aktuell Vor 70 Jahren schlug für das von NS-Deutschland

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Menschliche Schicksale in der Archivbox: Im „Centre de
documentation et de recherche sur l’enrôlement forcé“
werden Dokumente und Gegenstände aufbewahrt, die das
Schicksal der Zwangsrekrutierten widerspiegeln. Sie sind
eine wichtige Quelle für Historiker wie Eva Maria Klos.
Foto: Gerry Huberty
Vor 70 Jahren schlug für das von NS-Deutschland
besetzte Luxemburg eine Schicksalsstunde. Mit
Streik- und Protestaktionen antwortete das Land
auf die Ankündigung der braunen Machthaber, die
Dienstpflicht in der Wehrmacht auf die luxemburgische
Jugend auszudehnen. Das Aufbegehren wurde brutal
unterdrückt, die „Zwangsrekrutierung“ nahm ihren Lauf
– ein Trauma, das die Generation der „Jongen“ nachhaltig
geprägt hat.
Im Schatten
der Erinnerung
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JEAN-LOUIS SCHEFFEN
CDREF-Direktor Steve Kayser
in der Dauerausstellung des
„Mémorial de la Déportation“, die
im Erdgeschoss des Hollericher
Bahnhofs zu sehen ist.
[email protected]
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aum größer als ein Schuhkarton sind sie, die grauen
Archivboxen, die im alten Hollericher Bahnhof ganze
Regale füllen. Hinter ihrer Beschriftung mit nüchternen
Zahlen und Buchstaben verstecken sich menschliche
Schicksale: Stellungsbefehle, Feldpostbriefe, Fotos, rotweiß-blaue Armbinden, Totenbilder, sogar ein Militärdolch
– Dokumente und Objekte, die wie Relikte einer Vergangenheit wirken, die dem Vergessen anheim zu fallen droht. Das
„Centre de documentation et de recherche sur l’enrôlement
forcé“ (CDREF), 2005 ins Leben gerufen, hat die Aufgabe,
die Erinnerung an das schreckliche Leid, das Tausenden
von Zwangsrekrutierten im Zweiten Weltkrieg widerfuhr, zu
bewahren und künftigen Generationen zugänglich zu machen.
Dass es gerade hier seinen Sitz hat, ist kein Zufall: Vom Hollericher Bahnhof fuhr der Zug ab, der am 18. Oktober 1942
rund 2 000 junge Luxemburger ins „Altreich“ zur militärischen
Ausbildung und von dort an die Front brachte. Viele weitere
Konvois sollten folgen.
Foto: Gerry Huberty
Widerstand und Repression. Die Lage an der Ostfront seit
dem Kriegswinter 1941/42 hatte das Oberkommando der
Wehrmacht dazu gedrängt, neue Rekruten heranzuziehen, und
dies nicht bloß mehr im „Altreich“. Elsässer, Lothringer und
Luxemburger gerieten nun in den Sog der Kriegsmaschinerie.
Auf einer kurzfristig für Sonntag, den 30. August 1942 in
den Limpertsberger Ausstellungshallen einberufenen Großkundgebung informierte NSDAP-Gauleiter Simon, „Chef der
Zivilverwaltung im Lande Luxemburg“, seine Zuhörer über die
Einführung der allgemeinen Wehrpflicht. Zugleich bekamen
sämtliche Einberufenen – in einer ersten Phase die Geburtsjahrgänge 1920-24 – die deutsche Staatsangehörigkeit „verliehen“. Ein eklatanter Bruch der Haager Landkriegsordnung,
die festschrieb, dass es „untersagt (ist), die Bevölkerung
eines besetzten Gebiets zu zwingen, der feindlichen Macht
den Treueid zu leisten“ (Art. 45).
Für die Luxemburger war es der Tropfen, der das Fass zum
Überlaufen brachte. Einige von ihnen hatten vielleicht auch
die Flugblätter der Widerstandsorganisationen gelesen, die
Wind von der Sache bekommen hatten und zum „Generalstreik“
gegen die Besatzer aufriefen. Ausgangspunkt der Unruhen war
Wiltz, wo am frühen Morgen des 31. August die Arbeiter der
Lederfabrik den Dienst verweigerten und mit anderen Bürgern
im Protestzug durch die Straßen der Ortschaft zogen. Kritischer
für das Regime von Gauleiter Simon dürfte die Tatsache gewesen sein, dass auch die kriegswichtige Hüttenindustrie
an den Standorten Düdelingen, Differdingen, Esch/Alzette
und Schifflingen von mehrstündigen Arbeitsniederlegungen
erfasst wurde. Anderenorts schlossen sich Schüler und ihre
Lehrer, Geschäftsleute, Handwerker, Bauern und Beamte in
unterschiedlicher Form den Protestaktionen an, die auch an
den folgenden beiden Tagen nicht abklangen.
