ressourcenschwäche kontinuierlich ab. Das über die Wahlbeteiligung hinausgehende politische Engagement unterliegt ebenfalls dem Einfluss der Ressourcenstärke. In der ressourcenstärksten Gruppe beteiligen sich 54 Prozent der Befragten an diesen Aktivitäten, in der stark benachteiligten Vergleichsgruppe dagegen nur 41 Prozent. Allerdings geht die nichtelektorale Partizipation mit zunehmender Ressourcenschwäche nicht kontinuierlich zurück. Sie sinkt zunächst relativ deutlich, bleibt aber stabil, sobald zwei Merkmale von Ressourcenschwäche vorliegen (vgl. | Abb. 2 |). Die Untersuchung der 16 Einzelstaaten bestätigt dieses Bild. In allen Ländern nimmt die politische Beteiligung mit der Ressourcenschwäche ab. Zwar liegen in den meisten Nationen schwache Zusammenhänge vor, deren Stärke variiert jedoch von Land zu Land. Zudem bestehen in dieser Hinsicht Unterschiede zwischen der Wahlbeteiligung und den nicht-elektoralen Aktivitäten. Die Differenz zwischen der Wahlbeteiligung der ressourcenstärksten und der am schwächsten mit sozioökonomischen Ressourcen ausgestatten Gruppe (vgl. | Abb. 4 |) beträgt im Durchschnitt der 16 Länder 22 Prozentpunkte. Die Extremwerte weichen jedoch stark von diesem Durchschnittswert ab. Insbesondere in Deutschland (33 %), in der Schweiz (35 %) und – mit Abstrichen – in Finnland (26 %) nehmen ressourcenschwache Menschen sehr viel weniger an Wahlen teil als Angehörige von Gruppen, die sich in einer günstigeren sozioökonomischen Lage befinden. In einigen Ländern (Irland, Norwegen, Niederlande, Frankreich, Polen, Schweden, Ungarn, Großbritannien) differiert die Wahlbeteiligung zwischen der ressourcenstarken und ressourcenschwachen Gruppe ca. um zwanzig Prozentpunkte. In Portugal, Dänemark und Slowenien beträgt dieser Wert zwischen zehn und zwanzig Prozentpunkten. Die geringste Differenz im politischen Verhalten der ressourcenstärksten und ressourcenschwächsten Gruppe besteht in Belgien und Spanien (weniger als 10 %). Ungeachtet der mehr oder weniger großen Lücke zwischen der Wahlbeteiligung des ressourcenstärksten und des ressourcenschwächsten Teils der Bevölkerung geben in allen Ländern – außer in der Schweiz – selbst die Mitglieder der sozioökonomisch am schlechtesten gestellten Gruppe bei Wahlen mehrheitlich ihre Stimme ab. Der Anteil der Wähler in dieser Gruppe schwankt zwischen 83 Prozent in Belgien und 37 Prozent in der Schweiz. In vier Ländern liegt er über 70 Prozent, in sieben zwischen 60 und 69,9 Prozent, in vieren zwischen 50 und 59,9 Prozent, nur in der Schweiz befindet er sich unterhalb dieser Marke. Die vier Ländergruppen weisen auf den ersten Blick keine Gemeinsamkeiten auf. In der ersten Gruppe befinden sich zwei nordische Staaten, aber auch Spanien und Belgien (das einzige Land mit gesetzlicher Wahlpflicht). Ein ähnliches Ausmaß an Heterogenität zeichnet auch die übrigen Gruppen aus. Unsere Daten liefern somit keine Hinweise auf gesellschaftliche oder politische Bedingungen, un- D&E Heft 69 · 2015 Abb. 4: Sozioökonomische Ressourcenschwäche und politische Partizipation in europäischen Demokratien, 2002 – 2012 (Angaben: Prozentanteile Aktiver). Merkmale Wahlbeteiligung andere Formen politischer Partizipation kein Merkmal 83,5 54,0 ein Merkmal 77,3 45,4 zwei Merkmale 69,6 39,6 drei oder mehr Merkmale 61,9 40,5 149.210 164.986 N Cramér’s V ,15*** ,12*** Kendalls tau c ,12*** ,12*** nach: European Social Survey, Wellen 1 (2002) bis 6 (2012). Fragen: wie Abbildung 2 und 3 Erläuterung: *** die Beziehung ist auf dem 99,9 Prozentniveau statis© Oscar W. Gabriel tisch signifikant. ter denen die politische Mobilisierung ressourcenschwacher Gruppen besonders gut oder besonders schlecht gelingt. Zudem muss man bei der Interpretation der Befunde über die Wahlbeteiligung den vorhandenen Effekt sozialer Erwünschtheit in Rechnung stellen. In den meisten Demokratien betrachtet die Mehrheit der Bürger die Stimmabgabe bei Wahlen als Pflicht eines guten Staatsbürgers (van Deth 2007). Dies führt in Umfragen regelmäßig zu überhöhten Angaben über die Teilnahme an Wahlen und verzerrt entsprechend das Bild der Wirklichkeit. Wie die Wahlbeteiligung hängt auch die nicht-elektorale Aktivität mit der sozioökonomischen Ressourcenlage von Menschen zusammen. Allerdings fällt die Beziehung zwischen diesen beiden Größen geringfügig schwächer aus als es in der Analyse der Wahlbeteiligung festgestellt wurde. Erneut manifestiert sich die Ressourcenlage am stärksten im politischen Engagement der deutschen Bevölkerung. Hier beläuft sich die Differenz zwischen der ressourcenstärksten und der ressourcenschwächsten Gruppe auf 18 Prozentpunkte. Dahinter rangieren Portugal, Belgien, Großbritannien, Finnland, Spanien, die Niederlande, die Schweiz, Schweden und Polen mit Werten zwischen 10 und 14 Prozentpunkten. Nochmals schwächer fällt der Einfluss der Ressourcenausstattung auf die nicht-elektorale Partizipation in weiteren fünf Ländern aus, während in Dänemark die ressourcenschwächste Gruppe etwas aktiver ist als die Gruppe mit dem besten Ressourcenzugang (| Abb. 4 |). Trotz des nachweisbaren Einflusses der Ressourcenlage auf das politische Engagement partizipieren die ressourcenschwachen Gruppen in den meisten der 16 Gesellschaften überraschend stark am politischen Leben. In den nordischen Demokratien und in Frankreich beteiligt sich mehr als die Hälfte der Angehörigen dieser Gruppe aktiv an nichtelektoralen Aktivitäten. In den übrigen mittel- und nordwesteuropäischen Ländern mit Ausnahme der Niederlande liegt dieser Anteil immerhin zwischen 40 und 49,9 Prozent. Spanien und Niederlande weisen mit Werten von knapp unter 40 Prozent eine nur geringfügig niedrigere Teilnahmequote der Ressourcenschwächsten auf. Dem stehen vier Ländern gegenüber, in denen sich nur eine sehr kleine Minderheit der ressourcenschwachen Bürger (zwischen 12 % in Portugal und 22 % in Slowenien) jenseits der Stimmabgabe bei Wahlen aktiv in das politische Leben einschaltet. Anders als bei der Analyse der Wahlbeteiligung lassen sich bei der Untersuchung der politischen Mobilisierung ressourcenschwacher Bürger zu nicht-elektoralen Aktivitäten fördernde und hemmende Rahmenbedingungen ausmachen. Besonders gut gelingt die Einbeziehung ressourcenschwacher Bürger in den politischen Prozess in Ländern mit einer langen demokratischen Tradition, einem hohen sozioökonomischen Entwicklungsgrad und einem starken