Polyamid TECHNISCHE KUNSTSTOFFE [FAHRZEUGBAU] [MEDIZINTECHNIK] [VERPACKUNG] [ELEKTRO & ELEKTRONIK] [BAU] [KONSUMGÜTER] [FREIZEIT & SPORT] [OPTIK] Modifikationen zum Dahinschmelzen Herkömmliches Polyamid 66 zum prozesssicheren Blas- und Thermoformen modifizieren Mit konventionellen Polyamiden (PA) lassen sich aufgrund der niedrigen Ausgangsviskositäten keine Thermoform- oder Blasformbauteile herstellen. Entsprechend müssen die Werkstoffe z. B. durch Strahlenvernetzung teuer modifiziert oder auf andere Spezialtypen zurückgegriffen werden. Durch chemische Modifikatoren wurden nun herkömmliche Polyamide thermo- und blasformbar gemacht. T hermoformen und Blasformen sind zwei wichtige Verarbeitungsverfahren in der Kunststofftechnik. Beim Thermofor men werden thermoplastische Halbzeuge, wie etwa Folien oder Platten, meist über Strahlungsheizungen bis in den thermo elastischen Zustand hinein erwärmt und anschließend zu einem dreidimensionalen Formteil umgeformt (Bild 1). Während des Aufheizvorgangs hängt vor allem bei großflächigen Bauteilen das Halbzeug we gen seines Eigengewichts zwischen den Einspannungen durch. Besonders kritisch ist dies bei teilkristallinen Kunststoffen mit einer niedrigen Schmelzesteifigkeit. Ein starker Durchhang verursacht undefinierte Vorverstreckungen des Halbzeugs, die zu einer ungleichmäßigen lokalen Dehnung bei der Verstreckung und damit zu un gleichmäßiger Wanddickenverteilung füh ren. Des Weiteren kann ein starker Durch hang zu einer Faltenbildung im Formteil führen. Um den Durchhang zu verhindern und somit eine hohe Qualität des thermo geformten Bauteils zu gewährleisten, gilt es, die Schmelzesteifigkeit des Werkstoffs zu erhöhen. Hohe Schmelzesteifigkeiten werden auch beim Extrusions-Blasformen benö tigt. Das Blasformen eignet sich sehr gut, um Hohlkörper, z. B. Flaschen oder Luftungskanäle für den Automobilbau, herzustellen. Anhand des Schemas in Bild 2 zeigt sich, dass die ringförmige Schmelze, sobald sie vom Extruder in das Werkzeug umgelenkt wird, ähnlich wie beim Thermoformen mit dem Eigenge wicht belastet wird. Um hohe Bauteilqua litäten zu erreichen, ist somit auch beim Blasformen eine hohe Schmelzesteifig keit notwendig. Blasgeformtes Bauteil aus einem modifi zierten Poly amid 66 Vorteile, erfordert keine Strahlungsquelle und kann je nach Rezeptur an das Anforde rungsprofil des Prozesses wie auch an die ge forderten Eigenschaften angepasst werden. Um Polyamid 66 für das Thermoformen und das Blasformen kostengünstig zu mo difizieren, wurden am Institut für Kunststoff technik (IKT) der Universität Stuttgart meh rere Untersuchungen zur Modifikation durchgeführt, die die Viskosität von unter schiedlichen, kommerziell erhältlichen Po lyamidtypen steigern können. (Bilder: IKT) Chemische Modifikation Geforderte Dehnviskosität Bei Polyamid, dem wohl wichtigsten techni schen Thermoplast, wurden in den vergan genen Jahren Anstrengungen unternom men, die Schmelzesteifigkeit zu erhöhen. Eine Möglichkeit, die Dehnviskosität wie auch die Schmelzesteifigkeit zu steigern, ist die teilweise Vernetzung der makromoleku laren Ketten. Im Werkstoff kann diese bei ausreichend hohem Vernetzungsgrad auch zu einer Dehnverfestigung führen. An Ther moplasten kann die Vernetzung zum einen durch teure Strahlenvernetzung [2] und zum anderen durch kostengünstige chemi sche Zusätze erfolgen. Die Modifikation der Werkstoffe durch chemische Zusätze hat im Vergleich zur Strahlenvernetzung große wirtschaftliche Um eine höhere Viskosität zu erreichen, wurde u. a. eine Epoxidverbindung als che mischer Modifier eingesetzt. Für die Umset zung wurde die Ausgangsviskosität von sechs unterschiedlichen handelsüblichen Polyamid 66-Typen, z. B. Ultramid A3W der BASF SE, Ludwigshafen, Schulamid 66 MV 2 der A. Schulmann GmbH, Kerpen, und Tech nyl A 218 von Rhodia Engineering Plastics, Lyon/Frankreich, mit