Blutrote Plakate
verkündeten in
den ersten Septembertagen 1942
die Todesurteile
gegen die vermeintlichen Anführer
des Streiks.
Zunächst überrascht, schlug der Gauleiter mit aller Macht
zurück. Der Ausnahmezustand wurde über Luxemburg verhängt
und ein Standgericht eingesetzt, das in wenigen Tagen 20 Personen wegen „aufrührerischen Streiks und Sabotage“ zum Tode
verurteilte. Ein weiteres Todesurteil folgte kurz danach, und
rund 125 weitere Personen wurden festgenommen und zum Teil
in ein Konzentrationslager überstellt. Die streikenden Schüler
wurden in ein Umerziehungslager gesteckt, die Familienangehörigen der „Rädelsführer“ in den Osten „umgesiedelt“.
Foto: LW-Archiv
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Schwere Entscheidung. Die Wehrpflicht, die der Streik nicht
verhindern konnte, wenn er auch ein wichtiges Zeichen setzte,
wurde nun mit dem sechsmonatigen, paramilitärischen Reichsarbeitsdienst, zu dem junge Luxemburger und Luxemburgerinnen seit 1941 verpflichtet waren, verknüpft. Spätestens
dann, wenn der Betroffene den Stellungsbefehl in Händen
hielt, musste er eine schwere Entscheidung treffen. Sollte er
für die „Preisen“ in den Kampf ziehen, auf die Verbündeten
des eigenen Volkes schießen, für Hitler töten und für das verbrecherische Nazi-Regime sein eigenes Leben fern der Heimat
riskieren? Die Alternative konnte nur im Untertauchen oder der
Flucht bestehen, doch auch dies war ein gefährliches Unterfangen, denn Kriegsdienstverweigerung wurde mit äußerster
Härte - der Todesstrafe oder aber hohen Zuchthausstrafen
– geahndet. Mehr noch: Wer sich dem Wehrdienst entzog,
riskierte, dass die Angehörigen nach dem perfiden Prinzip
der „Sippenhaft“ zur Rechnung gezogen oder im Rahmen der
Umsiedlungsaktionen nach Osteuropa verschleppt wurden.
Etwa 15 000 Jugendliche waren theoretisch von der Wehrpflicht
betroffen. Tatsächlich einberufen wurden etwa 10 200 junge
Männer der Jahrgänge 1920 bis 1927. Etwa 3 500 Luxemburger entzogen sich dem Dienst in den Armeen des „Dritten
Reichs“. 1 200 von ihnen verweigerten den Kriegsdienst von
vornherein, als „Refraktäre“ tauchten sie unter oder verließen
mit Hilfe der Widerstandsorganisationen das Land in Richtung
Frankreich, um sich im „Maquis“ oder im Dienste der Alliierten
zu engagieren. Unzählige „Jongen“ konnten sich im Land verstecken, wo sie Unterschlupf im Elternhaus, bei Verwandten,
Freunden oder anderen hilfsbereiten Landsleuten fanden. Auf
Dachböden, in Kellern, Verschlägen, in Kirchen, Erzgalerien
und abgelegenen Waldstücken entstanden Verstecke, die
für viele dieser jungen Männer manchmal auf Monate zum
beengten Zuhause wurden – immer in der Angst lebend, dass
das Versteck auffliegen würde. Um sie zu versorgen, gingen
viele Luxemburger in dieser Zeit erhebliche Risiken ein. Manche
zahlten dafür mit dem Leben.
Zeugen des Grauens. Wer dem Stellungsbefehl Folge leistete,
nahm sich oft vor, bei der ersten Gelegenheit zu fliehen. Der
„Heimaturlaub“ bot dafür die größte Versuchung, zumal der
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Am 18. Oktober 1942 fuhr vom Bahnhof Hollerich der erste Zug mit rund 2 000 zwangsrekrutierten
Luxemburgern nach Deutschland ab. Viele weitere sollten bis Juli 1944 folgen.
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Foto: LW-Archiv
Im „Reichsarbeitsdienst“ mussten Jugendliche – seit 1941 auch
junge Luxemburger und Luxemburgerinnen – „gemeinnützige“
Arbeiten im Dienste Deutschlands leisten. Die Ausbildung
hatte aber vor allem militärischen Charakter.