Wohlfahrtsstaat. Die Zugehörig- P o l i t i s c he Pa r t i z ip at i o n u n d s o z i o - ö k o n o mi s c he R e s s o u r c e n a u s s tat t u n g 71 Oscar W. Gabriel keit Frankreichs zu dieser Ländergruppe lässt sich nicht durch die genannten Faktoren, sondern durch die traditionelle Protestkultur Frankreichs erklären. In diesem Land ist die Beteiligung an Protestaktivitäten nicht nur stark ausgeprägt, sondern anders als etwa in Deutschland fungiert der Protest in Frankreich auch als Mittel des Klassenkampfes (vgl. Schild 2000). Die Ländergruppe, in der sich die ressourcenschwache Bevölkerung nur schwer politisch mobilisieren lässt, zeichnet sich ebenfalls durch eine Reihe gemeinsamer Merkmale, insbesondere durch eine autoritäre Vergangenheit aus. Slowenien, Ungarn und Polen gehören zu den postkommunistischen Ländern, Portugal wurde bis zur Mitte der 1970er Jahre autor itär regiert. Im europäischen Vergleich weisen diese vier Länder zudem ein geringes sozioökonomisches Entwicklungsniveau auf. Dass die Kombination dieser Merkmale nicht zwangsläufig zu einer geringen Partizipation ressourcenschwacher Gruppen führt, zeigt das Beispiel Spaniens, das in dieser Hinsicht den mittel- und nordwesteuropäischen Ländern ähnlicher ist als den postautoritären Gesellschaften. Zusammenfassung und Diskussion 72 Abb. 5 Sozioökonomische Ressourcenschwäche und politische Partizipation in 16 europäischen Demokratien, 2002–2012. Fragen: wie Abbildungen 1 und 2. Lesehilfe: Die Grafik gibt die Prozentpunktdifferenz in der politischen Beteiligung der ressourcenstärksten und der ressourcenschwächsten Befragtengruppe wieder. Je größer diese Differenz ausfällt, desto größer ist der Einfluss der Ressourcenschwäche auf die politische Beteiligung. Die statistischen Zusammenhänge vermitteln ein ähnliches Bild. Das Maß für die Stärke der Beziehung (Kendall’s tau c) bewegt sich für den Zusammenhang zwischen der Wahlbeteiligung und der Ressourcenschwäche zwischen –,17 (Deutschland) und –,05 (Spanien), für die anderen Beteiligungsformen zwischen –,13 (Großbritannien9 und ,00 (n. s, Dänemark). Nahezu alle Beziehungen sind auf dem 99,9 %-Niveau statistisch signifikant © Oscar W. Gabriel, nach: European Social Survey, Wellen 1 (2002) bis 6 (2012). Obgleich die empirische Partizipationsforschung zu den am besten entwickelten Zweigen der modernen Politikwissenschaft gehört, liegen nicht sehr viele international vergleichende Untersuchungen des Zusammenhangs zwischen der Ressourcenausstattung von Menschen und der Art und dem Ausmaß ihres politischen Engagements vor. In dieser Studie über 16 europäische Demokratien wurde gezeigt, dass die sozioökonomische Ressourcenausstattung allen 16 Ländern wichtig dafür ist, ob Menschen bei Wahlen ihre Stimme abgeben. In 14 der Länder – Dänemark und Norwegen bilden die Ausnahmen– wird auch die Beteiligung an anderen politischen Aktivitäten von der individuellen Ressourcenlage beeinflusst. Weitgehend unabhängig von der Einwohnerzahl des Staaten, vom Alter der Demokratie, vom Wohlstandsniveau und vom Grad der sozialen Sicherung in einem Lande gehen Menschen, umso weniger zur Wahl, je schlechter sie mit sozioökonomischen Ressourcen ausgestattet sind. Bei der Beteiligung an nicht-elektoralen Aktivitäten macht sich die Ressourcenausstattung etwas weniger stark bemerkbar, einen Einfluss auf das politische Verhalten übt sie aber dennoch aus. Die Tatsache, dass sich die sozioökonomischen Ressourcen von Bürgern etwas stärker in der Wahlbeteiligung niederschlagen als in anderen Beteiligungsformen stellt eine Überraschung dar. Die Stimmabgabe bei Wahlen verursacht einen geringen Aufwand, sie wird durch soziale Verhaltensnormen abgestützt, sie findet nur in größeren Zeitabständen und ist in den meisten Demokratien die am weitesten verbreitete Form politischer Beteiligung. Dennoch lassen sich ressourcenschwache Menschen schlechter zur Stimmabgabe mobilisieren als ressourcenstarke, und dennoch schlägt sich die soziale Position stärker in der Stimmabgabe bei Wahlen nieder als in anderen Beteiligungsformen. Gesellschaftliche und politische Bedingungen, die dazu beitragen könnten, diese Form politischer Ungleichheit abzubauen, sind auf den ersten Blick nicht erkennbar. Dagegen ist das bei anderen Beteiligungsformen sehr wohl der Fall. Die Beteiligung an nicht-elektoralen Aktivitäten ist in sozioökonomisch hoch entwickelten, wohlhabenden Ländern mit einer langen demokratischen Tradition und einem gut entwickelten System sozia- ler Sicherung weniger stark von der individuellen Ressourcenausstattung abhängig als in Ländern, in denen diese Merkmale nicht vorhanden sind. Was ergibt sich aus diesen Erkenntnissen für die Qualität europäischer Demokratien? Im Hinblick auf das Niveau und die gesellschaftliche Verteilung des politischen Engagements stellt sich die Qualität der Demokratie in den 16 untersuchten europäischen Demokratien unterschiedlich dar. In keinem der 16 Länder nehmen alle Bürger aktiv am politischen Geschehen teil und in keinem ist die politische Beteiligung völlig unabhängig von der Ressourcenlage. Dennoch entsprechen die Verhältnisse in den nordischen Demokratien unter beiden Gesichtspunkten besser demokratischen Idealen als in den postautoritären Gesellschaften Süd- und Osteuropas. Was die gleiche Wahrnehmung von Beteiligungsrechten durch die ressourcenstarken und die ressourcenschwachen Bevölkerungsteile angeht, scheint in Deutschland ein besonders großer Nachholbedarf zu bestehen. Literaturhinweise Altmann, David (2011): Direct Democracy Worldwide. New York: Cambridge University Press. Barnes, Samuel H. (1979): Political Action. Mass Participation in Five Western Democracies. Beverly Hills/London: Sage. Brady, Henry E., Sidney Verba und Kay Lehman Schlozman. (1995): Beyond SES: A Resource Model of Political Participation. American Political Science Review 89: 271–294. Geissel, Brigitte und Kenneth Newton (Hrsg.) 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Schild, Joachim (2000): Politische Konfliktlinien, individualistische Werte und politischer Protest. Ein deutsch-französischer Vergleich, Opladen: Leske + Budrich. Schlozman, Kai Lehman, Sidney Verba, and Henry Brady (2012), The Unheavenly Chorus: Unequal Political Voice and the Broken Promise of American Democracy, Princeton, N. J.: Princeton University Press. van Deth, Jan W. (2007): Norms of Citizenship. In: Dalton, Russell J. und Hans-Dieter Klingemann (Hrsg.): The Oxford Handbook of Political Behavior. Oxford/New York: Oxford University Press, 402–417. van Deth, Jan W. (2009): Politische Partizipation. In: Kaina, Viktoria/Römmele, Andrea, (Hrsg.): Politische Soziologie. Ein Studienbuch. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 141–161. Verba, Sidney und Norman H. Nie (1972): Participation in America, Political Democracy and Social Equality. New York. Harper & Row. Verba, Sidney, Norman H. Nie und Jae-On Kim (1978): Participation and Political Equality: A SevenNation Comparison. Cambridge u. a.: Cambridge University Press. 73 Abb. 6 »Welche Formen von politischer Beteiligung werden von den Bürgern praktiziert und sind für Sie erstrebenswert – Welche kommen nicht in Frage?« www.bertelsmann-stiftung.de/cps/rde/xbcr/SIDCE93650F- 414B9DD6/bst/xcms_bst_dms_34121_34144_2.pdf © Studie der Bertelsmann-Stiftung (2011): Bundesbürger möchten sich politisch beteiligen, vor allem aber mitentscheiden. Gütersloh. Verba, Sidney, Kay Lehman Schlozman und Henry Brady (1995): Voice and Equality Civic Voluntarism in American Politics. Cambridge, Mass./London: Harvard University Press. D&E Heft 69 · 2015 P o l i t i s c he Pa r t i z ip at i o n u n d s o z i o - ö k o n o mi s c he R e s s o u r c e n a u s s tat t u n g BRICHT EUROPA AUSEINANDER? REICHTUM UND ARMUT IN EUROPA 9. » Die Geschichte der europäischen Migrations- und Asylpolitik – ein Trauerspiel?« Ein Planspiel zur Asylpolitik. ARNDT, HOLGER-MICHAEL/ BEHNE, MARKUS W. Z 74 eit-online vertrat bereits am 11. Oktober 2013 die These: »Die Geschichte der europäischen Migrations- und Asylpolitik ist ein Trauerspiel«. Dies geschah insbesondere in Anbetracht der Flüchtlingskatastrophen vor der italienischen Insel Lampedusa und anderswo am Mittelmeer. Obwohl die Europäische Union sich schon früh auf eine gemeinsame, den europäischen Werten verpflichtete Flüchtlingspolitik verständigte, stellt sich die EU bis heute nicht nur aus der Sicht von Einreisewilligen immer noch als die »Festung Europa« dar. Die Zahl der Opfer, die bei dem Versuch, die Europäische Union zu erreichen, sterben, nimmt täglich zu. Ihre genaue Zahl ist unbekannt. Aber selbst die Grenzsicherungsorganisation der EU, »Frontex«, spricht von Zehntausenden. Dabei verschlechtert sich die Situation derer, die sich aus ganz unterschiedlichen Gründen auf den Weg nach Europa machen und den europäischen Boden und damit den vermeintlichen Schutz der Mitgliedstaaten der EU erreichen, von Monat zu Monat. Die Asyl- und Flüchtlingspolitik der Europäischen Union ist in den letzten Jahren zunhemend in Verruf geraten. Obwohl der Schutz von Flüchtlingen in der gesamten EU durch die Anerkennung der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) gewährt sein müsste, reagieren die Mitgliedstaaten sehr unterschiedlich, zumal sie sich ganz unterschiedlichen Herausforderungen gegenüber sehen. Einige Staaten an den Außengrenzen der EU erleben eine explodierende Einwanderungs- beziehungsweise Flüchtlingswelle. Andere Staaten sind als Binnenstaaten kaum betroffen, obwohl die ankommenden Menschen zum Teil gerne in genau diese Staaten weiterziehen möchten. Asylanträge, so die derzeit gültige Regel in der EU, müssen nämlich in jenem Land der EU gestellt werden, in dem die Asylsuchenden zuerst einreisen. Insgesamt wird dadurch in vielen Einreisestaaten die derzeitige Verteilung der Flüchtlinge als ungerecht erlebt. Was gerecht ist, wird aber sehr kontrovers diskutiert. Viele Flüchtlingshilfswerke und Menschrechtsorganisationen fordern eine bessere Aufnahme der geflüchteten Menschen, egal ob sie aus wirtschaftlichen, bürgerkriegs- oder politischen Gründen ihre Heimat verlassen haben. Insbesondere rechtspopulistische Parteien fordern dagegen eine Begrenzung der Zuwanderung, da sie die heimische Bevölkerung gegenüber den Asylsuchenden als benachteiligt beschreiben. Zusätzlich sind auch technisch-taktische Fragen in der Asylund Flüchtlingspolitik zu beantworten. Menschen, deren Asylantrag in einem Aufnahmestaat abgewiesen wurde, versuchen mitunter erneut eine Aufnahme in einem anderen Staat der EU. Mit einem Planspiel zu einer gemeinsamen europäische Asyl- und Flüchtlingspolitik möchte die Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg gemeinsam mit dem CIVIC Institut für internationale Bildung dieses aktuelle und wichtige Themenfeld europäischer Politik anschaulicher gestalten, erlebbar machen und auf Grundlage unterschiedlicher Positionen europäischer Akteurinnen und Akteure sowie Entscheidungsstrukturen der Europäischen Union Handlungsstrategien und Lösungsoptionen entwickeln. Im Mittelpunkt steht dabei der Beschluss für einen europäischen Rechtsakt, über den im Rahmen des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens der EU abgestimmt werden soll. Das Planspiel eignet sich dabei für den Einsatz ab Klassenstufe 9 aller Schularten und kann auch von einem einzenen Klassenverband im Rahmen eines Projekttages durchgeführt werden. Rechtliche Rahmenbedingungen Asyl ist eine Form des Schutzes, den ein Staat auf seinem Hoheitsgebiet einer Person gewährt, die nicht aus diesem Staat kommt. Asyl bedeutet in seiner ursprünglichen, seit dem antiken Griechenland praktizierten Form einen Zufluchtsort für Verfolgte. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 der UNO begründet, als Reaktion auf die Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs und der Terrorherrschaft der Nationalsozialisten, in Artikel 14 das Recht, in anderen Ländern vor Verfolgung Asyl zu suchen und zu genießen. Die bedeutet aber kein völkerrechtlich garantiertes Recht auf Asyl. Die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) von 1951 und das Zusatzprotokoll von 1967 beinhalten zwar auch keine Aufnahmepflicht, definieren aber in Artikel 1a zumindest einen Flüchtling als eine Person, die sich »aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung« in den Schutz eines anderes Landes begibt. Damit beschäftigt sich die GFK mit internationaler Migration durch Flucht. Art. 33 der GFK enthält das Verbot, einen Flüchtling über die Grenzen von Gebieten aus- oder zurückzuweisen, »in denen sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht sein würde.