einem Rotationsrheo meter (Platte-Platte-Konfiguration) bei einer Temperatur von 280 °C untersucht. Nachfol gend werden alle verwendeten Werkstoffe mit der Bezeichnung Probe 01, Probe 02 usw. benannt. Die Viskositätsverläufe der unter suchten Polyamid 66-Typen sind in Bild 3 dargestellt. Bei Probe P09 handelt es sich um ein Regranulat der Probe 01, das eine deutlich ausgeprägtere Strukturviskosität aufweist. Grundsätzlich variieren die Aus gangsviskositäten der PA66-Typen zwi schen 300 und 1000 Pas. Der ausgeprägtere Viskositätsanstieg im Bereich kleiner Kreis frequenzen ist auf eine stärkere Nachkon densation des Werkstoffs zurückzuführen und sollte vernachlässigt werden. » Kunststoffe 4/2015 www.kunststoffe.de © Carl Hanser Verlag, München. Der Nachdruck, auch auszugsweise, ist nicht gestattet und muss beim Verlag gesondert beauftragt werden. 97 TECHNISCHE KUNSTSTOFFE Polyamid Düse Halbzeug Blaswerkzeughälfte 1 Umformstufen Vorformling Werkzeug Kühlkanäle Stempel Halbzeug Kavität Bauteil © Kunststoffe Dünnstelle Butzenkammer Dickstelle Kalibrierdorn Bild 1. Schematische Zeichnung zum Thermoformen eines becherför migen Bauteils [1] Dorn Blaswerkzeughälfte 2 Bodenquetschnaht Halsschneide © Kunststoffe Bild 2. Schematische Darstellung des Extrusions-Blasform-Verfahrens [1] 103 104 P010 P011 P012 Viskositätssteigerungsverhältnis χ P01 P07 P08 P09 Pa·s 103 102 Extruder Bodenquetschkante Formluft komplexe Viskosität |η*| 98 100 101 Kreisfrequenz ω rad/s 102 Die Autoren M. Sc. Matthias Musialek ist wissen schaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kunststofftechnik (IKT) der Universität Stuttgart. Dipl.-Ing. Benjamin Neubig ist Abtei lungsleiter Verarbeitungstechnik am IKT. Prof. Dr.-Ing. Christian Bonten ist Leiter des Instituts für Kunststofftechnik. Service Literatur & Digitalversion BB Das Literaturverzeichnis und ein PDF des Artikels finden Sie unter www.kunststoffe.de/990997 102 101 100 10-1 © Kunststoffe Bild 3. Viskositätsverläufe der unmodifizierten, kommerziellen Poly amide (P01,…) (T = 280 °C) Die Viskositätssteigerung der einzel nen Polyamide erfolgt in einem reaktiven Aufbereitungsschritt auf einem Doppel schneckenextruder, wobei weniger die Wahl der Schneckenkonfiguration als die chemischen Modifikatoren eine entschei P6 P5 P4 P3 P2 P1 rad/s 102 © Kunststoffe Bild 4. Viskositätssteigerung bei unterschiedlicher Rezepturgestaltung (P1,…) (T = 280 °C) dende Rolle für die resultierenden rheo logischen Eigenschaften spielen. Viskosität einstellen und steigern zeigt die Viskositätssteigerung, die sich aus dem Verhältnis der resultierenden Viskosität nach der reaktiven Compoun dierung und der Ausgangsviskosität be rechnen lässt, basierend auf einem kom merziell erhältlichen Polyamid 66 (P01). Wird die Ausgangskomponente mit unter schiedlichen Kettenverlängerungen, die sich in ihrer chemischen Struktur als auch in der zudosierten Konzentration unter scheiden, compoundiert, können die re sultierenden viskoelastischen Eigenschaf ten auf einfache Weise gezielt eingestellt werden. Wird dagegen bei gleichbleibender Rezeptur das Ausgangspolymer variiert, so ergeben sich unterschiedliche Viskositäts steigerungen χ. Grund hierfür ist die unter schiedliche Anzahl an reaktiven Gruppen der verschiedenen Polyamide. Folglich ist Bild 4 100 101 Kreisfrequenz ω die chemische Modifikation jeweils an das Ausgangspolymer anzupassen, um den gewünschten Effekt zu erzielen. Teilvernetztes Polyamid 66 In Bild 5 sind die viskoelastischen Daten ei nes unmodifizierten (P01) und eines mo difizierten (P1) Werkstoffs visualisiert. Ty pisch ist der Verlauf von Speicher- (elasti scher Anteil) und Verlustmodul (viskoser Anteil) für den unmodifizierten Werkstoff, dessen viskose Anteile stets die elasti schen Anteile im gemessen Bereich über wiegen. Infolge der Modifikation dreht sich dieses Verhalten um und die elasti schen Anteile überwiegen die viskosen Anteile. Solch ein Werkstoffverhalten ist von teilvernetzten Polymeren bekannt. Der positive Effekt einer höheren Vis kosität und einer chemischen Teilvernet zung, die ein dehnverfestigendes Verhal ten verursacht und sich vorteilhaft auf die Thermoformgebung auswirkt, kann mit Durchhangversuchen gezeigt werden. © Carl Hanser Verlag, München Kunststoffe 4/2015 © Carl Hanser Verlag, München. Der Nachdruck, auch auszugsweise, ist nicht gestattet und muss beim Verlag gesondert beauftragt werden. 