Foto: General Patton Memorial Museum
Zwangsrekrutierte hier auf die bestehenden Netze der Widerstandsorganisationen und die Solidarität seiner Landsleute
zählen konnte. In den Augen der Wehrmachtjustiz waren die
etwa 2 300 Luxemburger, die sich der deutschen Kriegsmaschinerie nach ihrem – erzwungenen – Fahneneid entzogen,
„Deserteure“, die mit allerhärtesten Strafen zu rechnen hatte,
was auch in vielen Fällen eintrat. Die Möglichkeit, von der Front
zu desertieren und zum Feind überzulaufen, war zudem mit
sehr hohen Risiken verbunden, denn die Gefahr, dabei vom
Gegner oder den eigenen Leuten unter Beschuss genommen
zu werden, war sehr groß.
Im Krieg ist sowieso alles ganz anders, als es sich Tausende
Kilometer entfernt und viele Jahre nach dem Geschehen in
nüchtern-analytischer Sprache zu Papier bringen lässt. Ganz
besonders, wenn dieser Krieg so barbarisch ist, wie es im
Zweiten Weltkrieg vor allem an den Frontabschnitten im Osten
Wenn der Jugendliche die
Vorladung zur Musterung für
den Reichsarbeitsdienst und die
Wehrmacht in Händen hielt, wusste
er, dass er vor der schwersten
Entscheidung seines Lebens stand.
und Südosten Europas der Fall war. In den meisten der vielen
Berichte von Zwangsrekrutierten, die seit 1945 in Buchform
oder als Interviews veröffentlicht worden sind, werden die
Kampfhandlungen im Vergleich zu den anderen Kapiteln kurz
abgehandelt. Manchmal mit dem expliziten Hinweis, dass der
Erzähler sich an verschiedene Szenen im Detail lieber nicht
mehr erinnern möchte.
Foto: Sammlung A. Heiderscheid
Ab und zu schimmert das Grauen des allgegenwärtigen Todes
zwischen den Zeilen durch. Alptraumhafte Erlebnisse, die
schon deutsche Landser zu verdrängen suchen, die für den
Zwangsrekrutierten aber noch in einer ganz anderen Weise
traumatisch sein können: Denn für ihn war der Gegner kein
Feind, sondern eigentlich ein Verbündeter. Und doch musste
auch er sich der Logik des Krieges fügen: Man tötet, um nicht
selbst getötet zu werden. Und man wird vielleicht Zeuge
(wenn nicht sogar gezwungener Teilnehmer) von KriegsT E L ECR A N 36/2012
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Ein Bild mit Symbolwert, auch
wenn es (wahrscheinlich) keinen
Luxemburger zeigt. Dem Debakel
an der Ostfront fielen zahllose
Zwangsrekrutierte zum Opfer,
andere kehrten schwer verletzt,
krank oder verstümmelt zurück.
Foto: LW-Archiv
Manche Zwangsrekrutierte führten
versteckt Armbinden oder andere
Erkennungszeichen mit sich, die sie
als Luxemburger ausweisen sollten.
Doch oft kam der Tod unvermittelt,
wie die von Granatsplittern
stammenden Löcher zeigen.
Foto: LW-Archiv/Nachlass F. Regenwetter
verbrechen gegen die Zivilbevölkerung, wie die deutsche
Wehrmacht sie vielfach an der Ostfront und auf dem Balkan
begangen hat.
zu sprechen oder ihre Erinnerungen niederzuschreiben. Andere
haben das bis heute nicht fertig gebracht.
Verheerende Bilanz. Wer nicht getötet oder schwer verletzt
– vom allgemeinen Rahmen der Zwangsrekrutierung bis zu Einzelschicksalen – ist das Ziel des „Centre de documentation et
de recherche sur l’enrôlement forcé“. Als Dokumentations- und
Forschungszentrum („mit bescheidenen personellen Mitteln“, wie
Direktor Steve Kayser betont) leistet die dem Staatsminister unterstellte Einrichtung einen wichtigen Beitrag zur Erinnerungsarbeit. Zum einen wurde ein bereits beachtliches Archiv aufgebaut,
das sowohl offizielle Akten wie auch persönliche Schriftstücke
und Gegenstände von Zwangsrekrutierten aufbewahrt. Der
Bestand soll eines Tages über die offizielle Internetseite www.