« Diese Ergänzung ist die Grundlage für die Aufenthaltsgewährung von Menschen, die in die Bundesrepublik oder andere europäische Staaten geflüchtet sind, aber kein Asyl aufgrund einer politischen Verfolgung erhalten, wie es in Art. 16a des Grundgesetzes festgelegt wird. Binnenmigration, auch unter Fluchtbedingungen wird durch die GFK nicht abgedeckt. Insgesamt haben im Jahr 2013 434.160 Personen Asyl in der EU beantragt. Ein Jahr zuvor waren nur 335.000 Asylanträge gemeldet worden. 2013 sind 860 Asylbewerber pro Million Einwohner in die EU eingereist. Für 326.310 Bewerbungen lagen am Ende des Jahres Entscheidungen vor. 112.730 erhielten eine positive Entscheidung und dürfen mit dem Flüchtlingsstatus (49.510) oder als Person, die aus humanitären oder anderen Gründen nicht in ihr Herkunftsland abgeschoben werden darf, in der EU bleiben. Die Anträge der Die Geschichte der europäischen M igr ations- und A s ylp olitik D&E Heft 69 · 2015 anderen 213.580 Personen, das sind 65 Prozent der Bewerber, wurden abgelehnt. Sie müssen die EU wieder verlassen. Die Anträge werden an den jeweiligen Staat der Ersteinreise gestellt. Die meisten Anträge wurden von 127.000 Bewerbern in Deutschland gestellt (29 Prozent). In Frankreich waren es 65.000 Anträge oder 15 Prozent, in Schweden 54.000 oder 13 Prozent, im Vereinigten Königreich 30.000 be ziehungsweise 7 Prozent und in Italien 28.000 oder 6 Prozent. Damit entfielen auf diese fünf Staaten rund 70 Prozent aller Anträge. Wenn man die Einwohnerzahl der Mitgliedstaaten zum Vergleich heranzieht, ergibt sich aber ein anderes Bild. Dann Abb. 1 Flüchtlinge versuchen bei Ceuta, einer spanischen Enklave in Nordafrika, über einen Zaun zu klettern, um in der hat diese höchste BewerberEuropäischen Union politischen Asyl zu beantragen. © Reduan, epa, picture alliance, 3.2.2015 quote Schweden zu verzeichnen mit 5.700 Bewerbungen pro Million Einwohner. Es fol25. Oktober 2011 zur Änderung der Verordnung (EG) 2007/2004 gen Malta mit 5.300 pro Million Einwohner, Österreich mit 2.100, des Rates zur Errichtung einer Europäischen Agentur für die opeLuxemburg mit 2.000 und Ungarn sowie Belgien mit je 1.900. Die rative Zusammenarbeit an den Außengrenzen der Mitgliedstaafünf Mitgliedstaaten mit der niedrigsten Quote waren Portugal ten der EU übernimmt letztlich genau diese Verpflichtung. mit 50 Bewerbungen pro Million Einwohner, Tschechien mit 65, Estland 70, Slowakei 80 sowie Lettland und Spanien jeweils 95. Rund die Hälfte der Asyl-Bewerberinnen und Bewerber im Jahr Eröffnungsrede des Präsidenten der 2013 kamen aus 7 Ländern. Zusätzlich kann auch die Quote des Europäischen Kommission tatsächlich gewährten Asyls pro Antrag sehr unterschiedlich ausfallen. Deutschland gewährt durchschnittlich 30 Prozent der AnDas Planspiel wird nach der Einführungs- und Einarbeitungstragstellenden den Asylstatus, Italien dagegen rund 50 Prozent. phase aller Teilnehmer/-innen durch eine Rede der Präsidentin/ Die EU hat sich durch die Einführung des Binnenmarkts und die des Präsidenten der Europäischen Kommission eröffnet. Die Umsetzung des Schengener Durchführungsübereinkommens Spielerin/der Spiel erhält hierzu einen Entwurf einer Rede, der in1993 in einen Staatenverbund gewandelt, der keine Personenkondividuell ergänzt oder abgeändert werden kann. trollen an seinen Binnengrenzen mehr kennt. Damit ist die Frage gestellt, wie die von allen Mitgliedstaaten unterzeichnete GFK realisiert werden kann. Über die verschiedenen Vertragsreformen Fiktiver Vorschlag für einen Rechtsakt sind heute die Charta der Grundrechte der EU und die im Vertrag von Lissabon unter dem Titel Raum der Freiheit, der Sicherheit Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer bringen sich zu Beginn des und des Rechts formulierten Zugangspolitiken relevant für die Planspiels bereits aktiv bei der Erarbeitung des fiktiven VorAusgestaltung der EU-Asyl- und Flüchtlingspolitik durch die EUschlags für einen europäischen Rechtsakt ein. Die Europäische Rechtsetzung. Kommission, die das Recht zur alleinigen Initiative innehat, kann Auf dieser Grundlage wurden im Juni 2013 neue Verordnungen und für fünfvorgesehene Artikel des Rechtsakts aus jeweils zwei AlterRichtlinien erlassen, die die konkrete Umsetzung der Asyl- und native auswählen. Überdies kann der Inhalt für einen sechsten Flüchtlingspolitik in der EU regeln. Die Verordnungen und RichtliArtikel frei gewählt werden. nien wurden nach dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren beschlossen. Im Einzelnen sind dies die sogenannte Dublin-III-Verordnung. Ablauf des Planspiels Im Planspiel wird auch die Rolle der Europäischen Grenzschutzagentur Frontex thematisiert. Frontex unterstützt mit Sitz in WarDas Planspiel ist auf eine Ein-Tages-Veranstaltung ausgelegt und schau seit 2004 die Mitgliedstaaten der Europäischen Union bei inklusive Pausenzeiten ca. 7 ½ Zeitstunden lang. Es werden drei der Sicherung der Grenzen der EU. Frontex wird dabei im ZusamRäume benötigt, die in unmittelbarer Nähe zueinander liegen. menhang mit der europäischen Flüchtlingspolitik kontrovers disDer größte Raum muss alle Teilnehmenden aufnehmen können. kutiert. Vor allem die Erneuerung der Leitlinien für Frontex-OpeDie Spielerinnen und Spieler erhalten nach der thematischen und rationen im Jahr 2011 war umstritten, da seitdem durch die methodischen Einführung jeweils ein Szenario, ein Gruppenprofil Teilnahme an solchen gemeinsamen Maßnahmen nicht nur Vorund ein Rollenprofil sowie den Zeitplan und spezifische Einzelvorteile für die jeweiligen Mitgliedstaaten verbunden sind, sondern lagen. Die Gruppen »Medien«, »Europäische Kommission«, »Rat« auch die Verpflichtung, in internationalen Gewässern ausgegrifund »Europäisches Parlament« werden aus den teilnehmenden fene beziehungsweise gerettete Bootsflüchtlinge zunächst in eiSchülerinnen und Schülern respektive Jugendlichen oder Erwachnen eigenen Hafen zu bringen, um zum Beispiel eventuelle Asylsenen gebildet. Jede Gruppe beginnt mit einer Vorstellungsrunde, rechte festzustellen. Die letztlich verabschiedete Verordnung in der jede Person sich in ihrer neuen Rolle mit einem neuen Na(EU) 1168/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom D&E Heft 69 · 2015 Die Geschichte der europäischen M igr ations- und A s ylp olitik 75 Arndt, Holger-Michael/ Behne, Markus W. 76 men vorstellt und kurz in 2 Minuten die eigenen Ziele skizziert, ohne schon zu viele Details Preis zu geben. Die Mediengruppe kann bereits nach ihrer eigenen Findung an