105 106 Pa Pa·s 4 10 Viskosität für ω = 0,1 rad/s Speicher-, Verlustmodul G‘, G‘‘ Polyamid TECHNISCHE KUNSTSTOFFE 103 2 10 101 100 G‘ 10-1 100 Kreisfrequenz ω 101 G‘‘ P5 105 P3 P12 P2 P11 P8 P10 104 P9 P7 P1 P01 103 102 rad/s 0 1 2 3 4 Durchhangszeit © Kunststoffe 5 min 6 © Kunststoffe Bild 5. Speicher- (G‘) und Verlustmodulverlauf (G‘‘) des un- (P01) und des Bild 6. Viskosität in Abhängigkeit der Durchhangszeit (T = 280 °C) modifizierten (P1) Werkstoffs (T = 280 °C) Bild 7. Thermoge formtes Halbzeug aus einem modifi zierten Polyamid 66 1,4 1,2 Strangaufweitung Die Durchhangversuche wurden in An lehnung an die Dissertation von Beilharz [3] folgendermaßen durchgeführt: Zu nächst wurde das Halbzeug zwischen zwei Metallplatten eingespannt, die je weils eine kreisrunde Aussparung von 10 cm im Durchmesser haben. Die Vor richtung wurde anschließend in einen Ofen bei 280 °C gestellt. Nach einer vor her festgelegten Aufheizzeit wird die Zeit, die benötigt wird, um einen Durchhang von 10 mm zu erreichen, festgehalten. Die Durchhangszeit ist für die modifizierten Werkstoffe in Bild 6 dargestellt. Tendenziell wird erkennbar, dass eine höhere Scherviskosität auch zu einer hö heren Durchhangszeit führt und somit auch eine höhere Prozessstabilität ge währleistet werden kann. Die Eignung des am IKT modifizierten PA66 für das Thermoformen ist in Bild 7 anhand eines thermogeformten Halbzeugs erkennbar. T = 270 °C γ·s = 1 mm/s 1,0 0,8 Bild 8. Strangaufwei 0,6 tung für unter schiedliche chemi sche Modifikationen 0,4 0,2 0 P01 P13 P14 P15 P16 P17 Einstellbare Strangaufweitung Im Vergleich zum Thermoformen muss beim Blasformen auch die Strangaufwei tung berücksichtigt werden, die neben Schmelzesteifigkeit, Temperaturverlauf, Prozesseinstellung sowie Werkzeuggeo metrie einen Einfluss auf die Wanddicken verteilung hat. Somit ist es erforderlich, auch die Strangaufweitung in Abhängig keit von der Modifikation zu betrachten (Bild 8). Die Messung der Strangaufwei tung, das Verhältnis aus Strangdurchmes ser und Düsendurchmesser, wurde für eine Schergeschwindigkeit γs von 1 s-1 an hand von extrudierten Strängen an ei P1 © Kunststoffe nem Kapillarrheometer gemessen. Für das unmodifizierte Material ist eine Strangaufweitung unter 1 erkennbar. Grund ist die niedrige Schmelzesteifig keit, die bedingt durch das Eigengewicht, zu einer Abnahme des Querschnitts führt. Je nach chemischer Modifikation kann die Strangaufweitung, die ein Maß für die elastischen Eigenschaften der Po lymerschmelze ist, nach Bedarf einge stellt werden. Das Titelbild zeigt ein ent sprechend hergestelltes Blasformbauteil aus modifiziertem Polyamid 66. Fazit Die rheologischen Eigenschaften von Po lyamid 66 können durch den gezielten Einsatz von kostengünstigen chemischen Modifikatoren über ein breites Fenster eingestellt werden. Hierdurch lässt sich beispielsweise die Schmelzesteifigkeit, das Verhalten der Schmelze unter Dehn belastung sowie die Strang aufweitung beeinflussen, was zu einer höheren Pro zesssicherheit beim Thermoformen so wie beim Blasformen führt. W Kunststoffe 4/2015 www.kunststoffe.de © Carl Hanser Verlag, München. Der Nachdruck, auch auszugsweise, ist nicht gestattet und muss beim Verlag gesondert beauftragt werden. 99
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