secondeguerremondiale.public.lu einsehbar gemacht werden,
auf der bereits der Katalog der 3 000 Bände umfassenden
Bibliothek des CDREF konsultiert werden kann.
wurde, und auch keine Möglichkeit sah, die Seiten zu wechseln
(der Kontakt zur Heimat war nach der Befreiung Luxemburgs
am 10. September 1944 völlig abgebrochen), geriet irgendwann mit dem Rest der stark dezimierten deutschen Truppen
in alliierte Kriegsgefangenschaft. Dort musste er feststellen,
dass sein Leidensweg noch lange nicht beendet war. Die
meisten kamen in sowjetische Kriegsgefangenenlager, wo
die Haftbedingungen katastrophal waren. Das Lager Nr. 788
bei der russischen Stadt Tambow, in dem luxemburgische,
elsässische und lothringische Wehrmachtsoldaten interniert
waren, wurde zum Gefängnis für 991 „Jongen“, von denen 166
an Erschöpfung, Entbehrung und Krankheit starben. Erst im
Dezember 1945, ein halbes Jahr nach dem Kriegsende in Europa, kehrten sie in die Heimat zurück, wobei der Rücktransport
weitere 50 Todesopfer forderte.
Info
Über die Geschichte Luxemburgs
im Zweiten Weltkrieg, insbesondere
Zwangsrekrutierung, Umsiedlung
und Judenverfolgung informiert das
„Mémorial de la Déportation“ im
Hollericher Bahnhof. Allgemeine
Öffnungszeiten: Montag bis Freitag
von 9 bis 12 Uhr und von 14 bis
17 Uhr. Gruppenbesichtigigungen
können unter der Nummer
2478-8191 reserviert werden.
Weitere Informationen, unter
anderem über das Veranstaltungsprogramm des CDREF:
www.secondeguerremondiale.lu
Die Bilanz des Krieges aus luxemburgischer Sicht war verheerend, ganz besonders was die Verluste unter seiner männlichen
Jugend anging. Von den rund 10 200 Zwangsrekrutierten kamen
deren 2 848 um, 1 551 kehrten verstümmelt, versehrt oder
krank nach Hause zurück. Krank in Körper und Seele, der besten
Jahre ihres Lebens beraubt, vom Krieg und der Erinnerung an
schreckliche Erlebnisse für immer gezeichnet. Sie versuchten,
so gut und so schnell es ging, wieder in das normale Leben
zurückzufinden. Viele brauchten Jahre, um über das Geschehene
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Die Erinnerung bewahren. Die Aufarbeitung ihrer Geschichte
Mit der Archivierung ist es aber nicht getan. Kayser wünscht
sich, dass mehr junge Historiker Themen zur Geschichte Luxemburgs im Zweiten Weltkrieg aufarbeiten würden. So wie es zum
Beispiel die Trierer Studentin Eva Maria Klos getan hat, die ihre
Staatsexamensarbeit über die „Militärische Zwangsrekrutierung
in Luxemburg (1942-1945) in der nationalen Erinnerungskultur“
schrieb. Um Erinnerung geht es auch beim Projekt PARTIZIP2,
an dem das CDREF beteiligt ist (siehe Kasten).
Ausstellungen, Vorträge und andere Veranstaltungen bietet
das Dokumentationszentrum fast rund ums Jahr an. So nehmen Rekruten der Luxemburger Armee an einem Kurs über
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Steve Kayser bespricht mit CDREFDokumentalist Pierre Roderes (links),
dem jungen Fotografen Paul Klensch
und der Historikerin Nadine Geisler
die Fotoausstellung „Auschwitz!
Que faire après…“, die Anfang
nächsten Jahres im „Mémorial de
la Déportation“ gezeigt wird.
die Geschichte Luxemburgs im Zweiten Weltkrieg teil, und
regelmäßig vor der „Journée de la commémoration nationale“
im Oktober findet ein „Forum des Jeunes“ statt. Mit dem Erziehungsministerium wurde eine Konvention abgeschlossen,
die die Basis für die Arbeit mit Schulklassen liefert. „Mit einem
‚Nie wieder!’-Aktivismus ist es nicht getan“, fordert Steve
Kayser. Die Jugendlichen müssen sich in die Erinnerungsarbeit einbringen können, „als Akteure, nicht nur als Staffage
bei Kranzniederlegungen“. Und das dürfte doch eigentlich
gar nicht so schwer sein, denn die „Jongen“, die von 1942
bis 1945 ihrer besten Jahre beraubt wurden, waren zum Teil
nicht älter als sie.