den Vorstellungsrunden der Organe teilnehmen. Die Mitglieder des EP setzen sich in ihren Fraktionen zusammen, die Mitglieder des Rates sitzen in einer alphabetischen Reihenfolge der Ländernamen. Danach wird in jeder Gruppe eine Person zur Präsidentin oder zum Präsidenten gewählt und leitet die weiteren Sitzungen. Weitere Personen können für die Kontakte zu den anderen Gruppen oder zu Schriftführenden bestimmt werden. Die Kommission bereitet zeitgleich mit Hilfe der Vorlage einen Vorschlag für einen neuen Rechtsakt und die Eröffnungsrede vor. Die Mediengruppe erarbeitet einen Plan für die eigene Tätigkeit und nimmt an allen Sitzungen teil. Nach der ersten Pause eröffnet der Präsident oder die Präsidentin der Kommission die gemeinsame Konferenz mit der Eröffnungsrede. Nach einem kurzen Austausch, kleineren Interviews der Mediengruppe und informellem Kennenlernen zwischen den Teilnehmenden, kehren die Gruppen in ihre Räume zurück. Die Kommission verteilt ihren Vorschlag für einen neuen Rechtsakt zunächst im Parlament und anschließend im Rat. Der Text wird vorgelesen und die Beweggründe werden mitgeteilt. Die Kommission beziehungsweise einzelne Mitglieder der Kommission sind in der Regel in den Sitzungen des Parlaments und des Rats anwesend und haben ein Rederecht. Das EP und der Rat beraten die Vorlage und das EP beschließt Änderungen. Der Rat kann erst Änderungen beschließen, wenn das EP seine Änderungen dem Rat mitgeteilt hat und nur auf Grundlage dieser veränderten Vorlage. Das EP beschließt mit der absoluten Mehrheit seiner Mitglieder. Der Rat beschließt grundsätzlich mit der sog. qualifizierten Mehrheit. Die qualifizierte Mehrheit im Rat ist im Planspiel erreicht, wenn 55 Prozent der anwesenden mitgliedstaatlichen Vertreter, 65 Prozent der Bevölkerung der anwesenden Mitgliedstaaten widerspiegeln. Die Mediengruppe begleitet jede Sitzung der Organe. Zur Mitte des Planspiels und zum Abschluss führt die Mediengruppe jeweils eine Talkshow mit Gästen aus allen Organen durch. Zu Beginn der Talkshows berichten die Medienvertreter aus den Sitzungen, anschließend werden die Gäste interviewt. Ordentliches Gesetzgebungsverfahren Die Europäische Union erlässt grundsätzlich ihre Rechtsakte mit bis zu drei Lesungen im Europäischen Parlament und im Rat auf Initiative der Europäischen Kommission nach dem im Artikel 294 des Vertrags zur Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) beschriebenen Verfahren. Hiernach reicht die Kommission Vorschläge für gemeinsame Gesetze, eben für Verordnungen (unmittelbar gültige Rechtsakte) und Richtlinien (durch die Mitgliedstaaten umzusetzende Rechtsakte), ein. Die Vorschläge gehen an das Europäische Parlament und den Rat der EU. Im Europäischen Parlament (EP) arbeiten 751 auf 5 Jahre direkt gewählte Abgeordnete in politischen Fraktionen. Der Rat ist die Vertretung der Mitgliedstaaten für die tägliche Arbeit der EU. Hier sitzen 28 Fachministerinnen und -minister aus den nationalen Regierungen zusammen. Sobald das EP Änderungen zum Vorschlag der Kommission beschlossen hat, ist der Rat aufgefordert die Änderungen anzunehmen, abzulehnen oder ebenfalls Änderungen zu beschließen. Die erste Runde von Änderungsbeschlüssen heißt Erste Lesung. Sollten beide Institutionen keine Änderungen für notwendig betrachten oder der Rat die Änderungen des EP akzeptieren, kann das Gesetz in Kraft treten. Wird in der Zweiten Lesung Einigkeit in den Änderungen erzielt, tritt das Gesetz jetzt in Kraft. Werden sich EP und Rat überhaupt nicht einig, kann das Gesetz aber auch scheitern. Oft einigen sich aber auch beide Institutionen nach der Zweiten Lesung darauf, einen Vermittlungsausschuss einzuberufen, der eine Einigungsvorlage für eine Dritte Lesung in beiden Gremien erarbeiten soll. Der Vermittlungsausschuss besteht aus allen Mitgliedern des Rates und ebenso vielen Mitgliedern des EP. Sollte dieser Versuch scheitern oder in der Dritten Lesung eines der beiden Gremien gegen den gemeinsamen Vorschlag stimmen, ist das Gesetz endgültig gescheitert. Ansonsten unterzeichnen die Präsidenten oder Präsidentinnen von Rat und EP das Gesetz, womit es in Kraft tritt. Die Präsidentschaft im EP wird für je 2,5 Jahre von den Mitgliedern des EP gewählt. Die Präsidentschaft im Rat wechselt jedes Halbjahr, damit jedes Land einmal diese Aufgabe übernehmen kann. Die Kommission begleitet die ganze Zeit den Gesetzesvorschlag und gibt Stellungnahmen zu den Änderungswünschen ab. Dies ändert im Rat die Entscheidungsfindung. Bei negativen Beurteilungen der Kommission, kann der Rat die gewünschte Änderung nur einstimmig beschließen. Bei positiven Urteilen der Kommission, reicht eine qualifizierte Mehrheit. Um diese zu erreichen, reicht ab 2014 eine Mehrheit von 55 Prozent der Mitgliedstaaten, die 65 Prozent der Bevölkerung der EU vertreten. Das EP stimmt in der Regel mit Mehrheit ab. Rollenprofil Europäisches Parlament (als Beispiel) hier: Die Grünen/ Freie Europäische Allianz Grüne/EFA – Fraktionsprofil Die Fraktion Grüne EFA ist eine der mittelgroßen Fraktionen im Europäischen Parlament. Ihre Mitgliedparteien stammen aus dem ökologischen und bürgerlich-liberalen Spektrum sowie regionalistischer europäischer Politik. Dies bedeutet, dass neben klassischen ökologischen Parteien auch linksliberale Parteien und regionale Unabhängigkeitsparteien in Ihrer Fraktion sitzen. Die Grüne/EFA-Fraktion hat seit vielen Jahren Mitglieder aus vielen EU-Staaten. Damit ist sie im Selbstverständnis eine gesamteuropäische Fraktion. Die Grüne EFA-Fraktion vertritt regelmäßig pro-europäische Lösungen, da sie die Vorteile einer kontinentalen Politikgestaltung zumeist sehr deutlich gewichtet. Es sind aber auch MdEPs in den Reihen der Grünen/EFA-Fraktion, die das Subsidiaritätsgebot besonders betonen. Dieses Gebot unterstreicht den europäischen Grundsatz, dass nur auf einer höheren Ebene geregelt werden soll, was die untere lokale oder regionale Ebene weniger gut regeln kann. Die Grüne/EFA-Fraktion sieht sich als wertegebundene Fraktion, die vor allem den Umweltschutz betont und die Bürgerrechte gegen zu viel Bevormundung durch die Staaten verteidigt. Die Grüne/EFA-Fraktion ist eher wirtschaftskritisch. In der Asyl- und Flüchtlingspolitik ist die Position der Grünen/ EFA-Fraktion relativ einheitlich. Die unterschiedlichen Interessen liegen zwischen der Betonung der europäischen humanitären Menschenrechtstradition, die auch Flüchtlinge und Asylsuchende einschließt, und der Rücksicht auf eine möglichst gerechte Verteilung der Lasten zwischen den Mitgliedstaaten und Bürgerinnen EP – Grüne/EFA – Iniciativa per Catalunya Verds ICV (Spanien) – Rollenprofil Im Königreich Spanien leben auf über 504 Tausend Quadratkilometern rund 46 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner. Damit ist Spanien nach der Fläche auf Platz 2, nach der Bevölkerungsgröße auf Platz 5 der EU-Mitgliedstaaten. Spanien ist bereits seit 1986 Mitglied der Europäischen Gemeinschaften. Nach dem Tod des Militärdiktators General Franco 1975 gelang es der schnell, die Demokratie zu etablieren und zu festigen. Nach dem Ende der Ost-West-Teilung Europas gründete Spanien zusammen mit 11 weiteren Staaten Westeuropas 1993 die Europäische Union. Durch seine Größe und seine sehr vielfältige Wirtschaftsstruktur mit einer starken Industrie ist Spanien mit geschätzten 1.031 Mrd. Euro Bruttoinlandsprodukt nach der Wirtschaftsleistung in 2014 auf dem 5. Platz der ökonomischen Partner in der EU. Allerdings hat Spanien stark unter der Welt-Wirtschaftskrise seit 2008 gelitten, was zu einer hohen Arbeitslosenquote besonders unter Jugendlichen, dem Zusammenbruch der Baubranche und konkursgefähr- Die Geschichte der europäischen M igr ations- und A s ylp olitik D&E Heft 69 · 2015 deten Banken führte. Der Staat ist durch die Bankenrettung stark verschuldet. Durch seine Lage an der Südgrenze der EU ist Spanien besonders von der illegalen Einreise von Flüchtlingen betroffen. Über das Mittelmehr versuchen jährlich Tausende Menschen, Europa zu erreichen, um dort zu leben. Von diesen Menschen stellen allerdings viele ihren Asylantrag nicht in Ihrem Land, sondern sehen Spanien als Transitland und reisen illegal weiter nach Norden, um in Ländern wie Schweden, Deutschland oder Großbritannien Asyl zu finden. Für die ICV steht im Fokus, dass die EU endlich ihre »unmenschliche Flüchtlingspolitik« beenden muss. Darunter versteht die ICV zum einen die Verschärfung von Grenzkontrollen, z. B. im Rahmen von Einsätzen der Grenzschutzagentur Frontex. Diese dient nach Ansicht der ICV nur dazu, Flüchtlinge von Europa fernzuhalten, indem z. B. Flüchtlingsboote abgedrängt werden. Das ist für Sie unerträglich und die Verantwortlichen dafür müssen zur Rechenschaft gezogen werden. In den nordafrikanischen Enklaven Ceuta und Melila, die zu Spanien gehören, werden nach Informationen regelmäßig Flüchtlinge mit Gewalt am Grenzübertritt gehindert. Das ist unwürdig für einen europäischen Staat, finden Sie. Nach Ansicht der ICV können sich die europäischen Staaten der Verantwortung für die Flüchtlinge nicht entziehen, schließlich haben sie viele der Probleme in anderen Regionen der Welt mitverursacht, so dass die Menschen von dort fliehen müssen. Fluchtgründe können aus Ihrer Sicht nicht „geprüft“ werden, da jedes Schicksal individuell ist. Deshalb muss jedem Flüchtling, der seine Heimat verlässt und die oft weite und gefährliche Reise nach Europa auf sich nimmt, das Recht auf einen dauerhaften Aufenthalt gewährt werden. Die »unmenschliche Flüchtlingspolitik« zeigt sich nach Ansicht der ICV aber auch in der Behandlung von Flüchtlingen, die es nach Europa geschafft haben. Der oft jahrelange AufAbb. 2 Europa und Afrika mit den als »sichere Herkunftsstaaten« bezeichneten Ländern. enthalt in Flüchtlingslagern, ohne die © Grafik: J. Reschke, dpa, picture alliance Möglichkeit zu arbeiten und oft getrennt von Familienangehörigen, die in anderen Gegenden Europas leben, ist einfach menschenunwürdig und eine tung« auszubauen. Die EU kann es sich international aus Ihrer Schande für ein Europa, dass sich den Menschenrechten z. B. in Sicht nicht erlauben, zu keiner gemeinsamen Lösung zu kommen. seiner Grundrechtcharta verschrieben hat. Mit dieser Art der BeEs wäre ein Skandal, wenn eine wirtschaftlich so starke Region handlung von Flüchtlingen leisten die Regierungen dem Rassisder Welt sich hier nicht einigen könnte! Im Zentrum aller Überlemus und der Ausländerfeindlichkeit nur weiter Vorschub und ergungen muss die Menschenwürde stehen! Forderungen nach eischweren die Integration. Sie plädieren auch hier für einen ner besseren Grenzsicherung bedienen nur Vorurteile über radikalen Kurswechsel! Flüchtlinge, finden Sie. Die Politik hat aber aus Ihrer Sicht die VerSie sehen allerdings auch, dass die Lasten gerechter verteilt werantwortung, den Bürgerinnen und Bürgern Ängste zu nehmen, den müssen. Spanien soll nicht länger darunter leiden, dass es am anstatt diese durch populistische Äußerungen noch zu bestätiRande der EU liegt und damit natürlicherweise oft die erste Angen. laufstelle für Flüchtlinge ist. Darum setzen Sie sich dafür ein, dass Das Planspiel enthält – je nach Klassengröße – eine Vielfalt solsich vor allem die mittel- und nordeuropäischen Staaten stärker cher Rollenprofile. Am Ende soll dann nach einem politischen an der Verteilung der Belastungen beteiligen. Aushandlungsprozess über die Möglichkeit einer neue RechtssetEine gemeinsame Behörde und eine Datenbank lehnen Sie ab. zung in der Flüchtlings- und Asylpolitik abgestimmt werden. Kontrolle und Bürokratie wären am Ende nur dazu da, die Zahl der Kontakt: Holger-Michael Arndt: [email protected] Flüchtlinge drastisch zu reduzieren und Europa weiter zur »Fes- D&E Heft 69 · 2015 Die Geschichte der europäischen M igr ations- und A s ylp olitik 77 Jürgen Kalb D&E intern: Planspielangebote sowie Aktionstage der LpB BW (Auswahl) Im Rahmen der Politischen Tage der LpB in Baden-Württemberg werden sowohl Planspiele als auch Aktionstage angeboten. Politische Tage sind Veranstaltungen zu ausgewählten politischen Themen als Ergänzung zum normalen Schulunterricht oft durch junge Expertenteams der LpB (»peer group education«). Zielgruppe sind Schülerinnen und Schüler aller weiterführenden Schularten, aber auch Grundschulen ab Klasse 2. Die nachfolgende Tabelle zeigt in einer Auswahl die aktuellen Angebote der LpB. JÜRGEN KALB Abb. 1 Aktionstage und Planspielangebote der LpB BW im Überblick (Auswahl) Bereich / Format Name der Veranstaltung Zielgruppe Regierungspräsidium Kontakt Gesellschaft »Same same but different« ab Klasse 8 RPTü [email protected] »Soundcheck« Klassen 9-10 alle [email protected] »Wir und die anderen« ab Klasse 8 RPFr [email protected] Aktionstag zum Thema Vourteile und Diskriminierung. »GrenzFall« ab Klasse 8 RPFr [email protected] Aktionstag zum Thema Migration und Integration. Globaleasyrung ab Klasse 8 RPFr [email protected] Aktionstag zum Themenfeld Globalisierung. Internationale Zusammenhänge einfach erklärt. »Wandel durch Handel« ab Klasse 10 RPFr [email protected] Planspiel zur WTO - Möglichkeiten und Grenzen des Welthandels entdecken. » Streik! Arbeitskampf in der ABC AG« ab Klasse 9 RPKa/RPS [email protected] Planspiel zu Interessenskonflikten im Betrieb und Sozialpartnerschaft. »Stuttingen« Jugendliche ab alle [email protected] Wirtschaft Politik Europa Aktionstag zum Thema Gleichberechtigung. [email protected] Projekttag zum Thema Rechtsextremismus und Musik. Kommunalpolitisches Planspiel mit Jugendbeteiligung. Klasse 8 »Neckardorf« 78 Nähere Beschreibung ab Klasse 8 »Du hast die Wahl in Wahlingen« ab Klasse 7 »Bundestag macht Schule« ab Klasse 9 «Kein Bock auf Politik?» ab Klasse 5 »Festung Europa?