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Foto: Megan Thill
Forschungsprojekt PARTIZIP2
Vom Erleben zum Erinnern
An was erinnert sich der Mensch, welches Bild der
erlebten Geschichte hat er in seinem Kopf? Diese Frage
steht im Mittelpunkt eines Forschungsprojekts, das an
der Universität Luxemburg mit Unterstützung des „Fonds
national de la recherche“ (FNR) durchgeführt wird. Das
Projekt mit dem komplizierten Titel „Gesellschaftliche
Partizipation und Identitätsbildung: Der Kampf um
politische, wirtschaftliche und kulturelle Teilhabe
in Luxemburg im europäischen Zusammenhang von
den 1930er Jahren bis 1980 (PARTIZIP2)“ hat als
zentrales Thema die Frage nach der Erinnerung an
den Zweiten Weltkrieg und ihre Bedeutung für die
Identitätsbildung im Allgemeinen und die Nationsbildung
im Besonderen. „Neben anderen Gruppen von
Menschen, die unter Verfolgung und Krieg gelitten
haben, untersucht PARTIZIP2 auch die zahlenmäßig
größte Gruppe von Opfern des Nationalsozialismus in
Luxemburg, die in Reichsarbeitsdienst und Wehrmacht
zwangsrekrutierten Frauen und Männer“, so Professor
Norbert Franz, der das Projekt koordiniert.
wurde. „Es geht nicht darum, die Leute auszufragen,
sondern sie möglichst frei über sich erzählen zu
lassen, angefangen bei ihrer Kindheit und Jugend,
ihrem familiären Hintergrund“, betont sie. Dabei spiele
natürlich auch eine Rolle, dass die Interviewpartner
in der Regel zwischen 80 und 90 Jahre alt seien.
Interviews (etwa 60 sind geplant) mit Zeitzeugen
bilden den Kern von PARTIZIP2. Sie werden von
der deutschen Dokumentarfilmemacherin Loretta
Walz geführt, die über langjährige Erfahrungen auf
diesem Gebiet verfügt und unter anderem durch die
Dokumentation „Die Frauen von Ravensbrück“ bekannt
Fast in jedem Interview gebe es empfindliche Momente,
hat Loretta Walz festgestellt: „Themen, über die es
dem Interviewpartner schwer fällt zu sprechen. „Bei
Zwangsrekrutierten ist das sehr unterschiedlich, manche
erzählen frei über den Tod, die sittliche Verrohung
und das Töten an der Front, andere sagen kaum
Ein Alter, in dem auch das Gedächtnis abnimmt?
„Das Langzeitgedächtnis alter Menschen ist meist
erstaunlich gut, auch wenn sie sich vielleicht nicht
mehr daran erinnern können, was sie gefrühstückt
haben“, widerspricht Loretta Walz. „Genau genommen
ist das für unsere Fragestellung auch nicht so sehr von
Bedeutung“, ergänzt Norbert Franz. „Uns geht es nicht
um historische Fakten, wie sie für die ‚Oral History’, die
Geschichtsforschung auf der Basis mündlicher Quellen,
wichtig sind. Uns interessiert, an was sich ein Mensch
erinnert, und wie er das tut.“ Denn Erinnerung sei „auch
ein Versuch der betreffenden Person, mit dem Erlebten
umzugehen, bei Zwangsrekrutierten nicht zuletzt dem
Spannungsfeld zwischen Kollaboration und Widerstand“.
Bei der Aufzeichnung
autobiographischer
Erinnerungen gelte es
vor allem die Würde
des Gesprächspartners
zu respektieren, sagt
die Filmemacherin
Loretta Walz.
Foto: Knut Gerwers
etwas dazu. Da muss man sehr einfühlsam vorgehen
und die Würde des Gesprächspartners wahren.“
„Viele der von uns Befragten haben noch nie über diese
Zeit erzählt und sind dankbar, dass sie nun erstmals
die Gelegenheit erhalten“, sagt Vincent Artuso, der
als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Auswertung
der Interviews beteiligt ist. „Das kann schon mal
sehr emotional werden, etwa wenn die Personen
an längst zurückliegende Ereignisse wie etwa den
Tod einer nahe stehenden Person zurückdenken.“ In
einer nächsten Phase sollen auch weitere Interviews
erschlossen und gesichert werden, wie sie zum
Beispiel bereits in den 80er-Jahren das damalige
Staatsarchiv durchführte. Das gesamte Material
soll dann für Forschungs- und Lehrzwecke auf einer
digitalen Plattform zur Verfügung gestellt werden.
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