« ab Klasse 9 RPKa/ RPS [email protected] RPTü [email protected] RPFr [email protected] RPKa/RPS [email protected] RPTü [email protected] RPFr [email protected] RPKa /RPS [email protected] RPTü [email protected] RPFr [email protected] RPTü [email protected] RPFr [email protected] RPKa/RPS [email protected] Planspiel zur Kommunalpolitik. Planspiel zur Kommunalpolitik. Planspiel des Bundestags zur Gesetzgebung. Aktionstag zu Grundlagen der Politik. Planspiel zur Asylpolitik der EU. (Auch in der Bausteine-Reihe erschienen) RPTü [email protected] »An der schönen blauen Donau« ab Klasse 10 RPKa/RPS [email protected] Planspiel zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit im Donauraum. »Europoly« ab Klasse 2 RPKa/RPS [email protected] Lernspiel rund um Europa und die Europäische Union. RPTü [email protected] »Europoly für S I« ab Klasse 5 RPTü [email protected] »Fokus Balkan« ab Klasse 9 RPKa/RPS [email protected] Planspiel für Schulklassen ab 25 Teilnehmer zum möglichen Beitritt in die EU: als PDF unter www.deutschlandundeuropa.de »Mobil in Europa« ab Klasse 10 RPKa/RPS [email protected] Planspiel für Schulklassen ab 25 Teilnehmer zur Konvergenz der europäischen Sozialsysteme: als PDF unter www.deutschlandundeuropa.de »Europäische Asyl- und Migrationspolitik« ab Klasse 10 RPKa/RPS [email protected] Planspiel für Schulklassen ab 25 Teilnehmer zur Asylpolitik der EU: demnächst als PDF unter www.deutschlandundeuropa.de Frieden / Sicherheit »Es geht um den Frieden!« ab Klasse 10 Geschichte »Kriegsende und Wiederaufbau in Freiburg nach dem Zweiten Weltkrieg« Klasse 8-10 RPFr [email protected] RPKa/RPS [email protected] RPFr [email protected] Erweitertes Lernspiel rund um Europa und die EU. Planspiel zum UN-Sicherheitsrat. Mit Tablet und Apps auf historischer Spurensuche in Freiburg. Die Geschichte der europäischen M igr ations- und A s ylp olitik D&E Heft 69 · 2015 In der Baustein- bzw. Planspiel-Reihe der LpB-BW werden exemplarisch Planspiele dokumentiert und publiziert. Teilweise können diese Planspiele auch als Planspielveranstaltungen angefragt werden. Ansprechpartner: – Verantwortlich dafür ist der stellvertretende Direktor der LpB: [email protected] – Die Planspiele für das Regierungspräsidium Stuttgart und Karlsruhe organisiert die Außenstelle Heidelberg der LpB: heiAbb. 2 Gerade entsteht ein Planspiel-Internetportal, das es ermöglichen soll, Teile der von der LpB angebotenen Planspiele [email protected] virtuell vorzubereiten und durchzuführen. Vgl.: www.fokus-planspiele.de bzw. http://fokus.kastanie-eins.de – Für das Regierungspräsi © KastanieEins, Agentur für Kommunikation und Serious Games, LpB Baden-Württemberg dium Freiburg zeichnet verantwortlich: thomas. waldvogel@ lpb.bwl.de. – Für das Regierungspräsidium Tübingen: thomas.franke@lpb. – Verantwortlich für den Bereich »Jugend und Politik« ist dies: bwl.de [email protected] – Zusätzlich bietet auch der Europareferent der LpB Planspiele Auf den Websites der Lpb (www.lpb-bw.de sowie auf deutschlandan: [email protected] undeuropa.de) finden sich zudem einzelne PDF-Versionen der – Für den Bereich der Extremismusprävention (team-mex) Planspiele. zeichnet verantwortlich: [email protected] Abb. 3 Bausteine - Reihe der LpB BW (Planspiele) im Überblick (Auswahl) Name der Publikation Bereich / Format Frauen und Männer - so und anders! Wirtschaft Störfall im Finanzsystem Politik Baden-Württemberg. Methoden zur Landeskunde schulische und außerschu- Methodensammlung zur wirtschaftlichen Globalisierung und Finanzkrise. lische Gruppen Ostralien - Schule als Staat Klassen 3-6 Schulklassen S I und SII Staats- und Eurokrise ab Klasse 9 Europa sind wir! Band 1 Festung Europa? ab Klasse 10 Ghettos - Vorstufen der Vernichtung D&E Heft 69 · 2015 Planspiel zur Asyl- und Flüchtlingspolitik in der EU. Unterrichtsvorschläge zum Thema Ghettos im Nationsozialismus. Zwischen Romantisierung und Rassismus: Sinti und Roma Euthanasie im NS-Staat Methodensammlung zur aktuellen FInanzsituation, Diskussionsanregungen zu Zukunftsentwürfen in Zeiten scheinbar entfesselter Finanzmärkte. schulische und außerschu- Methodensammlung für die europäische Jugendbildung. lische Lerngruppen Europa sind wir! Band 2 Erinnerung darf nicht enden Lobbyismus am Beispiel der Krankenversicherung. Handlungsorientierte Module für den Unterricht zu kulturellen, historiab Klasse 8, alle Schularten mit verschiede- schen und geografischen Fragestellungen, auch für den fächerübergreinen Anforderungsniveaus fenden Unterricht. Lernfeld Europa Die Nacht als die Synagogen brannten Altersgerechte Methodensammlung zur Landeskunde, Landesgeschichte und Landespolitik. Schulische und außerschu- Dokumentation eines Unterrichtsprojekt zur DDR-Geschichte am Evangelischen Heidehof-Gymnasium in Stuttgart mit DVD. lische Gruppen Planspiel Lobbyismus Geschichte Nähere Beschreibung Jugendliche /Lehrkräfte an Methoden für die Jugendildung, Texte, Methoden und UnterrichtsvorSchulen und offener schläge, das Querschnittsthema »Chancengleichheit« in unterschiedliJugendbildung chen Fächern zu integrieren. Gesellschaft Europa Zielgruppe Unterrichtsmaterialien und Methoden zur Geschichte der Sinti und Roma, insbesondere über den nationalsozialistischen Völkermord und seine Auswirkungen. ab Klasse 8 Materialien zum 9. November 1938. alle Schularten ab Klasse 5 Materialien und Unterrichtsvorschläge zum 27. Januar (HolocaustGedenktag). an Klasse 9 Grafeneck im Jahre 1940: Materialien und didaktische Impulse für den Unterricht. Die Geschichte der europäischen M igr ations- und A s ylp olitik 79 DEUTSCHLAND & EUROPA INTERN D&E-Autorinnen und Autoren – Heft 69 »Bricht Europa auseinander? Reichtum und Armut in Europa« Abb. 1 Professor Dr. Michael Groß, Universität Tübingen, Professur für Soziologie, mit dem Schwerpunkt Makrosoziologie. Abb. 2 Professor em. Dr. Michael Hartmann, Professur für Elite- und Organisationssoziologie an der Technischen Universität Darmstadt. Abb. 3 Prof. Dr. Roland Verwiebe, Professur für Soziologie an der Universität Wien, Arbeitsschwerpunkt u. a.: Soziale Ungleichheit in Europa Abb. 4 Nina-Sophie Fritsch, M. A., Universität Wien, Institut für Soziologie, Lehrbereich Sozialstrukturforschung und Quantitative Methoden Abb. 5 Professor Dr. Till van Treeck, Professur für Sozialökonomie an der Universität Duisburg – Essen. CIVES School of Civic Education. Abb. 6 Hans Gaffal, Studiendirektor, Referent für Gemeinschaftskunde/ Wirtschaft am Regierungspräsidium Stuttgart (Gymnasien), Theodor-Heuss-Gymnasium Esslingen Abb. 7 Professor em. Dr. Oscar W. Gabriel, Universität Stuttgart, Institut für Sozialwissenschaften. Schwerpunkte u. a.: Politische Einstellungen und politische Kultur, politische und soziale Partizipation sowie Methoden der vergleichenden empirischen Politikforschung. Abb. 8 Dr. Uwe Wenzel, Studienhaus Wiesneck, Institut für politische Bildung Baden-Württemberg e. V. sowie Universität Freiburg, Seminar für Wissenschaftliche Politik am Lehrstuhl für Vergleichende Regierungslehre Abb. 9 Rechtsanwalt HolgerMichael Arndt, CIVIC-Institut für internationale Bildung, Düsseldorf und Wien, Schwerpunkt u. a.: Planspiele in der politischen Bildung Abb. 10 Markus W. Behne, CIVICInstitut für internationale Bildung, Düsseldorf und Wien, Schwerpunkt u. a.: Planspiele in der politischen Bildung Abb. 11 Jürgen Kalb, Studiendirektor, Fachreferent LpB, Chefredakteur von D&E, Fachberater am RP Stuttgart für Geschichte, Gemeinschaftskunde und Wirtschaft, Elly-HeussKnapp- Gymnasium Stuttgart 80 Die Geschichte der europäischen M igr ations- und A s ylp olitik D&E Heft 69 · 2015 Stafflenbergstraße 38, 70184 Stuttgart Telefon 0711/164099-0, Service -66, Fax -77 [email protected], www.lpb-bw.de Direktor: Lothar Frick Büro des Direktors: Sabina Wilhelm Stellvertretender Direktor: Karl-Ulrich Templ Stabsstelle Kommunikation und Marketing Leiter: Werner Fichter N.N. -60 -62 -40 -63 -64 Abteilung Zentraler Service Abteilungsleiter: Kai-Uwe Hecht -10 Haushalt und Organisation: Gudrun Gebauer -12 Personal: Sabrina Gogel -13 Information und Kommunikation: Wolfgang Herterich -14 Klaudia Saupe -49 Siegfried Kloske, Haus auf der Alb Tel.: 07125/152-137 Abteilung Demokratisches Engagement Abteilungsleiterin/Gedenkstättenarbeit: Sibylle Thelen* -30 Politische Landeskunde*: Dr. Iris Häuser -20 Schülerwettbewerb des Landtags*: Monika Greiner Daniel Henrich -25 Frauen und Politik: Beate Dörr/Sabine Keitel -29/-32 Jugend und Politik*: Angelika Barth -22 Freiwilliges Ökologisches Jahr*: Steffen Vogel -35 Alexander Werwein-Bagemühl/ Sarah Mann -36/-34 Stefan Paller -37 Abteilung Medien und Methoden Abteilungsleiter/Neue Medien: Karl-Ulrich Templ -40 Politik & Unterricht/Schriften zur politischen Landeskunde Baden-Württembergs: Prof. Dr. Reinhold Weber -42 Deutschland & Europa: Jürgen Kalb -43 Der Bürger im Staat/Didaktische Reihe: Siegfried Frech -44 Unterrichtsmedien: Michael Lebisch -47 E-Learning: Sabine Keitel -46 Politische Bildung Online: Jeanette Reusch-Mlynárik, Haus auf der Alb Tel.: 07125/152-136 Internet-Redaktion: Klaudia Saupe -49 Bianca Hausenblas -48 Abteilung Haus auf der Alb Tagungszentrum Haus auf der Alb, Hanner Steige 1, 72574 Bad Urach Telefon 07125/152-0, Fax -100 www.hausaufderalb.de Abteilungsleiter/Gesellschaft und Politik: Dr. Markus Hug Schule und Bildung/Integration und Migration: Robert Feil Internationale Politik und Friedenssicherung/ Integration und Migration: Wolfgang Hesse Europa – Einheit und Vielfalt: Thomas Schinkel Hausmanagement: Julia Telegin DuE69_ums_20150316.indd U3 Außenstellen Regionale Arbeit Politische Tage für Schülerinnen und Schüler Veranstaltungen für den Schulbereich Außenstelle Freiburg Bertoldstraße 55, 79098 Freiburg Telefon: 0761/20773-0, Fax -99 Leiter: Dr. Michael Wehner Thomas Waldvogel -77 -33 Außenstelle Heidelberg Plöck 22, 69117 Heidelberg Telefon: 06221/6078-0, Fax -22 Leiter: Wolfgang Berger Robby Geyer -14 -13 Politische Tage für Schülerinnen und Schüler Veranstaltungen für den Schulbereich Thomas Franke Stuttgart: Stafflenbergstraße 38 Stabsstelle Extremismusprävention Stuttgart: Stafflenbergstraße 38 Leiter: Felix Steinbrenner Assistentin: Stefanie Beck -83 -81 -82 * Paulinenstraße 44–46, 70178 Stuttgart Telefon: 0711/164099-0, Fax -55 LpB-Shops/Publikationsausgaben Bad Urach Hanner Steige 1, Telefon 07125/152-0 Montag bis Freitag 8.00–12.00 Uhr und 13.00–16.30 Uhr Freiburg Bertoldstraße 55, Telefon 0761/20773-10 Dienstag und Donnerstag 9.00–17.00 Uhr -146 Heidelberg Plöck 22, Telefon 06221/6078-11 Dienstag, 9.00–15.00 Uhr Mittwoch und Donnerstag 13.00–17.00 Uhr -139 Stuttgart -140 -147 -109 Stafflenbergstraße 38, Telefon 0711/164099-66 Mittwoch 14.00–17.00 Uhr Newsletter »einblick« anfordern unter www.lpb-bw.de/newsletter.html 23.03.15 11:00 DEUTSCHLAND & EUROPA IM INTERNET Aktuelle, ältere und vergriffene Hefte zum kostenlosen Herunterladen: www.deutschlandundeuropa.de BESTELLUNGEN Alle Veröffentlichungen der Landeszentrale (Zeitschriften auch in Klassensätzen) können schriftlich bestellt werden bei: Landeszentrale für politische Bildung, Stabsstelle Kommunikation und Marketing Stafflenbergstraße 38, 70184 Stuttgart, Telefax 07 11/164 099-77 [email protected] oder im Webshop: www.lpb-bw.de/shop Wenn Sie nur kostenlose Titel mit einem Gewicht unter 0,5 kg bestellen, fallen für Sie keine Versandkosten an. Für Sendungen über 0,5 kg sowie bei Lieferungen kostenpflichtiger Produkte werden Versandkosten berechnet. KOSTENPFLICHTIGE EINZELHEFTE UND ABONNEMENTS FÜR INTERESSENTEN AUSSERHALB BADEN-WÜRTTEMBERGS Abonnements für 6,– Euro pro Jahr (2 Hefte) über: LpB, Redaktion »Deutschland & Europa«, [email protected], Stafflenbergstraße 38, 70184 Stuttgart. www.lpb-bw.de 12000692015 DuE69_ums_20150316.indd U4 23.03.15 11:00
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